Jeier, Thomas Sie hatten einen Traum

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Thomas Jeier


Sie hatten einen Traum









UEBERREUTER

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ISBN 3-8000-2999-5

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der

Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in
jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen

Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen

Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken,

ausdrücklich vorbehalten.





Umschlaggestaltung von FineLine, 1040 Wien,

unter Verwendung von Fotos

von Corbis (Martin Luther King) und Getty Images (Pärchen)

Abdruck von Auszügen aus der Rede Martin Luther Kings

»Ich habe einen Traum« mit freundlicher Genehmigung

© Patmos Verlag GmbH & CoKG/Benziger Verlag,

Düsseldorf und Zürich

Copyright © 2003 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Druck: Ueberreuter Print

Ueberreuter im Internet: www.ueberreuter.at

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Thomas Jeier
wurde 1947 in Minden/Westfalen geboren. Er
wuchs in Frankfurt am Main auf und lebt heute bei
München und »on the road« in den USA und
Kanada. Mit seinen historischen Romanen, die in
etliche Sprachen übersetzt wurden, hat er auch bei
Erwachsenen großen Erfolg. Er erhielt mehrere
Preise, darunter den Friedrich-Gerstäcker-Preis für
das beste Abenteuerbuch des Jahres, den Eimer
Kelton Award für sein Gesamtwerk und eine
Auszeichnung der texanischen Regierung.

Die junge Schwarze Audrey Jackson verliebt sich
in Edward, einen Mitarbeiter Martin Luther Kings,
der nach Birmingham gekommen ist, um
gewaltfrei gegen die Willkür der Weißen zu
protestieren. Audrey schließt sich dieser Bewegung
an und nimmt teil am legendären Protestmarsch,
bei dem die Behörden mit brutaler Gewalt gegen
die Bürgerrechtler vorgehen. Doch Audrey glaubt
an den Sieg der Liebe – und den Triumph der
Menschlichkeit.

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Wir haben gelernt, wie Vögel zu fliegen

und wie Fische zu schwimmen,

aber wir haben die einfache Kunst nicht erlernt,

als Brüder zusammenzuleben.


Martin Luther King Jr.

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1



Audrey Jackson zitterte vor Angst. Sie war allein auf dem
Highway und hielt das Lenkrad ihres Plymouth mit beiden
Händen umklammert. Ihr Blick wanderte nervös durch die
Dunkelheit. Wie bedrohliche Schatten flogen die
Reklametafeln an ihr vorbei. Die Luft war feucht und schwül
und der Mond lag hinter dunklen Wolken verborgen.
Dunstschwaden zogen über die Felder und verfingen sich in
den Bäumen am Straßenrand. In den wenigen Gebäuden
brannte kein Licht. Die schwarzen Farmer wollten keine
Aufmerksamkeit erregen. Das Brummen des Motors und das
Singen der Räder auf dem nassen Asphalt waren die einzigen
Geräusche in der ungewöhnlich dunklen Februarnacht.

Kalter Schweiß perlte von ihrer Stirn. An der Straße

zwischen Bessemer und Birmingham trieb der Ku-Klux-Klan
sein Unwesen, ein weißer Geheimbund, der seit hundert Jahren
bestand und gewaltsam gegen alle Schwarzen vorging. Die
Kapuzenmänner überfielen wehrlose Männer und Frauen und
zündeten Farmhäuser und Scheunen an. Wenn Audrey in die
Hände dieser Mörder fiel, hatte sie keine Gnade zu erwarten.

Audrey blickte in den Rückspiegel. Ihre Augen waren

ungewöhnlich groß und leuchteten weiß. Sie war neunzehn
und wirkte sogar in ihrem einfachen Kleid und der Strickjacke
wie eine junge Dame. Ihr gelocktes Haar reichte bis auf die
Schultern. Auch weiße Männer drehten sich heimlich nach ihr
um, wenn sie in ihrem Sonntagskleid aus der Kirche kam und
ihre Freundinnen umarmte.

Ihre schwarze Haut glänzte im schwachen Licht der

Armaturen. Sie hatte Betty Ann besucht, ihre zwei Jahre

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jüngere Freundin, und war auf dem Rückweg nach
Birmingham.

Betty Ann war die Tochter eines Stahlarbeiters und so

impulsiv, dass Audrey manchmal Angst um sie bekam. Das
Mädchen hatte alle Zeitungsberichte über die Protestaktionen
in Montgomery und Albany gesammelt und war fest
entschlossen, an den Freiheitsmärschen teilzunehmen, falls die
Bewegung jemals nach Birmingham kam. Martin Luther King,
ein Pastor aus Atlanta, setzte sich für die Gleichberechtigung
ein und hatte die Schwarzen ermuntert, gegen die Willkür der
Weißen zu protestieren. Im Fernsehen und in den Zeitungen
wurde ausführlich über ihre gewaltlosen Demonstrationen
berichtet. »Ich habe keine Angst«, behauptete Betty Ann. »Die
Polizei kann uns nichts anhaben, wenn wir uns friedlich
verhalten! Wir müssen uns wehren, Audrey!«

»Und was ist mit dem Klan?«, fragte Audrey. »Die

Kapuzenmänner scheren sich nicht darum, ob wir uns friedlich
verhalten! Neulich haben sie einen Farmer und seine Frau
verprügelt, hast du das vergessen? Sie haben die Farm
niedergebrannt und das Vieh vertrieben! Die beiden kommen
nie wieder auf die Beine!«

Betty Ann blätterte in ihrem Album mit den

Zeitungsausschnitten. »Der Klan kann nicht überall sein. Aber
wenn Martin Luther King und seine Leute nach Birmingham
kommen, werden wir ihn besiegen! In der Zeitung haben sie
seine Predigt abgedruckt.« Sie fand den Ausschnitt und las vor:
»Ich glaube, dass selbst der schlimmste Befürworter der
Rassentrennung zu einem Befürworter des friedlichen
Miteinanders von Schwarz und Weiß werden kann!« Ihre
Augen leuchteten. »Stell dir vor, du gehst auf dieselbe Schule
wie die Weißen und die weißen Jungs quatschen dich nicht
mehr blöd an, wenn sie dich sehen!«

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»Dagegen kann auch Martin Luther King nichts tun!«,

erwiderte Audrey lächelnd. Sie deutete auf ein Zeitungsbild,
das weiße Schüler bei einem Protestmarsch gegen die
Aufhebung der Rassentrennung zeigte. Die Gesichter der
Kinder waren voller Hass. »Geh den Weißen aus dem Weg
und du bekommst keinen Ärger! Du weißt doch, wie es den
schwarzen Schülern in Little Rock ergangen ist. Ohne die
Nationalgarde wären die niemals in die High School
gekommen! Die Weißen hätten sie erschlagen!«

Audrey stammte aus einer besser gestellten Familie. Ihre

Eltern führten einen Gemischtwarenladen in Birmingham. Sie
waren angesehene Leute im schwarzen Viertel. Ein
Massenprotest wie in Montgomery oder Alabama würde ihre
Welt zum Einstürzen bringen. »Ich verstehe diesen Martin
Luther King nicht«, sagte ihr Vater. »Warum will er alles
verändern? Uns geht es doch nicht schlecht! Was macht es
schon, wenn wir in den Bussen hinten sitzen müssen? Ändert
es irgendwas, wenn wir im Drugstore einen Milchshake
bestellen dürfen? Durch seinen Protest macht er alles nur noch
schlimmer! Ich glaube, er will sich nur in den Vordergrund
spielen! Was meint ihr, was passiert, wenn er sich in
Birmingham mit der Polizei anlegt? Wir werden alle darunter
leiden! Nein, nein, er soll in Atlanta bleiben!«

Das Angebot, die Nacht im Haus ihrer Freundin zu

verbringen, hatte Audrey abgelehnt. Obwohl sie große Angst
vor dem Klan hatte, wollte sie so schnell wie möglich nach
Hause. Bis nach Birmingham waren es nur ein paar Minuten
und es würde schon nichts passieren. Doch während sie allein
durch die Sternenlose Nacht fuhr, tauchten schreckliche Bilder
vor ihren Augen auf: Weiße Kapuzenmänner, die brennende
Kreuze in den Boden rammten. Weiße Männer, die ein
schwarzes Mädchen bespuckten und schmutzige Bemerkungen

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machten. Der Ku-Klux-Klan wollte, dass sich die »Nigger«
den Weißen unterordneten.

Im Rückspiegel erschien ein Wagen. Ein Scheinwerfer war

schwächer als der andere, bohrte sich mit einem grellen
Lichtstrahl in ihre Augen. Sie nahm den Fuß vom Gas und fuhr
so dicht wie möglich am Straßenrand entlang. Am liebsten
hätte sie die Augen geschlossen, als der Wagen sie überholte.
Aus den Augenwinkeln sah sie einen gelangweilten Weißen,
der sich gar nicht darum kümmerte, wer sie war. Er blickte stur
geradeaus und paffte eine Zigarre. Erleichtert beobachtete sie,
wie er in der Dunkelheit verschwand. Sie steuerte den
Plymouth nach links und folgte dem weißen Mittelstreifen
einen Hügel hinauf. In der Ferne waren bereits die Lichter von
Birmingham zu erkennen.

Sie lockerte den Griff um das Lenkrad, redete sich ein, dass

nun nichts mehr passieren konnte. Später würde sie sich
Vorwürfe machen, nicht schneller gefahren oder in einen der
Feldwege abgebogen zu sein. Dann wäre sie dem Pick-up, der
hinter ihr auftauchte, vielleicht entkommen. Vielleicht war es
auch ein Fehler, ausgerechnet in dem Augenblick nach links zu
blicken, als der Kleinlaster sie überholte. So merkten die
beiden Männer auf der Vorderbank sofort, dass sie eine
Schwarze war. Das Licht der Armaturenbeleuchtung spiegelte
sich auf ihren hohen Wangenknochen. Nur für einen
Sekundenbruchteil sah sie das Gesicht des Beifahrers. Lange
genug, um einen harmlos aussehenden Burschen mit kurz
geschorenem Haar und aufgeblasenen Wangen zu erkennen. Er
grinste frech. Sie wandte sich rasch ab und hörte im selben
Augenblick, wie der Motor des Pick-ups aufheulte. Der
Kleinlaster fuhr mit quietschenden Reifen an ihr vorbei.

Sie glaubte schon, die weißen Männer würden sie in Ruhe

lassen und weiterfahren, als die Bremslichter des Pick-ups
aufleuchteten und der Wagen sich quer stellte. Es gab keine

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Möglichkeit, daran vorbeizufahren. In panischer Angst trat
Audrey auf die Bremse. Ihr Plymouth schleuderte nach rechts,
streifte die Ladeklappe des Pick-ups und rutschte mit dem
rechten Vorderrad in den Straßengraben. Sie fiel nach vorn und
prallte gegen das Lenkrad. Stechender Schmerz durchzuckte
ihre Brust. Sie schaffte es nicht mehr, die Türen zu verriegeln.
Noch bevor sie den Knopf berührt hatte, waren die jungen
Burschen heran und rissen ihre Tür auf. Ihre Augen waren
voller Hass und Hohn.

»Hast du das gesehen, Steve?«, rief der Beifahrer in

gespielter Entrüstung. »Die verdammte Niggerschlampe hat
unseren Pick-up gerammt! Das hat sie absichtlich getan, Steve,
nicht wahr?«

»Das glaube ich auch«, meinte Steve, ohne den Blick von

Audrey zu nehmen. Er war größer und schlanker als sein
Beifahrer und sein Grinsen wirkte überheblich. »Sie will wohl,
dass wir ihr eine Abreibung verpassen! Zieh sie aus dem
Wagen, Duncan!«

Audrey wich ängstlich vor den Männern zurück. Das

Scheinwerferlicht des Pick-ups ließ sie wie bedrohliche Riesen
aussehen. Sie waren noch jung, vielleicht zwei oder drei Jahre
älter als sie, und trugen ölverschmierte Overalls. Der Fahrer
hatte eine Baseballkappe in den Nacken geschoben. Ihre
Gesichter waren weiße Flecken in dem Halbdunkel und
wirkten im künstlichen Licht der Scheinwerfer seltsam fahl.
Ihr Atem roch nach Alkohol.

Duncan griff nach dem Mädchen und zerrte es aus dem

Wagen. Er hielt sie an den Oberarmen fest und sagte: »Jetzt
werden wir dir zeigen, was es heißt, den Pick-up anständiger
weißer Bürger zu rammen!« Er stieß sie gegen den Wagen und
zeigte kein Mitleid, als sie rückwärts gegen die Tür prallte und
mit schmerzverzerrter Miene zu Boden sank. Ihr Entsetzen war
so groß, dass sie nicht einmal weinen konnte. Duncan versetzte

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ihr einige heftige Tritte mit seinen Cowboystiefeln. »Wir
sollten sie am nächsten Baum aufknüpfen, Steve«, schimpfte
er, »so wie es die Klanmänner mit den verdammten Niggern
machen!« In seinen Augen brannte ein gefährliches Feuer, wie
bei einem Soldaten, der zum ersten Mal im Gefecht war und
die Nerven verlor.

»Ich weiß was Besseres!«, erwiderte Steve. Er war

nüchterner als sein Kumpan und schien genau zu wissen, was
er tat. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Hol das
Abschleppseil!«

»Was hast du vor, Steve?«
»Wir machen es wie die Cowboys in den Westernfilmen. Die

binden ihre Feinde mit dem Lasso ans Sattelhorn und schleifen
sie quer über die Prärie! Mal sehen, ob die Niggerschlampe das
durchhält! Wo bleibt das verdammte Abschleppseil, Duncan?«

»Ich geh schon, Steve!« Der Beifahrer verschwand in der

Dunkelheit und kehrte mit dem ölverschmierten Seil zurück.
Erst jetzt schien er zu kapieren, was sein Kumpan vorhatte.
»He, die wird ganz schön Augen machen, wenn wir sie durch
Birmingham ziehen! Hoffentlich kapieren die Nigger dann
endlich, dass sie uns in Ruhe lassen sollen!« Er betrachtete das
Abschleppseil. »Hast du gehört, was in Montgomery los ist?
Da bedienen sie die Nigger in den Drugstores! Und in den
Bussen dürfen sie vorne sitzen! Hat alles dieser Obernigger auf
dem Gewissen, dieser…«

»Martin Luther King«, ergänzte Steve grimmig, »den

erwischen wir auch noch! Worauf wartest du, Duncan? Binde
die Schlampe an den Pick-up! Und mach einen anständigen
Knoten, kapiert?«

Audrey hörte die Worte des jungen Weißen und glaubte sich

in einem bösen Traum. Dies konnte nicht die Wirklichkeit
sein. Nicht einmal zwei Mistkerle wie diese beiden waren dazu
fähig, einen so grausamen und kaltblütigen Mord zu begehen.

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Gleich würde sie aufwachen und sich in ihrem Zimmer
wiederfinden. Ihre Mutter würde sie ermahnen, endlich
aufzustehen, sonst käme sie zu spät in die Schule und der
Direktor würde ihr kündigen. Audrey arbeitete als Sekretärin
in der schwarzen High School.

Doch die Stimmen der beiden Männer blieben und sie spürte,

wie Duncan das Abschleppseil um ihren Körper schlang und es
auf ihrem Rücken verknotete. Seine Tritte hatten alle Kraft aus
ihrem Körper gepresst und sie war unfähig sich zu wehren.
Durch den Nebel, der sich vor ihren Augen gebildet hatte, sah
sie den Beifahrer zum Pick-up gehen und das andere Ende des
Seiles an die hintere Stoßstange binden. Ein verzweifeltes
Stöhnen kam über ihre Lippen. Sie wollte nach dem Seil
greifen, den Knoten über ihrer Hüfte lösen, und schaffte es
nicht einmal, die Finger zu bewegen. Die Weißen hatten ihre
Widerstandskraft gebrochen und würden sie töten. Man würde
ihre Überreste auf der Straße finden und jeder würde von
einem bedauerlichen Unfall sprechen.

Sie schloss die Augen und ergab sich in ihr Schicksal. Die

Stimmen der beiden Weißen drangen wie aus weiter Ferne zu
ihr. Sie betete leise. Wenn der allmächtige Gott wollte, dass sie
schon als junge Frau zu ihm kam, gab es keinen Grund, sich
dagegen aufzulehnen. Er würde sie beschützen und sie mit
seiner Gnade umfangen. »Lieber Gott, bitte mach, dass es
schnell vorbei ist!«, sagte sie. »Und kümmere dich um meine
Eltern und um Betty Ann! Sag ihnen, dass ich bei dir im
Himmel bin und keine Schmerzen erleide!« Sie hörte, wie
einer der beiden Männer den Pick-up startete. »Vater unser,
der du bist im Himmel…«

Flackerndes Licht öffnete ihre Augen. Sie drehte den Kopf

und sah einen Polizeiwagen neben dem Pick-up stehen. Das
Warnlicht war eingeschaltet und warf grelle Blitze in die
Dunkelheit. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte einen

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stämmigen Deputy Sheriff, der langsam aus seinem Wagen
stieg und kopfschüttelnd in ihre Richtung blickte, bevor er sich
an die Burschen im Pick-up wandte. Eine Taschenlampe
flammte auf. »Hallo, Jungs!«, begrüßte er sie in seinem breiten
Südstaatenslang. »Habt ihr nichts Besseres zu tun, als euch
nachts auf dem Highway rumzutreiben? Im Kino läuft ein
neuer Film mit John Wayne.«

»Den kann ich nicht leiden«, erwiderte Steve, als gäbe es das

schwarze Mädchen gar nicht. »Randolph Scott ist viel besser!«

»Und Gary Cooper«, rief Duncan vom Beifahrersitz. »Haben

Sie ›High Noon‹ gesehen, Sheriff? Das war ein Film, kann ich
Ihnen sagen!«

»Halt die Klappe, Duncan!«, wies der Deputy Sheriff ihn

zurecht. Er schien die beiden Burschen zu kennen. »Und binde
die verdammte Negerin los! Ihr habt euren Spaß gehabt, das
reicht. Alles andere gibt nur Scherereien.« Er drehte sich zu
Audrey um und ließ erkennen, dass er genauso wenig von ihr
hielt wie die Männer. Seine Augen waren kalt und abweisend.
»Hast du gehört, Duncan? Ich will, dass ihr sie losbindet und
verschwindet!«

»Geht in Ordnung, Sheriff!«, meinte Duncan eingeschüchtert.

»Wir wollten ihr nur ein wenig Angst einjagen!«

Er stieg aus dem Pick-up und befreite Audrey von dem

Abschleppseil. Nachdem er es von der Stoßstange gezogen und
auf die Ladefläche des Kleinlasters geworfen hatte, stieg er
wieder ein. Er legte seinen Arm ins offene Fenster und
vermied es, den Deputy anzublicken.

»Und jetzt verschwindet! Fahrt endlich nach Hause und

bleibt von meiner Straße weg! Ich hab schon genug Ärger am
Hals!«

»Wird gemacht, Sheriff«, gehorchte Steve. Er wendete den

Pick-up und fuhr rasch davon. Die Rücklichter tanzten durch

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die Dunkelheit und erloschen, als er über den Hügel
verschwand.

Der Deputy wartete, bis das Motorengeräusch verklungen

war, und richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf
Audrey. Er bewegte sich aufreizend langsam und machte
keinerlei Anstalten, ihr zu helfen. »Und du steigst besser in
deine Schrottkarre und haust ab, bevor ich dich wegen
Landstreicherei festnehme und ins Gefängnis werfe! Kein
Wunder, dass die Jungs auf dumme Gedanken kommen! Geh
zu deinen Leuten!«

Audrey wusste, dass es keinen Zweck hatte, sich gegen den

Deputy aufzulehnen. Wenn eine schwarze Frau von weißen
Männern belästigt wurde, war immer sie schuld. Sie konnte
froh sein, dass er sie laufen ließ. Es gab auch Polizisten, die
diese Gelegenheit ausgenützt und sie vergewaltigt hätten. Der
Deputy beließ es bei einem Blick, der von Lüsternheit und
Abscheu geprägt war. Sie erhob sich und ging stöhnend zu
ihrem Wagen. Ihre Rippen schmerzten höllisch. Sie presste
eine Hand auf die Stelle, an der sie Duncans Fußtritt getroffen
hatte, und lehnte sich gegen den Kotflügel ihres Plymouth. Zu
ihrer Erleichterung sah sie, wie der Deputy in seinen Wagen
stieg und davonfuhr.

Erst als das flackernde Warnlicht hinter dem Hügel

verschwunden war, begann sie zu weinen. Sie verbarg ihr
Gesicht in beiden Händen und ließ den Tränen freien Lauf.
Den Truck aus dem nahen Stahlwerk, der mit röhrendem
Motor an ihr vorbeibrauste, bemerkte sie kaum. Sie war dem
Tod knapp entronnen. Nur das Auftauchen des Deputy Sheriffs
hatte sie vor einem grausamen Ende bewahrt. Die Erkenntnis,
dass ein schwarzes Leben weniger wert war als zur Zeit der
Sklaverei im 19. Jahrhundert, traf sie wie ein Schlag. Weiße
Männer hatten sie bedrängt und beschimpft, aber niemals
zuvor war sie auf diese Weise bedroht und gequält worden.

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Sie rieb sich die Tränen vom Gesicht und stieg in den

Plymouth. Mit brennenden Augen starrte sie in die Dunkelheit.
Sie verdrängte die Schmerzen und startete den Motor. Im
Rückwärtsgang versuchte sie aus dem Graben zu kommen.
Vergeblich. Sie sank erschöpft nach vorn und stützte sich mit
der Stirn auf das Lenkrad. Sie nahm den Kopf erst hoch, als sie
das Motorengeräusch eines fremden Wagens hörte und grelles
Scheinwerferlicht durch ihre Windschutzscheibe fiel. Im
Rückspiegel beobachtete sie, wie ein alter Cadillac hielt und
ein Mann ausstieg. »O nein, nicht schon wieder!«, flüsterte sie
in panischer Angst.

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2



Ihre Angst war unbegründet. Der junge Mann, der neben ihren
Wagen trat und sich neugierig zu ihr herunterbeugte, war
schwarz. Im schwachen Licht der Scheinwerfer erkannte sie
ein schmales Gesicht mit ausdrucksvollen Augen. Unter
seinem Kinn war eine Narbe. »Entschuldigen Sie, Miss!«,
meinte er, als er ihr verstörtes Gesicht sah, »ich wollte Sie
nicht erschrecken! Hatten Sie einen Unfall? Ihnen ist doch
nichts passiert?«

Audrey schüttelte den Kopf. Sie kauerte verängstigt auf

ihrem Sitz, die Arme vor der Brust verschränkt. Der Ausdruck
ihrer Augen erinnerte den jungen Mann an ein Wild, das man
in die Enge getrieben hat. Zögernd antwortete sie: »Ich bin
okay, Mister.«

»Edward. Ich bin Edward Hill aus Chicago.« Er lächelte.

»Und sagen Sie bloß nicht Eddy zu mir! Das würde mich an
den Ziegenbock meiner Großeltern erinnern und der war so
ziemlich das störrischste und gemeinste Wesen in ganz
Illinois!« Er schüttelte ihr die Hand. »Freut mich, Sie kennen
zu lernen, Miss!«

»Audrey Jackson«, erwiderte sie freundlich. Die

Erleichterung, einem höflichen und gebildeten Mann wie ihm
zu begegnen, war ihr deutlich anzumerken. »Ich weiß auch
nicht, wie das passiert ist!«, schwindelte sie ohne ihn
anzublicken. Sie wollte ihn nicht mit ihrem Erlebnis belasten.
»Plötzlich ist mein Wagen ins Schleudern gekommen! Würden
Sie mir helfen, ihn aus dem Graben zu fahren? Ich bin keine
besonders gute Autofahrerin…«

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»Natürlich«, erklärte er bereitwillig. »Sieht so aus, als hätte

Ihr Wagen nicht mal eine Beule abbekommen. Hoffentlich ist
der Achse nichts passiert!« Er half ihr heraus und blickte
verwundert auf ihr schmutziges und zerrissenes Kleid.
Irgendetwas stimmte nicht mit dieser jungen Frau. »Was ist
mit Ihnen?«, fragte er. »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht
wehgetan haben?«

»Ein paar Prellungen, weiter nichts«, beruhigte sie ihn.
Edward ahnte, dass sie die Unwahrheit sagte, und musterte

sie lange, bevor er in den Wagen stieg. Vielleicht hatte ihr
Freund sie geschlagen und sie war davongelaufen. Aber das
ging ihn nichts an. Er startete den Motor und legte den
Rückwärtsgang ein. Obwohl er den Gashebel nur langsam
durchdrückte, bewegte sich der Plymouth kaum vom Fleck.
Der Graben war zu tief. Er schob den Schalthebel zurück und
seufzte: »Der Wagen sitzt fest. Ich muss Sie rausziehen. Ich
hole das Abschleppseil.«

Während er sich am Kofferraum seines Cadillacs zu schaffen

machte, klopfte sich Audrey rasch den Staub aus den Kleidern.
Sie hatte seinen kritischen Blick bemerkt. Ihre Rippen
schmerzten bei jeder Bewegung und es kostete sie viel Kraft,
sich nichts anmerken zu lassen. »Und Sie kommen wirklich
aus Chicago?«

»Chicago, Illinois«, bekräftigte er, »dort bin ich

aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mein Vater arbeitet
auf dem Güterbahnhof vor der Stadt. Er ist mächtig stolz auf
mich, weil ich das College geschafft habe.« Er lächelte. »Zum
Glück weiß er nicht, wie schlecht meine Noten waren. Wohnen
Sie in Birmingham?«

»Bei meinen Eltern. Sie haben einen Gemischtwarenladen im

schwarzen Viertel, ein paar Blocks hinter der Baptistenkirche.«
Sie beobachtete, wie er den Kofferraum schloss und hinter dem
Wagen hervorkam. Er war ein vornehmer Mann. Sein Anzug

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saß wie angegossen und seine Schuhe glänzten. »Ich arbeite als
Sekretärin in unserer High School. Zum College hat’s leider
nicht gereicht. Ich hab drei Geschwister und meine Eltern
drehen jeden Penny um! Vielleicht schafft es mein jüngerer
Bruder!«

Er kehrte mit dem Abschleppseil zurück. »Um diese Zeit

sollten Sie eigentlich gar nicht mehr unterwegs sein, Audrey.
An diesem Highway soll der Ku-Klux-Klan sein Unwesen
treiben, wissen Sie das nicht? Der Alte an der Tankstelle hat
mich ausdrücklich gewarnt! Sie können von Glück sagen, dass
Ihnen nicht mehr passiert ist.« Er hielt inne. »Audrey! Was ist
denn? Hab ich was Falsches gesagt? Ich hab Ihnen doch keine
Angst eingejagt?«

Sie starrte auf das Abschleppseil in seinen Händen und

stolperte rückwärts gegen ihren Wagen. Ihre Augen waren
starr vor Angst und sie zitterte am ganzen Körper. Sie begann
zu weinen.

»Um Gottes willen, Audrey! Ich wollte Ihnen keine Angst

machen, ganz bestimmt nicht!« Er ließ das Seil fallen und eilte
zu ihr, wusste nicht, ob er sie in die Arme schließen und
trösten sollte. Unbeholfen blieb er stehen. Er streckte die Arme
nach ihr aus und ließ sie wieder sinken. »Audrey! Was ist mit
Ihnen los?«

Sie schüttelte sich und wischte sich die Tränen aus den

Augen. »Es ist meine Schuld, Edward. Ich habe Sie belogen.
Ich wollte nicht zugeben, dass diese Männer… Mich haben
zwei Männer überfallen! Zwei junge Kerle in einem Pick-up.
Sie wollten mich mit einem… Abschleppseil… an ihren
Wagen binden und zu Tode schleifen! Einer hat mir in die
Rippen getreten! Wenn der Sheriff nicht vorbeigekommen
wäre… Es war ganz furchtbar, Edward!«

Sie blickte ihn mit ihren verweinten Augen an und schlang

ihre Arme um seine Hüften, als wären sie seit vielen Jahren

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miteinander vertraut. Er erwiderte die Umarmung zögernd.
Seine sanften Hände, die tröstend über ihren Rücken strichen,
vertrieben ihre Angst und den Schock. Nach einer Weile löste
sie sich von ihm und ordnete nervös ihre Haare. Er wusste
nicht, was er sagen sollte, und beeilte sich das Abschleppseil
an ihrem Plymouth zu befestigen. Das andere Ende band er an
den Cadillac. »Und Sie sind wirklich okay?«, fragte er.

Sie nickte stumm.
Edward blieb unschlüssig stehen. Am liebsten hätte er sie

noch einmal in die Arme genommen. »Und der Sheriff hat
Ihnen nicht geholfen?«, meinte er. »Er hat diese Burschen
laufen lassen? Er hat nicht mal Ihren Wagen aus dem Graben
gezogen?«

»Ich kann froh sein, dass er mich nicht wegen

Landstreicherei festgenommen hat«, erwiderte sie bitter. »In
Alabama ist noch kein Weißer, der einen Neger geschlagen
hat, verhaftet worden!«

»In Chicago auch nicht«, sagte er. »Aber das wird sich bald

ändern! Haben Sie gehört, was in Montgomery passiert ist?
Die Schwarzen haben so lange die Busse boykottiert, bis sie
vorn sitzen durften. Die Gesellschaft ging beinahe bankrott!
Über achtzig Prozent der Passagiere sind Schwarze! Wir haben
mehr Macht, als viele denken! In Montgomery gibt es kaum
noch ›Nur für Weiße‹-Schilder! Irgendwann wird es in ganz
Amerika so sein, Audrey!«

»Nicht in Birmingham, Edward. Hier gibt’s den Ku-Klux-

Klan und weiße Mistkerle wie diesen Steve und diesen
Duncan, die mich überfallen haben! Und wenn es neue Gesetze
gäbe, würde niemand sie einhalten. Hier sieht die Polizei
tatenlos zu, wenn die Kapuzenmänner unschuldige Schwarze
aufhängen! Daran könnten nicht mal Martin Luther King und
seine Leute was ändern. Vielleicht ist es auch besser so.«

»Wieso?«

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»Immer wenn sich was verändert, gibt es Ärger«, wiederholte

Audrey die Worte ihres Vaters. »Es gäbe einen jahrelangen
Krieg, der viele von uns ruinieren würde. Meine Eltern haben
einen Laden, die würden bestimmt nicht mitmachen.«

»Und Sie? Sie sind noch jung!«
»Soll ich mich deswegen von einem Polizisten zu Tode

prügeln lassen? Oder von der Nationalgarde? Unser
Polizeichef sieht bestimmt nicht tatenlos zu, wenn es einen
Aufstand gibt! Der hetzt die Hunde auf uns, und wenn es hart
auf hart geht, lässt er schießen! Ich habe in der Wochenschau
gesehen, wie sie den Bus der Freedom Riders mit Benzin
übergossen und angesteckt haben! Ein Wunder, dass da
jemand heil rausgekommen ist!«

»Ich war dabei.«
»Wie bitte?«
»Ich war dabei«, wiederholte Edward. »Ich war ein Freedom

Rider. Ich war in Anniston, als der weiße Mob die Reifen
zerstach, und ich war einer der Letzten, die aus dem Bus
entkamen, als sie die Brandbombe durch die Hintertür warfen.
Ich bin einer von denen, die es nicht ertragen können, dass wir
wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Es muss sich
was ändern!«

Audrey ging einige Schritte auf ihn zu und starrte ihn an.

»Sie arbeiten für Martin Luther King, nicht wahr? Sie kommen
nach Birmingham, weil hier die nächsten Proteste stattfinden
sollen.«

»Wir reden später darüber, Audrey«, sagte Edward, als hätte

er Angst, dass man ihn hier draußen hören könnte. Er stieg
rasch in seinen Cadillac und ließ den Motor an. Im
Rückwärtsgang zog er den Plymouth aus dem Graben. Er stieg
aus, löste das Abschleppseil, wickelte es zusammen und
untersuchte das rechte Vorderrad des Plymouth. »Alles okay«,
zeigte er sich zufrieden, »die Achse scheint nichts

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abbekommen zu haben.« Er ging zum Cadillac und warf das
Abschleppseil in den Kofferraum. »Ich begleite Sie nach
Hause, okay? Ich fahre hinter ihnen her.« Er öffnete die
Wagentür. »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich,
Audrey. Ich will nur nicht, dass Ihnen etwas passiert.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Edward. Ohne Sie hätte ich die

ganze Nacht hier festgesessen!« Sie stieg in ihren Wagen und
blickte aus dem offenen Fenster. »Es sind nur ein paar
Meilen!«

Der Motor des Plymouth heulte auf und sie steuerte ihn

langsam auf die Lichter jenseits der Felder zu. Im Rückspiegel
sah sie, dass Edward dicht hinter ihr blieb. Einen Mann wie ihn
hatte sie noch nie getroffen. Er trug einen dreiteiligen Anzug
wie die Geschäftsleute, die während der Mittagspause aus dem
neuen Hochhaus der Bank of Savings kamen, und war doch
ganz anders. Sehr nachdenklich und ruhig, aber auch mutig
und entschlossen, wenn es um die Gleichberechtigung der
Schwarzen ging. Seine Berührung war warm und liebevoll
gewesen. Sie schämte sich jetzt noch dafür, ihn wie ein junges
Mädchen umarmt zu haben. Doch sie bereute ihr Vorgehen
kein bisschen. Er war ein außergewöhnlicher junger Mann und
sie hatte jetzt schon Angst, sich für immer von ihm
verabschieden zu müssen.

Sie bremste leicht, als die ersten Häuser von Birmingham am

Straßenrand auftauchten. »The Magic City« stand in großen
Lettern über dem Eingang zum Straßentunnel. Sie fragte sich,
was an Birmingham magisch sein sollte. Die Stadt war
hässlicher als Montgomery und Mobile und lebte von den
Stahlwerken, deren Schornsteine wie drohende Finger in den
nächtlichen Himmel ragten. Die Lichter einer Bierreklame
leuchteten über dem Eingang zu einer Bar. Die Straßen waren
leer, als wären die Bewohner vor einer drohenden Katastrophe
geflohen, und wenn Audrey daran dachte, warum Edward in

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die Stadt gekommen war, erschien ihr dieser Vergleich gar
nicht so abwegig. Wenn Martin Luther King und seine Leute
in Birmingham waren, stand tatsächlich großes Unheil bevor.
Hier würde die Polizei niemals nachgeben und der Ku-Klux-
Klan würde alles daran setzen, eine mögliche Protestaktion mit
allen Mitteln zu unterbinden.

Audrey gehörte zur überwiegenden Mehrheit der Schwarzen,

die ihr Schicksal geduldig ertrugen. Sie war keine Heldin,
spürte keinen Zorn wie Betty Ann, die nur darauf wartete, an
einer solchen Protestaktion teilnehmen zu können. Sie nahm
die Rassentrennung als etwas hin, das nicht geändert werden
konnte, und hatte sich mit der Welt, wie sie in Birmingham
aufgeteilt war, abgefunden. Die Weißen lebten in ihrer »Nur
für Weiße«-Welt und die Schwarzen in ihrer »Black
Community«, die auf einige Straßenzüge, Häuserblocks,
Schulen, Läden, Kinos und die hinteren Sitzbänke der
Stadtbusse beschränkt war. Jeder hatte seinen Platz, und
solange es nicht zu gewalttätigen Aktionen wie in dieser Nacht
kam, hatte Audrey nichts dagegen einzuwenden. Ihre Eltern
verdienten gut, sie hatte einen Job und es fehlte ihnen an
nichts.

Sie bog von der Hauptstraße ab und erreichte das schwarze

Viertel im Westen der Stadt. In ihrem Rückspiegel leuchteten
die Scheinwerfer des Cadillacs. Es war bereits nach
Mitternacht und keines der Häuser war noch beleuchtet. Die
wenigen Straßenlampen verbreiteten ein trübes Licht und
ließen die schmucklosen Wohnblocks und verfallenen
Holzhäuser noch armseliger erscheinen. Auf dem Gehsteig vor
einem der Apartmenthäuser lag ein umgestürztes Dreirad. Das
Haus ihrer Eltern, ein zweistöckiger Bau aus solidem Stein,
den ihr Vater eigenhändig verputzt hatte, lag hinter einem der
eingezäunten Sportplätze, zwischen einem mehrstöckigen
Wohnblock und einer Tankstelle. Über dem Schaufenster ihres

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Gemischtwarenladens hingen Coca-Cola-Reklametafeln. Sie
parkte vor dem Eingang und griff nach ihrer Handtasche. Beim
Aussteigen spürte sie ihre geprellten Rippen und sie musste
sich mit dem Rücken gegen die Wagentür lehnen, bis der
Schmerz nachließ und sie wieder atmen konnte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Edward besorgt. Er war aus

seinem Cadillac gestiegen und hielt den Zündschlüssel in der
Hand. »Soll ich nicht doch lieber einen Arzt rufen? Wer weiß,
wie schwer diese Mistkerle Sie erwischt haben! Soll ich Ihre
Eltern wecken?«

Audrey konnte schon wieder lächeln. »Nein, nein, ich hab

nur vergessen, dass ich mich nicht so ruckhaft bewegen darf.«
Sie verschloss die Wagentür. »Vielen Dank für Ihre Hilfe,
Edward! Das war sehr freundlich von Ihnen! Ich weiß nicht,
was ich ohne Sie gemacht hätte. Nächstes Mal fahre ich früher
nach Hause.«

Edward war mit seinen Gedanken längst woanders. »Hören

Sie, Audrey«, meinte er, »wenn ich Sie vorhin erschreckt habe,
tut es mir Leid. Ich hätte daran denken sollen, dass
Birmingham ein gefährliches Pflaster ist. Hier haben die
Menschen besonders große Angst. Ich hätte es Ihnen vielleicht
etwas vorsichtiger beibringen sollen. Martin Luther King und
seine Leute kommen tatsächlich hierher. Sie wollen eine große
Protestaktion starten, um der Rassentrennung endgültig den
Kampf anzusagen. Die Schwarzen sind es leid, Menschen
zweiter Klasse zu sein! Sie müssen endlich aus ihrer
Gleichgültigkeit erwachen und für ihre Rechte kämpfen!«

»Und wie soll das gehen?«, fragte Audrey leise. »Sollen wir

uns Kutten überstülpen und gegen den Klan in den Krieg
ziehen? Sollen wir mit Knüppeln und Steinen gegen die Polizei
vorgehen? Mit der gewaltlosen Methode kommen Sie in
Birmingham nicht weit. Was in Montgomery oder Albany

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funktioniert hat, geht hier noch lange nicht! Hier verstehen die
Weißen keinen Spaß!«

»Das weiß ich, Audrey. Das wissen wir alle. Aber wir dürfen

nicht länger zusehen, wie Menschen nur wegen ihrer Hautfarbe
zu niederen Wesen abgestempelt werden. Die Freiheit ist das
höchste Gut des Menschen und es ist unsere Pflicht, dafür zu
kämpfen. Sie brauchen keine Angst zu haben, Audrey! Wir
werden auch in Birmingham auf jegliche Gewalt verzichten
und Sie werden sehen, dass wir stark genug sind, um auch
einen Gouverneur Wallace oder einen Polizeichef Bull Connor
zu überzeugen. Liebe ist stärker als Hass. Wir kämpfen nicht
gegen die Weißen, sondern gegen das Böse. Das Ziel unserer
Aktionen ist es, mit den Weißen in Frieden und Freundschaft
zu leben. Deshalb verzichten wir auf jegliche Gewalt. Nur wer
Liebe sät, kann Liebe ernten. So ähnlich steht es schon in der
Bibel. Ich weiß, ich höre mich wie ein Prediger an, aber mir
liegt sehr viel daran, dass Sie mich verstehen. Sie haben Angst,
das ist ganz natürlich. Ich weiß, dass es für viele Schwarze
bequemer wäre, alles so zu lassen, wie es ist. Doch eine innere
Stimme sagt mir, dass wir die Ungerechtigkeit auf dieser Welt
nicht länger hinnehmen dürfen. Ich war bei den Freedom
Riders, obwohl mir klar war, dass ich mein Leben aufs Spiel
setze. Ich wollte der ganzen Welt zeigen, wie die Schwarzen
im amerikanischen Süden behandelt werden. Wir dürfen jetzt
nicht aufgeben, Audrey!« Er merkte, wie sehr er sie mit seinem
langen Vortrag verwirrt hatte, und lächelte schwach. »Darf ich
Sie wiedersehen, Audrey?«

Nach seiner Predigt hatte sie eine solche Frage nicht erwartet.

Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Um mir von
Martin Luther King und seinem gewaltlosen Protest gegen die
Weißen zu erzählen? Oder soll das eine Einladung zu einem
Date sein?«

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»Beides«, räumte er mit einem unsicheren Lächeln ein. »Wir

könnten zusammen ins Kino gehen! Oder einfach nur in der
Gegend rumfahren. In meinem Cadillac ist genug Platz. Ich
hab ihn von meinem Großvater geerbt, ein ziemlich betagter
Schlitten, und immer wenn ich bremse, quietscht er wie eine
alte Dampflok, aber die Sitze sind bequem und das Radio
funktioniert auch noch. Darf ich Sie abholen, Audrey? Sagen
wir, um sechs Uhr?«

Audrey lächelte zurück. »Aber nur, wenn Sie mir

versprechen, nicht den ganzen Abend über Politik zu
sprechen!« Sie gab ihm die Hand. »Also abgemacht, Edward!
Morgen Abend um sechs!«

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3



Audrey blieb vor der Haustür stehen und wartete, bis der
Cadillac auf die Fourth Avenue abgebogen war. Das
Motorengeräusch verlor sich in dem geschäftigen Lärm, der
wie eine Dunstglocke über der Hauptstraße des schwarzen
Viertels hing. Sobald die schwarzen Geschäftsleute ihre
Firmen und Läden verließen, öffneten die Nachtlokale und
Zuhälter und leichte Mädchen bevölkerten die Gehsteige. Nur
eine Straße weiter regierte der Rat Killer in seinem Shoeshine
Parlor, ein skrupelloser Geschäftemacher, der sich hinter der
Fassade seines Schuhputzbetriebs versteckte und an fast allen
schmutzigen Geschäften im Rotlichtbezirk beteiligt war. Selbst
weiße Männer sollten zu seinen Kunden gehören. »Wo Armut
herrscht, hat die Moral wenig Platz«, hatte ihr Vater einmal
gesagt, obwohl er bedauerte, dass sein Laden nicht an der
Hauptstraße lag. Dort wäre das Geschäft besser gegangen.
Seiner Tochter hatte er verboten, sich nach Einbruch der
Dunkelheit auf der Fourth Avenue sehen zu lassen.

Sie öffnete die Tür und blieb in dem dunklen Hausflur stehen.

Im Parterre lagen der Laden und das dazugehörige Lager, im
ersten Stock wohnten ihre Eltern und ihre beiden Brüder, der
vierjährige Robin und der sechsjährige Napoleon. Ihre
Schwester, die zwölfjährige Alberta, hatte ein Zimmer im
zweiten Stock, neben der kleinen Wohnung, die Audrey sich
eingerichtet hatte. Obwohl die Türen keine Fenster hatten,
verzichtete sie darauf, das Flurlicht einzuschalten. Zögernd
betrat sie die hölzerne Treppe. Fast jede Stufe knarrte und es
gab keine Möglichkeit, lautlos in den zweiten Stock zu steigen.

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Dennoch hoffte sie, unbemerkt an der Wohnung ihrer Eltern
vorbeizukommen.

Durch das kleine Fenster im ersten Stock fiel schwaches

Licht. Das Knarren der brüchigen Stufen hallte unheilvoll
durch das schmale Treppenhaus. Sie hatte gerade den ersten
Absatz erreicht, als die Wohnungstür ihrer Eltern aufging und
ihre Mutter in den Lichtschein trat. Sie war eine kräftige Frau
mit ausdrucksvollem Gesicht und lebhaften Augen. Ihr
geblümtes Nachthemd reichte bis auf den Boden. »Audrey, bist
du das?« Ihren Namen nannte Nellie Jackson nur, wenn sie
besorgt oder wütend war, sonst sagte sie »Honey« oder
»Baby« zu ihrer Tochter.

»Ja, Mom«, erwiderte Audrey schuldbewusst. »Es ist ein

bisschen später geworden. Du weißt doch, wie das ist, wenn
Betty Ann und ich zusammen sind. Wir haben gar nicht
gemerkt, wie es dunkel wurde.« Sie spürte ihre schmerzenden
Rippen und hielt sich am Geländer fest. »Ich wollte euch nicht
wecken, Mom.«

»Ich habe nicht geschlafen, Audrey.« In ihrer Stimme klang

leichter Ärger, aber auch Sorge mit. »Wo warst du so lange?
Wir haben uns schon Sorgen gemacht! Es ist gleich halb eins!«

»Ich weiß, Mom. Ich hab zu spät auf die Uhr gesehen.«
»Ich hab gedacht, es wäre was passiert!«
Audrey ließ das Geländer los und verzog das Gesicht. Immer

wenn sie sich in eine bestimmte Richtung bewegte, wurde der
Schmerz stärker. Duncan hatte ganze Arbeit geleistet. Sie
versuchte den Schmerz vor ihrer Mutter zu verbergen und
senkte den Kopf. Die blauen Flecken würden tagelang zu
sehen sein.

»Was ist mit deinem Kleid?«, fragte ihre Mutter scharf.
»Was soll damit sein?« Sie blickte an sich hinunter und

erschrak, als sähe sie die Risse und den Schmutz zum ersten

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Mal. »Ach, das! Ich… ich bin gefallen, Mom. Das krieg ich
wieder hin.«

»Lüg mich nicht an, Audrey!«
Audrey begann zu weinen. »Ich… ich bin überfallen worden,

Mom! Diese Kerle… sie haben mich aus dem Auto gezogen
und wollten mich… sie wollten mich umbringen, Mom! Der
eine hat mich getreten! Wenn die Polizei nicht gekommen
wäre… Der Deputy hat sie weggejagt… Er hat sie nicht mal
festgenommen!«

Nellie Jackson kam die Treppe herunter und nahm ihre

Tochter in die Arme. Ihr Blick war voller Fürsorge. »Warum
sagst du das nicht gleich, Baby?« Sie wischte ihr die Tränen
vom Gesicht und fragte besorgt: »Sie haben dich doch
nicht…« Sie blickte auf das schmutzige Kleid und blickte sie
in aufkommender Panik an. »Sag mir die Wahrheit, Baby!
Haben sie dich unsittlich berührt?«

»Nein, Mom.«
»Du sollst die Wahrheit sagen!«
»Sie haben mich nicht vergewaltigt, Mom!« Audrey hatte

ihre Fassung wiedergefunden und löste sich von ihrer Mutter.
»Sie wollten mich zu Tode schleifen! Wenn der junge Mann
nicht…«

»Welcher junge Mann?«, erklang die dunkle Stimme ihres

Vaters. Er war unbemerkt in der Tür erschienen und blickte auf
seine Frau und seine Tochter hinab. Mit seinem kantigen
Gesicht und den funkelnden Augen wirkte er strenger, als er in
Wirklichkeit war. »Was ist passiert, Audrey? Wo warst du die
ganze Zeit?«

»Zwei Weiße haben sie überfallen«, sagte Nellie Jackson,

bevor Audrey antworten konnte. »Aber es ist nichts passiert,
Honey, nicht wahr?« Sie blickte ihre Tochter an. Audrey
nickte stumm und wagte nicht ihrem Vater in die Augen zu
sehen. »Der Sheriff hat die Burschen vertrieben.« Ihre Mutter

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lächelte schwach. »Es ist alles in Ordnung, Emory! Der Sheriff
war rechtzeitig da! Ein heißes Bad und unser Baby ist wieder
okay! Stimmt’s, Honey?«

»Ja, Mom«, sagte Audrey gehorsam.
Emory Jackson brauchte einige Zeit, um die Nachricht zu

verdauen. Er setzte mehrmals zu einer Antwort an, bevor er
hilflos die Arme hob und seiner Tochter vorwarf: »Wie oft hab
ich dir gesagt, nicht bei Dunkelheit durch die Gegend zu
fahren! Warum hörst du nicht auf mich? Du weißt doch, dass
die Klansmänner unterwegs sind! Die machen auch vor einem
Mädchen nicht Halt!«

»Ich weiß, Daddy! Ich weiß! Ich hätte früher losfahren

sollen.« Sie sah ihn noch immer nicht an. »Aber es ist ja noch
mal gut gegangen. Edward hat mich nach Hause begleitet, ein
junger…«

»Edward? Wer ist Edward?«, unterbrach ihr Vater sie.
»Edward Hill«, antwortete sie schüchtern. »Ein junger Mann,

ein paar Jahre älter als ich. Er kam zufällig vorbei, als die
Weißen weg waren. Er hat mir geholfen, den Plymouth aus
dem Graben zu ziehen. Dem Wagen ist nichts passiert, Daddy!
Edward hat mich nach Hause begleitet. Er arbeitet für Martin
Luther King…«

»Auch das noch!«, stöhnte ihr Vater. »Dann stimmt es also

doch! Martin Luther King und seine Leute sind in Birmingham
und wollen hier die gleiche Aktion wie in Montgomery und
Albany durchziehen. Das hat uns gerade noch gefehlt!« Er
blickte seine Tochter an. »Sag bloß, er hat versucht, dich mit
reinzuziehen?«

»Emory!«, mischte sich Nellie Jackson ein. »Das spielt doch

jetzt wirklich keine Rolle! Deine Tochter kann von Glück
sagen, dass die weißen Männer sie nicht zu Tode geprügelt
haben! Wie kannst du da mit so etwas anfangen? Hauptsache,

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der junge Mann hat dafür gesorgt, dass sie sicher nach Hause
kommt!«

»Ich möchte wissen, mit wem meine Tochter ausgeht!«, blieb

Emory Jackson stur. »Solange sie ihre Beine unter meinen
Tisch streckt, habe ich ein Recht dazu! Und wenn dieser
dahergelaufene Jüngling glaubt, meine Tochter zu einem Sit-in
überreden…«

»Emory!«, rief Nellie Jackson noch einmal. »Darüber können

wir morgen reden. Du siehst doch, wie sehr Audrey unter der
Sache leidet!« Sie senkte ihre Stimme. »Außerdem weckst du
die Kinder auf!«

»Okay, okay, ich geh ja schon!«, meinte Emory Jackson

aufgebracht und verschwand in der Wohnung. »Aber morgen
möchte ich wissen, was es mit diesem… diesem Edward auf
sich hat!«

Nellie Jackson lächelte hintergründig. »Dein Vater meint es

nicht so«, tröstete sie ihre Tochter. »Er macht sich Sorgen, das
ist alles! Er hat Angst um dich! Und ich ehrlich gesagt auch!«
Ihre Miene wurde ernst. »Und du bist sicher, dass dir nichts
passiert ist? Wenn du willst, rufe ich den Doktor. Doc Snyder
kommt auch nachts, wenn es sein muss. Hast du große
Schmerzen, Baby?«

»Es geht schon, Mom. Nur ein paar blaue Flecken.«
»Kannst du morgen arbeiten?«
»Es ist nicht schlimm, Mom.«
Audrey sagte ihrer Mutter gute Nacht und stieg in den

zweiten Stock hinauf. Vor ihrer Tür blieb sie stehen und
wartete, bis ihre Mutter das Licht gelöscht und den Flur
verlassen hatte. Erleichtert betrat sie ihre Wohnung. Aus dem
Zimmer ihrer Schwester drang leises Schnarchen. Sie ging in
die Küche, zog die Milchflasche aus dem Kühlschrank und
nahm einen tiefen Schluck. Mit der Flasche in der Hand trat sie
ans Fenster und blickte hinaus.

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Die Straße lag verlassen im trüben Licht der Lampen. Selbst

die Tankstelle war geschlossen. Ein herrenloser Hund stöberte
in den Abfallbeuteln vor einem Apartmenthaus und rannte
jaulend davon, als er mit der Schnauze in einige Glasscherben
stieß. Der leichte Wind trieb eine alte Zeitung über den
Gehsteig. Sie verfing sich hinter der Stoßstange eines
aufgebockten Lieferwagens, segelte zu Boden und flatterte in
einen Hauseingang.

Audrey trank den Rest der Milch und stellte die leere Flasche

auf die Fensterbank. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen
zog sie ihre Strickjacke aus. Sie blickte dem Hund nach, der in
einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern verschwand, und
seufzte unterdrückt. Wie begrenzt ihre Welt doch war! Sie
reichte von der Fourth Avenue bis zum Busbahnhof, dahinter
begannen die Geschäftsviertel der Weißen. Beide Welten
waren durch unsichtbare Grenzen voneinander getrennt.
Bereits in der Innenstadt war sie eine Fremde, betrachteten die
Weißen sie mit einer Mischung aus Verwunderung und
Abscheu, so wie man eine Ziege betrachten würde, die sich ins
Wohnhaus verirrt hatte. Seit dem Bürgerkrieg vor hundert
Jahren hatte sich kaum etwas verändert. Zwar gab es keine
Sklavenhalter und Aufseher mehr, doch die strengen Gesetze
und die Bürokratie, die während der so genannten
Reconstruction nach dem Ende des Bürgerkriegs gekommen
waren, verhinderten die von Präsident Abraham Lincoln
geplante Befreiung der Schwarzen. Der Süden wehrte sich mit
aller Macht gegen die »Ausbeuter« aus dem Norden und sorgte
mit Privatarmeen und Geheimbünden dafür, dass die
»verdammten Nigger« auf der untersten gesellschaftlichen
Stufe blieben.

Wie jedes schwarze Mädchen kannte auch Audrey die

Geschichte des Ku-Klux-Klan. Ihr Vater hatte ihr beizeiten
von den vermummten Klansmännern erzählt und sie schon als

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kleines Kind vor ihren Überfällen gewarnt. Im Moment war
der KKK, wie der Geheimbund auch genannt wurde, stärker
denn je. Die Protestmärsche, Boykotte und Sitzstreiks der
Schwarzen waren den meisten Weißen im Süden ein Dorn im
Auge und die Klansmänner brauchten sich nicht einmal zu
verstecken. Wenn sie einen Schwarzen verprügelten oder
umbrachten, mussten sie keine Strafe befürchten. Das Gesetz
war auf ihrer Seite. Am schlimmsten war Gouverneur Wallace.
Er hatte sich nach seiner Amtseinführung auf die Stufen des
Kapitols gestellt und lautstark die Rassentrennung befürwortet.
Audrey erinnerte sich noch genau an seine Worte:
»Rassentrennung jetzt! Rassentrennung morgen!
Rassentrennung für immer!« Eine bewusste Abwandlung des
Ku-Klux-Klan-Mottos: »Hier gestern! Hier morgen! Hier für
immer!«

Audrey ging ins Bad und duschte gründlich, als könnte sie

die Erinnerung an die Worte des Gouverneurs und die
furchtbaren Geschichten, die über den Klan im Umlauf waren,
aus ihrem Gedächtnis waschen. In Montgomery hatten sie eine
weiße Frau und einen elfjährigen schwarzen Jungen aus einem
Auto gezerrt und so schwer verletzt, dass der Junge einen Tag
später gestorben war. Die Frau, eine zwanzigjährige Jüdin, die
während des Busstreiks geholfen hatte, die schwarzen Kinder
zur Sonntagsschule zu bringen, lag ein halbes Jahr im
Krankenhaus und litt noch Monate später unter den
Verletzungen.

Nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt und ihr

Nachthemd angezogen hatte, setzte Audrey sich auf den
Bettrand. Sie stützte den Kopf in die Hände und versuchte
vergeblich die quälenden Gedanken zu vertreiben. Das
schreckliche Erlebnis auf dem Highway, das Treffen mit ihrer
Freundin und die Begegnung mit Edward ließen Bilder aus
ihrem Bewusstsein aufsteigen, die sie längst verdrängt hatte.

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Sie erinnerte sich, die Freedom Riders im Fernsehen gesehen
zu haben. Allein der Gedanke, dass ihr neuer Freund in dem
Bus gewesen war, den die aufgebrachten Weißen überfallen
hatten, trieb ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Die
Bilder waren auf den Titelseiten der großen Zeitungen
gewesen und um die ganze Welt gegangen: der brennende Bus
auf dem Highway, der von der johlenden Menge vor Anniston
aufgehalten und mit einer Brandbombe ausgeräuchert worden
war. Die weißen Männer im Busbahnhof von Birmingham, die
einige der Passagiere krankenhausreif geschlagen hatten. Einer
der Passagiere musste mit fünfzig Stichen genäht werden, ein
anderer blieb sein Leben lang gelähmt. Die Polizei erschien
eine halbe Stunde später und machte keine Anstalten, die Täter
zu verhaften. Polizeichef Bull Connor sagte, seine Männer
seien wegen des Muttertags nicht am Busbahnhof gewesen.
Betty Ann glaubte, dass die Polizei und der Ku-Klux-Klan
gemeinsame Sache machten. »Die stecken alle unter einer
Decke!«, schimpfte sie. »Aber wir werden dennoch siegen!
Unser Protest wird sie in die Knie zwingen!«

Audrey löschte das Licht und legte sich ins Bett. Verwirrt

starrte sie in die Dunkelheit. Bisher hatte sie sich kaum mit den
Protestaktionen der Schwarzen beschäftigt. In ihrer kleinen
Welt fühlte sie sich einigermaßen sicher. Erst an diesem Abend
hatte sich einiges verändert. Sie hatte einen jungen Mann
getroffen, der mit Martin Luther King zusammenarbeitete.
Einen Freedom Rider, der sie nicht nur wegen seiner
politischen Aktivitäten durcheinander brachte. Mit dem
Gedanken an sein verschmitztes Lächeln schlief sie ein.

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4



Die Ullman High School gehörte zu den wenigen
weiterführenden Schulen, die es für schwarze Kinder in
Birmingham gab, ein schmuckloses Gebäude im schwarzen
Viertel mit einem eingezäunten Schulhof und einem
Sportplatz. Audrey nahm den Bus und setzte sich auf eine der
hinteren Bänke, obwohl außer dem Fahrer kein einziger
Weißer zu sehen war. Zum ersten Mal dachte sie darüber nach,
was wohl passieren würde, wenn sie sich auf eine der vorderen
Bänke setzte. Würde der Fahrer anhalten und die Polizei rufen?
Würde man sie ins Gefängnis sperren so wie Rosa Parks in
Montgomery?

Auf dem Schulhof wartete ein Lehrer und forderte die Kinder

auf, sich in der Eingangshalle zu versammeln. »Beeilt euch!«,
rief er ihnen ungeduldig zu. »Der Direktor hat euch etwas zu
sagen!«

»Hallo, John!«, begrüßte Audrey ihn erstaunt. »Was ist denn

los?«

»Wirst du gleich hören«, erwiderte John Glenn, der

Englischlehrer. Anscheinend wollte er die Kinder nicht
erschrecken. Er blickte an Audrey vorbei, als hätte er Angst
vor einem unwillkommenen Besucher, und bedeutete ihr, so
schnell wie möglich ins Schulhaus zu gehen. »Beeil dich! Der
Chef wartet auf dich!«

Claude A. Wesley, der Direktor der Ullman High School,

stand auf einem Podest in der Eingangshalle und gestikulierte
aufgeregt, als sie die Halle betrat. »Morgen, Chef«, begrüßte
sie ihn nervös. Sie deutete auf die vielen Kinder, die

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erwartungsvoll herumstanden oder auf den Treppen saßen. »Ist
was passiert?«

Der Direktor, ein stämmiger Mann mit einem breiten Gesicht,

überhörte ihre Frage. »Gut, dass Sie kommen, Audrey!
Kümmern Sie sich um Cynthia, ja? Sie sitzt da drüben auf der
Treppe. Sie hat mitbekommen, was passiert ist, und weint die
ganze Zeit!«

Cynthia Dianne war die Adoptivtochter des Direktors, ein

vierzehnjähriges Mädchen mit großen Augen und einer
hellgrünen Schleife im dichten Haar. Sie war kleiner als die
meisten anderen Mädchen ihres Alters und sah jünger aus.
»Hallo, Cynthia!«, begrüßte Audrey sie betont fröhlich. »Darf
ich mich zu dir setzen?«

Das Mädchen blickte auf und rückte wortlos zur Seite. Ihre

Augen waren rot vom vielen Weinen und ihre Nase tropfte.
Audrey reichte ihr ein Taschentuch und legte ihr einen Arm
um die Schultern. »Sieht so aus, als wollte dein Vater eine
Rede halten!«

Claude A. Wesley stand auf seinem Podest und bat die

Kinder um Ruhe. Ein rascher Blick überzeugte ihn davon, dass
Audrey neben seiner Tochter saß. »Guten Morgen«, begrüßte
er die Kinder ernst, und ohne auf eine Erwiderung seines
Grußes zu warten, fuhr er fort: »Ich hab euch in die Halle
kommen lassen, um euch etwas Wichtiges mitzuteilen. Wie ich
erfahren habe, hat gestern ein Treffen des Ku-Klux-Klan in
West End stattgefunden.« Jeder Schüler kannte den
Geheimbund und schreckte allein bei der Erwähnung seines
Namens zusammen. »Die Klansmänner wollen heute Mittag
durch die Innenstadt marschieren! Ich glaube nicht, dass sie
sich ins schwarze Viertel wagen, aber ich möchte euch
dennoch bitten, das Schulhaus nicht zu verlassen. Nicht einmal
während der Pause. Es ist zu gefährlich! Bleibt bitte in euren
Klassenzimmern und gehorcht euren Lehrern! Bis heute

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Nachmittag wissen wir, ob es sicher ist, den Bus nach Hause
zu nehmen!«

Seinen Worten folgte eine betretene Stille. Die Kinder

wussten, wie es ihnen ergehen würde, wenn sie den
Klansmännern in die Hände fielen.

Cynthia klammerte sich an Audrey. »Ich hab Angst!«, sagte

sie. »Der Klan will sich an uns rächen, weil wir Martin Luther
King und seine Leute nach Birmingham gerufen haben!«

»›Das gibt Krieg!‹, hat mein Vater gesagt!« Sie blickte

Audrey ängstlich an. »Bringen sie mich um, Audrey? Töten sie
mich, weil ich die Tochter des Direktors bin?«

»Unsinn«, beruhigte Audrey das Mädchen, »gerade weil du

die Tochter des Direktors bist, werden sie nicht wagen dir
etwas anzutun!«

»Und was ist mit Sarah Lee?«, fragte Cynthia besorgt. »Sie

ist nicht in die Schule gekommen! Meinst du, der Klan hat sie
erwischt? Ihr großer Bruder ist letztes Jahr von den
Klansmännern verprügelt worden! Sie hat Angst, dass sie ihn
noch einmal überfallen! Was ist, wenn sie Sarah Lee entführt
haben, um ihren Bruder aus dem Haus zu locken?«

»Sarah Lee? Sarah Lee Thornton?«, fragte Audrey. Sie

erinnerte sich an ein schmächtiges Mädchen mit langen
Zöpfen. »Und sie ist heute nicht in die Schule gekommen?

Sie ist bestimmt krank. Ich bin sicher, ihre Mutter hat

angerufen und sie entschuldigt.«

»Gestern war sie noch gesund«, meinte Cynthia.
»Ich erkundige mich, ja?«, versprach Audrey dem Mädchen

und schob es ins Klassenzimmer. »Und jetzt ab in den
Unterricht! Sonst verpasst du noch deine Englischstunde!« Sie
wartete, bis die Tür hinter Cynthia zugefallen war, und ging ins
Büro. Dort suchte sie die Nummer der Thorntons heraus. Sie
wählte und ließ es mehrmals klingeln. »Hat Mrs. Thornton bei

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Ihnen angerufen, Chef?«, fragte sie den Direktor, als er
hereinkam. »Sarah Lee ist nicht in die Schule gekommen!«

»Sarah Lee Thornton?«, wunderte sich Claude A. Wesley.

»Nein, hier hat niemand angerufen. Sind Sie ganz sicher, dass
sie nicht erschienen ist? Sie kommt mit dem Schulbus, wissen
Sie?«

»Cynthia hat sie nicht gesehen.«
Der Direktor nickte. »Die beiden sind befreundet. Ihr Bruder

ist kurz vor Weihnachten vom Klan überfallen worden. Er
kann von Glück sagen, dass sie ihn nicht umgebracht haben.
Aber davon haben Sie sicher gehört.« Er seufzte leise, als er
daran dachte, wie die Mutter des Mädchens tränenüberströmt
bei ihm in der Sprechstunde gesessen hatte. »Haben Sie bei ihr
angerufen?«

»Gerade eben. Es meldet sich niemand.«
»Dann sind sie bestimmt auf dem Acker«, versuchte der

Direktor sich selbst zu beruhigen. »Die Thorntons haben eine
Farm.«

»Im Februar?«, fragte Audrey verwundert.
Claude A. Wesley gab sich einen Ruck. »Sie haben Recht,

Audrey. Wir sollten den Tatsachen ins Auge sehen. Es ist gut
möglich, dass ihnen etwas passiert ist. Ich fahre bei ihnen
vorbei.«

»Sie können hier nicht weg«, hielt Audrey den Direktor

zurück, »die Kinder würden nur Angst bekommen, wenn sie
nicht mehr hier sind. Und die Lehrer müssen auch bleiben. Ich
fahre!«

»Das lasse ich nicht zu! Es ist viel zu gefährlich!«
Audrey hütete sich von den Ereignissen der letzten Nacht zu

berichten. Sie versuchte tapfer ihre Angst zu verbergen. »Ich
nehme die Hauptstraße, da begegne ich den Klansmännern
bestimmt nicht. Wenn Sie mir den Pick-up geben und ich mir
ein Kopftuch umbinde, hält mich jeder für eine Farmersfrau.«

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»Okay, meinetwegen. Aber meiden Sie die Innenstadt und

fahren Sie bloß nicht über irgendwelche Feldwege! Wer weiß,
wo sich die Kuttenträger überall verstecken!« Er lächelte
zaghaft. »Ich würde gern dabei sein, wenn die Klansmänner
vor dem Jüngsten Gericht stehen! Was meinen Sie, was Gott
zu ihnen sagt?«

»Ich glaube nicht, dass Gott sie empfangen wird.«
»Da haben Sie Recht«, meinte der Direktor.
Audrey ließ sich den Schlüssel des Pick-ups geben und

verließ das Schulhaus durch den Hintereingang. Der
Kleinlastwagen stand neben dem Chevy des Direktors auf dem
Parkplatz. Sie stieg ein, band sich das Kopftuch seiner Frau
um, das auf der Rückbank lag, und brauste davon. Mit
klopfendem Herzen lenkte sie den Wagen aus dem schwarzen
Viertel hinaus. Über den Highway 31 fuhr sie durch das
hügelige Farmland nach Norden, weitab vom gefährlichen
Bessemer Highway und der Straße zum Flughafen, an der das
Büro der Eastview Klavern lag. So hieß das Hauptquartier des
Ku-Klux-Klan in Birmingham.

Über den Feldern stieg die Sonne empor. An jedem anderen

Morgen hätte sich Audrey über die leuchtenden Wiesen und
das silberne Glitzern des Flusses gefreut. Einige Kühe standen
gelangweilt vor einem Futtertrog und blickten nicht einmal
auf, als sie an ihnen vorbeifuhr. Vor einer Scheune grasten
Pferde. Das Coca-Cola-Schild über dem Eingang eines
einsamen Ladens spiegelte das Sonnenlicht. Auf der Veranda
saß ein weißer Mann im Schaukelstuhl. Ein gefleckter Hund
schlief zu seinen Füßen. Der trügerische Anblick eines
ländlichen Friedens, den es nur für die weiße Bevölkerung gab.

Die Angst um Sarah Lee beherrschte ihr ganzes Denken und

ließ wenig Raum für eigene Sorgen. Nur einmal, als sie von
zwei Farmarbeitern in einem Pick-up überholt wurde, dachte
sie an die weißen Männer, die sie überfallen hatten. Duncan

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und Steve, sie würde die Namen niemals vergessen. Sie hatte
selten so viel Hass in den Augen eines Menschen gesehen wie
bei Steve. Er war der Anführer. Duncan war ein dummer
Junge, der seine schmutzigen Fantasien auslebte. Wenn
morgen jemand auf Frauen mit roten Haaren schimpfte, würde
er sich eine »rote Hexe« schnappen. Aber er war gefährlich
und schreckte nicht vor Mord zurück.

Sie blickte in den Rückspiegel und rückte das Kopftuch

zurecht. Die beiden Kerle würden sich bestimmt nicht durch
ihre Verkleidung täuschen lassen. Ihre Hände verkrampften
sich um das Lenkrad und sie schloss für einen winzigen
Moment die Augen. Warum hatten die Eltern von Sarah Lee
nicht angerufen? Wo war das Mädchen? Sie fuhr schneller und
bog auf den schmalen Feldweg ab, der zum Farmhaus der
Thorntons führte. Es lag verlassen zwischen einigen Bäumen.
In einem Pferch grunzten Schweine. Hühner stoben gackernd
auseinander, als sie auf den Hof fuhr und aus dem Pick-up
sprang. »Mr. Thornton!«, rief sie, noch bevor sich die
Staubwolke gelegt hatte. »Sarah Lee!«

Außer dem Bellen eines Hundes, der neben dem Hühnerstall

lag und gleich wieder verstummte, erhielt sie keine Antwort.
Sie näherte sich zögernd dem Haus und öffnete das
Fliegengitter. »Mr. Thornton! Ich bin’s, Audrey Jackson von
der Ullman High School! Wo sind Sie?« Sie öffnete die Tür
und blieb abwartend stehen. Ihre Augen suchten den einzigen
Raum der armseligen Hütte ab. Die Thorntons waren nicht zu
Hause. Sie blickte hinter die Vorhänge der beiden
Schlafquartiere, eines für die Eltern, das andere für Sarah Lee
und ihren Bruder, und sah, dass die Betten nicht gemacht
waren. »Mr. Thornton! Mrs. Thornton! Sarah Lee! Michael!
Sie brauchen keine Angst zu haben! Ich bin’s, Audrey
Jackson! Der Direktor schickt mich! Wir machen uns Sorgen
um Sarah Lee! Sie ist nicht in der Schule!«

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Audrey trat an den gusseisernen Herd und betrachtete die

schmutzige Pfanne. Sie war an diesem Morgen gebraucht
worden. Auf dem Küchentisch standen eine Schüssel mit
Haferbreiresten und leere Kaffeebecher. Die Thorntons hatten
gefrühstückt und Mrs. Thornton war nicht mehr dazu
gekommen, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu
waschen. Die Schultaschen der beiden Kinder lagen auf dem
Boden. Aber es gab keine Anzeichen dafür, dass Fremde im
Haus gewesen waren und die Thorntons gewaltsam
verschleppt hatten. »Mr. Thornton!«, rief sie noch einmal.
»Vertrauen Sie mir! Ich bin Audrey Jackson!«

Wenige Meter von Audrey entfernt tat sich der Boden auf.

Eine Klapptür schwang langsam nach oben und das Gesicht
von Alex Thornton erschien in der Öffnung. In seinen Augen
stand Furcht. Sein schmaler Oberlippenbart zitterte. Er war ein
eher schmächtiger Mann mit einem schmalen Gesicht und
ausgeprägten Wangenknochen. Er trug einen Overall und eine
Baseballmütze. »Audrey Jackson«, meinte er heiser. »Sind Sie
allein?«

Audrey war erleichtert. »Mr. Thornton! Gott sei Dank! Wir

dachten schon, Ihnen wäre etwas passiert! Sie haben nicht
angerufen!« Sie deutete auf das Telefon. »Abgehoben haben
Sie auch nicht!« In ihrer Stimme lag kein Vorwurf. »Wo ist
Sarah Lee? Sie ist nicht in die Schule gekommen! Es geht ihr
doch gut oder?«

Alex Thornton kletterte aus seinem unterirdischen Versteck.

Hinter ihm erschienen seine Frau und seine Kinder. Sarah Lee
zitterte vor Angst und klammerte sich an den langen Rock
ihrer Mutter. Auch ihr stand die Angst ins Gesicht geschrieben.
»Sarah Lee bleibt heute zu Hause«, sagte der Farmer. Er wirkte
etwas verlegen, schien sich dafür zu schämen, vor lauter Angst
in ein Versteck gekrochen zu sein. »Wir waren wegen Mike da
unten«, erklärte er. »Wir hatten Angst, dass die Klansmänner

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kommen und ihn noch mal… verprügeln.« Audrey blickte in
das Verlies hinab und erkannte einen Jungen im Rollstuhl.
Alex Thornton blickte auf seinen Sohn und versprach: »Ich bin
gleich bei dir, Michael, okay?«

Audrey spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle festsetzte.

»Tut mir Leid das mit Ihrem Sohn, Mr. Thornton!« Sie
verdrängte den Gedanken, dass sie einem solchen Schicksal
nur um Haaresbreite entgangen war. Auch sie hätte im
Rollstuhl enden können. »Soll ich Ihnen helfen, Michael aus
dem Versteck zu heben?«

»Das schaffen wir schon«, winkte Alex Thornton ab. In

seiner Stimme klang Verbitterung mit. Er blickte zur Tür und
versteckte seine Angst hinter einer mürrischen Miene. »Tut
mir Leid, dass Sie zu uns rausfahren mussten, Audrey. Meine
Frau wollte nicht, dass ich ans Telefon gehe. Stimmt’s,
Martha?« Martha Thornton nickte zaghaft.

»Der Klan, wissen Sie? Ein Freund aus Birmingham hat uns

gewarnt. Die Klansmänner haben die ganze Nacht in einer Bar
gefeiert und wollen heute marschieren!« Er blickte wieder auf
seinen Sohn. »Ich will nicht, dass noch was passiert!«

»Das verstehe ich, Mr. Thornton.« Audrey blickte in das

traurige Gesicht des Jungen und hätte ihn gern getröstet,
wusste jedoch, dass es keine Worte gab, die seinen Schmerz
lindern konnten. »Der Direktor hat sicher Verständnis dafür,
dass Sarah Lee heute zu Hause bleibt. Er weiß, dass der Klan
marschiert, und hat die Schüler gewarnt. Er ist Ihnen bestimmt
nicht böse.« Sie lächelte. »Ich sag ihm, dass sie morgen wieder
kommt, okay?«

Alex Thornton nickte scheinbar geistesabwesend. Sein Blick

war auf die halb offene Tür gerichtet. »Haben Sie die
Klansmänner gesehen? Ich glaube, dass sie wieder auf einen
Mord aus sind! Wenn sie getrunken haben, sind sie am
gefährlichsten!«

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»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, beruhigte

Audrey den Farmer. »Soweit ich weiß, bleiben sie in
Birmingham. Sie wollen durch die Innenstadt marschieren.
Heute Mittag ist alles vorbei.«

Martha Thornton löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie ging

zum Herd. »Möchten Sie einen Kaffee, Audrey? Ich setze
sowieso frisches Wasser auf. Sie bleiben doch?«

Audrey schüttelte den Kopf. »Sehr nett von Ihnen, Mrs.

Thornton, aber ich muss in die Schule zurück.« Sie
verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und gab Sarah Lee
einen freundschaftlichen Klaps. »Bis morgen, Sarah Lee!
Mach deine Hausaufgaben, ja?«

Sie verließ das Haus und stieg in den Pick-up und fuhr auf

den Highway zurück. Die Sonne leuchtete auf den Feldern und
dem Asphalt und verfing sich in den Bäumen am Straßenrand.
Audrey zog ihr Kopftuch tiefer in die Stirn und hielt die Luft
an, als ihr ein Lastwagen mit Landarbeitern entgegenkam. Sie
standen auf der Ladefläche, Mistgabeln und andere Geräte in
den Händen, und beachteten sie kaum. Vor dem Laden mit
dem Coca-Cola-Schild schlief der Alte noch immer in seinem
Schaukelstuhl. Sein Hund hob neugierig den Kopf, als er ihren
Pick-up vorbeifahren hörte.

Über die Hauptstraße und ohne den Klansmännern zu

begegnen erreichte Audrey die Schule. Sie war froh, als sie den
umzäunten Schulhof erreicht hatte und den Pick-up neben dem
Eingang parkte. Erleichtert kehrte sie ins Schulhaus zurück.

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5



Die Demonstration des Ku-Klux-Klan verlief ohne
Zwischenfälle. Wie unheimliche Mönche zogen die
vermummten Gestalten durch die Innenstadt und schwenkten
Südstaatenflaggen und Sternenbanner. Ihre Kutten leuchteten
in der Morgensonne. Die Autofahrer traten bereitwillig auf die
Bremse, wenn die Klansmänner eine Kreuzung überquerten,
und warteten geduldig, bis die Straße wieder frei war. Sie
hatten großen Respekt vor den Männern des Ku-Klux-Klan.
Einige Fußgänger schlossen sich dem Protestmarsch an.
Obwohl es sich um keine genehmigte Demonstration handelte,
blieben die Polizisten neben ihren Streifenwagen stehen und
sahen stillschweigend zu.

Aus dem Radio erfuhr Audrey wenig über den Protestmarsch.

WENN, der schwarze Sender der Stadt, brachte

eine Sondersendung über Chuck Berry und hütete sich, die

Stimmung gegen den Klan zu schüren. Jede Verunglimpfung
hätte eine heftige Reaktion des Geheimbunds zur Folge gehabt
und die Radiostation in Gefahr gebracht. Stattdessen
beschränkte sich der Discjockey Tall Paul auf die scheinbar
harmlose Bemerkung, der Verkehr in der Innenstadt habe
sichtbar nachgelassen und es gebe keine Behinderungen. Die
Schwarzen verstanden auch so, dass der Klan aus der
Innenstadt verschwunden und die Gefahr vorüber war.

Audrey war am späten Nachmittag aus der Schule

gekommen. Ihre Angst war verflogen. Der Pfarrer einer nahen
Kirche hatte in der Ullman High School angerufen und dem
Direktor mitgeteilt, dass die Demonstration beendet war und
die Klansmänner in die weißen Vororte zurückgekehrt waren.

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Die Schulbusse waren ungehindert zur schwarzen High School
durchgekommen und die meisten Kinder hatten den Klan auf
der Heimfahrt schon vergessen. Audrey war erleichtert. Sie
freute sich für die Thorntons, die wieder aus ihrem Versteck
kommen und darauf hoffen konnten, dass die Klansmänner sie
in Ruhe ließen. Die Kapuzenmänner würden genug damit zu
tun haben, sich auf Martin Luther King und seine geplanten
Protestaktionen vorzubereiten. Der Stachel, den er den Weißen
in Montgomery ins Fleisch getrieben hatte, saß tief.

Bei einem Becher Kaffee, den Audrey wie jeden Nachmittag

in der Küche trank, warnte ihre Mutter sie eindringlich davor,
sich noch weiter mit ihrem neuen Freund einzulassen. »Ich will
dir keine Vorschriften machen, Baby, das weißt du
hoffentlich«, sagte sie. Ihre Augen waren so klar, dass Audrey
ihr Spiegelbild darin sehen konnte. »Aber dein Vater ist nicht
gerade glücklich darüber, dass du dich mit diesem jungen
Mann triffst. Wir sorgen uns um dich! Denk daran, was gestern
Nacht passiert ist! Wenn die Klansmänner erfahren, dass du
dich mit einem Mitarbeiter der SCLC triffst, geschieht noch
was!« SCLC stand für »Southern Christian Leadership
Conference«, die Vereinigung von schwarzen Pfarrern,
Lehrern und Rechtsanwälten, die sich für eine Beendigung der
Rassentrennung einsetzte und die Aktionen in Montgomery
und Albany geleitet hatte. Martin Luther King war ihr
Präsident.

»Ich weiß, Mom«, beruhigte Audrey ihre Mutter. »Und ich

hab bestimmt nicht vor, für Martin Luther King zu arbeiten!
Ich bin froh, dass ich meinen Job in der Schule habe! Dort
kann ich mehr für die Schwarzen tun als auf der Straße!« Sie
dachte an ihren Besuch bei den Thorntons und nahm rasch
einen Schluck von ihrem Kaffee, um ihre besorgte Miene zu
verbergen. Ihre Mutter brauchte nichts von ihrem
morgendlichen Ausflug zu wissen. »Es ist nur… Edward hat

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mir geholfen. Ohne ihn hätte ich nicht gewusst, wie ich nach
Hause komme! Ich durfte ihm die Verabredung nicht
abschlagen!« Sie lächelte und berührte ihre Mutter am Arm.
»Es ist kein richtiges Date, Mom! Ich möchte mich nur bei
Edward bedanken. Wir wollen ins Kino gehen oder in den
Drugstore.«

Sie stellte den leeren Becher in den Spülstein. Als sie den

zweifelnden Blick ihrer Mutter bemerkte, fügte sie hinzu: »Ich
bin kein Baby mehr, Mom! Ich bin neunzehn! Manche Frauen
sind in meinem Alter schon verheiratet! Ich weiß, dass Dad
gegen Edward ist. Der Junge, der ihm gefällt, muss erst
geboren werden!«

Nellie Jackson lächelte schwach. »Ich weiß, Honey. Dad will

nicht, dass du in dein Unglück rennst, das ist alles.«

»Ich will ihn ja nicht heiraten.«
»Das geht oft schneller, als man denkt! Weißt du, wie lange

Dad und ich uns kannten, als wir heirateten? Ganze sechs
Monate! Und du brauchst nicht zu glauben, dass mein Dad
anders war! Der brauchte ein Jahr, um sich an Emory zu
gewöhnen!«

Das Fliegengitter klappte auf, und Audreys Brüder stürmten

in die Küche. Der vierjährige Robin deutete wütend auf seinen
zwei Jahre älteren Bruder. »Napoleon will mir nicht den
Baseball geben, Mom!«, jammerte er. »Ich will auch mal damit
spielen!« Napoleon streckte ihm die Zunge raus, und Robin
revanchierte sich mit einem schmerzhaften Tritt gegen das
Schienbein. Die beiden begannen eine wüste Rauferei und
stießen einen Stuhl um.

»Aufhören! Sofort aufhören!«, ging Nellie Jackson

dazwischen. Sie trennte die beiden Streithähne und nahm
Napoleon den Handschuh und den Baseball ab. »So, die
Sachen bleiben im Küchenschrank, bis ihr euch beruhigt habt!
Ab nach draußen!«

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Die Jungen verschwanden und Audrey verkniff sich mühsam

ein Grinsen. Ihre Brüder ließen keinen Tag ohne Rauferei
vergehen. Robin beschwerte sich, weil Napoleon lieber mit den
älteren Jungen auf der Straße spielte, und Napoleon beklagte
sich über die angebliche Bevorzugung seines jüngeren
Bruders. Als ob es keine anderen Sorgen gäbe! Aber davon
wussten die jungen Schwarzen nichts. Sie wuchsen im
schwarzen Viertel auf, nahmen die Rassentrennung wie etwas
hin, das Gott geschaffen hatte, und dachten nicht mal daran,
für die Gleichberechtigung auf die Straße zu gehen. Selbst
Audrey hatte nie einen Gedanken daran verschwendet.

Audrey spülte die leeren Becher ab und stellte sie in den

Küchenschrank zurück. Das spitzbübische Gesicht ihrer
zwölfjährigen Schwester erschien in der Tür. Mit

ihren kurzen Locken und in dem ölverschmierten Overall sah

sie wie ein Junge aus. »Hey, Audrey!«, grüßte Alberta
schnippisch. »Ich hab gehört, du hast einen neuen Freund!
Krieg ich dein Zimmer, wenn du heiratest?«

»Dummkopf!«, wiegelte Audrey spöttisch ab. »Pass lieber

auf, dass sich kein Mädchen an dich ranmacht! Arbeitest du
immer noch auf der Tankstelle? Ich dachte, das machen nur
Jungen!«

»Ich kenn mich mit Autos aus«, widersprach Alberta stolz.

»Wenn ich groß bin, übernehm ich die Tankstelle und fahr in
einem weißen Cadillac durch die Gegend! Oder in einer
Corvette! Dann verdien ich dreimal so viel wie du in deiner
blöden Schule!«

»Alberta!«, wies Nellie Jackson ihre Tochter zurecht.
Audrey verließ lachend die Küche und stieg in den zweiten

Stock hinauf. Sie war froh, ihrem Vater nicht begegnet zu sein.
Normalerweise half sie ihm um diese Zeit im Laden, packte
neue Waren aus oder bediente Kunden. Ihre Mutter hatte ihr
erlaubt, in ihrem Zimmer zu bleiben. Sie wusste wohl selber,

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wie leicht Emory Jackson in Rage geraten konnte, wenn es um
einen neuen Freund seiner Tochter ging, und wollte einen
Streit vermeiden. Auch Audrey konnte sehr hitzköpfig sein,
wenn man ihr Unrecht tat. »Bis morgen hat er sich beruhigt«,
versprach sie.

Tall Paul brachte einen Bo-Diddley-Song und ein Interview

mit einer schwarzen Köchin aus Atlanta an, deren Soul Food
von Martin Luther King und anderen prominenten Männern
geschätzt wurde. Ihr gebratenes Huhn schmeckte so köstlich,
dass man ihr empfohlen hatte, ein Kochbuch zu
veröffentlichen. Audrey lief das Wasser im Mund zusammen,
als sie das Rezept hörte.

Nachdem sie heiß gebadet und ihre Haare gewaschen hatte,

brauchte sie eine halbe Stunde, um sich für ein

Kleid zu entscheiden. Dabei hingen nur drei Kleider und zwei

Röcke in ihrem Schrank. Sie entschied sich für das grüne
Rüschenkleid mit der gelben Rose am Kragen. Auf den
breitkrempigen Hut mit den bunten Federn verzichtete sie. Mit
einer Kopfbedeckung ließ sie sich nur in der Kirche blicken.
Die dauergewellten Haare waren ihr ganzer Stolz und sie
hoffte, dass Edward genauso davon angetan war. »Für ein
Mädchen, das sich nur bedanken will, brauchst du ganz schön
lange«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.

Natürlich war diese Antwort eine Notlüge gewesen. Ihr Herz

klopfte, wenn sie an den jungen Mann aus Chicago dachte, und
sie wollte so schön wie möglich aussehen. Sie trug Make-up
auf und malte sich die Lippen an. Etwas zu rot vielleicht, aber
sie liebte kräftige Farben. Sie schnitt eine Grimasse und
verstaute die Schminksachen in einer Schublade. Zufrieden
schlüpfte sie in ihre Stöckelschuhe. Im Radio sangen die
Drifters, als sie ans Fenster trat und zur Tankstelle
hinunterblickte. Ihre Schwester beugte sich über den Motor
eines Buick und prüfte den Ölstand.

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Pünktlich um sechs Uhr klingelte es. Sie griff nach ihrer

Handtasche und ging nach unten. Auf der Treppe hörte sie, wie
ihre Mutter die Haustür öffnete und Edward in die Küche bat.
Lieber Gott, lass Dad im Laden bleiben, dachte sie. Sie griff
sich an die Haare und trat in die Küche. »Guten Abend,
Edward!«

»Audrey! Sie sehen himmlisch aus!«, erwiderte er. Seine

Augen strahlten. Er trug einen knitterfreien Anzug mit dunkler
Krawatte und duftete nach Rasierwasser. »Ich hab Ihrer Mutter
gesagt, dass sie keine Angst zu haben braucht. Ich werde Sie
nicht entführen. Oder vielleicht doch?« Er blickte Mrs. Jackson
an und fügte schnell hinzu: »Ich passe gut auf Ihre Tochter auf,
Mrs. Jackson. Wir gehen ins Kino und essen Hamburger im
Drugstore, wenn Audrey nichts dagegen hat. Um elf ist sie zu
Hause!«

Nellie Jackson war dem Charme des jungen Mannes längst

erlegen. »Sie sind ein aufrichtiger Junge, Edward, das spüre
ich!«

Audrey war froh, dass ihr Vater auch jetzt im Laden blieb

und sie ohne eine größere Diskussion davonkamen. Nellie
Jackson hatte ihrem Mann verboten sich einzumischen: »Bleib
du im Laden, Emory! Ich mache das schon! Wenn er sie zu
einem zweiten Date abholt, kannst du immer noch mit ihm
reden! Warum die Pferde scheu machen, wenn die Sache
vielleicht nach einem Treffen vorbei ist?« Nellie Jackson war
eine praktische Frau. »Und nun geht! Ich verlasse mich auf
Sie, Edward!«

Audreys jüngere Brüder standen grinsend vor der Tür und

Alberta blickte neidisch von der Tankstelle herüber, als ihre
Schwester mit Edward in den Cadillac stieg. Der Motor
blubberte laut. Sie fuhren drei Querstraßen nach Norden und
parkten vor einem Kino. Die Neonbuchstaben leuchteten im
Dämmerlicht. »A Touch of Mind« stand in voller Breite über

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dem Eingang. »Mit Cary Grant und Doris Day«, meinte er.
Wenn er lächelte, bildeten sich kleine Grübchen neben seinen
Mundwinkeln. »Oder wollten Sie lieber was anderes sehen?
Ein paar Straßen weiter läuft ein Western.«

»Cary Grant ist okay«, erwiderte Audrey, obwohl sie den

Film vor einigen Monaten gesehen hatte und sich gerne mal
einen Western anschaute. Bei dem Gedanken, dass sie
Händchen haltend einer Schießerei zusahen, musste sie lachen.
»Ein ›Hauch von Nerz‹, hm?«, beantwortete sie die
unausgesprochene Frage des jungen Mannes. »Einen
Nerzmantel werde ich wohl nie besitzen.«

»In Alabama brauchen Sie sowieso keinen«, meinte Edward

amüsiert. »In Chicago wären wir froh, wenn wir solche
warmen Winter hätten.« Er zog den Zündschlüssel und öffnete
die Fahrertür. »Kommen Sie, Audrey! Wir sind spät dran! Es
ist gleich sieben!«

Edward half ihr beim Aussteigen und entdeckte einen

schwarzen Jungen, der scheinbar gelangweilt vor einem
Hauseingang lehnte. Er war ungefähr zwölf Jahre alt, trug sein
Hemd über der Hose und eine Baseballkappe mit dem Logo
der New York Yankees. »He, Buddy! Willst du dir einen
halben Dollar verdienen?«

Der Junge nahm die Hände aus den Taschen und kam

langsam näher. Nachdem er Edward und Audrey ausgiebig
gemustert hatte, sagte er: »Ich heiße Jay-Jay, okay? Und dein
Buddy bin ich erst, wenn du gezahlt hast! Was soll ich für den
Dollar tun?«

»Ich hab von einem halben Dollar gesprochen«, erwiderte

Edward grinsend. Er mochte den Jungen, trotz seiner Arroganz
und seines aufreizenden Benehmens. »Wenn der Cadillac noch
hier steht, wenn wir aus dem Kino kommen, lass ich mit mir
reden.«

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»Ich soll auf den Schlitten aufpassen?« Jay-Jay musterte den

Wagen und zuckte lässig mit den Schultern. »Geht klar,
Meister!«

»Ich heiße Edward. Und das ist Audrey.«
Jay-Jay machte sich nicht die Mühe, die beiden anzusehen.

»In Ordnung, Edward. Die Hälfte im Voraus, okay?« Er hielt
eine Hand auf und ließ den Vierteldollar, den Edward ihm
zuwarf, in der Hosentasche verschwinden. »Hast du ‘ne Kippe
für mich?«

»Bist du nicht zu jung dafür?«
»Schon gut, Edward. Bis nachher, okay?« Der Junge kehrte

in den Hauseingang zurück und verschmolz mit der
Dunkelheit.

»Seltsamer Vogel«, meinte Edward.
Sie überquerten die Straße und kauften zwei Eintrittskarten.

Das Kino lag außerhalb des schwarzen Viertels und sie waren
wie alle »Farbigen« gezwungen, sich auf den Balkon zu
setzen. Sie teilten sich eine Coke und lachten beide, als die
Vorschau eines Western gezeigt wurde. In der kurzen Pause
wechselten sie kaum ein Wort, ob aus Verlegenheit oder
Angst, etwas Falsches zu sagen, wusste Audrey nicht. Sie war
nervös. Obwohl Edward keine Anstalten machte, ihr den Arm
um die Schultern zu legen oder nach ihrer Hand zu greifen,
spürte sie seine Zuneigung. Von ihm ging eine Wärme aus, die
sie wie ein schützender Mantel umfing und ihr auch ohne
Zärtlichkeiten deutlich machte, wie sehr er sie mochte. Wenn
sich ihre Blicke begegneten, lächelten beide. Die Grübchen
neben seinen Mundwinkeln waren auch im Halbdunkel zu
sehen. Er war ein bemerkenswerter junger Mann und ganz
anders als die Jungen, die sie bisher gekannt hatte. Viel ruhiger
und erwachsener und nicht so aufdringlich wie die Angeber,
die schon bei der ersten Verabredung versuchten, sie zu küssen
oder sogar noch mehr verlangten. »Du bist schöner als Doris

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Day«, meinte er leise, als der Film zu Ende war. Ein scheinbar
beiläufiger Satz, der ihr mehr bedeutete als jedes andere
Kompliment.

Jay-Jay wartete neben dem Cadillac, als sie das Kino

verließen. Er verzog keine Miene. »Wie wär’s, wenn du einen
Vierteldollar drauflegst?«, empfing er sie lässig. »Oder einen
halben?«

»Du bekommst einen ganzen, wenn du ‘ne Stunde

dranhängst«, versprach Edward. »Wir wollen noch was trinken
gehen, in einem Drugstore unten an der Fourth Avenue.« Als
er den furchtsamen Ausdruck in Audreys Gesicht bemerkte,
fügte er rasch hinzu: »Du brauchst keine

Angst zu haben! Elmos Drugstore liegt eine ganze Meile vom

Rotlichtbezirk entfernt!«

»Ich kenn den Laden«, sagte Jay-Jay. »Darf ich mitfahren?«
Edward öffnete die Fahrertür. »Klar.«
Jay-Jay kroch auf die Rückbank und lächelte zufrieden. Doch

als Edward und Audrey eingestiegen waren, trug er wieder
seine arrogante Miene zur Schau. »Nicht übel, der Karren«,
meinte er. »Ich dachte, solche Schlitten können sich nur Weiße
leisten!«

»Hab ich von meinem Großvater in Chicago bekommen. Da

fahren die Weißen solche Wagen auf den Schrottplatz!« Er
blickte in den Spiegel. »Wo kommst du her, Jay-Jay? New
York? New Jersey?«

»Brooklyn«, antwortete der Junge. »Bin kurz vor

Weihnachten nach Alabama gekommen. Als mein Vater
abgehauen ist, wollt mich meine Mutter nicht mehr haben. Wie
ich sie kenne, hängt sie längst wieder an der Flasche! Sie hat
mich zu meiner Tante geschickt, die wohnt hinter Oxmoor auf
dem Land, aber da hab ich’s keine drei Wochen ausgehalten!
Die Alte wollte, dass ich ihr auf dem Acker helfe und abends

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um sieben ins Bett geh. Jetzt häng ich in der Stadt rum und
verdien mir mein Geld selber!«

»Und wo schläfst du?«
»Im Sommer ist es warm, da deck ich mich mit dem Himmel

zu. Und wenn’s mal kalt wird, kriech ich bei ‘nem Freund
unter.«

»Hast du viele Freunde?«
»Was man so Freunde nennt. Bist du beim FBI?«
»Wieso?«
»Weil du mir ‘n Loch in den Bauch fragst.«
Edward parkte einen Block vom Drugstore entfernt und half

Audrey aus dem Wagen. »Wir sind in einer Stunde zurück,
okay?«

»Geht klar, Meister.«
»Edward.«
»Schon gut. Edward.«
Audrey und Edward gingen in den Drugstore und setzten sich

an einen Ecktisch. Sie bestellten Cheeseburger mit Pommes
frites und Coke. »Weißt du was?«, sagte Edward. »Wenn’s
nach mir ginge, könnten wir das jeden Abend machen!« Er
lächelte zärtlich und griff nach Audreys Händen. »Du bist das
schönste und wunderbarste Mädchen, das ich jemals getroffen
habe! In ganz Chicago gibt…«

Der Kellner brachte die Cokes und ihre Hände lösten sich

voneinander. »In ganz Chicago gibt es…«, sagte Audrey.

»Ich bin gern mit dir zusammen, Audrey.«
Audrey spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, und griff

erneut nach seiner Hand. »Ich auch, Edward!«, erwiderte sie.

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6



Das Schaufenster des Drugstores explodierte in einem
Scherbenregen, noch bevor Audrey und Edward den
aufheulenden Motor des Pick-ups hörten. Ein faustgroßer Stein
polterte über den Boden und blieb unter einem Tisch liegen.
Die beiden Männer am Tresen sprangen entsetzt von ihren
Barhockern und der Angestellte in der weißen Uniform, der
gerade dabei war, zwei Kugeln Vanilleeis in Limonadengläser
zu füllen, starrte mit offenem Mund zur Tür. Er sah den
Schatten eines Pick-ups und glaubte das höhnische Gelächter
des weißen Fahrers zu hören.

Audrey war viel zu entsetzt um zu schreien. Sie ließ sich

fallen und hielt beide Hände über den Kopf. Edward warf sich
schützend über sie. Er wartete, bis das Klirren der fallenden
Scherben verstummt war, und stand zögernd wieder auf. Dann
half er Audrey vom Boden hoch und nahm sie in den Arm.
»Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. »Dir ist doch nichts
passiert?« Er löste sich vorsichtig von ihr und blickte sie
fragend an.

»Ich bin okay, Edward!«, antwortete sie etwas außer Atem.

Sie wischte einige Scherben von ihrem Kleid und nickte
dankbar, als Edward ihr die Splitter aus den Haaren zupfte. Mit
einem Taschentuch säuberte er seinen Anzug. »Wer war das,
Edward?«

»Der verdammte Klan, wer sonst?«, schimpfte einer der

Männer am Tresen. Er schüttelte drohend eine Faust. »Jetzt
wagen sich diese Verbrecher schon in unser Viertel!«

»Man sollte die Schweine umbringen!«, rief der andere mit

unverhohlener Wut. Er war noch jung, vielleicht siebzehn oder

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achtzehn, und trug eine schwarze Lederjacke über seinen
Jeans.

Edward schüttelte langsam den Kopf. »Das bringt nichts,

Leute!«, sagte er leise. »Wenn wir mit Gewalt antworten,
stellen wir uns auf eine Stufe mit den Klansmännern. Oder
wollt ihr brennende Kreuze in der Stadt aufstellen? Wollt ihr
unschuldige Weiße aus ihren Häusern zerren und an einem
Telegrafenmast aufknüpfen? Denkt daran, was Jesus gesagt
hat: ›Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert
umkommen!‹ Wir können dem Hass der Klansmänner nur mit
Liebe begegnen!«

»Du sprichst wie ein verdammter Pfarrer!«, sagte der Mann

in der Lederjacke. »Wie dieser Martin Luther King! Willst du
stillhalten, bis die Kapuzenmänner dich an ein brennendes
Kreuz hängen?«

»Wir werden siegen«, antwortete Edward. Es klang beinahe

feierlich. »Wir werden Demütigungen erdulden ohne uns zu
rächen und Schläge hinnehmen ohne zurückzuschlagen. Die
Gerechtigkeit ist stärker als das Unrecht, das diese Weißen
begehen. So habe ich es von Martin Luther King gelernt.« Er
verhehlte seinen Stolz nicht. »Kommt am Sonntag in die
Sixteenth Street Baptist Church! Dort werdet ihr den Mann
hören, der uns in diesem Kampf beistehen wird! Ein Kampf,
der ohne Waffen geführt wird! Aber auch ein Aufbegehren
gegen das Unrecht, das uns die Weißen zufügen! Wir sind
stärker, als ihr denkt.«

»Dann stimmt es also«, kam die Antwort. »Martin Luther

King und seine Leute kommen tatsächlich nach Birmingham!
Du gehörst dazu, stimmt’s? Warum kommt ihr ausgerechnet
hierher?«

»Weil es keine andere Stadt gibt, in der die Rechte der

Schwarzen so mit Füßen getreten werden! Oder gibt es hier
Schulen, in denen weiße und schwarze Schüler friedlich

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nebeneinander sitzen? Das Gesetz ist längst rechtsgültig!
Dürfen Schwarze in den Stadtparks spazieren gehen? Dürfen
sie am selben Tresen wie die Weißen sitzen? In Birmingham
ist die Lage am schlimmsten, deshalb will Martin Luther King
hier ein Zeichen setzen. Kommt am Sonntag in die Kirche und
hört, was er zu sagen hat!«

»Da bin ich aber gespannt«, meinte der Mann. »Nur ein Narr

hält die Backe hin, wenn der Klan kommt!«

»Gewalt bringt nichts«, warnte Edward eindringlich. Er hob

Audreys Handtasche auf und schob ihr den Stuhl hin.
Nachdem sie sich zögernd gesetzt hatte, nahm er selbst Platz.
Er griff nach ihrer rechten Hand, eher beruhigend als zärtlich,
und drückte sie.

Der Angestellte verzichtete darauf, die Polizei zu rufen.
Es hätte sowieso keinen Zweck gehabt. Die Polizisten hätten

eine »Anzeige gegen Unbekannt« aufgenommen und das
Formular zerrissen, sobald sie um die nächste Ecke waren. So
war es in dem Eisenwarenladen in Mississippi gewesen, in
dem er vor einigen Monaten gearbeitet hatte. Er kehrte
geduldig die Scherben auf und verdeckte das Loch in der
Scheibe mit Packpapier. »Hast du was gesehen?«, fragte er
Jay-Jay. Der Junge war hinter dem Cadillac in Deckung
gegangen und wagte sich nur zögernd hervor.

»Zwei weiße Männer in einem Pick-up«, antwortete Jay-Jay.

»Ich kenn die beiden! Üble Burschen! Willst du die Namen
wissen?«

Der Angestellte schüttelte den Kopf. »Schon gut.«
Er verschwand in der Küche und kehrte mit den

Cheeseburgern für Edward und Audrey zurück. Sein Lächeln
wirkte aufgesetzt. »Ich hoffe, euch ist nicht der Appetit
vergangen. Bezahlen müsst ihr auf jeden Fall, sonst krieg ich
Ärger mit dem Chef!« Er stellte die Teller hin. »Ich bring euch
zwei neue Cokes, okay?«

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Audrey hatte sich von ihrem Schrecken erholt und nickte

dankbar. »Es geht schon wieder«, beantwortete sie Edwards
fragenden Blick. Sie verriet ihm nicht, dass ihr der Appetit
tatsächlich vergangen war und sie am liebsten nach Hause
gerannt wäre. Vergeblich sehnte sie die romantische Stimmung
vor dem Zwischenfall zurück. Der Zauber war verflogen. Der
Ku-Klux-Klan, oder wer immer hinter dem gemeinen
Anschlag steckte, hatte sie aus einem schönen Traum gerissen.
»Es tut mir Leid«, sagte Edward leise.

Sie aßen ihre Cheeseburger und nickten den beiden Männern

am Tresen zu, die schon bald das Lokal verließen. Der
Angestellte verzog sich in die Küche, ließ sich auf einen
Hocker fallen und nippte an einer Bierflasche.

»Ruft mich, wenn ihr soweit seid!«, rief er Audrey und

Edward zu. »Um zehn mach ich dicht!«

»In Ordnung. Aber mach mir vorher noch einen

Cheeseburger zum Mitnehmen, ja? Mit reichlich Pommes
frites und Ketchup!«

»Meinetwegen«, kam die mürrische Antwort.
»Jay-Jay«, sagte Edward zu Audrey und deutete zur

Eingangstür. »Ich glaube nicht, dass der Junge schon was
gegessen hat.« Er trank von seiner Coke. »Eine Schande, dass
er sich den ganzen Tag auf der Straße rumtreibt! Ein Junge wie
er sollte in die Schule gehen, damit er mit den weißen Kindern
mithalten kann!«

»Er ist nicht der einzige Junge, der auf der Straße lebt!«,

erwiderte sie. »Im Norden soll es eine ganze Bande von
Jugendlichen geben! Alles Schwarze, die geschworen haben,
den Weißen die Häuser anzuzünden! Sogar Zehnjährige sind
dabei! Der Klan hat geschworen sie aufzuhängen, wenn er sie
auf frischer Tat erwischt!«

»Er hat Unrecht, Audrey«, widersprach Edward. Er spülte

den letzten Bissen seines Cheeseburgers mit einem Schluck

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Cola hinunter und wischte sich den Mund ab. »Wir müssen
endlich begreifen, dass wir Schwarzen die gleichen Rechte wie
alle anderen Menschen haben! Du hast gehört, was ich zu den
Männern am Tresen gesagt habe. Martin Luther King und
seine Leute kommen nach Birmingham, um gegen das Unrecht
in dieser Stadt zu protestieren. Es ist höchste Zeit, den Weißen
und auch dem Klan zu zeigen, dass es nur Frieden geben kann,
wenn die Menschen aufeinander zugehen.«

»Du darfst so reden«, erwiderte Audrey müde. Sie ließ den

halben Cheeseburger stehen. »Du warst auf dem College. Du
kennst Martin Luther King und hast keine Angst! Aber was
können junge Frauen wie ich schon tun? Oder Kinder? Sollen
wir Märtyrer spielen und uns aufhängen oder einsperren
lassen? Ich bin keine Heldin, Edward. In ganz Birmingham
gibt es keine Helden. Fred Shuttlesworth vielleicht. Aber selbst
der Reverend wäre letzte Weihnachten beinahe gestorben! Er
kann von Glück sagen, dass er nicht zu Hause war, als die
Bombe in seinem Haus explodierte! In Birmingham ist alles
anders! Hier fackelt der Klan nicht lange!«

Edward nickte. »Ich will dich nicht bekehren, Audrey. Aber

so wie du reden die meisten Schwarzen, bevor sie Martin
Luther King gehört haben. Hör dir wenigstens an, was er zu
sagen hat!«

»Am Sonntag? Nach der Kirche?«, fragte sie zögernd.
»Ich könnte dich abholen«, sagte Edward schnell. »Deine

Eltern haben sicher nichts dagegen, wenn ich dich in die
Kirche begleite. Ich stelle dich Martin Luther King vor! Er
freut sich bestimmt, mit dir ein paar Worte wechseln zu
können! Ralph Abernathy ist auch da, der Reverend aus
Montgomery. Er kümmert sich um die Finanzen der SCLC.
Die Aktionen kosten viel Geld. Wenn wir nicht Leute wie
Harry Belafonte hätten, du weißt schon, der Sänger, der mit
›Banana Boat‹ in der Hitparade war, dann könnten wir längst

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einpacken. Martin und Ralph haben die SCLC gegründet. Du
musst dabei sein, wenn sie reden! Nicht mir zuliebe, sondern
deinetwegen. Sie kämpfen für unsere Rechte!«

Audrey wagte nicht daran zu denken, was ihre Eltern sagen

würden, wenn sie nach dem Gottesdienst in der Kirche blieb.
Dennoch willigte sie ein. Sie hatte viel über Martin Luther
King gehört und war neugierig, ob er wirklich so ein guter
Redner war, wie manche Leute sagten. Von Fred Shuttlesworth
und Ralph Abernathy, den unbeugsamen Pfarrern aus
Birmingham und Montgomery, wusste sie nur, dass sie nicht
davor zurückschreckten, für ihre Überzeugung ins Gefängnis
zu gehen. Ihr Vater hatte so manches Mal über den
streitlustigen Shuttlesworth geschimpft, doch in seiner Stimme
hatte auch Respekt mitgeschwungen. »Feige ist er nicht!«,
hatte er gesagt. Vielleicht plagte ihn sogar ein schlechtes
Gewissen, weil er tief in seinem Inneren wusste, wie
selbstsüchtig und vielleicht auch feige es war, den Protest der
Kirche zu überlassen. Nur wenige Schwarze waren so
zufrieden wie Jackson und seine Familie.

Ohne es zu wollen hatte Edward seiner Freundin ins

Gewissen geredet. Was Betty Ann in zwei oder drei Jahren
nicht geschafft hatte, war ihm an zwei Abenden gelungen. Mit
wenigen Worten hatte er fertig gebracht, dass sie sich schuldig
fühlte. »Wie bist du zur SCLC gekommen?«, wollte sie
wissen. »Ich denke, du kommst aus Chicago. Gibt es dort auch
einen Klan?«

»Unrecht gibt es überall, auch in Chicago«, antwortete

Edward bedächtig. »Es gibt keinen Platz auf dieser Erde, an
dem ein Schwarzer die gleichen Rechte wie ein Weißer hat.
Weder in Afrika und Europa und schon gar nicht in Amerika.
Aber in Chicago ist es nicht so schlimm wie in Mississippi
oder Alabama. In den Südstaaten glauben die meisten Weißen
immer noch, dass wir ihnen zu dienen hätten, weil unsere

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Vorfahren auch Sklaven waren. Deshalb bekommen die
schwarzen Arbeiter weniger Lohn als ihre weißen Kollegen.
Das ist sogar in Chicago so. Wenn meine Mutter nicht für eine
weiße Familie geputzt hätte, wären wir nie mit unserem Geld
ausgekommen. Und meine Eltern sind sehr sparsam. Sie haben
jeden Penny für meine Ausbildung gespart. Ich bin ihnen sehr
dankbar. Sie haben sich nie unterkriegen lassen und immer
gehofft, dass es mir besser gehen wird.«

»Und wie bist du aufs College gekommen?«, fragte Audrey.

»Studieren kostet viel Geld!« Sie lächelte zaghaft. »Es sei
denn, du hast bei den Chicago Bears gespielt.«

»Zum Football tauge ich nicht«, meinte er fröhlich, »und zu

einem guten Basketballspieler fehlt mir ein halber Meter. Aber
ich hab einen Wettbewerb gewonnen, einen literarischen
Wettbewerb.« Das Geständnis schien ihm schwer zu fallen.
»Ich hab die beste Kurzgeschichte geschrieben und ein
Stipendium gewonnen. Nichts Besonderes«, winkte er ab, als
er das Glitzern in ihren Augen bemerkte, »nur eine Geschichte.
Ich hatte viel Glück!«

»Dann bist du ein… Schriftsteller!«, staunte sie. »Mein Gott,

und ich dachte, du wärst Pastor oder so was! Was war das für
eine Geschichte? Wurde sie veröffentlicht? Darf ich sie mal
lesen?«

»Pastor werde ich vielleicht noch«, räumte er ein, »ich hab

Theologie und Literatur studiert und hoffe, dass ich nächstes
Jahr in unserer Gemeinde anfangen kann. Wir wohnen im
Süden von Chicago, da sind die Baptisten stark vertreten. Und
Schriftsteller?« Sein Lächeln wurde noch verlegener. »Ich
weiß nicht, ob ich genug Talent habe. In der Geschichte hab
ich über mich geschrieben. Eigentlich war es gar keine richtige
Geschichte. Ich hab von mir und meiner weißen Freundin
erzählt.«

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»Du hattest eine weiße Freundin?«, rief Audrey so laut, dass

der Angestellte seinen Kopf aus der Küche streckte. In
Birmingham war es undenkbar, dass ein schwarzer Junge mit
einem weißen Mädchen ging. Er durfte eine Weiße nicht
einmal ansprechen.

»Ich war damals sieben«, gestand Edward. »Doris war ein

Jahr jünger. Ihr war meine Hautfarbe egal, wir haben nicht
einmal darüber gesprochen. Ihr Vater war im Krieg gefallen,
irgendwo im Südpazifik. Ihre Mutter hatte sich mit einem
Handelsvertreter eingelassen, der ständig unterwegs war und
nur alle paar Wochen nach Hause kam und ihr nie genügend
Geld gab. Ich glaube, sie ließ sich auch mit anderen Männern
ein, sonst wäre sie nie über die Runden gekommen. Sie war
eine freundliche Frau. Sie wohnte in einem Mietshaus hinter
dem Güterbahnhof und sah manchmal aus dem Fenster, wenn
wir an den Gleisen spielten. Sie war immer fröhlich, so wie
ihre Tochter. Ich muss oft an sie denken. Wenn alle Weißen so
wären wie Doris und ihre Mutter, wäre die Welt besser. Leider
standen sie bei den anderen Bewohnern des Hauses nicht
besonders gut da.«

»Weil… weil die Mutter sich an fremde Männer verkaufte?«,

fragte Audrey. »Weil Doris mit einem schwarzen Jungen
spielte?«

Edward zuckte mit den Schultern. »Weil sie anders waren.

Sie waren anders als die übrigen Weißen. In den Südstaaten
hätten sie es mit dem Klan zu tun bekommen, da bin ich ganz
sicher.«

»Weißt du, was aus ihnen geworden ist?«
»Sie sind nach Westen gezogen. Im selben Jahr, als ich in die

High School kam. Ich hab nie mehr was von ihnen gehört. Ich
hoffe, die Mutter hat einen reichen Filmproduzenten in
Hollywood geheiratet und wohnt in einer großen Villa mit
Swimmingpool.«

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»Ich wollte nie nach Hollywood«, gestand Audrey. »Auch

nicht nach Chicago oder New York. Mir gefällt es im Süden.
Komisch, nicht wahr? Woanders ginge es uns wahrscheinlich
besser.«

Edward rief den Angestellten herbei, ließ sich die Tüte mit

dem Cheeseburger und den Pommes frites geben und zahlte
die Rechnung. »Du bist hier aufgewachsen«, sagte er zu
Audrey, »der Süden ist deine Heimat. Vor den Problemen
kannst du sowieso nicht weglaufen. Sie holen dich überall ein.
Die Schwarzen werden erst frei sein, wenn es ein Gesetz gegen
die Rassentrennung gibt und das durchgesetzt wird, was in der
amerikanischen Verfassung steht: Alle Menschen sind gleich
geschaffen. Solange es anderen Schwarzen schlecht geht,
haben wir alle darunter zu leiden. Deshalb ist es so wichtig,
dass möglichst viele Schwarze bei unserem Protest
mitmachen.« Er ließ ein Trinkgeld liegen und blickte sie an.
»Du lässt mich doch nicht im Stich?«

»Ich gehe mit dir in die Kirche«, versprach sie, »aber ich

weiß nicht, ob ich zur Freiheitskämpferin tauge.« Sie
versteckte ihre Unsicherheit hinter einem Lächeln. »Ich
glaube, da hältst du dich besser an meine Freundin. Betty-Ann
würde sofort mit dir in den Kampf ziehen! Wenn du willst,
stelle ich sie dir vor. Ich wollte sie morgen Mittag sowieso
besuchen. Sie wohnt in Bessemer…«

»Dann bist du gestern von ihr gekommen?«, erkannte

Edward. »Wenn ich du wäre, würde ich mich von der Straße
fernhalten.«

»Wenn du mitkommst, hab ich keine Angst.«
»Ich begleite dich gerne.« Er lächelte sie an und etwas von

dem Zauber kehrte zurück. Edward schien eine magische Kraft
zu besitzen, die sich wie angenehme Wärme in ihrem Körper
ausbreitete und ihr das Gefühl gab, den jungen Mann jahrelang
zu kennen.

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»Ich muss dichtmachen«, rief der Angestellte. »Es reicht

schon, dass ich dem Chef von der Scheibe erzählen muss.
Wenn ich Überstunden mache, schmeißt er mich raus! Morgen
früh ab sieben Uhr, okay?«

Die beiden verabschiedeten sich und gingen nach draußen.

Trotz der vorgerückten Stunde war es noch angenehm warm.
Jay-Jay war außer sich vor Freude, als Edward ihm die Tüte
mit dem Cheeseburger und den Pommes frites gab, und blickte
ihm zum ersten Mal in die Augen. »Und ich dachte schon, ihr
lasst mich verhungern«, bemerkte er beinahe euphorisch.

Edward steckte ihm einen Dollar in die Hosentasche. »Ich

nehme an, du willst heute Nacht nicht bei deiner Tante
schlafen.«

»Richtig geraten, Meister.«
»Edward.«
»Meinetwegen. Edward.«
»Wie wär’s mit einem Motelbett? Bei mir ist genug Platz.«
»Ehrlich?«, wunderte er sich.
»Steig ein!«
Jay-Jay stieg in den Wagen und machte sich heißhungrig über

den Cheeseburger her. Er schien den ganzen Tag nichts
gegessen zu haben. »Die weißen Dreckskerle, die das Fenster
eingeworfen haben«, meinte er mit vollem Mund, »die kenn
ich.«

Edward blickte fragend in den Rückspiegel.
»Der Typ am Steuer war Steve Goblett. Der andere heißt

Duncan. Seinen Nachnamen kenn ich nicht. Die beiden
arbeiten im Stahlwerk an der Bessemer Road. Beim Klan kennt
sie jeder.«

Edward wechselte einen raschen Blick mit Audrey. »Du bist

gut informiert für einen Jungen, der erst drei Monate in der
Stadt ist.«

»Man tut, was man kann.«

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»Wir reden nachher weiter, okay?«
Sie parkten vor dem Laden der Jacksons und Jay-Jay blickte

rasch weg, als er sah, wie Edward dem Mädchen einen
flüchtigen Kuss auf die Wange gab. »Ich seh dich morgen,
Audrey!«

»Ich warte nach dem Mittagessen auf dich, Edward.«
Das Mädchen stieg aus, blickte sich noch einmal um und

winkte ihm zu.

Jay-Jay grinste über beide Backen. »Für ‘nen Typen aus dem

Norden hast du gar keinen üblen Geschmack!«, meinte er
frech.

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7



»Wann bist du gestern Abend nach Hause gekommen?«, fragte
Emory Jackson missmutig, als er mit seiner Frau und seiner
ältesten Tochter allein am Küchentisch saß. Alberta war gleich
nach dem Frühstück zur Tankstelle gegangen und Napoleon
und Robin spielten im Wohnzimmer mit Bausteinen.

»Kurz vor elf«, antwortete Audrey, die schon vor dem

Frühstück gewusst hatte, dass ihr Vater auf Edward zu
sprechen kommen würde. Sein mürrischer Gesichtsausdruck,
als er zur Tür hereingekommen war, hatte sie gewarnt. »Und es
ist nichts passiert!«, fügte sie gereizt hinzu. »Wir waren im
Kino und haben im Drugstore einen Cheeseburger gegessen
und dann hat er mich nach Hause gebracht.« Sie hütete sich
ihm zu sagen, dass der Drugstore in der Fourth Avenue lag und
ein Stein das Schaufenster zertrümmert hatte. »Edward ist in
Ordnung, Daddy! Frag Mom, die hat mit ihm gesprochen! Er
ist… er ist ein Gentleman!«

»Auch ein Gentleman benimmt sich daneben«, erwiderte ihr

Vater. Er fing einen vorwurfsvollen Blick seiner Frau auf und
reagierte mit einer unwirschen Handbewegung. »Ich weiß, ich
weiß, ich soll dem Jungen eine faire Chance geben und ihn
nicht gleich in Grund und Boden verdammen. Ich bin kein
Unmensch, Audrey! Ich hab nichts dagegen, wenn du dich mit
einem Jungen triffst. Solange er schwarz ist und sich zu
benehmen weiß, darf er dich um ein Date bitten. Aber dieser…
dieser Edward kommt aus Chicago! Weißt du, wo Chicago
liegt? Und wie groß diese Stadt ist? Das ist eine andere Welt!
Das Leben dort ist mit unserem nicht zu vergleichen! Genauso
gut könnte Chicago auf dem Mond liegen! Die Menschen aus

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Chicago sind anders, auch die Schwarzen, und selbst wenn der
Junge so anständig ist, wie deine Mutter sagt, hat er doch ganz
andere Vorstellungen vom Leben. In Birmingham würde er
sich niemals einleben! Und du wärst in Chicago verloren! Das
würde nicht gutgehen!«

»Darum geht es doch gar nicht, Daddy!«, widersprach

Audrey. Ihre Mutter räumte das Geschirr ab und gab ihr mit
einem verstohlenen Blick zu verstehen, ihren Vater nicht
übermäßig zu reizen. »Wir haben uns einmal getroffen, weiter
nichts, und es war nicht mal ein richtiges Date. Ich wollte mich
nur dafür bedanken, dass er mich vorgestern nach Hause
gebracht hat. Wenn er unseren Wagen nicht aus dem Graben
gezogen hätte, wären die Weißen vielleicht
zurückgekommen!« Sie verschwieg ihre wahren Gefühle für
Edward und war froh, dass ihr Vater nichts von dem gemeinen
Anschlag der Weißen auf den Drugstore wusste. »Okay, er holt
mich nach dem Essen ab und wir fahren zusammen zu Betty
Ann, aber das heißt noch lange nicht, dass wir jetzt befreundet
sind und uns alle paar Tage sehen.«

»Du triffst ihn heute Mittag schon wieder? Du willst mit ihm

nach Bessemer fahren?« Seine Miene wurde streng. »Das lasse
ich auf keinen Fall zu, Audrey! Ich will nicht, dass du mit dem
Jungen über diesen gefährlichen Highway fährst! Was ist,
wenn dich der Klan überfällt? Hast du denn noch nicht genug?
Er arbeitet für Martin Luther King, das hast du selbst gesagt!
Was meinst du, was der Klan mit euch anstellt, wenn er euch
erwischt? Nein, du bleibst hier! Der Mann ist kein Umgang für
dich! Mag sein, dass er es wirklich ehrlich meint, aber er
gehört zu Martin Luther King und das reicht mir völlig! Mit
einem solchen Mann gibt es nur Ärger!«

»Dass er für die SCLC arbeitet, ist nur ein paar Leuten

bekannt, Daddy!« Audrey wusste selbst, wie riskant es war,
sich mit einem Mitarbeiter Martin Luther Kings sehen zu

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lassen, und es fiel ihr schwer, die Einwände ihres Vaters zu
entkräften. »Außerdem sind wir vorsichtig! Wir bleiben nur
zwei oder drei Stunden bei Betty Ann, und wenn es sein muss,
nehmen wir einen Umweg. Ich bin vor dem Abendessen zu
Hause, Daddy, ehrlich!«

»Ich will nicht, dass er dich mit diesem politischen Kram

belästigt! In Birmingham können wir keine Proteste
gebrauchen! Du weißt, wie ich darüber denke, Audrey. Weißt
du nicht mehr, was mit Reverend Shuttlesworth passiert ist?
Sie haben ihm das Haus zerbombt und seine Kirche haben sie
in die Luft gejagt!«

Audrey warf einen Hilfe suchenden Blick auf ihre Mutter.

»Wir haben kaum über Politik gesprochen, Daddy! Er will
mich nicht bekehren! Wir haben über ganz andere Dinge
gesprochen. Über das Leben in Chicago und wie er sein
Stipendium fürs College bekommen hat.« Sie sah, wie die
Zornesfalten von der Stirn ihres Vaters verschwanden, und
schöpfte Hoffnung. »Er hat eine Kurzgeschichte geschrieben,
Daddy! Er hat einen literarischen Wettbewerb gewonnen!
Vielleicht wird er mal ein berühmter Schriftsteller! So einen
Jungen kannte ich noch nie!«

»Lass dich von so was nicht blenden!«, meinte ihr Vater, aber

es klang nicht mehr so grimmig und Audrey glaubte sogar, ein
verständnisvolles Lächeln in seinen Augen zu sehen. »Ich
kannte mal einen Musiker, ein Schwarzer aus Lafayette, der
spielte den Blues wie Muddy Waters, und trotzdem wurde er
von einigen Weißen verprügelt. Und der hatte mit Politik gar
nichts im Sinn…«

Nellie Jackson ließ Wasser ins Spülbecken und drehte sich zu

ihrem Mann um. »Lass sie gehen, Emory! Dieser Edward ist
ein verantwortungsvoller Junge, der passt auf unsere Audrey
auf!«

»Wir sind spätestens um vier zurück«, versprach Audrey.

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Ihr Vater lehnte sich zurück und hakte die Daumen hinter

seine Hosenträger. »Also meinetwegen! Aber ich will ein paar
Worte mit dem jungen Schriftsteller reden, bevor ihr fahrt,
verstanden?«

»Natürlich, Daddy.« Sie stand auf und küsste ihren Vater auf

die Stirn. »Ich wusste doch, dass du nicht so griesgrämig bist,
wie du manchmal tust!« Sie bedankte sich mit einem Lächeln
und war froh, als ihre Brüder in die Küche gestürmt kamen und
Robin sich lautstark darüber beklagte, dass Napoleon den
Fernseher abgeschaltet hatte. Wenn ihr Vater abgelenkt war,
hatte er keine Zeit, seine Entscheidung zu bereuen. Sie konnte
von Glück sagen, dass es nicht zu einer hitzigen Debatte
gekommen war.

Die Zeit bis zum Mittagessen verbrachte Audrey im

Warenlager. Sie überprüfte die Lieferungen des vergangenen
Tages und kümmerte sich um die Buchhaltung. Das tat sie
jeden Samstag. In einer Ecke des Lagers hatte sie sich ein
kleines Büro eingerichtet. Ein schlichter Holztisch und ein
Küchenstuhl, ein Schrank für den Papierkram und eine
Schreibmaschine, die ihr den letzten Nerv raubte, weil das »n«
immer klemmte. Im Laden war viel los und sie sah ihren Vater
kaum. Erst beim Mittagessen ließ er sich blicken und ermahnte
sie: »Und vergiss nicht, mir den jungen Mann vorzustellen! Ich
will wissen, mit wem du ausgehst!«

Edward klingelte um kurz vor eins und beeindruckte ihren

Vater – auch wenn er das niemals zugegeben hätte. Er trug
einen Anzug, eine dunkle Krawatte und schwarze Schuhe, wie
Martin Luther King und Ralph Abernathy, und vermied es,
über Politik zu sprechen, als er Emory Jackson im Laden
besuchte. »Es freut mich, Sie kennen zu lernen«, ein paar
Floskeln aus dem Benimmbuch und ein artiger Diener, als er
ihm die Hand schüttelte, damit machte man Eindruck bei
einem strengen Mann wie Emory Jackson. Audrey stand neben

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ihm und versuchte vergeblich ihre Nervosität zu verbergen.
Als ihr Vater sagte: »Ich habe gehört, Sie arbeiten für Martin
Luther King. Glauben Sie nicht, dass wir in Birmingham allein
mit unseren Problemen zurechtkommen?«, wäre sie am
liebsten im Boden versunken, aber Edward blieb ruhig und
antwortete gelassen: »Der Reverend Fred Shuttlesworth hat
uns gebeten nach Birmingham zu kommen. Doch die
Entscheidung, ob wir ihm helfen sollen, die
Lebensbedingungen in dieser Stadt zu verbessern, will er der
schwarzen Bevölkerung überlassen. Morgen nach dem
Gottesdienst spricht Martin Luther King in der Sixteenth Street
Church zu den Leuten.«

»Er ist schon hier?«, fragte Emory Jackson verwundert. Seine

Lippen wurden schmal. »Das hätte man uns eher sagen
sollen!«

»Damit der Klan davon erfährt?« Edward schüttelte den

Kopf. »Martin Luther King will nicht, dass wir die Weißen
unnötig in Rage bringen. Er weiß, dass einige Schwarze gegen
die Aktivitäten der SCLC sind, und möchte mit ihnen
sprechen, bevor er den Protest öffentlich macht. Sie haben viel
zu verlieren, Mr. Jackson, das weiß ich. Ich versichere Ihnen
jedoch, dass Martin Luther King und seine Leute sofort wieder
abreisen, wenn sich die Mehrheit der schwarzen Bürger gegen
unsere Pläne ausspricht.«

»Wir werden sehen«, erwiderte Emory Jackson griesgrämig.

Er blickte seine Tochter an. »Versprechen Sie mir, dass Sie auf
meine Tochter aufpassen, Edward! Ich war dagegen, dass sie
sich mit Ihnen trifft, das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Ich bin
Ihnen dankbar für das, was Sie für Audrey getan haben, aber
ich möchte nicht, dass Sie die Situation ausnützen oder sie für
Ihre politischen Pläne missbrauchen! Versprechen Sie mir
das!«

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»Das ist doch selbstverständlich, Mr. Jackson. Ich verspreche

es beim Andenken meiner seligen Großmutter! Spätestens um
vier Uhr bringe ich Ihre Tochter zurück!« Er lächelte Audrey
von der Seite an. »Sie ist viel zu hübsch um in die Politik zu
gehen!«

Audrey war froh, als sie endlich im Cadillac saßen und in

südwestlicher Richtung aus der Stadt fuhren. Bis sie auf dem
Bessemer Highway waren, fiel kein Wort zwischen ihnen.
Edward schien in Gedanken versunken und sie brauchte einige
Zeit, um sich von der angespannten Stimmung im Laden zu
erholen. Ganz zu schweigen von dem unerwarteten
Kompliment, das ihr das Blut in den Kopf getrieben und sie
beinahe aus der Fassung gebracht hatte. Ein unsichtbares
Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Wo ist Jay-Jay?«, fragte
sie, nur um etwas zu sagen.

»Unterwegs«, antwortete Edward, »ein paar Aufträge

erledigen, was immer das zu bedeuten hat. Heute Abend
kommt er wieder. Ich glaube, es gefällt ihm in dem Motel!« Er
lachte. »Du hättest sehen sollen, was für einen Berg
Pfannkuchen er zum Frühstück verschlungen hat! Morgen
nach der Kirche will er ein Picknick mit uns veranstalten. Wir
sollen die Hühnchen nicht vergessen.«

Sie verhehlte ihre Freude nicht. »Ihr wollt mich mitnehmen?

Dann soll ich wohl morgen Nachmittag einen großen Korb mit
Hühnchen, Sandwiches, Schokolade und Obst bereithalten?«

»Darüber würden wir uns sehr freuen«, erwiderte Edward mit

einem Augenzwinkern. »Wir bringen den Champagner, okay?«

Audrey konnte sich denken, was ihr Vater dazu sagen würde,

wenn sie ausgerechnet am Sonntag mit einem jungen Mann
ausging. Der Sonntag war Familientag, besonders im
ländlichen Süden, wo man mehr Wert auf Tradition legte als in
den großen Städten des Nordens. Doch sie wollte nicht auf den
Ausflug verzichten und vertraute auf ihre Überredungskunst

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und das weiche Herz ihrer Mutter, die ihr sicher wieder helfen
würde. Bestimmt erinnerte sie sich an ihre eigene Jugend, als
sie sich Hals über Kopf in ihren späteren Mann verliebt und
ihn schon beim ersten Date geküsst hatte. Das wusste Audrey
aus einem Liebesbrief ihrer Mutter, der ihr zufällig in die
Hände gefallen war. Sie hatte den ersten Absatz gelesen und
ihn schnell wieder in den Schuhkarton gepackt, in dem die
alten Fotos lagen. Niemals würde sie ihren Eltern verraten,
dass sie den Brief gesehen hatte.

»Ich freue mich auf morgen!«, sagte Audrey. Sie strahlte, als

er sie mit seinen dunklen Augen anblickte. Seit vielen Monaten
war sie nicht mehr so glücklich gewesen. Nicht einmal, als sie
an der Stelle vorüberkamen, an der immer noch die
Bremsspuren ihres Plymouth auf dem Asphalt zu sehen waren,
geriet sie aus dem Gleichgewicht. Die Nähe ihres Freundes gab
ihr eine Sicherheit, die sie bei keinem anderen Jungen gefühlt
hatte.

Betty Ann wohnte in einem kleinen Holzhaus am Stadtrand

von Bessemer, zusammen mit ihren Eltern, ihren Großeltern
und einer Tante, die an chronischer Bronchitis litt und den
ganzen Tag hustete. Sie war groß und schlank und bewegte
sich etwas ungelenk. Ihre Haare waren kurz geschnitten. Ihr
dunkler Rock reichte bis zu den Knien, ein Zipfel der weißen
Bluse hing über den Gürtel. Sie sagte: »Hi, Audrey! Alles
klar?«, und begrüßte Edward mit unverhohlener Neugier:
»Und du bist also der hübsche Junge, der Audrey vor dem
sicheren Tod gerettet hat!«

Audrey bereute bereits, am Telefon so offen zu ihrer

Freundin gewesen zu sein, und war froh, dass niemand
bemerkte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Edward Hill«,
stellte er sich vor. »Audrey hat mir eine Menge über dich
erzählt.« Sie folgten dem Mädchen ins Haus und begrüßten die
Großfamilie, die wie jeden Sonntagnachmittag vor dem

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Fernseher saß und über das »blöde Programm« lästerte, das
»sowieso nur von Weißen gemacht wird«. Dann folgten sie
Betty Ann in ihr Zimmer. Es war so klein, dass Audrey und
Edward sich aufs Bett setzen mussten.

Betty Ann wollte noch einmal wissen, was Audrey auf dem

Nachhauseweg passiert war, und reagierte so impulsiv wie am
Telefon. »Da habt ihr’s!«, erwiderte sie. »Die Weißen werden
immer dreister! Wenn das so weitergeht, mordet der Klan bald
am helllichten Tag! Es wird höchste Zeit, dass wir auf die
Barrikaden gehen! Wir dürfen nicht mehr zusehen, wenn einer
von uns erniedrigt wird oder sich der Klan an einem
Unschuldigen vergreift! Wir sind menschliche Wesen, so wie
die Weißen, und dieses Land ist groß genug für uns alle!« Sie
wandte sich an Edward, der überrascht die Augenbrauen
hochgezogen hatte. Ein siebzehnjähriges Mädchen, das so
entschlossen für die Bewegung eintrat, hatte er noch nie
getroffen, nicht einmal im Bekanntenkreis von Martin Luther
King und Ralph Abernathy. »Wann wollt ihr mit den Protesten
anfangen?«, kam Betty Ann direkt zur Sache. »Wie kann ich
helfen? Ich möchte mitmachen.«

»Wir dürfen auf keinen Fall überstürzt vorgehen«, ermahnte

Edward das Mädchen. »Die Protestaktion in Birmingham muss
gut vorbereitet sein, sonst geht es uns wie in Albany. Dort
haben wir an mehreren Fronten gekämpft. In Birmingham
müssen wir uns auf ein Ziel konzentrieren.« Ohne es zu
merken benutzte er die Worte von Martin Luther King. »Wir
müssen verhindern, dass Bull Connor zum Bürgermeister
gewählt wird. Über vierzig Prozent aller Einwohner von
Birmingham sind schwarz. Wenn sie sich alle für die Wahl
registrieren lassen, werden wir es schaffen.«

»Bull Connor ist ein gefährlicher Mann«, sagte Betty Ann.

»Hast du gewusst, dass er mal Stadionsprecher bei einem
Baseballverein war?« Sie holte ihr Fotoalbum unter dem Tisch

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hervor und suchte nach dem Zeitungsausschnitt. »Hier. Und
vor ein paar Jahren soll er mit einer Sekretärin in einem Motel
gewesen sein, obwohl er verheiratet ist und ständig damit
angibt, wie moralisch seine Familie ist. Die meisten Schwarzen
glauben, dass er mit dem Ku-Klux-Klan unter einer Decke
steckt, sonst würde der Klan hier nie demonstrieren! Der
Mistkerl hat gute Beziehungen zum Gouverneur. Würde mich
nicht wundern, wenn er an irgendwelchen Fäden zieht, um die
Wahl zu gewinnen.« Sie betrachtete ein Foto, das Bull Connor
während der Protestaktionen der Freedom Riders zeigte. »Du
warst dabei, als sie den Bus angesteckt haben, was? Wie bist
du da rausgekommen?«

Edward wechselte einen raschen Blick mit Audrey, war wohl

verstimmt darüber, dass sie ihrer Freundin so viel erzählt hatte,
und winkte ab. »Ich hatte viel Glück.« Er zwang sich zu einem
Lächeln. »Ich hoffe, du bist etwas verschwiegener als deine
Freundin! Bull Connor und der Ku-Klux-Klan dürfen nicht
erfahren, was wir vorhaben! Dass wir hier sind, weiß sicher
schon die ganze Stadt. Aber unsere Aktionen müssen geheim
bleiben!«

»Geht klar«, meinte Betty Ann beinahe verschwörerisch.

»Aber ich will dabei sein, wenn es losgeht! Ich kenne alle
Reden von Martin Luther King auswendig und weiß, wie er
denkt. Er braucht jeden Mann und jede Frau, wenn wir Erfolg
haben wollen!« Sie nickte in Richtung ihrer Freundin. »Ich
rede schon seit Monaten auf Audrey ein. Sie darf nicht untätig
herumsitzen, wenn sich andere Schwarze für unsere Freiheit
einsetzen! Wann geht es los?«

Edward überlegte, was er Betty Ann sagen sollte, und

entschied sich für die Wahrheit: »Einen Monat vor Ostern, da
trifft es die weißen Geschäftsleute am empfindlichsten! Wir
boykottieren die Geschäfte in der Innenstadt. Wenn kein
Schwarzer mehr einkauft, gehen sie bankrott. Aber alles hängt

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davon ab, wie die Schwarzen in Birmingham auf unseren
Vorschlag reagieren.« Er berichtete von der Ansprache, die
Martin Luther King in der Sixteenth Street Church halten
würde, und versprach sogar, das Mädchen abzuholen, als er
erfuhr, dass ihre Familie keinen Wagen besaß.

»Ich komme gleich wieder«, sagte Audrey, ohne dass Edward

oder ihre Freundin reagierten. Sie ging nach draußen und trat
auf die Veranda, atmete die schwere Luft, die von den
Stahlwerken über Bessemer zog. Nur mühsam unterdrückte sie
ihren Ärger. Die Gemeinsamkeiten zwischen Betty Ann und
Edward machten ihr mehr zu schaffen, als sie sich eingestehen
wollte. Unsinn, dachte sie. Betty Ann ist zu jung für ihn. Sie
sind auf der gleichen Wellenlänge, weiter nichts.

Sie trat wütend einen Stein von der Veranda und lehnte sich

an das Geländer. Der Wind trieb feinen Sand gegen die
Hauswand und wehte entwurzeltes Gestrüpp gegen ihre Beine.
Über den nahen Highway fuhr ein Pick-up. Nach einer Weile
hörte sie die Stimme von Betty Anns Mutter: »Soll ich euch
was von dem Apfelkuchen bringen, Schätzchen? Mit
Vanilleeis? Was bist du für eine Gastgeberin, Betty Ann?«
Und als Audrey ins Haus zurückkehrte: »Audrey, bist du so
lieb und nimmst das Tablett mit dem Apfelkuchen und dem
Kaffee mit? Ihr habt doch sicher Hunger!«

Audrey griff nach dem Tablett und kehrte ins Zimmer ihrer

Freundin zurück. »Okay!«, meinte sie barsch. »Jetzt wird
Kaffee getrunken und so lange will ich nichts mehr von der
verdammten Protestaktion hören! Die Welt könnt ihr später
retten!«

»Aye, Captain!«, gehorchte Edward und schenkte Kaffee ein.

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8



Audrey war guter Dinge, als sie ihre Familie am nächsten
Morgen zur Kirche steuerte. Auf der Rückfahrt von Bessemer
nach Birmingham hatte Edward einen Arm um ihre Schultern
gelegt und sich dafür entschuldigt, sie im Haus ihrer Freundin
vernachlässigt zu haben: »Wenn ich einmal anfange über
Politik zu reden, höre ich nicht mehr auf. Ich hoffe, du
verzeihst mir!« Vor dem Haus ihrer Eltern drückte er sie
flüchtig an sich und blickte sie so warmherzig an, dass sie ihn
am liebsten auf den Mund geküsst hätte. »Und vergiss nicht
unser Picknick! Gleich nach der Kirche fahren wir los! Ich
hoffe, dein Vater hat nichts dagegen…«

Natürlich hatte ihr Vater etwas gegen den sonntäglichen

Ausflug seiner Tochter. Er wiederholte die Einwände, die
Audrey schon kannte, betonte lautstark, dass der Sonntag der
Familie gehöre und sie doch gleich ausziehen könne, wenn sie
nicht einmal zum Mittagessen bleibe. »Du hast wohl
vergessen, dass unsere zweite Verabredung auch an einem
Sonntag stattfand«, nahm seine Frau ihm lachend den Wind
aus den Segeln, »wir waren im Kino, irgendwas mit Errol
Flynn, daran kann ich mich noch genau erinnern!« Ihr Vater
verschwand brummend im Wohnzimmer und ließ sich erst
zum Abendessen wieder sehen. »Errol Flynn«, meinte er mit
einem kaum sichtbaren Grinsen, »den Aufschneider konnte ich
noch nie leiden!«

Audrey parkte in einer Seitenstraße und sie gingen die letzten

Meter zu Fuß. Wie alle Kirchgänger waren sie festlich
gekleidet. Emory Jackson und seine Söhne trugen schwarze
Anzüge und blütenweiße Hemden mit dunklen Krawatten und

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ihre blank geputzten Schuhe funkelten in der Morgensonne.
Nellie Jackson und Audrey hatten sich sorgfältig geschminkt
und ihre prächtigsten Kleider angezogen. Der breitkrempige
Hut mit der bunten Feder ließ Audrey wie eine vornehme Lady
erscheinen. »Du wirst Edward gefallen, Honey!«, bemerkte
ihre Mutter, als sie Audrey die Treppe herunterkommen sah.
»Ich hab den Picknickkorb schon gepackt, dann könnt ihr
nachher gleich weiter, okay?«

Vor der Kirche blieben sie stehen und unterhielten sich mit

einigen Nachbarn. Wie ein uneinnehmbares Bollwerk ragte die
Sixteenth Street Baptist Church hinter ihnen aus dem
Häusermeer des Schwarzenviertels. Ein Zufluchtsort für die
Bewohner des Ghettos, die jeden Sonntag über die breite
Treppe zum Eingang stiegen und in der festlichen Umgebung
ihre Sorgen vergaßen. Die Türme zu beiden Seiten des
klobigen Backsteinbaus schienen zu einer Festung zu gehören.
Audrey erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich als kleines
Mädchen vor der Kirche gefürchtet hatte. Sie hatte bitterlich
geweint, wenn ihre Mutter sie in den Schatten der mächtigen
Türme getragen hatte.

Auch als junge Erwachsene fühlte sie sich noch unwohl. Von

der Kirche ging etwas Bedrohliches aus und sie war jedes Mal
froh, wenn sie im Innenraum war und die tröstliche Nähe des
Altars und des Kreuzes spürte. Sie begrüßte den Direktor der
Ullman High School, der mit seiner Familie auf den untersten
Stufen der Treppe stand, und lächelte Cynthia zu, die in ihrem
weißen Kleid und mit der blassgrünen Schleife im gelockten
Haar wie eine kleine Prinzessin aussah. Wegen der Ansprache,
die Martin Luther King nach dem Gottesdienst halten würde,
fiel die Sonntagsschule aus und die Kinder durften mit den
Erwachsenen die Kirche besuchen. »Ich glaube, es wird Zeit«,
mahnte Emory Jackson. Er wartete geduldig, bis sich seine
Frau bei ihm einhakte. Dann stiegen die Jacksons feierlich die

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Treppen zur Kirche empor. Der sonntägliche Kirchgang lief
nach festen Regeln ab.

Vor der Eingangstür wartete Edward. Er begrüßte die Familie

mit einer tiefen Verbeugung und entschuldigte sich höflich,
bevor er Audrey hinter einen der Pfeiler entführte. »Audrey!
Du siehst großartig aus!«, meinte er begeistert. Nur die
anderen Kirchgänger hielten ihn davon ab, sie herzlich zu
umarmen. »Wartest du bis nach der Ansprache? Ich stelle dich
Martin Luther King vor. Ich hab ihm schon von dir erzählt. Er
freut sich auf dich. Er will unbedingt wissen, welches
Mädchen mir den Kopf verdreht hat!«

Audrey spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, und

lächelte verlegen. Sie nickte einer Bekannten zu, die neugierig
zu ihnen herübersah und fragte: »Wo ist Betty Ann?« Sie
bemühte sich vergeblich, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang
zu geben. »Kommt sie zum Picknick mit?« Sie blickte sich
suchend um. »Und wo steckt Jay-Jay? Er wollte doch
unbedingt bei unserem Ausflug dabei sein! Sag bloß, er hat
sich aus dem Staub gemacht!«

»Keine Ahnung«, antwortete Edward, »bis gestern Abend

war er noch da. Nach dem Essen wollte er einen Freund
besuchen und gleich wieder zurückkommen. Du weißt ja, wie
Jay-Jay ist. Aber er hat sich die ganze Nacht nicht sehen lassen
und zum Frühstück ist er auch nicht aufgetaucht. Ich würde
mir keine Sorgen um den Jungen machen, Audrey. Jay-Jay
kommt besser auf der Straße zurecht als die meisten
Erwachsenen.« Er reichte ihr seinen Arm und führte sie in die
Kirche. »Betty Ann ist schon drin«, flüsterte er. »Ich seh dich
nach dem Gottesdienst, okay? Warte vor dem Eingang auf
mich!«

Audrey setzte sich neben ihre Eltern, die ungeduldig einen

Platz für sie freigehalten hatten, und fing einen vorwurfsvollen
Blick ihres Vaters auf. »Hat er dich geküsst?«, fragte Alberta

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leise und Audrey stieß ihr einen Ellbogen in die Seite. Die
Kirche war voller als sonst. Sogar auf dem Balkon mussten
einige Besucher stehen. Der Chor sang »All Things Come of
Thee, O Lord, And of Thine Own Have We Given Thee«, und
eine ältere Dame in einem pinkfarbenen Kostüm breitete die
Arme aus und rief inbrünstig: »Amen!« Der Reverend betete
mit seiner Gemeinde und verkündete: »Dies ist der Tag des
Herrn, dies ist der Tag, an dem wir seinen Namen preisen.
Gelobt sei Gott! Gelobt sei Jesus Christus!« Aus der Gemeinde
schallte es »Amen!« und »Oh yeah!«

Als zwei Männer in schwarzen Anzügen die Kirche betraten

und nach einem kurzen Gebet an der Wand stehen blieben,
ging ein Raunen durch die Kirche. Der Mann mit dem
Oberlippenbart war Martin Luther King und sein Begleiter, ein
stämmiger Mann mit einer dunklen Hornbrille, hieß Wyatt T.
Walker und war sein Assistent. Wie fast alle anderen
Kirchgänger musterte auch Audrey den berühmten Pfarrer und
Rechtsanwalt aus Georgia. Er war kleiner, als sie gedacht
hatte, und wirkte auf den ersten Blick eher unscheinbar. Doch
schon beim zweiten Hinsehen erkannte sie das Glimmen in
seinen Augen, den Schein einer lodernden Fackel, die tief in
seiner Seele zu flackern schien. Dieser Mann war zu allem
entschlossen, das sah man, und die Kraft Gottes schien wie ein
belebendes Elixier durch seinen Körper zu fließen. Sein
»Amen!« schallte wie ein Anfeuerungsruf durch die Kirche
und sein »Hallelujah, Lord!« rüttelte die Gemeinde auf. In
seiner Gegenwart sang sogar der Chor lauter und nur der
Reverend wirkte nervöser als sonst, stolperte über den Teppich
vor dem Altar und musste sich mit beiden Händen festhalten.
Seine Predigt war nicht so kraftvoll, wie man es von ihm
gewohnt war, und als er aus der Bibel zitierte, blickte er
unsicher zu Martin Luther King und seinem Begleiter hinüber.
Während der Chor die erste Strophe eines bekannten Liedes

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sang, wischte er sich heimlich den Schweiß von der Stirn.
»Hallelujah!«, triumphierte die pinkfarbene Lady. »Gelobt sei
Jesus Christus!«

Nach Edward suchte Audrey vergeblich. Später erfuhr sie,

dass er mit den Kindern auf der Empore gestanden hatte. Betty
Ann saß bei ihren Eltern. Edward hatte die ganze Familie in
seinem Cadillac abgeholt und zur Kirche gefahren. Nach
Bessemer würde sie mit dem Bus zurückkehren. »Und nun
gehet hin in Frieden!«, sprach der Pastor den Segen und der
Chor sang ein vielstimmiges Lied, das von überschwänglichen
»Yeahs« und »Hallelujahs« begleitet wurde. Die pinkfarbene
Lady breitete ihre Arme aus und drehte sich mit erhobenem
Gesicht und geschlossenen Augen im Kreis. Manche
Kirchgänger fühlten sich Gott erst verbunden, wenn sie in
Ekstase gerieten und seine Kraft und seine Weisheit mit allen
Sinnen erfuhren. Audrey war viel zu aufgeregt um sich zu
vergessen, wartete ungeduldig, bis der Pastor die Gemeinde
zum Bleiben aufforderte und Martin Luther King vor den Altar
trat und seine kräftige Stimme erhob.

Schon nach den ersten Worten erkannte sie, warum Edward

und viele andere Menschen so von diesem Mann begeistert
waren. Wenn er sprach, wurde aus dem Glimmen in seinen
Augen ein loderndes Feuer, und wenn er seine Arme hob und
ein »Amen!« oder »Right« erschallen ließ, wiederholte die
ganze Gemeinde seine Worte. Dieser Mann war zum Predigen
geboren. »Und ich frage euch«, erhob er seine kräftige
Stimme, »warum kommen wir ausgerechnet nach
Birmingham? Ich will es euch sagen. Weil die Menschenrechte
in dieser Stadt mit Füßen getreten werden! Denn was würde
passieren, wenn ihr in den Stadtpark gehen würdet? Wenn ihr
versuchen würdet, euch an dieselbe Theke in einem Drugstore
zu setzen wie die Weißen? Und was, glaubt ihr, würde
geschehen, wenn ihr in eine weiße Kirche gehen und

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versuchen würdet, dort zu beten? Die Polizei würde euch
festnehmen, nicht wahr? Jawohl, sie würde euch ins Gefängnis
sperren, denn ihr seid schwarz und es ist euch verboten, neben
einem Weißen zu sitzen! Nicht einmal in der Kirche, denn die
Weißen würden zwar behaupten Christen zu sein, in ihrer
Kirche aber dieselbe Rassentrennung praktizieren wie in einem
Drugstore oder einem Kino! Deshalb bin ich hier, liebe
Gemeinde. Und weil mich mein guter Freund, der Reverend
Fred Shuttlesworth, gerufen hat! Er weiß, was es heißt, als
Schwarzer in Birmingham zu leben. Hat man vor sieben Jahren
nicht sein Haus zerbombt? Und hat man im selben Jahr nicht
seine Kirche gesprengt? Haben nicht dieselben weißen
Männer, die sich aufrichtige Christen und Amerikaner nennen,
seine arme Frau überfallen und beinahe zu Tode geprügelt?«

Er wartete geduldig, bis sich die Aufregung unter den

Zuhörern gelegt hatte, und schien jeden Einzelnen anzusehen,
als er fortfuhr: »Ihr wisst selbst, was man euch in dieser Stadt
angetan hat. Oder gibt es einen unter euch, nur einen einzigen
Mann, der in einem der Stahlwerke arbeitet und einem Weißen
sagen kann, was er zu tun hat? Gibt es einen, der mehr verdient
als sein weißer Kollege? Behandelt euch der Mann, der für die
Sicherheit in Birmingham verantwortlich ist, nicht wie lästiges
Ungeziefer, das man vernichten sollte? Hat dieser Bull Connor
nicht geschworen, alle unwürdigen Neger in den Dreck zu
stoßen und am nächsten Ast aufzuknüpfen, wenn sie
aufbegehren? Ich verspreche euch: So weit wird es nicht
kommen! Nein, so weit wird es niemals kommen! Nicht in
Birmingham, Alabama, und nicht in Jackson, Mississippi!
Weder in Alabama noch in Georgia oder Mississippi oder
irgendeinem anderen Staat! Denn die Macht der Liebe ist
stärker als aller Hass! Jawohl, unsere Liebe wird die bösen
Gedanken dieser verblendeten Menschen besiegen!«

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Audrey spürte, wie ein leichter Schauer über ihren Körper

lief. Die Worte des Predigers wühlten sie auf, und wenn sie
ihre Eltern und Geschwister ansah, erkannte sie, dass auch sie
von der Leidenschaft des Mannes beeindruckt waren. Selbst
ihren Vater schienen seine Worte tief zu berühren, obwohl er
versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als er den Blick
seiner Tochter spürte. Ein Mann sprang auf und rief: »Yeah!«
Die pinkfarbene Lady ließ ihr »Hallelujah!« erschallen.
Audrey blieb ruhig und zwang sich, nüchtern über die Worte
des Pastors aus Atlanta nachzudenken. Wo blieben seine
Argumente? Was wollte er tun, um die Rassentrennung in
Birmingham zu bekämpfen? Sie hatte einige der
Zeitungsausschnitte im Album ihrer Freundin gelesen und
bezweifelte, dass man den Ku-Klux-Klan mit Liebe besiegen
konnte. Wer sich gegen die Kapuzenmänner wandte, riskierte
einen grausamen Tod, und wenn es einen Massenaufstand gab,
richtete der Klan ein Blutbad an und die Polizei half ihm
dabei! Martin Luther King hatte in Montgomery gesiegt, aber
was war in Albany geschehen? Und in Birmingham war der
Geheimbund mächtiger als in jeder anderen Stadt, das hatte er
doch selbst gesagt.

»Ich weiß, was ihr denkt«, schien Martin Luther King ihre

Gedanken zu lesen. »Ich sehe den Zorn in euren Augen und
höre euch sagen: Was können wir gegen die Übermacht der
Weißen und den Ku-Klux-Klan schon ausrichten? Wir werden
alle sterben, wenn wir uns gegen diese Männer zur Wehr
setzen! Ich aber sage euch: Gegen unsere Waffen haben die
militanten Weißen nicht den Hauch einer Chance! Denn unsere
Waffe ist die Liebe! Die bedingungslose Liebe und das
Vertrauen in den guten Kern, der auch in einem schlechten
Menschen schlummert. Selbst in einem Gouverneur Wallace
und einem Bull Connor! Mit gleicher Münze heimzuzahlen,
würde den Hass nur vermehren. Wir müssen stark genug sein,

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um die Kette des Hasses zu zerreißen, und das kann nur
geschehen, wenn wir die Liebe zum Mittelpunkt unseres
Lebens machen. Ich meine nicht die Liebe, wie sie zwischen
einem Mann und einer Frau besteht. Ich spreche von der Liebe
unseres Herrn, die im Herzen eines Menschen wirkt. Eine
uneigennützige Liebe, die keinen Unterschied zwischen
würdigen und unwürdigen Menschen macht. Die in jedem
Menschen, dem sie begegnet, den Nächsten sieht. Die auch in
einem Feind einen Mitmenschen sieht. Der Charakter vieler
Weißer ist durch die Rassentrennung entstellt, ihre Seele ist
krank. Sie brauchen unsere Liebe, damit ihre Spannungen,
Unsicherheiten und Ängste beseitigt werden. Lasst uns diesen
Menschen mit Liebe begegnen, so wie Jesus seinen Feinden
gegenübergetreten ist! Lasst uns dem Beispiel des Herrn
folgen, denn er ist das Licht in der Finsternis und stark genug,
die Saat des ewigen Friedens in dieser Stadt aufgehen zu
lassen!«

Audrey sah Schweißtropfen auf der Stirn des Pastors und

spürte, wie er um die Zustimmung der Gemeinde rang. Die
Menschen waren begeistert von seiner Ausstrahlung und
begleiteten seine Worte mit Begeisterungsrufen und doch gab
es auch ungläubige und verzweifelte Blicke und ein Mann
erhob sich gar und rief: »Wollen Sie die weißen Mörder mit
Liebe besiegen? Wollen Sie den Ku-Klux-Klan mit schönen
Worten vertreiben? Sagen Sie uns, was Sie vorhaben, Mr.
King, und vertrösten Sie uns nicht mit schönen Worten! Was
soll geschehen?«

Martin Luther King schien auf einen solchen Zuruf gewartet

zu haben. Über sein Gesicht zog ein Lächeln und er
antwortete: »Sie haben Recht, mein Freund, es genügt nicht,
den Feind mit schönen Worten zu beeindrucken! Und wenn ich
von Liebe spreche, meine ich damit auch nicht, dass wir
tatenlos zusehen sollen, wie der Ku-Klux-Klan unschuldige

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Menschen aufhängt! Unser Widerstand ist aktiv! Auch wenn
wir auf den Einsatz von Gewalt verzichten und darauf
bestehen, dass alle unsere Leute ihre Waffen abgeben, sind
unser Geist und unsere Gefühle immer aktiv. Wir versuchen
unsere Gegner zu überzeugen, dass sie im Unrecht sind. Wir
leisten gewaltlosen Widerstand gegen das Böse! Durch
unseren Protest und unsere Boykotte wecken wir bei unseren
Gegnern ein Gefühl der Scham. Unser Ziel ist die Aussöhnung
mit allen Weißen, die Gründung einer neuen Gemeinschaft.«
Ein ungläubiges Raunen lief durch die Zuhörer. Audrey fragte
sich, was ein Bull Connor wohl anordnen würde, wenn die
Schwarzen gewaltlosen Widerstand leisteten. Was der Klan tat,
wenn er von der Ansprache des Pastors erfuhr.

»Ich baue keine Luftschlösser, meine Freunde!«, fuhr Martin

Luther King fort, »und ich bin nicht der Erste, der diese
Methode anwendet. Vor einigen Jahren zweifelte ich selbst an
der Macht der Liebe. Ich konnte nicht glauben, dass
Bibelworte wie ›Dem biete die andere Backe dar‹ und ›Liebe
deine Feinde‹ auch für Menschen unterschiedlicher Hautfarbe
und ganze Nationen gelten. Mahatma Gandhi hat mich eines
Besseren belehrt! Die gewaltlose Revolution dieses tapferen
Inders, der die englische Vorherrschaft in seinem Land brach
ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, überzeugte mich, wie
stark die göttliche Liebe sein kann! Die Bergpredigt mit ihrer
erhabenen Lehre von der Liebe und Gandhis Methode des
gewaltlosen Widerstands haben mir den Weg gezeigt, den ich
gehen muss. Ein Weg, den wir alle gehen müssen, wenn unser
Leben wieder lebenswert sein soll.«

Martin Luther King zog ein weißes Tuch aus seiner

Hosentasche und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Er
beobachtete zufrieden, wie beeindruckt die meisten Zuhörer
von seinen Worten waren. Nachdem das aufgeregte Gemurmel
verstummt war, fuhr er fort: »Ich will euch sagen, wie wir die

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Herrschaft des Bösen in Birmingham beenden können.« Seine
Stimme klang jetzt noch fester und entschlossener. »Wir
gründen eine Armee! Zusammen mit dem Alabama Christian
Movement for Human Rights meines Freundes Fred
Shuttlesworth, seiner christlichen Bewegung, die schon seit
einigen Jahren für die Menschenrechte kämpft, stellen wir eine
Armee auf! Nein, meine Freunde, ich zögere nicht, unsere
Bewegung eine Armee zu nennen, denn sie ist eine besondere
Armee, mit keiner anderen Ausrüstung als ihrer Aufrichtigkeit,
keiner Uniform außer ihrer Entschlossenheit, keinem
Waffenarsenal außer ihrem Glauben, keiner Währung außer
ihrem Gewissen. Wer sich dieser Armee anschließen will,
möge nach vorne treten und die Erklärungen unterschreiben,
die mein Mitstreiter, Mr. Wyatt T. Walker, bereithält. Darin
verpflichtet sich jeder Teilnehmer auf den Einsatz von Gewalt
zu verzichten, im Geist der Liebe zu gehen und zu sprechen,
persönliche Wünsche zu opfern, um allen Menschen zur
Freiheit zu verhelfen und im Sinne unseres Herrn zu handeln.
Amen.«

Während die ersten Männer und Frauen nach vorn gingen

und das Formular unterschrieben, erklärte Martin Luther King,
dass er sein »Project C« nach der bevorstehenden
Bürgermeisterwahl mit Sit-ins in den Kaufhäusern und
Drugstores und ersten Protestmärschen beginnen würde. Das
›O‹ stand für »Confrontation«. Audrey beobachtete, wie ihr
Vater mürrisch den Kopf schüttelte und etwas sagte, das sie
nicht verstand. Ihre Mutter blickte ratlos in die Runde. Sie
gehörten zu den wenigen Leuten, die sitzen blieben und sich
nicht von der Begeisterung, die Martin Luther King geweckt
hatte, anstecken ließen. Audrey war unschlüssig. Ein Teil von
ihr wollte aufspringen und ihrer Freundin Betty Ann folgen,
die zu den ersten gehörte, die das Formular unterschrieben, ein

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anderer Teil spürte den strengen Blick ihres Vaters und
verharrte auf der Kirchenbank.

Sie saß immer noch an ihrem Platz, den Kopf gesenkt, die

Hände gefaltet, als Edward lächelnd neben ihr auftauchte und
sagte: »Komm, Audrey, ich stelle dich Mr. King vor! Sie
erlauben doch, Mr. und Mrs. Jackson…« Er wartete, bis sie
aufgestanden war und sich bei ihm eingehakt hatte, und führte
sie zum Altar.

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9



Obwohl Audreys erste Begegnung mit Martin Luther King nur
wenige Minuten dauerte, würde sie ihr immer im Gedächtnis
bleiben. Sie erinnerte sich an seinen entschlossenen Blick,
seine braunen Augen, die selbst in ernsten Augenblicken viel
von seiner Wärme und Güte verrieten, seinen festen
Händedruck und den herben Duft seines Rasierwassers. Ihre
Unterhaltung wurde von aufgeregten Kirchgängern
unterbrochen, die mehr über Project C wissen wollten und ihn
mit Fragen bestürmten. Und doch nahm er sich die Zeit, ihre
Hand zu schütteln und zu sagen: »So sieht also das Mädchen
aus, das unserem Edward den Kopf verdreht hat!«

»Audrey Jackson«, stellte sie sich vor, »ich habe schon viel

von Ihnen gehört, Dr. King.« Das klang ziemlich banal und ihr
fielen später tausend andere Sätze ein, doch sie war in diesem
Augenblick zu aufgeregt um etwas Geistreiches zu sagen. In
der Gegenwart des bekannten Predigers, den sie bisher nur aus
dem Fernsehen kannte, war sie kaum fähig einen klaren
Gedanken zu fassen. »Ihre Rede war sehr… sehr
leidenschaftlich, Dr. King.«

»Es freut mich, dass sie Ihnen gefallen hat. Ich bin glücklich,

einige Menschen dazu gebracht zu haben, sich für unsere
Bewegung zu begeistern.« Er wies auf die vielen Menschen,
die das Formular unterschrieben. »Nur wenn sich die Mehrheit
der schwarzen Bürger unserer Armee der Liebe anschließt,
haben wir eine Chance, den Hass in dieser Stadt zu besiegen.«
Er musterte sie eine Weile. »Glauben Sie an Jesus, Miss
Jackson?«

»Ich verstehe nicht, Dr. King…«

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»Eine dumme Frage, nicht wahr? Natürlich glauben Sie an

Jesus. Alle Menschen, die diese Kirche besuchen, glauben an
den Sohn Gottes. Aber die wenigsten sind bereit, so zu leben
wie er. Jesus Christus war ein tapferer Mann, obwohl er
niemals eine Waffe in den Händen hielt. Er war ein Soldat des
Friedens. Er war bereit, für seinen Glauben an die Zukunft in
den Tod zu gehen. Kein Soldat hat jemals solchen Mut
gezeigt! Jesus blickte seinen Mitmenschen in die Augen und
sagte: ›Liebet eure Feinde! Segnet die, die euch verfluchen!
Betet für die, die euch beleidigen!‹ Solche Worte kann nur ein
Mann sprechen, der mit seinem ganzen Herzen an die Macht
der Liebe glaubt. Nur wenn wir seiner Spur folgen, Miss
Jackson, können wir diesen Kampf gewinnen. Nur wenn wir
uns an den Händen fassen und dieselben Lieder singen, können
wir den Hass in Birmingham überwinden!« Er lachte kurz.
»Aber ich fange schon wieder an zu predigen. Ich nehme an,
ich kann gar nicht mehr anders. Ich habe gehört, Sie wollen
heute Nachmittag ein Picknick veranstalten?«

»Das stimmt, Dr. King.« Sie blickte Edward an. »Wir wollen

ins Grüne fahren und ein bisschen frische Luft schnappen.«
Wieder so ein einfallsloser Satz. Fühlte sie sich schuldig, weil
sie kein Formular unterschrieben hatte? Sie war überzeugt,
dass Martin Luther King ihr mit seiner Erklärung ins Gewissen
reden wollte. Ihm war bestimmt nicht entgangen, dass sie
sitzen geblieben war. Doch in diesem Augenblick war sie viel
zu verwirrt um eine Entscheidung zu treffen. Sie bewunderte
Betty Ann, die ohne zu zögern zum Altar gegangen war und
das Formular unterzeichnet hatte, und verfluchte ihre eigenen
Zweifel. Sie war zu feige, um für eine bessere Zukunft aller
Schwarzen auf die Straße zu gehen. Sie klammerte sich an das
bisschen Glück, das ihre Eltern sich mühsam erarbeitet hatten,
und dachte nicht daran, sich für die vielen anderen Menschen
im Schwarzenviertel einzusetzen, denen es schlechter als ihrer

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Familie ging. Sie hatte Angst, ihr gewohntes Leben aufgeben
zu müssen. Dachte sie wie ihr Vater? Wollte sie, dass alles so
blieb, wie es war? »Es tut mir Leid, Dr. King!«, sagte sie mit
erstickter Stimme und rannte davon.

Vor der Kirche lehnte sie sich auf das breite Treppengeländer

und seufzte kummervoll. Sie spürte die neugierigen Blicke der
anderen Kirchgänger und bemerkte, wie ihr Vater sie
missbilligend ansah. Sie riss sich zusammen und war froh, dass
Edward in diesem Augenblick aus der Kirche kam und ihr ein
Lächeln entlockte. »Komm, wir gehen ein Stück!«, sagte er
und führte sie die Treppe hinab. Ihren Eltern gab er durch ein
knappes »Alles in Ordnung, Mr. Jackson!« zu verstehen, dass
sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. »Wir kommen
nachher bei Ihnen vorbei!«

Abseits der Kirchgänger, die wie nach jedem Gottesdienst

vor der Kirche stehen blieben und Neuigkeiten austauschten,
legte Edward seiner Freundin einen Arm um die Schultern. Er
hatte längst erkannt, welche Gedanken sie plagten. »Mach dir
keine Vorwürfe, Audrey! Niemand will dich oder deine
Familie unter Druck setzen! Ich habe gesehen, was ihr euch
aufgebaut habt. Ich kann mir vorstellen, wie schwer euch die
Entscheidung fallen muss, dieses Glück aufs Spiel zu setzen!
Lass dir Zeit, okay?«

Sie blieb stehen und wischte sich einige Tränen aus den

Augen. »Ich fühle mich so… so schäbig, Edward! Martin
Luther King hat Recht, wenn er sagt, dass wir Jesus
bedingungslos folgen müssen, wenn wir wirklich glücklich und
zufrieden sein wollen. Aber ich bringe es einfach nicht fertig,
in eure… eure Armee einzutreten.« Sie kramte ein
Taschentuch hervor und schnauzte sich. »Versuch mich zu
verstehen, Edward! Versuch meinen Vater zu verstehen! Er hat
sein ganzes Leben gearbeitet, um uns ein besseres Leben zu
ermöglichen. Der Laden, das Haus… warum soll er das alles

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aufs Spiel setzen, um einen aussichtslosen Kampf gegen die
Weißen zu führen? Eine Armee der Liebe… die Weißen lassen
es sich bestimmt nicht gefallen, dass ihr protestiert! Die Polizei
wird die Anführer festnehmen und ins Gefängnis sperren und
der Ku-Klux-Klan… der Klan wird brennende Kreuze
aufstellen und unschuldige Menschen ermorden!«

»Die Macht der Liebe ist stärker als aller Hass«, wiederholte

Edward die Worte seines Lehrers. »Denke an Jesus Christus!
Auch er stand in seiner schwersten Stunde einer Übermacht
von bewaffneten Männern gegenüber und doch hat er
triumphiert!«

»Jesus war vollkommen! Er verwandelte Wasser in Wein und

stand von den Toten auf! Welche Wunder willst du tun, um die
Weißen zu besiegen? Glaubst du wirklich, dass uns die Weißen
einmal als gleichwertige Menschen betrachten werden? Dass
die beiden Kerle, die mich überfallen haben, ihren Hass
vergessen?« Sie schüttelte den Kopf und seufzte leise. »Ich
möchte es so gerne glauben, Edward, aber ich kann nicht. Ich
kann nicht.«

Er nahm den Arm von ihren Schultern und führte sie zur

Kirche zurück. »Eines Tages wirst du daran glauben, da bin ich
ganz sicher. Mach dich nicht verrückt! Auch Martin Luther
King brauchte lange, bis er den Mut fand, diesen Weg zu
gehen.« Er blieb stehen und betrachtete sie. »Das Kleid steht
dir wirklich gut, Audrey! Ich wette, heute würde sogar Mary
Wells neben dir verblassen!«

Audrey war nicht auf ein solches Kompliment gefasst und

wusste nicht, was sie sagen sollte. Mary Wells gehörte zu den
wenigen schwarzen Sängerinnen, die weit oben in den Charts
standen, und ihre Fotos hingen bei fast allen schwarzen
Teenagern an der Wand. »Hi, Cynthia«, lenkte Audrey schnell
ab, als sie die Tochter des Direktors entdeckte. Das Mädchen
unterhielt sich angeregt mit drei Freundinnen. Zwei der

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Mädchen, Carol Denise McNair und Addie Mae Collins,
sangen wie Cynthia im Kinderchor der Kirche, das andere
Mädchen kannte Audrey nur vom Sehen. »Wie geht’s dir?«,
sagte sie zu Cynthia. »Sind deine Eltern hier?«

Cynthia deutete auf die Erwachsenen, die in kleinen Gruppen

vor der Kirche standen und sich unterhielten. »Die sind
irgendwo da drüben. Hast du schon von unserem Konzert
gehört? Pastor Cross hat uns versprochen, dass wir am
Ostersonntag für die Erwachsenen singen dürfen! Wir geben
ein richtiges Konzert!«

»Das freut mich«, erwiderte Audrey. »Wenn Edward noch

hier ist, kommt er bestimmt auch!« Sie blickte ihren Freund an
und spürte einen leichten Stich, als sie daran dachte, dass er
ihre Stadt irgendwann verlassen würde. »Hast du von Sarah
gehört?«

»Sarah Lee? Die ist okay. Ich hab gestern Morgen lange mit

ihr telefoniert und ihr gesagt, dass sie keine Angst mehr zu
haben braucht. Jetzt hat der Klan bestimmt andere Sorgen!
Glaubst du, wir können die Klansmänner vertreiben? Ich hab
gehört, was Dr. King gesagt hat. Meinst du, die
Kapuzenmänner laufen davon, wenn Martin Luther King und
seine Leute auf die Straße gehen? Addie Mae sagt, dass sie alle
Schwarzen aufhängen!«

»Das ist nicht wahr!«, wehrte sich Addie Mae. Mit ihrer

Brille und den krausen Haaren wirkte sie jünger als Cynthia,
obwohl sie im selben Jahr geboren war. »Ich hab nur gesagt,
dass sie jeden aufhängen, der gegen sie ist. Das weiß ich von
meinem Daddy!«

»Glaub mir, wir tun alles, damit so etwas nicht mehr

passiert!«, meinte Edward. »Irgendwann kommt der Tag, an
dem sich Weiße und Schwarze verstehen werden. Dann ist es
egal, welche Hautfarbe du hast. Du wirst es erleben, das

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verspreche ich dir! Aber du musst jeden Tag zum lieben Gott
beten! Tust du das?«

»Wir beten jeden Tag, Mister. Vor jedem Essen und in der

Schule. Und sonntags gehen wir in die Kirche. Ich hab in
diesem Jahr noch keine Sonntagsschule verpasst, stimmt’s,
Cynthia?«

»Ich auch nicht«, meinte die Tochter des Direktors.
Audrey war froh, dass Edward ihr zu Hilfe gekommen war.

Allein hätte sie bestimmt eine falsche Antwort gegeben. »Wir
sehen uns morgen in der Schule«, verabschiedete sie sich von
Cynthia.» Sag deinen Eltern einen schönen Gruß von mir, ja?«

»Mach ich, Audrey. Bis bald!«
Das kurze Gespräch mit den Mädchen hatte Audreys

Gemütslage erheblich verbessert. Sie konnte schon wieder
lachen, als sie neben Edward in seinem Caddy saß, und freute
sich auf das bevorstehende Picknick. Das letzte Picknick
hatten sie mit ihren Nachbarn im Sommer veranstaltet. Sie
konnte sich noch genau daran erinnern, weil Robin und
Napoleon den heißen Kakao über dem ausgebreiteten
Tischtuch ausgegossen hatten. Mit einem jungen Mann war sie
noch nie im Grünen gewesen. Die wenigen Jungen, mit denen
sie ausgegangen war, hatten sie ins Kino, in einen Drugstore
oder in ein Tanzlokal geführt. Ihre Namen hatte sie vergessen.
Edward war der erste Mann, der mehr als nur ein leichtes
Kribbeln in ihrem Bauch verursachte.

»Du kannst gut mit Kindern umgehen«, sagte sie, als sie am

Kelly Ingram Park vorbeifuhren. »Wo hast du das gelernt?«

Er hatte beide Hände auf dem Lenkrad liegen. »Ich hab mich

schon in Montgomery und Alabama um die Kinder
gekümmert. Sie haben Angst um ihre Eltern. Manche glauben
sogar, dass alle Erwachsenen, die gegen die Weißen
protestieren, auf den elektrischen Stuhl kommen und sterben

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müssen. Ich musste ihnen Mut machen. Ich habe viel mit ihnen
gesungen und gebetet.«

Sie lächelte. »Nur mit Jay-Jay kommst du nicht zurecht! Ich

glaube, der ist uns allen über! Ich möchte wissen, wo er
steckt!«

»Jay-Jay ist ein Überlebenskünstler«, erwiderte Edward. Er

machte sich kaum Sorgen um den Jungen. »Der meldet sich
schon, wenn er was von uns will. Einer wie er geht nicht
unter!«

»Hoffen wir’s«, meinte Audrey. Sie wartete, bis Edward vor

dem Haus ihrer Eltern geparkt hatte, und rannte hinein, um den
Picknickkorb zu holen. Ihre Eltern waren noch nicht zu Hause.
»Gott sei Dank!«, seufzte sie, nachdem sie den Korb auf den
Rücksitz gestellt hatte. »Ich glaube, mein Vater hat heute
schlechte Laune!«

»Wegen Martin Luther King?«
Audrey nickte. »Die Sache macht ihm ziemlich zu schaffen.

Du darfst ihm nicht böse sein! Er ist kein Feigling! Er hat im
Zweiten Weltkrieg gegen die Japaner gekämpft! Jetzt hat er
Angst um uns! Er will nicht, dass wir mutwillig unsere
Zukunft zerstören!«

»Er wird seine Meinung ändern«, war Edward sicher.
»Das glaube ich nicht. Daddy kann ziemlich stur sein.«
Edward bog in eine Tankstelle und wartete geduldig, bis der

schwarze Angestellte seinen Wagen vollgetankt hatte. Er
bezahlte und wollte gerade wieder losfahren, als Jay-Jay
einstieg und es sich auf dem Rücksitz bequem machte. »Hallo,
Leute!«, meinte er. »Ich dachte schon, ihr wollt ohne mich
losfahren!«

»Jay-Jay!«, erschrak Audrey. »Wo kommst du denn her?«
Der Junge trug dieselben Sachen wie vor zwei Tagen und

hatte seine Baseballmütze tief in die Stirn geschoben. »Ich war
unterwegs. Wichtige Sache! Wenn du auf der Straße überleben

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willst, brauchst du Stammkunden! Verlässliche Leute. Ohne
Stammkunden kannst du einpacken! Hab ich in New York City
gelernt.«

»Was für Stammkunden?«, fragte sie. Sie drehte sich zu dem

Jungen um. »Du machst doch keine krummen Sachen, oder?«

Jay-Jay grinste unter seiner Baseballmütze. »Schon mal mit

ehrlicher Arbeit reich geworden? Für das Kleingeld, das ich
Leuten wie euch abluchse, krieg ich nicht mal ‘n Abendessen!«

»Du kommst ins Gefängnis, wenn du gegen das Gesetz

verstößt!«, sagte Audrey. »Ein paarmal hast du vielleicht
Glück, aber irgendwann erwischen sie dich und dann landest
du hinter Gittern! Warum gehst du nicht zu deiner Tante? Die
hilft dir bestimmt! Geh in die Schule und lern was! Mit einer
anständigen Ausbildung verdienst du genug Geld! Dann kannst
du dir ‘ne Wohnung leisten und im Laden einkaufen! Du
brauchst dich nicht mehr auf der Straße herumzutreiben! Denk
darüber nach!«

»Du klingst wie dieser Pinguin, der mir in Brooklyn an die

Wäsche wollte, diese Schwester Sowieso!«, erwiderte Jay-Jay
schnippisch. »Die wollte mir doch tatsächlich weismachen,
dass ich nur in den Himmel komm, wenn ich ins Kloster geh!
Ich lach mich kaputt. Wer sagt denn, dass ich in den Himmel
will?«

»Kein Mensch redet von einem Kloster!«, mischte sich

Edward ein. Er war auf die Hauptstraße gebogen und fuhr
langsam nach Südosten weiter. »Wir wollen nur, dass du nicht
vor die Hunde gehst. Was ist das für ‘n Stammkunde, für den
du arbeitest?«

»Betriebsgeheimnis.«
»Haben wir dich vielleicht verraten? Haben wir dir eine

Klosterschwester auf den Hals gehetzt? Wir sind deine
Freunde, Mann!«

»Ich darf seinen Namen nicht sagen.«

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»Ein Schwarzer?«
»Was denn sonst?«
»Was machst du für ihn? Botengänge?«
»So was Ähnliches.« Jay-Jay blickte vorwurfsvoll unter

seiner Mütze hervor. »Was soll das werden, Meister? Ein
Verhör?«

»Edward.«
»Was?«
»Ich heiße Edward.«
»Ach, lass mich in Ruhe!«
Edward verkniff sich ein Lächeln. Ohne ein weiteres Wort

fuhr er zur Fourth Avenue und hielt mitten im Rotlichtbezirk
neben einem Lincoln Continental. Er deutete auf den
Schuhputzladen an der Ecke 17th Street und fragte: »Wohnt
der Kerl vielleicht hier?«

Audrey erschrak. Wie fast alle Schwarzen wusste sie, wer

diesen Schuhputzladen als Tarnung benutzte. Es war ein
offenes Geheimnis, dass der Rat Killer im Hinterzimmer mit
Rauschgift, Schnaps und leichten Mädchen handelte. Sogar
Stars wie Sam Cooke und B. B. King vergnügten sich nach
einer Show bei ihm.

»Der Typ heißt Charles Barnett, nicht wahr? In Birmingham

nennen sie ihn den ›Rat Killer‹, weil er vor einigen Jahren
noch als Kammerjäger gearbeitet und Ungeziefer vernichtet
hat. Ein großer Schwarzer mit gelackten Haaren und einer
goldenen Taschenuhr und genug Dollarscheinen in seinem
Maßanzug, um ganz Alabama zu kaufen! Arbeitest du etwa für
diesen Gauner?«

»Den Rat Killer hab ich nie gesehen«, antwortete Jay-Jay.
»Aber seine Leute! Weißt du nicht, wie gefährlich diese

Burschen sind? Die schrecken vor nichts zurück! Die bringen
dich um, wenn du ihnen im Weg bist, und kein Gericht der
Welt verurteilt sie dafür! Rat Killer ist ein Gangsterkönig! Er

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handelt mit jedem, der ihm Geld verspricht, mit Weißen und
Schwarzen, und wir haben sichere Beweise dafür, dass er
Spitzeldienste für die Polizei übernimmt! Er steckt mit Bull
Connor unter einer Decke! Manche Leute behaupten sogar,
dass er für den Klan arbeitet!«

»Für einen Mann, der erst seit wenigen Tagen in der Stadt ist,

weißt du erstaunlich gut Bescheid«, erwiderte Jay-Jay
amüsiert.

Die Fahrertür des Lincoln Continental ging auf und ein Mann

in grauer Chauffeursuniform stieg aus. Ein Schwarzer. Er ging
dienstbeflissen um die Limousine herum und öffnete eine der
hinteren Türen. Den Cadillac schien er erst jetzt zu bemerken.
Er sagte etwas zu dem Mann auf dem Rücksitz und rückte
eifrig seine Krawatte zurecht, als sein Fahrgast ausstieg.

»Runter!«, rief Edward erschrocken und Jay-Jay war schlau

genug, sich ohne Widerrede zwischen die Sitze fallen zu
lassen. Mit der rechten Hand schob Edward eine alte
Wolldecke über ihn.

Ein elegant gekleideter Mann stieg aus dem Lincoln

Continental. Audrey erkannte ihn sofort. Sie hatte sein Bild
mehrmals in der Zeitung gesehen, zuletzt im Dezember, als er
auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung eine großzügige Summe
für ein neues Krankenhaus gespendet hatte. Der Rat Killer! Er
war kleiner, als sie gedacht hatte, und trug seinen Spazierstock
wie englische Offiziere in einem Abenteuerfilm. Sein Gesicht
wirkte kantig und streng. Noch bevor Edward auf die Idee
kommen konnte, auf den Gashebel zu treten und zu fliehen,
tauchte er vor seinem Fenster auf und wartete, bis er es
heruntergekurbelt hatte. »Sie arbeiten für Martin Luther King,
nicht wahr?« Seine Stimme klang erstaunlich sanft. »Wenn ich
Ihnen einen guten Rat geben darf, junger Mann: Verschwinden
Sie oder ich rufe augenblicklich die Polizei! Ich mag es nicht,
wenn man hinter mir herschnüffelt!«

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»Und ich mag es nicht, wenn ein Schwarzer gemeinsame

Sache mit Bull Connor macht!«, erdreistete sich Edward zu
sagen.

»Verschwinden Sie!«, sagte der Rat Killer noch mal.
Diesmal ließen seine Worte keine Widerrede zu und Edward

beeilte sich, den Wagen über die Fourth Avenue nach
Nordosten zu lenken. »Du kannst wieder rauskommen«, sagte
er zu Jay-Jay, als sie die Hauptstraße erreicht hatten.

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10



»Dem hast du’s aber ganz schön gegeben«, meinte Jay-Jay
grinsend, als sie die Außenbezirke von Birmingham erreicht
hatten. »Heiße Kiste, die Sache mit Bull Connor! Du kannst
froh sein, dass er dir keine Knarre an die Stirn gedrückt hat!«
Er zog am Schirm seiner Baseballmütze und bemühte sich
seine Nervosität zu verbergen. »Rat Killer ist ‘ne große
Nummer! Der kennt keine Verwandten, wenn er einen auf der
Liste hat. Ich hab selbst gesehen, wie seine Leute einen Mann
verprügelt haben. Einen Schwarzen! Ein Musiker, der seine
Schulden nicht bezahlen konnte. Sie haben ihn windelweich
geschlagen und ihn zwischen den Mülltonnen liegen lassen.
Ich hab’s gesehen, Mann!«

»Und wieso lässt du dich mit ihm ein? Die machen mit dir

genau dasselbe, wenn du Mist baust! Schon mal drüber
nachgedacht? Einem Mann wie Rat Killer ist es egal, wie alt
du bist.«

Jay-Jay winkte ab. »Ich kenn den Typ doch kaum. Hab nie

mit ihm gesprochen. Ich hab ein paar Botengänge für seine
Handlanger übernommen, weiter nichts. Keine große Sache!«

»Ich würde ihm trotzdem aus dem Weg gehen. Wegen der

paar Dollar lohnt es sich bestimmt nicht, für einen Gangster zu
arbeiten. Such dir einen anständigen Job, Jay-Jay, das bringt
mehr!«

»Und was soll ich tun? Weißen Angebern die Schuhe putzen?

Einen Gepäckkarren am Bahnhof schieben? Ich brauch Kohle,
Mann, richtige Kohle, und die bekomm ich nur, wenn ich früh
genug die richtigen Quellen anzapfe. Ich will was Besseres
werden als mein Vater oder meine Mutter. Also komm mir

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nicht mit diesen Sprüchen! Von wegen geh in die Schule und
lern was und mach einen Diener, wenn du mit dem weißen
Gentleman sprichst!« Er blieb eine Weile stumm sitzen, dann
beugte er sich zur Seite und hob das karierte Tuch auf dem
Picknickkorb hoch. »He, ist das Thunfisch auf den
Sandwiches? Mit Majonäse, Tomaten und dem ganzen Zeug?
Ich nehm mir schon mal eins, okay?«

»Du wirst schön die Finger von den Broten lassen!«, warnte

Edward grinsend. »Die gibt’s erst, wenn wir einen Platz
gefunden haben! Nimm dir ‘ne Cola!« Er beobachtete im
Rückspiegel, wie Jay-Jay eine Flasche öffnete und gierig trank.
Zu Audrey sagte er: »Ich hab gedacht, wir fahren den Highway
31 raus. Da gibt’s viel Wald und wir können uns zwischen den
Bäumen verstecken.«

Audrey wusste, was er meinte. Die öffentlichen

Picknickplätze waren für Schwarze verboten und am
Straßenrand boten sie eine willkommene Zielscheibe für den
Klan und andere streitlustige Weiße. Sie ballte die Faust.
Früher hätte sie nie darüber nachgedacht. Erst seit sie Edward
kannte und Martin Luther King gehört hatte, wurde ihr
bewusst, wie wenig Rechte sie hatten. Sie verdrängte die
dunklen Gedanken und blickte Edward an. »Letztes Mal waren
wir auch im Wald«, sagte sie, »ein paar Meilen aus
Birmingham raus und dann links in die Büsche. Da kommt
keiner hin!«

Edward merkte, wie verstört sie war, sagte aber nichts.

Audrey würde ein paar Tage brauchen, um über die Predigt
von Martin Luther King nachzudenken. Sie war nicht so
impulsiv wie Betty Ann, die am liebsten sofort in einen
heiligen Krieg gezogen wäre. In Albany war es ähnlich
gewesen. Die meisten Schwarzen waren so daran gewöhnt, von
den Weißen unterdrückt zu werden, dass sie sich ein anderes
Leben kaum noch vorstellen konnten. Nach dem Bürgerkrieg,

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vor ungefähr hundert Jahren, war es ähnlich gewesen. Da gab
es befreite Sklaven, die zu ihren Herren zurückkehrten, weil
sie mit der Freiheit nichts anzufangen wussten. Sie wollten
lieber in Knechtschaft leben.

Sie ließen die Stadt hinter sich und fuhren über den Highway

31 nach Norden. Auf der Straße war wenig Verkehr. Aus den
Schornsteinen der Stahlwerke zog Rauch herüber und legte
sich als grauer Schleier über die Felder. Birmingham war eine
hässliche Industriestadt und selbst in den ländlichen Vororten
und auf den weit verstreuten Farmen war der Schmutz zu
spüren.

Der weiße Mann saß wieder auf der Veranda, den gefleckten

Hund zu seinen Füßen, als sie an dem Laden mit dem Coca-
Cola-Schild vorbeifuhren. Er kümmerte sich nicht um sie, hob
nicht einmal den Kopf. Audreys Gedanken wanderten zu den
Thorntons, die ein paar Meilen weiter nördlich wohnten. Sie
hatten so verängstigt gewirkt, als sie aus ihrem Versteck
geklettert waren, dass sie sich ernsthafte Sorgen machte. Selbst
wenn der Klan nicht zurückkehrte, war die Gefahr groß, dass
der gemeine Überfall auf Michael die ganze Familie in die
Knie zwang. Ihre Augen waren voller Schmerz gewesen, als
sie den Jungen im Rollstuhl angesehen hatten. Sie tröstete sich
damit, dass Cynthia erzählt hatte, es gehe den Thorntons gut,
sie hätten keine Angst mehr.

»Hier geht’s nach links«, sagte Audrey, als sie den schmalen

Feldweg erkannte, über den sie im letzten Sommer gefahren
waren. »Und dann nach rechts in den Wald rein! Gleich die
erste Lichtung!« Sie drehte sich zu dem Jungen um. Er
nuckelte stumm an seiner Colaflasche. »He, Jay-Jay! Bist du
noch da?«

»Ich hab Hunger«, kam die mürrische Antwort.
Sie breiteten das karierte Tischtuch auf der Lichtung aus, die

Audrey ihnen zeigte. Zwischen den Bäumen war nichts von

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der nahen Stadt zu spüren. Der Highway schien meilenweit
entfernt zu sein. Die Stille vertrieb Audreys sorgenvollen
Gedanken und zauberte ein zufriedenes Lächeln auf ihr
Gesicht. Es tat gut, dem Alltag und den täglichen Sorgen zu
entfliehen. Bei der Vorstellung, dass sie Edward und Jay-Jay
beinahe schon zur Familie zählte, errötete sie. Zum Glück
konnte Edward ihre Gedanken nicht lesen. Oder doch? »So
was hab ich schon jahrelang nicht mehr gemacht«, sagte er,
»das letzte Mal mit meinen Eltern, mein Gott, das ist schon
eine halbe Ewigkeit her! Am Lake Michigan.«

Edward sprach ein kurzes Gebet, bevor sie aßen und Jay-Jay

sich heißhungrig über ein Thunfisch-Sandwich hermachte. Er
kaute mit vollen Backen, spülte die Bissen mit Coca-Cola
hinunter und griff nach einem Hühnchenteil, bevor ein anderer
es nehmen konnte. Erst dann aß er von dem Kartoffelsalat, den
Audreys Mutter in ein Glas gefüllt hatte. Zum Nachtisch teilten
sie sich eine halbe Wassermelone. »Nicht übel«, lobte Jay-Jay,
»so ‘n gutes Essen hab ich schon lange nicht mehr bekommen!
Noch besser als der Cheeseburger aus dem Drugstore!« Er
stützte sich auf die Ellbogen und leckte sich über die Lippen.

»Wie wär’s mit einem Spielchen?«, fragte Edward, nachdem

sie den Korb mit den Essensresten im Wagen verstaut hatten.

»Poker? Ich bin gut im Pokern«, sagte Jay-Jay.
Edward öffnete den Kofferraum und warf ihm einen

Baseballschläger zu. Der Junge fing ihn geschickt auf.
»Baseball«, erwiderte Edward, griff nach dem Ball und reichte
Audrey den Lederhandschuh. »Wollen doch mal sehen, was du
so draufhast!«

»Baseball ist was für Weiße!«
»Das haben sie von Football auch gesagt!«
Audrey zog den festen Handschuh an und baute sich hinter

dem Jungen mit dem Schläger auf. Sie kannte die Regeln, hatte
schon einige Male mit ihrem Vater und ihrem älteren Bruder

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gespielt. Ihr Vater warf den Ball so schwach, dass sie keine
Mühe hatte, ihn zu fangen, wenn Napoleon ihn verfehlte.
Edward legte mehr Kraft in seine Würfe. Von seinem ersten
Schlag wurde sie beinahe umgeworfen. Jay-Jay traf erst beim
siebten Mal und reckte triumphierend den Schläger in die
Höhe. »Um mich zu schlagen, musst du schon früher
aufstehen!«, tönte er.

Sie spielten, bis die Sonne weit nach Westen gewandert war

und die Lichtung vollkommen im Schatten lag. Obwohl
Audrey erschöpft war, fühlte sie sich seltsam beschwingt. »So
einen schönen Sonntag hab ich schon lange nicht mehr erlebt«,
sagte sie und erschrak, als sie Edward umarmte und ihn auf
beide Wangen küsste. »Nicht so stürmisch!«, lästerte Jay-Jay.

Ihre gute Laune verging erst, als sie über den Feldweg zum

Highway fuhren und Audrey eine dunkle Rauchwolke über
dem Wald aufsteigen sah. »Das kommt von den Thorntons!«,
erkannte sie sofort. »Lass uns bei den Thorntons vorbeifahren!
Am Highway nach links und dann zwei oder drei Meilen nach
Norden!«

»Der Klan?«, fragte Jay-Jay nervös.
»Sieht ganz so aus«, antwortete Edward besorgt. Er steuerte

den Cadillac auf den Highway und trat den Gashebel durch.
Audrey hielt sich mit beiden Händen an der Halteschlaufe fest,
als sie zur Farm der Thorntons abbogen und ins Schleudern
gerieten. Auf dem Feldweg waren frische Reifenspuren zu
erkennen. Edward schonte den Caddy nicht, trieb ihn mit
Vollgas durch die Schlaglöcher und hielt mit quietschenden
Bremsen auf dem Hof.

Sie kamen zu spät. Das Farmhaus und der Hühnerstall waren

abgebrannt, nur die Scheune war verschont worden. Von den
schwelenden Trümmern stieg beißender Rauch auf. Der Hund
lag zwischen einigen Brettern, in seinem verkohlten Fell waren
mehrere Einschusslöcher zu sehen. Einige Hühner liefen

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ziellos umher und gackerten nervös. Neben den Überresten des
Hauses erhob sich ein brennendes Kreuz, das sichtbare
Zeichen dafür, dass der Ku-Klux-Klan die Thorntons
heimgesucht hatte.

»Mein Gott!«, stieß Audrey entsetzt hervor. Sie hielt sich ein

Taschentuch vor Mund und Nase und blickte fassungslos auf
das Chaos. »Sarah Lee! Michael! Sie können doch nicht…«
Sie rannte über den Hof, suchte zwischen den schwelenden
Trümmern nach der Falltür und wich zurück, als die Hitze und
der Rauch unerträglich wurden. »Sarah Lee! Michael!«, schrie
sie verzweifelt.

»Mr. Thornton! Mrs. Thornton! Wo sind Sie?«, rief Edward.
Jay-Jay sagte gar nichts. Er starrte mit geweiteten Augen auf

das brennende Kreuz, schien erst jetzt zu verstehen, dass es
den Ku-Klux-Klan wirklich gab und die
Schreckensgeschichten nicht erfunden waren. Seine Augen
füllten sich langsam mit Tränen.

»Mr. Thornton! Sind Sie hier irgendwo?«
Die Scheunentür öffnete sich und die Thorntons traten

zögernd ins Freie. Ihre Gesichter waren rußgeschwärzt und
ihre Kleidung hing in Fetzen herunter. Alex Thornton hielt
eine Schrotflinte in beiden Händen. Seine Frau schob den
Jungen im Rollstuhl. Sarah Lee klammerte sich mit verstörtem
Blick an ihre Mutter. Alex Thornton ließ die Schrotflinte
sinken und sagte: »Ihr kommt zu spät, Leute! Wir können von
Glück sagen, dass wir noch am Leben sind! Sie wollten uns
alle aufhängen! Die ganze Familie!«

Edward holte eine Wasserflasche aus dem Wagen und gab

den Thorntons zu trinken. Audrey umarmte die weinende
Sarah Lee. »Sie kamen vor ein paar Stunden«, berichtete Alex
Thornton, nachdem er aus der Flasche getrunken hatte, »vier
Männer in weißen Kutten und zwei junge Kerle in einem Pick-
up. Zum Glück haben sie unser Versteck nicht gefunden! Wir

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sind sofort rein, als wir sie kommen sahen, und erst wieder
raus, als wir halb erstickt waren! Sie haben Amber
umgebracht, nicht wahr?«

»Den Hund?« Edward nickte. »Sie haben ihn erschossen.«
Alex Thornton zeigte keine Regung. »Das dachte ich mir!

Wir haben gehört, wie sie geschossen haben. Die Kerle mit
dem Pick-up waren betrunken!« Er hielt die Schrotflinte hoch.
»Ich hätte sie über den Haufen geschossen, wenn sie in unser
Versteck gekommen wären! Ohne zu zögern! Ich schwöre es,
ich hätte zwei oder drei von ihnen mitgenommen, bevor sie
uns aufgehängt hätten! Das sind keine Menschen! Das sind
wilde Tiere!«

»Sie haben großes Glück gehabt, Mr. Thornton«, sagte

Edward ruhig. »Haben Sie was abbekommen? Sind Sie
verletzt? Wenn Sie wollen, bringen wir Sie ins Krankenhaus
nach Birmingham!«

Alex Thornton schüttelte resigniert den Kopf. »Diese Stadt

betrete ich nie mehr! Und meine Familie auch nicht! Wir
ziehen weg, heute Abend noch! Hier bleibe ich keine Minute
länger!«

»Sie wollen weg?«, erschrak Audrey. »Aber Sie können doch

nicht alles stehen und liegen lassen! Was ist mit Ihrer Farm?«

»Was soll mit ihr sein?« Das Lächeln des Farmers wirkte kalt

und unnachgiebig. »Wegen der paar Hühner und der Milchkuh
im Stall bleibe ich bestimmt nicht! Was meinen Sie, was
passiert, wenn wir das Haus wieder aufbauen? Sie zünden es
noch mal an und dann haben wir vielleicht nicht so viel Glück.
Nein, wir ziehen weiter. Ich hab etwas Geld gespart, das hab
ich in Mikes Rollstuhl versteckt, und die Kuh und die Hühner
sollen sich die Nachbarn holen. Den Wagen hab ich im Stall
geparkt.« Sein Lächeln verstärkte sich. »So schlecht geht es
uns gar nicht.«

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»Sie brauchen frische Kleider«, versuchte Edward den

Farmer umzustimmen, »was zu essen und zu trinken! Denken
Sie an die Kinder! Sie können doch nicht Hals über Kopf von
hier verschwinden!«

»Ich kann«, erwiderte er grimmig. Seine Stimme wurde noch

fester und entschlossener. »Weiß Gott, ich kann! Wir fahren so
lange nach Norden, bis wir keine brennenden Kreuze mehr
sehen!«

»Was ist mit der Schule?«, fragte Audrey. Sie strich Sarah

Lee über die Haare und spürte, wie ihre Augen feucht wurden.
»Sie dürfen nicht aufgeben, Mr. Thornton! Bleiben Sie hier!
Wir dürfen vor dem Klan nicht in die Knie gehen! Wir müssen
uns wehren!« Ohne es zu merken sprach sie plötzlich wie ihre
Freundin aus Bessemer. »Wenn wir aufgeben, wird der Terror
immer größer!«

»Ihr wart nicht hier, als die Klansmänner kamen«, erwiderte

Alex Thornton ruhig. »Ihr habt nicht gesehen, wie sie Mike
zum Krüppel geschlagen haben! Ihr habt dieses verdammte
Feuer nicht gespürt! Das war schlimmer als in der Hölle!«
Seine Gestalt straffte sich. »Nein, wir gehen! Wir gehen und
das ist endgültig!«

»Rufen Sie im Gaston Motel an, wenn Sie Hilfe brauchen!«,

rief Edward dem Farmer nach. »Ich heiße Edward Hill.
Verlangen Sie nach mir oder hinterlassen Sie eine Nachricht!
Wenn Sie wollen, wickeln wir den ganzen Papierkram für Sie
ab! Da gibt es immer was zu erledigen! Sie bekommen Ärger
mit den Behörden, wenn Sie einfach weggehen! Okay?«

»Auf das bisschen Ärger kommt es auch nicht mehr an«,

erwiderte der Farmer missmutig. Er öffnete die Stalltür und
hob seinen kranken Sohn in den rostigen Pick-up. Den
Rollstuhl band er auf der Ladefläche fest. Er half seiner Frau
und seiner Tochter in den Wagen und blieb neben der
Fahrertür stehen. »Vielen Dank«, brummte er und man sah,

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dass er den Tränen nahe war. »Wer weiß? Vielleicht komme
ich auf Ihr Angebot zurück. Auf Wiedersehen!« Er stieg ein
und drehte den Zündschlüssel. Ohne zu hupen oder zu winken
fuhr er mit seiner Familie vom Farmhof.

»Scheiße!«, fluchte Jay-Jay heiser. »Die haben verdammtes

Glück gehabt, dass die Klansmänner sie nicht umgelegt
haben!«

Audrey blickte dem Pick-up der Thorntons nach, bis er

zwischen den Hügeln verschwunden war. Ihre Augen brannten
von dem vielen Rauch und die Tränen vermischten sich mit
dem Ruß auf ihrem Gesicht. Sie spürte Edwards Arm um ihre
Schultern und schmiegte sich an ihn. »Jay-Jay hat Recht«,
sagte sie nach einer Weile, »die Thorntons haben Glück
gehabt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Klan
das Versteck gefunden hätte!«

»Wäre nicht das erste Mal, dass die Kapuzenmänner eine

ganze Familie umbringen«, erwiderte Edward. »In Mississippi
haben sie einen Mann und eine Frau und zwei kleine Kinder
aufgehängt!« Über seine Wangen rannen Tränen. »Wyatt T.
Walker, der Sekretär von Dr. King, hat die Leichen gesehen.
Er muss jedesmal weinen, wenn er davon erzählt, und er
erzählt fast jeden Tag davon. Ich glaube, so ein schrecklicher
Anblick verfolgt einen das ganze Leben.«

»Ich werde dieses Bild auch nicht vergessen«, sagte Audrey.

Sie kehrte mit Edward und Jay-Jay zum Caddy zurück. Auf der
Rückfahrt zur Hauptstraße redeten sie kein Wort. Es dämmerte
bereits und dunkle Schatten lagen über den Hügeln. In der
Ferne flackerten die Lichter einer Farm auf, einer weißen
Farm, deren Bewohner nichts zu befürchten brauchten. Auf
dem Highway waren sie mit dem Caddy fast ganz allein. Ein
Scheinwerferpaar tauchte in der Ferne auf und blendete
Audrey so stark, dass sie die Augen schließen musste. Steve
und Duncan, schoss es ihr durch den Kopf, die beiden Kerle,

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die sie überfallen hatten, waren bei den Männern gewesen, die
Thorntons Farm niedergebrannt hatten! Sie hörte, wie ein Pick-
up an ihnen vorbeiröhrte, und wartete angsterfüllt darauf, dass
seine Bremsen quietschten und sie die Lichter im Rückspiegel
sah. Doch nichts geschah. Der Pick-up verschwand in der
Dunkelheit.

»Gott sei Dank!«, atmete sie auf. Sie entkrampfte sich und

wartete ungeduldig darauf, dass sie das Ortsschild von
Birmingham erreichten. Als sie vor dem Laden ihrer Eltern
hielten, stieg sie ohne ein Wort zu sagen aus dem Wagen und
rannte ins Haus.

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11



Audrey war gerade dabei, den Kaffee aufzusetzen, als das
Telefon klingelte. Sie ließ den Topf mit dem heißen Wasser
stehen und rannte ins Wohnzimmer. Aufgeregt nahm sie den
Hörer ab. »Hallo?« So früh rief selten jemand bei ihnen an und
sie konnte sich denken, wer am anderen Ende war. »Hallo,
Audrey!«, erklang die vertraute Stimme ihres Freundes. »Hier
ist Edward! Entschuldige, dass ich so früh anrufe! Jay-Jay ist
verschwunden!«

»Jay-Jay? Seit wann?«
»Heute Nacht. Um kurz nach Mitternacht lag er noch in

seinem Bett, da hab ich auf die Uhr gesehen. Heute Morgen
war er weg!«

»Er hat nicht mal gefrühstückt?«
»Er ist verschwunden, Audrey! Und diesmal mache ich mir

wirklich Sorgen! Die Sache auf der Farm hat ihm schwer zu
schaffen gemacht! Er hat den ganzen Abend auf den Ku-Klux-
Klan geschimpft und geschworen, es den weißen Verbrechern
heimzuzahlen! Ich hab Angst, dass er irgendeine Dummheit
begeht!«

»Das glaube ich nicht, Edward!« Audrey hörte, wie ihr Vater

aus dem Badezimmer kam und im Schlafzimmer verschwand.
»Er ist wieder auf der Straße, auf fremde Autos aufpassen oder
bei einem seiner Stammkunden! Du hast doch gehört, was er
will! Vom Picknicken und Baseballspielen wird er nicht
reicher!«

Edward seufzte betrübt. »Ich mache mir Vorwürfe, Audrey!

Ich hätte mich mehr um ihn kümmern sollen! Besonders
gestern Abend! Ich hab stundenlang mit Martin Luther King

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und seinen Leuten telefoniert und viel zu spät bemerkt, wie
aufgewühlt er war! Er hat dauernd von dem brennenden Kreuz
gesprochen! Wie er sich an dem Klan und allen anderen
Weißen rächen will! Er fürchtet sich, Audrey, deshalb ist er so
wütend. Und wie ich ihn kenne, stellt er irgendeine Dummheit
an! Ich hätte länger mit ihm sprechen sollen, Audrey! Ich hab
ihn im Stich gelassen!«

»Wir finden ihn, Edward. Er treibt sich irgendwo im

schwarzen Viertel herum. Woanders kann er gar nicht sein.
Ruf mich in der Schule an, wenn du ihn gefunden hast! Und
wenn nicht, hol mich ab, dann suchen wir gemeinsam weiter.
Ich kenne mich aus!«

»Ich mach mir wirklich Sorgen, Audrey!«
»Wir finden ihn!«
»Okay. Bis später.«
Audrey legte den Hörer auf und kehrte in die Küche zurück.

Ihre Eltern und ihre Geschwister saßen bereits am
Frühstückstisch. »Das war dein neuer Freund, stimmt’s?«, rief
Napoleon frech. Robin trank von seinem Kakao und grinste
breit. Ihr Vater blickte sie vorwurfsvoll an und sagte: »Du
wirst den jungen Mann nicht mehr treffen! Nach der Schule
kommst du nach Hause, hast du mich verstanden? Mit diesem
Edward kriegst du nur Ärger! Ich weiß, er ist ein netter Junge
und er sieht gut aus, aber er ist politisch verblendet und stürzt
uns alle ins Unglück, wenn wir nicht aufpassen!« Er stocherte
in seinem Hirsebrei herum. »Ich hab gehört, was Martin Luther
King gesagt hat! Er ist ein guter Prediger, das muss man ihm
lassen! Er kann die Menschen überzeugen! Aber mich nicht!
Die Weißen kann man nicht besiegen, die werden uns immer
überlegen sein! Wenn er in Birmingham ein Streichholz
entzündet, wird ein riesiger Flächenbrand daraus! Wir werden
unser Haus und unseren Laden verlieren und können von

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Glück sagen, wenn wir am Leben bleiben! Nein, du wirst
diesen Jungen nicht mehr treffen! Ich verbiete es dir, Audrey!«

»Ich bin neunzehn Jahre alt, Daddy!«, widersprach sie. »Ich

bin kein kleines Mädchen mehr! Und ich muss ihn heute
treffen um nach Jay-Jay zu suchen!« Sie setzte sich und griff
nach der Gabel. »Ein kleiner Junge, den er von der Straße
geholt hat. Er ist spurlos verschwunden!« Sie verschwieg ihm,
wie der Junge sein Geld verdiente und was sie auf der Farm
der Thorntons gesehen hatten. Noch hatte sich in ihrem Viertel
nicht herumgesprochen, wen der Klan am vergangenen
Nachmittag besucht hatte.

»Misch dich da nicht ein, Audrey! Von meinem Vater habe

ich gelernt, dass man sich nur um seine eigenen Sachen
kümmern soll. Mit dieser Einstellung bin ich immer gut
gefahren. Denk an deine Familie! Denk daran, was deinen
Eltern und deinen Brüdern passieren könnte, wenn du dich mit
den Martin-Luther-King-Leuten einlässt! Der Klan hat seine
Augen überall!«

»Das weiß ich, Daddy!« Sie war versucht, ihm von dem

brennenden Kreuz auf der Thornton-Farm zu erzählen, und
entschied sich dagegen. Es hätte ihn nur noch mehr aufgeregt.
Sie wusste ja selbst nicht, auf welcher Seite sie stand. Auch sie
hatte der Anblick des Kreuzes und die Angst in den Augen der
Thorntons verunsichert. Sie verstand den Farmer. Manchmal
war es besser, vor einer Bedrohung davonzulaufen. Es hatte
nichts mit Feigheit zu tun. Sie fand es mutig, ohne ein festes
Ziel nach Norden zu ziehen und neu anzufangen.

Nach dem Frühstück verschwand ihr Vater brummend im

Laden. Ihre Mutter hatte mit ihren Brüdern zu tun, die wieder
einmal stritten. Alberta war längst gegangen. »Bye, Mom«, rief
sie, während sie die Haustür öffnete und zum Wagen ging. Auf
der Fahrt zur Schule schaltete sie das Radio ein. Tall Paul
brachte die neusten Hits von Sam Cooke und Mary Wells und

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eine Ballade der Drifters. Morgens hatte der Discjockey immer
die besten Sprüche auf Lager. Audrey war froh, etwas
abgelenkt zu werden, und lachte viel. In den Nachrichten ging
es um ein neues Gesetz zur Altersversorgung, das Präsident
Kennedy dem Kongress vorgeschlagen hatte, und die Streiks in
einer Autofabrik in Detroit. Kein Wort von dem
heimtückischen Überfall des Klan.

Im Schulhof begegnete ihr Cynthia. Das Mädchen lehnte an

einer Wand, die grüne Schleife im Haar und die Augen voller
Tränen. »Sarah Lee ist weg«, meinte sie traurig, »ich hab sie
heute Morgen angerufen und es hat niemand abgenommen!
Mein Daddy sagt, dass die Thorntons in eine andere Stadt
gezogen sind! Sie haben Angst vor dem Klan!« Sie rieb sich
die Tränen aus den Augen. »Wir haben auch Angst vor dem
Klan und fahren nicht weg! Warum laufen die Thorntons
davon, Audrey?«

Audrey nahm sie in den Arm und strich ihr beruhigend über

das dichte Haar. »Du weißt doch, was Mike passiert ist. Er sitzt
im Rollstuhl. Die Thorntons wollen, dass er gesund wird, und
das geht nur im Norden. Dort dürfen die Schwarzen auch in die
guten Krankenhäuser! Aber du brauchst nicht traurig zu sein!
Sarah Lee schreibt dir bestimmt einen Brief, und wenn du mal
eigenes Geld verdienst, steigst du in den Zug und besuchst
sie!«

»Meinst du, ich verdien mal so viel Geld, dass ich mir eine

Fahrkarte kaufen kann, Audrey? Bis zu Sarah Lee und
zurück?«

Audrey löste sich von ihr und lächelte aufmunternd. »Wenn

du immer fleißig bist und deine Hausaufgaben machst,
bestimmt!«

Der Schultag verging quälend langsam. Immer wieder

unterbrach Audrey ihre Arbeit und blickte grüblerisch zum
Fenster hinaus. Beging Jay-Jay eine Dummheit? Mehrmals war

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sie versucht, bei Edward im Motel anzurufen, aber der war
sowieso unterwegs, außerdem sah der Direktor es nicht gern,
wenn seine Angestellten mit Verwandten oder Bekannten
telefonierten.

Nach dem Unterricht wartete Edward im Schulhof. Er saß auf

einer flachen Mauer und hielt sein Gesicht in die Sonne. Als er
Audrey kommen sah, sprang er auf und nahm sie flüchtig in
den Arm. Er küsste sie auf die Wange und sagte: »Ich hab ihn
nicht gefunden! Ich war sogar beim Rat Killer und hab einen
seiner Männer ausgequetscht! Niemand hat ihn gesehen! Ich
dachte, wir fahren mal zu seiner Tante raus, vielleicht hat die
eine Ahnung!«

»Warum rufst du sie nicht an?«
»Die Auskunft hatte keine Nummer.«
»Weißt du, wie sie heißt? Und wo sie wohnt?«
Er zog einen Zettel aus seiner Jackentasche und las vor:

»Amanda Clayborn, Route 12 A, Oxmoor, Alabama. Irgendwo
im Süden, hab ich mir sagen lassen. Sechs oder sieben
Meilen.«

»Ich kenn die Straße«, erwiderte sie. »Die Second Avenue

runter und am Gefängnis vorbei, dann kommen wir direkt
hin.« Sie folgte Edward zum Cadillac und zögerte dann. »Mein
Vater hat mir verboten, mit dir zu fahren. Ich soll mich nicht in
Dinge einmischen, die mich nichts angehen. Er ist mächtig
wütend, weil Martin Luther King hier alles durcheinander
bringt.«

Edward sah sie besorgt an. »Ich zwinge dich zu nichts,

Audrey! Und ich hatte niemals vor, dich für meine politischen
Ideen einzuspannen. Ich bin gern mit dir zusammen, das ist
alles! Mit Martin Luther King hat das nichts zu tun!« Er
öffnete die Beifahrertür. »Ich bin dir nicht böse, wenn du zu
Hause bleiben willst.«

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»Daddy will, dass ich überhaupt nicht mehr mit dir ausgehe«,

sagte Audrey und fügte trotzig hinzu: »Ich hab ihm gesagt,
dass ich alt genug bin, um selbst zu entscheiden, mit wem ich
mich treffe!« Sie stieg in den Wagen. »Wir können Jay-Jay
doch nicht im Stich lassen! Wir müssen ihn finden, bevor er
irgendwas Dummes anstellt! Es ist mir egal, ob ich Ärger
bekomme! Meine Mutter kriegt das schon wieder hin! Die
wickelt Daddy um den Finger!«

Sie fuhren vom Schulhof und auf die Second Avenue.

Edward klappte die Sonnenblende herunter. »Ich rede noch
mal mit deinem Vater! Gleich wenn wir zurückkommen! Ich
verspreche ihm hoch und heilig auf dich aufzupassen!« Er
bremste vor einer roten Ampel und blickte sie mit einem
unsicheren Lächeln an. »Du bist das netteste Mädchen, das ich
jemals getroffen habe, Audrey, und ich denke nicht daran, dich
so einfach aufzugeben!«

Sie legte dankbar eine Hand auf seinen rechten Oberschenkel,

erschrak und zog sie hastig wieder zurück. Um ihre
Verlegenheit zu überspielen, sagte sie: »Da vorn am Gefängnis
vorbei und quer rüber auf den Highway! Dann noch ein paar
Meilen nach Süden!«

Auf der Straße nach Oxmoor war wenig los. Außer einem

weißen Farmer auf einem modernen Traktor und einem
Schulbus begegnete ihnen kein Fahrzeug. Die Sonne fiel durch
das Beifahrerfenster und überzog Audrey und Edward mit
einem hellen Streifen. Die Route 12 A war eine schmale
Landstraße mit zahlreichen Schlaglöchern, die über die offenen
Felder und zwischen einigen Hügeln hindurch in ein lang
gestrecktes Tal führte. Am Ufer eines mit verfilztem Gestrüpp
überwachsenen Baches, keine hundert Meter von der Straße
entfernt, stand das Farmhaus der Amanda Clayborn, eine
armselige Hütte mit Giebeldach und einer breiten Veranda, die

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von windschiefen Balken getragen wurde. Neben der Haustür
stand ein Schaukelstuhl.

Noch während Audrey aus dem Cadillac stieg, hörte sie das

Fliegengitter klappen und Schritte auf der Veranda. Eine Frau,
ungefähr vierzig und mit einem Kopftuch, stand vor der Tür
und ließ die Hände mit der Schrotflinte sinken. »Und ich
dachte schon, der verdammte Klan hätte sich zu mir verirrt«,
schimpfte sie. »Ich hab mir geschworen, ein paar dieser
Kapuzenmänner zur Hölle zu schicken, bevor sie mich teeren
und federn!« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und
betrachtete die Neuankömmlinge durch ihre Nickelbrille. »Wer
seid ihr? Hat der Junge was angestellt? Würde mich nicht
wundern, wenn der Klan ihn erwischt und an einen Baum
gehängt hätte!«

Audrey und Edward stellten sich vor und wurden von der

Farmersfrau mit einem kräftigen Handschlag begrüßt. Ihre
Hände waren schwielig von der harten Arbeit. »Kommt rein,
Leute, ich hab frischen Kaffee auf dem Herd, und wenn ich
mich recht erinnere, hab ich noch einen Rest Apfelkuchen im
Kühlschrank!«

Die Frau führte sie ins Haus, das aus einer großen Küche und

zwei Schlafzimmern bestand, und deutete auf den Ecktisch.
»Setzt euch, Leute, setzt euch! Soll niemand sagen, ich geb
meinen Gästen nichts zu essen und zu trinken.« Sie schenkte
Kaffee ein und verteilte den Apfelkuchen. »Es geht um den
Jungen, was?«

Edward nickte. »Wir kümmern uns ein wenig um ihn.

Gestern waren wir picknicken und die letzten beiden Nächte
hat er bei mir im Motel geschlafen. Ich arbeite für Martin
Luther King.« Er erzählte der Farmersfrau von dem grausamen
Anblick, den Jay-Jay auf der Thornton-Farm zu sehen
bekommen hatte, und fügte hinzu: »Wir haben alles abgesucht.
Wir dachten, er wäre bei Ihnen.«

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»Bei mir?« Amanda Clayborn lachte nervös. »Jay-Jay war

nur ein paar Wochen bei mir! Den könnte ich nicht mal mit
einem dieser modernen Traktoren halten! Reinste
Zeitverschwendung von meiner Schwägerin, ihn hierher zu
schicken! Auf der Straße leben und die Leute beklauen, das
hätte er auch in Brooklyn haben können! Nein, hier ist er nicht!
Ich hab ihn seit Wochen nicht gesehen!«

Edward nahm einen Schluck von seinem Kaffee und aß ein

Stück Apfelkuchen. »Der Kuchen schmeckt großartig«, lobte
er kauend. Er ließ die Gabel sinken. »Wir machen uns große
Sorgen um Jay-Jay, Mrs. Clayborn! Ich glaube, dass er sich an
den Weißen rächen will. Haben Sie keine Ahnung, wo er sein
könnte?«

Die Farmersfrau schüttelte den Kopf. »Ich hab doch selbst

schon versucht, den verdammten Bengel zu finden. Die Polizei
könnt ihr vergessen, die freut sich über jeden Nigger, der
verloren geht! Von einer Bekannten in der Stadt hab ich
erfahren, dass er sich in Birmingham auf der Straße rumtreibt.
Wär besser, er bliebe auf der Farm oder er ginge zur Schule!
Ich hab versucht, ihm Disziplin einzubläuen, aber das klappte
wohl nicht.«

Audrey schmunzelte. »Jay-Jay hat sich beschwert, dass er

jeden Morgen früh aufstehen und auf dem Acker arbeiten
musste!«

»Na und?«, fauchte sie. »Von nichts kommt nichts, hab ich

gelernt. Aber was soll aus einem Jungen schon werden, der bei
meinem Bruder und dieser Schlampe aufwächst? Robbie, so
heißt mein Bruder, der hat sich doch nie um ihn gekümmert!
Der hat die paar Kröten, die er auf dem Bau verdient hat, lieber
mit Weibern durchgebracht! Und Mary, das ist seine Ex, die
hing schon an der Flasche, als er sie geheiratet hat! Ein wahrer
Jammer, dass er sie genommen hat! Ich habe Robbie gleich

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gesagt, er soll ihr keine Kinder machen. Dann kam irgendwann
Jay-Jay auf die Welt.«

»Er ist ein guter Junge«, meinte Audrey sanft. »Sie hätten

sehen sollen, wie die beiden Baseball gespielt haben!« Sie
blickte Edward an. »Auf der Fourth Avenue kommt er nur auf
dumme Gedanken! Ich glaube, er hat noch eine Chance, wenn
er sich endlich am Riemen reißt! Wir müssen ihn finden, Mrs.
Clayborn!«

»Ich kann ihn nicht festbinden, Audrey! Wenn er nicht

freiwillig bleiben will, soll er meinetwegen zum Teufel
gehen!« Sie stand wütend auf und stellte ihren leeren
Kaffeebecher in den Spülstein. Aber selbst von hinten sah man
ihr an, dass sie anders dachte.

Als sie sich umdrehte, hatte sie Tränen in den Augen. »Findet

ihn, Leute! Und bringt ihn meinetwegen in Handschellen auf
die Farm zurück! Ich hab dem Jungen nicht viel zu bieten, aber
ich will verdammt sein, wenn ich nicht mehr kann als mein
Bruder!«

»Wir bemühen uns, Mrs. Clayborn«, versprach Edward, als

sie sich verabschiedeten und auf die Veranda traten. »Ich
würde Sie ja anrufen, aber die Auskunft hatte keine Nummer
von Ihnen!«

Die Farmersfrau winkte ab. »Ich hab kein Telefon. Hab nie

eins gehabt. Kostet nur Geld und bringt ‘ne Menge Ärger! Ich
hab keine Lust, alle paar Stunden von der Bank angerufen zu
werden!«

»Da ist was dran«, lachte Edward. »Wir melden uns, okay?«
Sie wendeten vor der Veranda und ließen die Farmersfrau in

einer Staubwolke zurück. Auf dem Highway schlug Edward
wütend auf das Lenkrad. »Verdammt! Wo steckt der Junge
bloß? Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Fällt dir
nichts ein?«

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Audrey überlegte lange und schüttelte enttäuscht den Kopf.

»Ich hab keine Ahnung, wo er sein könnte. Es sei denn…«

»Es sei denn… was?«
»Es sei denn, er hängt bei den Scorpions rum, das ist ‘ne

Bande in der Seventh Avenue, zwischen der 14th und 15th
Street, nur ein paar Blocks von deinem Motel entfernt. Aber
das bezweifele ich. Die Scorpions sind keine richtige
Jugendbande, weißt du, nicht so wie die Gangs in Chicago
oder New York. Sie sind viel jünger.«

Edward schöpfte wieder Mut. »Fragen kostet nichts! Wir

fahren gleich mal hin und spüren die Burschen auf! Wenn wir
ihn dort nicht finden, bring ich dich nach Hause und fahr noch
mal auf die Fourth Avenue. Der Rat Killer weiß bestimmt, wo
er sich rumtreibt.«

Unwillkürlich beschleunigte Edward den Cadillac. Die Sonne

stand bereits weit im Westen und die Bäume am Straßenrand
warfen lange Schatten. Zahlreiche Wagen kamen ihnen
entgegen. Angestellte und Arbeiter, die in den Vororten
wohnten. Ein Viehtruck röhrte an ihnen vorbei und ließ den
Cadillac erzittern.

Über die 14th Street fuhren sie zur Seventh Avenue hinauf.

Sie parkten vor einem Laden und sahen einige Jungen auf der
Treppe vor einem Hauseingang sitzen. Sie trugen Jeans und T-
Shirts und rauchten ungeniert, obwohl keiner von ihnen älter
als zwölf sein konnte. »Gehört ihr zu den Scorpions?«, fragte
Edward.

»Wer will das wissen?«, fragte der Anführer, ein kräftiger

Junge mit abstehenden Ohren. Er trug ein Goldkettchen um
den Hals und zwei Armbanduhren am linken Handgelenk.

Edward zog einen Fünf-Dollar-Schein aus seiner

Hosentasche und faltete ihn der Länge nach. »Wir suchen
einen Jungen. Jay-Jay. Zwölf Jahre, fast so arrogant wie ihr.

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Trägt eine Baseballkappe der New York Yankees. Habt ihr ihn
irgendwo gesehen?«

»Die Yankees mochte ich noch nie«, sagte jemand.
»Halt’s Maul!«, wies ihn der Anführer zurecht. Sein Blick

war auf den Fünf-Dollar-Schein gerichtet. »Ja, der war hier.
Vor drei oder vier Stunden. Wollte den großen Macker
rauskehren und uns zeigen, wo’s langgeht! Ich wollte ihm
gerade eine langen, da kam dieser Chevy vorbei, neustes
Modell, und zwei Weiße sprangen raus und nahmen ihn mit!«

»Sie haben ihn entführt?«, fragte Edward entsetzt.
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich

nehm an, dass sie rausgekriegt haben, was er ausgefressen hat.
Er hat die Scheiben bei irgendwelchen Mackern eingeworfen,
wissen Sie? Damit hat er die ganze Zeit bei uns geprahlt! Ich
will mit der Sache nichts zu tun haben! Wir haben hier genug
Mist am Hals!«

»Wie sahen die Weißen aus? Habt ihr euch das Kennzeichen

gemerkt? Wohin sind sie gefahren?«, wollte Edward wissen.

»Weiß nicht«, erwiderte der Junge. »Krieg ich den Schein?«
»Hier«, resignierte Edward und gab ihm das Geld. Er wusste,

auch für einen Zwanziger würde ihm der Anführer nicht mehr
verraten, schon aus Angst, die Weißen könnten zurückkehren
und sich an ihm rächen.

Im Wagen sank Edward erschöpft aufs Lenkrad. Audrey

starrte mit feuchten Augen nach vorn. »Sie haben ihn
entführt!«, sagte Edward heiser. »Wir kommen zu spät! Die
verdammten Kerle haben ihn entführt!«

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12



Die Sorge um Jay-Jay lag wie eine schwere Bürde auf Audreys
Schultern. Den Jungen in der Gewalt des Ku-Klux-Klan zu
wissen schnürte ihr die Luft ab und machte es ihr unmöglich,
etwas zu sagen. Wie ein hilfloses Bündel hing sie auf dem
Beifahrersitz, die Augen starr nach vorn gerichtet und beide
Hände unter den Oberschenkeln. Erst als Edward vor dem
Gaston Motel hielt und einen Augenblick sitzen blieb um Luft
zu holen, löste sich ihre Verkrampfung. »Was hast du vor?«,
fragte sie mit belegter Stimme. »Meinst du, Jay-Jay ist…« Es
war ihr unmöglich, den Satz zu Ende zu sprechen. »Er ist doch
nicht…«

»Ich weiß es nicht, Audrey«, erwiderte Edward ehrlich. Es

dämmerte bereits und das schmutzige Licht der Straßenlampen
hing wie ein Schleier über seinem Gesicht. »Die Polizei kann
ich nicht rufen. Die macht gemeinsame Sache mit dem Klan
und lacht mich wahrscheinlich aus. Selbst wenn ich einen
ehrlichen Polizisten erwische, passiert nichts. Wir haben keine
Beweise! Wir wissen nicht mal, ob er entführt worden ist! Wer
weiß, vielleicht ist er freiwillig zu den Männern in den Wagen
gestiegen?«

»Das glaubst du doch selbst nicht!«
Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, das glaube ich

selbst nicht. Die Kerle wollen ihm einen Denkzettel
verpassen!«

»Wir müssen was tun, Edward!«
Er gab sich einen Ruck und öffnete die Tür. »Ich spreche mit

unseren Leuten, die wissen bestimmt eine Lösung!« Er blickte
sie entschlossen an. »Warte hier auf mich! Ich bin gleich

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zurück, dann bring ich dich nach Hause! Ich hab’s
versprochen. Dein Vater bringt mich um, wenn ich dich in die
Sache reinziehe!«

»Ich lasse Jay-Jay nicht im Stich!«
Aber Edward war schon ausgestiegen und verschwand in

dem flachen Gebäude. Audrey blickte ihm neugierig nach.
Durch die Glastür sah sie, wie er mit zwei Männern sprach.
Der eine war Fred Shuttlesworth, der Pastor aus Birmingham.
Den anderen Mann kannte sie nicht. Es gab einen aufgeregten
Wortwechsel und Edward hob mehrmals in einer hilflosen
Geste die Hände. Fred Shuttlesworth redete beschwichtigend
auf ihn ein. Audrey nahm an, dass der Pastor auch nicht
wusste, wie man den Kidnappern beikommen konnte, und ihn
bat, das Schicksal des Jungen in Gottes Hände zu legen.

Was sollten sie tun, wenn nicht mal der Pastor einen Ausweg

wusste? Sie öffnete die Beifahrertür und blieb unschlüssig
stehen, wollte in das Gebäude laufen und Fred Shuttlesworth
an beiden Schultern packen: »Tun Sie doch irgendwas, Pastor!
Wir dürfen den Jungen nicht sterben lassen! Jay-Jay ist unser
Freund! Wir müssen ihn befreien!« Dann dachte sie daran, wie
oft Fred Shuttlesworth mit dem Ku-Klux-Klan aneinander
geraten war, und stieg wieder ein. Er hatte am eigenen Leib
erfahren, was es hieß, in die Hände der Klansmänner zu fallen.
Er würde bestimmt nicht zulassen, dass dem Jungen etwas
geschah. Er wusste einen Ausweg, ganz bestimmt! Sie blickte
wieder zu dem Motel hinüber und sah, wie das Mädchen an der
Rezeption einen Anruf entgegennahm und den Hörer an
Edward weiterreichte.

Edward griff zögernd danach. Er hatte keine Ahnung, wer am

anderen Ende war. Nicht einmal seine Eltern wussten, in
welchem Motel er sich aufhielt. Sie wussten nur, dass er im
Süden war. »Hallo?«, meldete er sich vorsichtig. Er erwartete
eine wüste Beschimpfung, einen Weißen, der auf irgendeine

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Weise seinen Namen herausbekommen hatte und ihm einen
Denkzettel verpassen wollte. »Hallo?«, sagte er noch einmal.
»Ist da jemand?«

»Edward? Edward Hill?«, erwiderte eine Stimme. Ein

Weißer, das erkannte Edward schon an diesen wenigen
Worten. Er gab sich keine Mühe, seinen vornehmen Bostoner
Akzent zu verbergen. »Der junge Mann, der mit dem Mädchen
unterwegs ist?«

»Woher wissen Sie das? Wer sind Sie?«
»Nennen Sie mich Floyd!«, antwortete die Stimme. »Ich

gehöre nicht zum Klan! Ich bin keiner von diesen Spinnern,
die Bomben legen und unschuldige Menschen ermorden! Ich
meine es gut mit Ihnen!« In seiner Stimme lag eine
Ernsthaftigkeit, die Edward daran hinderte, den Hörer
aufzulegen. Der Fremde meinte es ehrlich, das spürte er
instinktiv. »Ich bin froh, dass ich Sie erreiche«, fuhr die
Stimme fort. »Sie suchen nach dem schwarzen Jungen, der
heute Mittag entführt wurde, nicht wahr?«

»Jay-Jay! Was wissen Sie über ihn? Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Floyd und raubte Edward für

einen Augenblick jede Hoffnung. »Aber ich kann es mir
denken! Der Chevrolet, in dem er entführt wurde, gehört einem
gewissen Robert E. Chambliss. Beim Klan ist er als Dynamite
Bob bekannt. Wir nehmen an, dass er die Bombe gelegt hat,
die vor einigen Monaten im Haus von Fred Shuttlesworth
explodiert ist.«

»Sie nehmen an? Gehören Sie zum FBI?«
»Zu wem ich gehöre, tut nichts zur Sache.« Seine Stimme

war ruhig und eintönig, passte nicht zu den brisanten
Neuigkeiten, die er überbrachte. »Dynamite Bob und drei
seiner Kumpane, Bobby Frank Cherry, Herman Frank Cash
und Thomas E. Blanton, haben so etwas wie eine Zweigstelle
des Ku-Klux-Klan gegründet. Ihnen ist die Vorgehensweise

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der Eastview Klavern zu lasch. Sie treten offen dafür ein, alle
Schwarzen umzubringen! Und sie wollen alle Katholiken,
Juden und alle Fremden, die ihnen nicht in den Kram passen,
aus dem Land jagen! Gefährliche Männer! Sie nennen sich
»Cahaba Boys«. Haben Sie den Namen schon mal gehört?«

Edward blickte zu Fred Shuttlesworth und Ralph Abernathy

hinüber, dem streitbaren Pastor aus Montgomery. Die Männer
saßen am Fenster und hörten ihn nicht. »Ich hab den Namen in
der Zeitung gelesen. Brutale Burschen, nicht wahr?« Er
zögerte einen Augenblick, versuchte sich an den Gedanken zu
gewöhnen, dass Jay-Jay in der Gewalt solcher Männer war.
»Sie glauben doch nicht, dass die Cahaba Boys den Jungen
entführt haben?«

»Ich glaube es nicht. Ich weiß es«, antwortete Floyd

nüchtern. »Sie wollen ein Exempel an dem Jungen statuieren!
Hören Sie mir gut zu, Edward! Wenn Sie Jay-Jay lebend
zurückhaben wollen, müssen Sie sich beeilen! Aber erzählen
Sie niemand davon! Dr. King und seine Leute werden
beschattet! Sie können sich ungehindert bewegen! Fahren Sie
zur Cahaba Bridge! Dort treffen sich die Cahaba Boys. Unter
der Brücke schütten sie sich mit Bier voll und hecken ihre
teuflischen Pläne aus. Wenn Sie den Jungen haben und er ist
noch am Leben, dann befindet er sich dort! Ich kann Ihnen
leider nicht helfen. Fahren Sie gleich los!«

»Aber ich kann doch nicht…«
»Es ist Ihre einzige Chance, Edward!«
Edward legte auf und ging zur Tür. »Ich muss noch mal weg,

Audrey nach Hause bringen«, sagte er zu Fred Shuttlesworth
und Ralph Abernathy. »Vielleicht finde ich den Jungen ja
irgendwo!«

»Seien Sie vorsichtig, Edward!«, warnte der Pastor aus

Birmingham. »Ich verspreche Ihnen alle Anstrengungen zu
unternehmen, um den Jungen zu retten! Ich berate mich gerade

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mit Ralph darüber. Wir hoffen alle, dass sie ihm nur etwas
Angst einjagen wollen. Wenn sie ein Kind töten, bringen sie
auch einen Teil der weißen Bevölkerung gegen sich auf. Das
wollen sie nicht. Nicht jetzt, so kurz vor der
Bürgermeisterwahl.«

»Der Klan ist zu allem fähig«, sagte Edward. Er verließ das

Motel und ließ sich neben Audrey in den Wagen fallen.
Während er den Motor startete und wendete, berichtete er in
wenigen Sätzen von dem geheimnisvollen Anruf. Audrey
blickte ihn ungläubig an.

»Floyd? Ein weißer Mann?«
»So hört er sich jedenfalls an. Er sagt die Wahrheit, Audrey,

das hab ich irgendwie im Gefühl! Außerdem ist es die einzige
Spur, die wir haben. Ich werde mich mal an der Cahaba Bridge
umsehen. Sobald ich dich nach Hause gebracht habe, fahre ich
hin.«

»Kommt gar nicht in Frage!«, entschied sie. »Ich fahre mit!«
»Aber das ist viel zu gefährlich! Ich hab versprochen, dich

nicht in die Sache hineinzuziehen! Was meinst du, was die
Cahaba Boys mit uns machen, wenn sie uns erwischen? Nein,
ich bring dich zurück! Dein Vater bringt mich um, wenn dir
was passiert!«

»Ich komme mit!«, erwiderte Audrey trotzig. »Und weder du

noch mein Vater werden mich daran hindern! Ich würde mir
mein Leben lang Vorwürfe machen, wenn ich nicht mitfahren
würde!« Sie seufzte. »Hätten wir uns doch bloß um Jay-Jay
gekümmert!«

Edward sah ein, dass er sie nicht umstimmen würde, und gab

klein bei. »Okay, aber du hältst dich zurück! Wir müssen sehr
vorsichtig sein, wenn wir da heil wieder rauskommen wollen!
Ich werde auf keinen Fall dein Leben riskieren! Wir wissen
nicht, wer Floyd ist. Es könnte sein, dass er uns in eine Falle
lockt!«

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»Ich passe auf. Ich verspreche es.«
Edward wendete den Wagen und fuhr über den Red

Mountain nach Süden. Er war schon ein paarmal über die
Cahaba Road gefahren und wusste, wo die Brücke lag. Die
Sonne war untergegangen und die Straße lag dunkel und
unheimlich vor ihnen. Audrey kniff die Augen gegen die
grellen Scheinwerfer der Wagen zusammen, die über die
Hügelkuppen kamen, und atmete unmerklich auf, wenn sie an
ihrem Caddy vorbeifuhren und in der Nacht verschwanden. Sie
versuchte angestrengt ihre Angst vor Edward zu verbergen. Es
war erst drei Tage her, dass sie von den Kerlen im Pick-up
überfallen worden war, und allein der Gedanke, wieder in eine
so aussichtslose Lage zu kommen, trieb ihr den Angstschweiß
auf die Stirn. Wie musste erst Jay-Jay leiden, wenn er
tatsächlich den Cahaba Boys in die Hände gefallen war? Was
war, wenn unter der Cahaba Bridge ein Kreuz brannte und sie
den Jungen gerade am nächsten Brückenpfeiler aufknüpften?

»Warum tun sie das?«, fragte Audrey niedergeschlagen.

»Warum vergreifen sie sich an einem unschuldigen Jungen?
Wir leben doch nicht im Mittelalter! Dies sind die Vereinigten
Staaten von Amerika und wir leben im zwanzigsten
Jahrhundert! Das Land, in dem die Freiheit des Einzelnen als
höchstes Gut betrachtet wird. So steht es in den Schulbüchern.
Wie kommen Menschen wie diese Cahaba Boys dazu, uns so
zu behandeln?«

Edward nahm den Blick nicht von der Straße. »Was hat

Hitler angetrieben? Warum hat er die Juden umbringen lassen?
Was war mit Stalin oder diesem Stammesfürst in Afrika, der
seine Gegner den wilden Tieren vorgeworfen hat? Wir sind
nicht so zivilisiert, wie wir immer tun, Audrey! Das Böse
lauert überall und hat Menschen wie Dynamite Bob für sich
vereinnahmt! Ich bete täglich für diese Irregeleiteten! Nur das
Gebet bringt uns weiter!«

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»Du hast einen starken Glauben«, sagte Audrey, nachdem sie

länger darüber nachgedacht hatte. »Auch ich glaube an Gott,
doch wenn ich an Jay-Jay denke oder die vielen Unschuldigen,
die vom Klan ermordet wurden, zweifele ich manchmal an
ihm. Was ist das für ein Gott, der so etwas zulässt? Wie kann
er den Schwarzen so etwas antun? Sind wir keine Menschen
für ihn?«

»Vor Gott sind alle Menschen gleich«, antwortete Edward.

»Unglücke passieren überall, bei den Schwarzen und den
Weißen.« Er dachte eine Weile nach. »Ich weiß auch nicht,
warum er uns auf eine so harte Prüfung stellt.«

Die Cahaba Bridge war ein schmuckloses Bauwerk mit

massiven Pfeilern und eisernen Gerüsten, die bogenförmig zu
beiden Seiten der Straße emporragten und sich unheilvoll vor
dem dunklen Himmel abhoben. Entwurzeltes Gestrüpp trieb
über die Straße und verfing sich im Geländer. Vom Flussufer
leuchtete schwacher Lichtschein herauf. »Da sind sie«, sagte
Edward leise ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Er
lenkte den Wagen im normalen Tempo über die Brücke und
hielt erst eine halbe Meile dahinter an, vor dem Eingang zu
einem Campingplatz mit schäbig aussehenden Wohnwagen.
Vor dem verschlossenen Büro leuchtete ein Telefon im trüben
Licht.

»Bleib hier und ruf bei unseren Leuten an, falls irgendetwas

Unerwartetes geschieht.« Er wollte ihr die Nummer des Gaston
Motels aufschreiben, doch sie schüttelte energisch den Kopf.
»Kommt gar nicht in Frage! Ich lasse dich nicht allein gehen!«

Er hatte sich schon gedacht, dass sie dabei sein wollte, und

machte gar nicht erst den Versuch, sie umzustimmen. Mit
leiser Stimme warnte er sie noch einmal vor den Folgen.
»Bleib dicht hinter mir und sei so leise wie möglich! Wenn die
Cahaba Boys wirklich da unten sind, dürfen sie uns nicht
entdecken! Keinen Laut, hörst du? Egal, was du siehst! Ich

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lasse mir was einfallen, wenn sie den Jungen haben. Lauf
sofort zum Wagen zurück, wenn ich es dir sage! Ich will nicht,
dass sie dich erwischen! Die Cahaba Boys sind schlimmer als
die Kerle, die dich überfallen haben!«

»Und was ist mit dir?«, fragte Audrey besorgt.
»Kümmere dich nicht um mich, verstanden?«
Im Schatten einiger dunkler Bäume kehrten sie zur Brücke

zurück. Sie gingen hintereinander und traten so leise wie
möglich auf. Als ein Lieferwagen über die Brücke fuhr und das
Licht seiner Scheinwerfer über das Gitterwerk und den
brüchigen Asphalt flackerte, gingen sie hinter einem dichten
Gestrüpp in Deckung. Mit klopfenden Herzen arbeiteten sie
sich bis zu der Brücke vor.

Neben dem Geländer führte ein schmaler Pfad zum Ufer

hinunter. Der Mond war hinter den Wolken hervorgekommen
und schüttete sein blasses Licht auf den Pfad. Im Sand waren
frische Spuren zu sehen, ein deutliches Zeichen dafür, dass die
Männer denselben Weg genommen hatten. Sie stiegen langsam
über den Pfad hinab, bis sie freie Sicht zum Flussufer hatten,
und verbargen sich zwischen dem Gestrüpp. Audrey war froh,
ihre dunkle Bluse angezogen zu haben, und dankte Gott für
ihre schwarze Hautfarbe, die sie vor den Blicken der weißen
Männer schützte.

Was sie im unruhigen Licht der Sturmlampen sah, die unter

der Brücke im Gras standen, raubte ihr beinahe den Atem. Vier
Männer in weißen Kutten standen breitbeinig vor dem
gefesselten Jungen und lachten ihn aus. Sie hatten ihre
Kapuzen abgenommen und gaben sich keine Mühe, ihren Hass
zu verbergen. Einer der Männer hielt ein Gewehr in den
Händen, ein anderer schwang eine Peitsche. »Dir werde ich’s
zeigen, Niggerbengel!«, fuhr er den Jungen an und ließ den
ledernen Riemen auf seinen Rücken klatschen. Jay-Jay war
unfähig sich zu wehren, stöhnte wie ein verwundetes Tier. Er

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hatte keine Kraft mehr, um Hilfe zu rufen, und seine Tränen
waren längst verbraucht. »Ich schlag dich tot, verdammt!«

Audrey schlug eine Hand vor ihren Mund, um nicht laut

loszuschreien, und griff nach Edwards Arm. »Leise!«, flüsterte
Edward dicht neben ihr. »Kein Wort!« Sie atmete tief durch
und zwang sich zur Ruhe. Wenn sie jetzt die Nerven verlor,
waren sie in wenigen Augenblicken auch gefesselt und erlitten
dasselbe Schicksal wie der Junge. »Wir dürfen Jay-Jay nicht
im Stich lassen!«, flehte sie.

»Warum halten wir uns so lange mit dem Niggerbengel

auf?«, fragte der Mann mit dem Gewehr. »Wenn’s nach mir
ginge, hätten wir ihm zwei Stangen Dynamit in sein verlogenes
Maul gesteckt und ihn irgendwo in die Luft gejagt! Wär ein
schönes Feuerwerk geworden! Was sollen die verdammten
Stricke, Bobby?«

Bobby Frank Cherry, registrierte Audrey, einer der Cahaba

Boys. Dann war der Mann mit dem Gewehr sicher Dynamite
Bob. Er war der Anführer des Haufens. »Macht doch viel mehr
Spaß«, erwiderte Cherry, »wir verschnüren ihn wie ein
Postpaket, verpassen ihm eine tüchtige Abreibung und
schicken ihn an den Absender zurück. Der Teufel freut sich
bestimmt über die Post!«

»Du bist ein verrückter Hund«, meinte einer der anderen

beiden Männer. »Warum schnappen wir uns nicht diesen
Martin-Luther-Fuck-You-King und seinen ganzen verdammten
Haufen und hängen sie wie Girlanden an die Brücke! Dort ist
genug Platz. Der Bengel ist doch Kleinvieh! Na schön, er hat
‘ne Scheibe eingeworfen, aber wenn wir ihn an der Brücke
aufknöpfen, kräht kein Hahn nach ihm! Um so einen
Niggerbengel kümmert sich doch keiner!«

»Kleinvieh macht auch Mist!«, tönte Dynamite Bob, ein

untersetzter Mann in den Fünfzigern. Sein Gesicht war
unnatürlich gerötet, das sah man auch im Licht der

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Sturmlampen. »Oder wollt ihr den Bengel davonkommen
lassen? Aus Nissen werden Läuse!« Er lachte dröhnend und
griff nach der Bierdose, die neben ihm auf einem Felsbrocken
stand. Nachdem er einen tiefen Schluck genommen hatte, sagte
er: »Irgendwann lass ich die ganze verdammte Niggerbrut mit
einer Sprengladung verrecken, das verspreche ich euch! Und
die verfluchten Juden dazu! Die haben den Namen unseres
Herrn missbraucht, wisst ihr das? Die nehmen aufrechten
Amerikanern die Arbeit weg! Ich sage euch, wir müssen
endlich aufräumen in dieser Stadt! Wenn dieser Martin-Luther-
Fuck-You-King wirklich in Birmingham ist, müssen wir ihn
aus seinem verdammten Motelzimmer bomben. Dann ist
endgültig Schluss mit dem Zauber, das garantiere ich euch!
Stopft dem schwarzen Mistkerl das Maul!«

Bobby Cheny lachte gehässig und versetzte dem gefesselten

Jungen einen Fußtritt. »Und was machen wir mit dieser
Ratte?«

»Wirf ihn in den Fluss!«, antwortete Dynamite Bob und

spuckte in den Sand. »Schick den verfluchten Bengel zu den
Fischen!«

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13



Jay-Jay bäumte sich stöhnend auf und stieß einen beinahe
unmenschlichen Schrei aus, als der Klansmann ihn packte und
wie ein Bündel mit Lumpen in den Fluss warf. Das Wasser
erstickte seinen Hilferuf und umklammerte ihn wie ein
Ungeheuer, das eine Beute packt und mit eisernen Klauen
umfangen hält. Er versuchte den Kopf über Wasser zu halten
und sich von den Fesseln zu befreien, doch der Fluss war
stärker und trieb ihn mit der Strömung fort. Aus diesem nassen
Grab schien es kein Entrinnen zu geben. Er stieß sich mit den
gefesselten Beinen nach oben, reckte seinen Kopf aus dem
Wasser und wurde von einer unsichtbaren Kraft wieder nach
unten gezogen. Das schadenfrohe Gelächter der Cahaba Boys
und das verächtliche »Fuck you, Nigger-Boy! Schönen Gruß
an die Fische!« von Bobby Frank Cherry begleiteten ihn in die
Dunkelheit.

Audrey konnte von Glück sagen, dass gerade ein Truck über

die Brücke rumpelte und niemand ihren Entsetzensschrei hörte.
Sie sprang aus ihrem Versteck und wollte schreiend zum
Flussufer laufen und sich auf die weißen Männer stürzen. Noch
bevor sie den ersten Schritt tun konnte, zog Edward sie hinter
das Gestrüpp. Er presste ihr eine Hand auf den Mund und
redete leise auf sie ein: »Nicht schreien, Audrey! Bitte nicht
schreien! Sie dürfen nicht wissen, dass wir hier sind!« Sie
wand sich wie ein gefangenes Tier in seinen Armen. »Wir
holen Jay-Jay aus dem Fluss! Beruhige dich! Wir holen ihn da
raus!«

Sie verdrängte die Panik und nickte widerwillig. Verzweifelt

deutete sie zum Fluss hinunter, wo der Junge mit aller Macht

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gegen das Ertrinken kämpfte. Die Cahaba Boys schienen ihn
schon vergessen zu haben. Dynamite Bob leerte seine Bierdose
und schleuderte sie dem Jungen hinterher. Bobby Frank Cherry
griff nach einer Sturmlampe und verriet, dass seine Frau auf
ihn warte und bestimmt schon sauer sei, weil er wieder so spät
nach Hause komme. »Lasst uns verschwinden«, sagte Thomas
E. Blanton, ein hagerer Mann mit einem auffallend blassen
Gesicht. »Ich hab Hunger und will mir noch ‘nen Hamburger
holen!«

Edward nahm Audrey bei der Hand und kletterte zur Straße

hinauf. Am Brückengeländer blieben sie schwer atmend
stehen. »Wie kommen wir zum Fluss runter?«, drängte er. »Du
kennst dich hier doch aus! Gibt’s eine Straße zum Fluss?«

Audrey zwang sich zur Ruhe und überlegte angestrengt. Das

letzte Mal war sie vor einigen Monaten am Cahaba River
gewesen. Sie schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie
sie über die Brücke gefahren waren, an dem einsamen
Campingplatz vorbei und zu einer Stelle, an der ihr Vater die
Angel ausgeworfen hatte. »Hinter dem Campingplatz!«,
erinnerte sie sich. »Fünfzig Meter! Vielleicht auch hundert!
Die Sandstraße zur Bootsrampe!«

Sie rannten los, weg von dem Pfad, über den die weißen

Männer kommen würden, und im Schatten der Bäume am
Fluss entlang. Vorbei an dem türkisfarbenen Chevy mit den
weißen Streifen, der einem der Cahaba Boys gehören musste,
und zu ihrem Cadillac, der viel zu auffällig neben dem
Eingang des Campingplatzes stand. Sie konnten nur hoffen,
dass die weißen Männer nicht auf ihn aufmerksam wurden. In
Windeseile holte Edward eine Taschenlampe aus dem
Kofferraum. Sie waren in der Dunkelheit verschwunden, bevor
Dynamite Bob als Erster die Straße erreichte und fragte: »Hat
einer von euch noch ‘n Bier?«

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Über die Sandstraße rannten Audrey und Edward zum Fluss

hinab. Sie wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit
Cherry den Jungen in den Cahaba River geworfen hatte, waren
viel zu aufgeregt um darüber nachzudenken, ob sie den
treibenden Jungen vielleicht bereits überholt hatten. Sie
würden Jay-Jay retten, eine andere Möglichkeit kam gar nicht
in Frage! Edward knipste die Taschenlampe an und leuchtete
in den Fluss. Wie ein weißer Schatten wanderte der Lichtkegel
über das Wasser. Audrey kletterte auf den Bootssteg und zog
ein Paddel aus einem Kanu, das neben einem Ruderboot an
einen Pfosten gebunden war. Sie blickte angestrengt auf den
Fluss hinaus und suchte nach dem Jungen, dachte nicht daran,
dass er vielleicht längst untergegangen war. »Siehst du was?«,
fragte sie mit gedämpfter Stimme.

»Nichts«, antwortete Edward ebenso leise. Er lief unruhig am

Ufer entlang, leuchtete hinter einen entwurzelten Baumstamm,
der sich im Schilf verfangen hatte, und schüttelte den Kopf.
»Wir müssen ihn finden, Audrey! Jay-Jay darf nicht sterben!«
Er leuchtete weit auf das Wasser hinaus und fing eine
treibende Holzkiste mit seinem Lichtkegel ein. »Wo steckst du,
Jay-Jay?«

Audrey sah, wie etwas Dunkles aus dem Fluss emportauchte.

Wie ein Tier, das nach Luft schnappte. »Edward! Da drüben!«,
schrie sie. »Neben dem Treibholz!« Sie rannte zum Ende des
Bootsstegs und fischte mit dem Paddel nach dem treibenden
Etwas, hielt sich mit der freien Hand an einem Pfosten fest, um
nicht ins Wasser zu fallen. Der Lichtkegel der Taschenlampe
zuckte über das dunkle Wasser und erfasste das Bündel. »Jay-
Jay! Das ist er!«, jubelte sie, als sie das Gesicht des Jungen
erkannte. Sie erwischte ihn mit dem Paddel und zog ihn zum
Bootssteg, ließ das Paddel fallen und beugte sich mit beiden
Armen zu ihm hinunter. »Hilf mir, Edward! Hilf mir!« Edward
war bereits neben ihr und half ihr dabei, den bewusstlosen Jay-

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Jay an Land zu ziehen. Er zog sein Taschenmesser hervor,
befreite Jay-Jay von seinen Fesseln und begann mit der
künstlichen Beatmung, wie er sie in einem Erste-Hilfe-Kurs
gelernt hatte. Martin Luther King hatte darauf bestanden, dass
er eine solche Ausbildung machte, und jetzt war er dankbar
dafür.

Jay-Jay bäumte sich auf und spuckte Wasser. Er erbrach sich

würgend und öffnete wimmernd die Augen. »Es wird alles gut,
Jay-Jay!«, sagte Audrey leise. »Die weißen Männer sind weg!
Du brauchst keine Angst mehr zu haben!«

Sie trugen den Jungen zum Wagen und legten ihn auf den

Rücksitz. Mit einer Wolldecke aus dem Kofferraum deckten
sie ihn zu. Jay-Jay zitterte vor Kälte und weinte leise. Seine
Augen waren offen und blickten vor Angst geweitet in die
Dunkelheit. Audrey streichelte sein nasses Haar und versuchte
mit einem Lächeln die Spannung zu lösen. »Du hast deine
Baseballkappe verloren«, sagte sie. »Aber das macht nichts!
Wir kaufen dir eine neue. Von den Yankees.«

Der Junge ließ nicht erkennen, ob er sie verstand. Audrey

berührte ihn sanft an der Stirn und schloss die Tür. Bedrückt
stieg sie zu Edward in den Wagen. »Wir bringen ihn zu Doc
Snyder«, sagte sie, »einen Block hinter unserem Haus an der
15th Street. Den kenne ich schon, seit ich auf der Welt bin. Er
macht Jay-Jay wieder gesund.«

Edward nickte stumm und lenkte den Wagen die steile Straße

hinauf. Plötzlich tauchten unmittelbar vor ihnen Scheinwerfer
aus der Dunkelheit auf. Audrey hielt erschrocken die Luft an.
Edward bremste so stark, dass sie beide nach vorn fielen und
Jay-Jay schmerzerfüllt auf der Rückbank seufzte. Die Cahaba
Boys, schoss es Audrey durch den Kopf, sie haben uns
entdeckt! Ihre Hand berührte den Türgriff und sie war kurz
davor, die Nerven zu verlieren, als die Lichter des anderen
Wagens nach links wanderten und ein heller Station Wagon an

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ihnen vorbeifuhr. Für einen Augenblick waren die Gesichter
eines Mannes und einer jungen Frau zu erkennen. Edward fuhr
erleichtert weiter und bog auf die Hauptstraße.

In zügigem Tempo fuhren sie nach Birmingham zurück. Es

war bereits nach einundzwanzig Uhr, als sie das
Schwarzenviertel erreichten und vor der Praxis des Arztes
parkten. Doc Snyder wohnte in einem baufälligen Holzhaus,
von dem die weiße Farbe abblätterte, und erschien in einem
Bademantel und Hausschuhen in der Eingangstür. Er war ein
dürrer Mann, manche würden sagen, ein Knochengestell, und
sein Gesicht mit den kantigen Wangen und den schmalen
Augen erinnerte an einen Raubvogel. Er hustete stark.
»Audrey! Was gibt’s? Ich wollte gerade ins Bett gehen. Mir
geht’s nicht besonders gut, weißt du?«

Audrey entschuldigte sich mit einem Lächeln und drehte sich

zu Edward um. Er hielt den verletzten Jungen in den Armen
und blieb abwartend stehen. »Jay-Jay ist verletzt«, sagte sie.
»Der Klan wollte ihn umbringen und hat ihn in den Fluss
geworfen! Wir haben ihn gerade noch rechtzeitig
rausgefischt!« Sie blickte den Jungen an. »Kümmern Sie sich
um ihn, Doc! Ich weiß nicht, wohin wir ihn sonst bringen
sollen! Er braucht dringend Hilfe!«

»Das sehe ich«, erwiderte Doc Snyder mürrisch. Sein hageres

Gesicht erweckte den Eindruck ständiger schlechter Laune.
»Bringt ihn ins Behandlungszimmer!« Seine Praxis war im
größten Zimmer des Hauses untergebracht, das er allein
bewohnte. Seine Frau hatte sich schon nach wenigen Monaten
scheiden lassen und war nach Atlanta gezogen. Er wartete, bis
Edward den Jungen auf das Bett gelegt hatte, und machte sich
sofort an die Untersuchung. »Audrey! Geh in die Küche und
wärme die Gemüsesuppe von heute Mittag auf! Unser junger
Freund braucht was Heißes, wenn er wieder zu sich kommt.«

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Audrey war an den Befehlston des Doktors gewöhnt und

gehorchte. Die Küche war erstaunlich sauber und aufgeräumt
für einen Männerhaushalt und der Topf mit der Suppe stand
abgedeckt im Kühlschrank. Nachdem sie ihn auf den Herd
gestellt und das Gas entzündet hatte, kehrte sie in die Praxis
zurück. »Wie geht es ihm?«, fragte sie ungeduldig. »Wird er
wieder ganz gesund? Jay-Jay muss doch nicht ins
Krankenhaus, oder?«

Doc Snyder war dabei, die blutigen Striemen des Jungen mit

einer übel riechenden Salbe einzuschmieren, und schüttelte den
Kopf. »Nein, Audrey! Aber ich wäre euch sehr verbunden,
wenn ihr draußen warten würdet! Geht in die Küche und passt
auf, dass die Suppe nicht überkocht!« Er warf ihr die nassen
Überreste des Hemdes zu, das Jay-Jay getragen hatte. »Und
wirf die Lumpen in den Mülleimer! Ich geb ihm eins von
meinen Hemden. Neue Schuhe und eine Hose muss ich ihm
erst besorgen.«

Und eine Baseballkappe, dachte Audrey. »Das übernehme

ich«, erwiderte sie, »ich bring Ihnen die Sachen nach der
Schule vorbei.« Sie zögerte. »Er bekommt doch keine
Lungenentzündung?«

Doc Snyder wurde ungeduldig. »Nein! Und jetzt raus! Dies

ist eine Arztpraxis und kein Kindergarten, in dem ständig
gequasselt wird! Schlimm genug, wenn ich um diese Zeit noch
arbeiten muss! Eigentlich gehöre ich ins Bett mit meinem
Husten!«

»Ich koch Ihnen einen heißen Tee«, versprach Audrey und

zog Edward am Jackenärmel aus dem Zimmer. Sie schloss die
Tür. »Doc Snyder meint es nicht so«, klärte sie ihren Freund
auf, »der tut nur so, als hätte er ständig schlechte Laune. Der
denkt nur an seine Patienten! Du hast ja gesehen, er hat nicht
mal gefragt, wer die Behandlung bezahlt!« Sie ging in die

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Küche und setzte Wasser auf. »Willst du auch einen Tee?
Irgendwas mit Kräutern.«

»Hauptsache, heiß«, erwiderte Edward dankbar. Er setzte

sich auf einen Stuhl, stützte sich mit beiden Armen auf den
Tisch und sah zu, wie sie drei Becher aus dem Schrank holte.
»Dein Vater ist bestimmt wütend«, sagte er, »und bis zu einem
gewissen Grad kann ich ihn sogar verstehen. Ich wäre auch
nervös, wenn meine Tochter so spät nach Hause kommt. Egal,
ob sie neun oder neunzehn ist. Dazu ist diese Stadt viel zu
gefährlich! Wenn er die Sache mit Jay-Jay erfährt, sperrt er
dich ein!« Sein Lächeln wirkte wenig zuversichtlich. »Ich
werde mit ihm reden! Gleich nachher!«

»Das wirst du schön bleiben lassen!«, entschied Audrey.

Seitdem sie wusste, dass Jay-Jay überleben würde und in
fachkundiger Behandlung war, hatte sie zu ihrem alten
Selbstbewusstsein gefunden. »Ich bin alt genug, um auf mich
selbst aufzupassen! Ich bin neunzehn! Als Mann wäre ich
erwachsen genug, um für dieses Land in den Krieg zu ziehen!«
Sie stellte die Becher so fest auf den Tisch, dass der Tee
überschwappte. »Ich verehre meinen Vater und habe Respekt
vor ihm, aber ich lasse mir nicht von ihm vorschreiben, mit
wem ich ausgehe und wann ich nach Hause komme! Jay-Jay
ist unser Freund! Ich durfte ihn nicht allein lassen!« Ihre
Augen blitzten. »Ich habe lange genug die Augen zugemacht!
Es geht nicht nur um die Rechte dieses Jungen! Es geht darum,
ob ich morgen früh noch in den Spiegel schauen kann!«

Edward verkniff sich ein Lächeln. »Das hätte Martin Luther

King nicht schöner sagen können!« Er blickte sie an. »Soll das
etwa heißen, dass du unserer Armee des Friedens beitreten
willst?«

»Das hab ich doch längst getan, oder?« Sie nahm die Suppe

vom Feuer, drehte das Gas ab und stellte den Topf auf einen
Untersetzer. »Oder willst du, dass ich offiziell unterschreibe?«

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Doc Snyder schlurfte in die Küche. Er trank von dem heißen

Tee und sagte: »Die Suppe brauch ich nicht. Ich hab dem
Jungen ein Schlafmittel gegeben. Er hat Glück gehabt. Die
Prellungen sind sicher schmerzhaft, aber es ist nichts
gebrochen und die offenen Stellen vernarben schnell. Er ist
noch jung.« Er hustete ein paarmal und wischte sich den Mund
mit einem sauberen Taschentuch aus seinem Bademantel ab.
»Ich nehme nicht an, dass dieser Jay-Jay einen festen Wohnsitz
oder Verwandte hat.«

»Eine Tante«, erwiderte Edward, »auf einer Farm in der Nähe

von Oxmoor. Die regt sich nur unnötig auf, wenn wir ihr
Bescheid sagen. Und Geld hat sie wahrscheinlich auch zu
wenig. Die Behandlungskosten übernimmt die SCLC. Ich
arbeite für Martin Luther King. Wenn Sie wollen, gebe ich
Ihnen das Geld sofort!«

»Darum geht’s doch gar nicht!« Die Miene des Doktors

wurde noch mürrischer. »Ich verhungere schon nicht, wenn ich
mal was umsonst mache.« Er blickte in seinen Tee, als gäbe es
dort etwas zu entdecken. »Sie haben ihn ausgepeitscht, nicht
wahr?«

Edward dachte an die Worte des geheimnisvollen Floyd und

beschloss dem Arzt so wenig wie möglich zu sagen. »Der
Klan. Es ist besser, wenn Sie nicht zu viel wissen. Die
Kapuzenmänner glauben, dass er tot ist. Machen Sie sich keine
Sorgen, Doc! Niemand hat gesehen, dass wir den Jungen aus
dem Fluss gezogen und zu ihnen gebracht haben. Sobald er
gesund ist, holen wir ihn ab. Wie lange wird das dauern, Doc?«

»Er ist ein zäher Bursche«, antwortete der Doktor, »zwei bis

drei Tage. Aber Schmerzen wird er noch eine ganze Weile
haben.« Er blickte gedankenvoll ins Leere und sagte dann:
»Ich hab Martin Luther King in der Kirche gehört. Gestern
wusste ich nicht so recht, was ich davon halten sollte. Ich
meine, mir geht es gut und ich bin kaum in der Stadt und

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vergesse manchmal ganz, dass es Menschen gibt, die anders
aussehen als wir. Aber solange so etwas geschieht…« Er
blickte zum Behandlungszimmer. »Vielleicht ist es wirklich an
der Zeit, den Mund aufzumachen!«

»Wir brauchen endlich Gerechtigkeit«, stimmte Edward ihm

zu. »Gott kann nicht gewollt haben, dass eine Rasse der
anderen überlegen ist. Warum sollten Weiße besser als
Schwarze sein? Welcher Hochmut befällt diese Ritter des Ku-
Klux-Klan, wenn sie erklären, Juden und Katholiken seien
keine vollwertigen Menschen? Die Gesetze der
Rassentrennung sind ungerecht, weil sie mit den sittlichen
Gesetzen, wie wir sie aus der Bibel kennen, nicht vereinbar
sind!« Er lächelte. »Tut mir Leid. Wenn man ständig einen
Mann wie Martin Luther King um sich hat, kommt man leicht
ins Predigen. Ich wollte Sie nicht langweilen, Doc.«

»Sie langweilen mich nicht, junger Mann«, erwiderte der

Arzt und zum ersten Mal an diesem Abend huschte ein kaum
sichtbares Lächeln über sein Gesicht. Dann kehrte seine
schlechte Laune zurück. »Aber jetzt wird es langsam Zeit, dass
Sie gehen! Ich hab keine Lust, morgen den ganzen Tag im Bett
zu liegen!«

»Sorry«, entschuldigte sich Edward. Er wechselte einen Blick

mit Audrey und stand auf. »Wir sind Ihnen wirklich sehr
dankbar, dass Sie sich um den Jungen kümmern!« Audrey
schüttelte dem Doktor die Hand. »Ich komme morgen mit den
Kleidern vorbei.«

»Mach das, Audrey! Und jetzt lasst mich endlich schlafen!«
Der Doktor hielt ihnen die Tür auf und brummte zufrieden,

als sie das Haus verließen. Edward öffnete die Fahrertür und
blickte Audrey über das Autodach an. »Hast du das ernst
gemeint?«, fragte er zögernd. »Ich meine, willst du wirklich
mitmachen? Ich möchte nicht, dass du dich nur meinetwegen
dazu entschließt. So eine Entscheidung muss tief aus dem

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Herzen kommen! Ich wäre dir nicht böse, wenn du zu Hause
bleibst, Audrey! Dein Vater sieht es bestimmt nicht gern, wenn
du dich unserem Protest anschließt. Ich möchte eure Familie
nicht in die Enge treiben.«

»Ich tue es weder für dich noch für mich«, erwiderte Audrey.

Sie sank auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. »Ich tue es
für Jay-Jay und weil ich diese Ungerechtigkeit nicht mehr
ertrage! Mag sein, dass du mir die Augen geöffnet hast. Soll
ich nach dem, was wir heute gesehen haben, vielleicht zur
Tagesordnung übergehen? Ich werde diese Bilder niemals
vergessen, Edward!«

»Ich auch nicht, Audrey!« Er griff nach ihrer Hand, während

er den Wagen wendete und zum Haus von Audreys Eltern
fuhr.

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14



Beim Anblick der erleuchteten Fenster im ersten Stock
verspürte Audrey ein mulmiges Gefühl. Obwohl sie auf eine
Standpauke ihres Vaters gefasst war, hatte sie gehofft, dass
ihre Eltern schon zu Bett gegangen wären. »Vielleicht ist es
besser, wenn ich mit ihm rede?«, sagte Edward besorgt. Sie
antwortete: »Ich bin ein erwachsener Mensch und habe das
Recht auf eine eigene Meinung!« Das klang mutiger und
entschlossener, als sie sich in Wirklichkeit fühlte, und sie war
froh, dass ihr Freund nicht das unsichere Flackern in ihren
Augen sehen konnte. Sie verabschiedete sich mit einem
flüchtigen Kuss und öffnete rasch die Beifahrertür, um nicht
schwach zu werden und weinend in seine Arme zu sinken. Auf
wackligen Beinen ging sie zum Haus und kramte ihren
Schlüssel hervor. »Wir sehen uns bei Doc Snyder! Gleich nach
der Schule!«, hörte sie Edward rufen, bevor er davonfuhr.

Ihre Eltern waren bereits im Hausflur. Ihr Vater stand wie ein

Racheengel auf der Treppe, den Bademantel über dem
Schlafanzug verschnürt, und schnaubte vor Wut. Ihre Mutter
hielt ihn am rechten Arm fest und versuchte ihn zu
beschwichtigen. »Wo kommst du her?«, begann er mit seinen
Vorwürfen. »Hab ich dir nicht verboten, mit diesem Edward
auszugehen? Hab ich denn gar nichts mehr zu sagen? Wo hast
du die ganze Zeit gesteckt?«

Sie kam sich wie eine Diebin vor, die man auf frischer Tat

ertappt hatte. »Ich weiß, Daddy. Du hast es mir verboten. Aber
ich bin eine erwachsene Frau. Ich arbeite und verdiene mein
eigenes Geld! Du kannst mir nicht verbieten, mit einem jungen
Mann auszugehen! Nicht, wenn er so anständig ist wie

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Edward!« Sie sah, wie ihrem Vater das Blut in den Kopf stieg,
und sprach schnell weiter. »Einen anständigeren Mann finde
ich auf der ganzen Welt nicht, Daddy! Er will Pastor werden!
Was ist daran falsch, wenn ich mit ihm ausgehe? Es ist noch
nicht mal elf Uhr und er hat mich bis vor die Haustür gefahren!
Was willst du denn noch? Soll er dir schriftlich geben, dass er
mich nicht verführt?«

Nellie Jackson zog hörbar die Luft ein. »So spricht man nicht

mit seinem Vater, Audrey!«, wies sie Audrey zurecht. Und zu
ihrem Mann: »Sie hat es nicht so gemeint, Emory! Bitte! Ihr
seid beide nervös! Erinnere dich daran, wie wir in ihrem Alter
waren!«

»So habe ich jedenfalls nie mit meinem Vater gesprochen!«,

erwiderte Emory Jackson erregt. Er ging zwei Stufen auf
Audrey zu und blieb nur stehen, weil seine Frau ihn festhielt.
»Wenn du ein paar Jahre jünger wärst, würde ich dir eine
runterhauen! Was fällt dir eigentlich ein? Du hast nicht das
Recht, in so einem Ton mit mir zu sprechen! Es geht nicht
darum, ob ich Edward leiden kann und ob ich Angst habe, dass
er dich verführt! Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich ihn für
einen anständigen Jungen halte! Aber er gehört zu Martin
Luther King und ich habe keine Lust, in einen blutigen Kampf
zwischen Schwarzen und Weißen hineingezogen zu werden!
Und das ist genau das, was uns bevorsteht, wenn diese Leute
wahrmachen, was Dr. King in der Kirche angekündigt hat! Es
kommt zu einem Krieg und es wird Tote geben! Und solange
du mit einem von Martin Luther Kings Leuten ausgehst, sind
wir in großer Gefahr!«

»Ich habe keine Angst, Daddy! Und ich habe auch keine Lust

mehr, mir alles gefallen zu lassen, was die Weißen uns
zumuten! Es geht um Mädchen wie Sarah Lee Thornton oder
Cynthia Wesley! Sie sollen es mal besser haben als wir! Weißt
du, dass die Thorntons nach Norden geflohen sind? Sie sind

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vor dem Ku-Klux-Klan weggelaufen! Cynthia hat den halben
Tag geheult, weil ihre Freundin nicht mehr da ist! Wir dürfen
nicht mehr wegsehen, Daddy!«

»Er hat dich also rumgekriegt!«, schimpfte Emory Jackson so

laut, dass seine Frau ängstlich in den ersten Stock hinaufsah,
wo Napoleon und Robin schliefen. »Hab ich’s mir doch
gedacht! Er hat dich mit seinem politischen Schwachsinn
bedrängt, bis du ja gesagt hast! Sag bloß, du hast das Papier
unterschrieben!«

»Ich habe gar nichts unterschrieben, Daddy!«
»Hast du denn vollkommen den Verstand verloren, Audrey?

Du denkst an Sarah Lee Thornton und Cynthia Wesley, aber
was ist mit deinen Brüdern? Was ist mit Napoleon und Robin
und was ist mit deiner Schwester?

Willst du, dass der Klan sie am nächsten Baum aufknüpft?

Willst du, dass einer von ihnen im Rollstuhl landet? Und was
ist mit uns? Sollen wir unser Geschäft verlieren? Soll unsere
ganze Zukunft draufgehen, nur weil du die Heldin spielen
willst? Das lasse ich nicht zu, Audrey! Ich dulde nicht, dass du
unsere ganze Familie ins Unglück stürzt! Du bist keine
Freiheitskämpferin!«

»Das hat doch niemand gesagt, Daddy!«, versuchte Audrey

ihren Vater zu besänftigen. »Der Klan hätte viel zu tun, wenn
er alle Leute umbringen würde, die gegen die Weißen
protestieren wollen! Weißt du, wie viele Schwarze bei Martin
Luther King unterschrieben haben, Daddy? Über tausend!
Vielleicht ist es wirklich so, wie Dr. King sagt, dass die Zeit
gekommen ist, um unsere Rechte einzufordern! In der
Verfassung steht, dass alle Menschen die gleichen Rechte
haben, ungeachtet ihrer Hautfarbe…«

»Ich wusste es!«, polterte ihr Vater dazwischen. »Ich wusste,

dass er dich mit diesem politischen Müll zuschüttet! In der
Verfassung steht auch, dass Verbrecher für ihre Taten bestraft

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werden! Und was passiert mit den Klansmännern, die
unschuldige Schwarze aufhängen oder zu Tode prügeln? Sie
werden freigesprochen! Papier ist geduldig, Audrey! In der
Wirklichkeit sieht manches anders aus, als es sich Dr. King
und seine Leute vorstellen! Wir wissen, wie es in Birmingham
zugeht! Wir wissen, dass der Bürgermeister und die Polizei mit
dem Klan unter einer Decke stecken! Sogar der Gouverneur
stellt sich vor die Fernsehkameras und sagt ungestraft, dass er
die Schwarzen für eine minderwertige Rasse hält! Gegen so
eine Übermacht kommen wir nicht an, Audrey! Vielleicht in
dreißig oder vierzig Jahren, aber nicht jetzt! Denk an deine
Familie! Halte dich da raus! Lass dich von diesem Edward
nicht blenden! Nur weil er dir schöne Augen macht, heißt das
noch lange nicht, dass du ihm blind hinterherlaufen musst! Das
dulde ich nicht, Audrey! Hast du mich gehört?«

Audrey ahnte, dass ihrem Vater mit vernünftigen

Argumenten nicht beizukommen war. Geschweige denn mit
der vollen Wahrheit! Sie wagte nicht einmal sich vorzustellen,
was geschehen würde, wenn sie ihm gestand, dass sie zur
Cahaba Bridge gefahren und die gefährlichsten Männer des
Ku-Klux-Klan belauscht hatte! Er würde die Nerven verlieren!
Er würde den ganzen Block mit seinem Geschrei aufwecken!
Und ihre Mutter würde einen Weinkrampf bekommen und auf
der Treppe zusammenbrechen. Allein der Gedanke daran ließ
Audrey erschaudern. Aber durfte sie ihren Eltern böse sein?
Sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt um Jay-Jay zu helfen!
Ein falscher Schritt, ein leiser Schreckensruf und die Cahaba
Boys hätten Edward und sie kaltblütig erschossen!

»Ich vertraue Edward«, sagte sie ruhig. »Und ich laufe ihm

nicht blind hinterher! Ich mag ihn und lasse mich durch
niemand davon abbringen, mit ihm auszugehen!« Sie schnaufte
tief und war darauf vorbereitet, sich eine Ohrfeige
einzufangen. Warum musste sie ihren Vater auch ständig

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reizen? Sie bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. »Ich
will keinen Streit, Daddy! Und ich werde nie etwas tun, was
meiner Familie schadet! Ich liebe euch, das wisst ihr doch!
Darf ich jetzt ins Bett gehen?«

»Wir reden morgen weiter!«, erklärte ihr Vater bestimmt.

»Und glaub ja nicht, dass du dich so einfach davonstehlen
kannst! Ich werde nicht zulassen, dass du etwas tust, was du
später bereuen wirst! Auf gar keinen Fall!« Er drehte sich um
und kehrte ohne ein weiteres Wort in seine Wohnung zurück.
Für einen Augenblick sah Audrey die Köpfe ihrer Brüder in
der Tür. »Gute Nacht, Honey«, wünschte ihr die Mutter. »Sei
nicht so streng mit deinem Vater, hörst du? Er will nicht, dass
unserer Familie etwas passiert! Und tritt etwas kürzer mit
Edward! Daddy hat Recht! Er bringt dich vielleicht dazu,
etwas Unüberlegtes zu tun, und das willst du doch nicht, oder?
Entschuldige dich morgen bei ihm!«

»Gute Nacht, Mom!« Audrey ging an ihrer Mutter vorbei und

stieg in den zweiten Stock hinauf. Sie trank von der kalten
Milch im Kühlschrank und starrte aus dem Fenster. So wie vor
ein paar Tagen, als Edward sie zum ersten Mal nach Hause
gebracht hatte. Doch ihre Gedanken waren anders. Damals
hatte sie nicht im Traum daran gedacht, bei den Protesten
gegen die Weißen mitzumachen. Jetzt war sie nicht mehr
sicher. Das brutale Vorgehen der Cahaba Boys hatte sie
wütend gemacht. Hätte der geheimnisvolle weiße Anrufer
ihnen nicht einen Tipp gegeben und hätten sie nicht das Glück
gehabt, Jay-Jay im Fluss zu entdecken, wäre er einen
grausamen Tod gestorben.

Wer war dieser Floyd? Wie kam ein Weißer dazu, einem

Mitarbeiter von Martin Luther King zu helfen? Natürlich gab
es Weiße, die für die Gleichberechtigung der Rassen waren
und das rücksichtslose Vorgehen des Ku-Klux-Klan nicht
guthießen oder zumindest dafür eintraten, die strengen

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Rassengesetze zu lockern, aber niemand war bisher so weit
gegangen, die Klansmänner zu verraten. Floyd hatte sein
Leben für sie riskiert! Wenn der Klan herausbekam, dass er im
Gaston Motel angerufen hatte, würde man ihm den Verrat auf
blutige Weise heimzahlen. Man würde ihn genauso kaltblütig
umbringen wie einen schwarzen Farmer.

Sie stellte die Milch zurück und löschte das Küchenlicht. In

ihrem wollenen Nachthemd kroch sie ins Bett. Obwohl es
draußen noch warm war und sie vergessen hatte, am Morgen
ihr Zimmerfenster zu öffnen, spürte sie, wie kalte Schauer über
ihre Haut krochen. Sie zog die Decke bis zum Kinn und starrte
in die Dunkelheit. Vergeblich versuchte sie einzuschlafen. Sie
war zu aufgewühlt, um die Augen zu schließen und an nichts
zu denken. Nach einer Weile richtete sie sich auf. Sie ballte
ihre Hände zu Fäusten und hieb wütend auf die Matratze ein.
Verdammt, warum vertrugen sich die Menschen nicht? Warum
war die Welt so schlecht, wie sie war?

Von der Straße drang das Röhren eines Kleinlasters herauf.

Sie stand auf und trat erschrocken an das dunkle Fenster. Ihre
Hände berührten das trübe Glas und sie erkannte einen weißen
Pick-up, der mit laufendem Motor neben ihrem Plymouth hielt.
So leise wie möglich schob sie das Fenster einen Spalt nach
oben. Sie spähte nach unten und sah, wie der Beifahrer
ausstieg und neben ihrem Wagen stehen blieb. Ein Weißer!
Selbst im schmutzigen Licht der Straßenlampen erkannte sie
Duncan, einen der beiden Kerle, die sie auf dem Bessemer
Highway überfallen hatten. Er trug denselben Overall wie vor
einigen Tagen und schwankte leicht, als er sich auf die
Kühlerhaube stützte. »Ich werd verrückt«, rief er so laut, dass
Audrey es hören konnte, »der Karren gehört der Schlampe, die
wir neulich eingefangen haben! Wir hätten ordentlich unseren
Spaß gehabt, wenn der Deputy nicht gekommen wäre! Zehn
Minuten später und er hätte sie von der Straße kratzen

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können!« Sein derbes Lachen drang unheimlich zu Audrey
hoch. »Was meinst du, Steve? Wohnt die hier irgendwo?
Mann, die würde Augen machen, wenn ich bei ihr klingele,
was?«

»Klar«, kam die nüchterne Antwort aus dem Pick-up, »und

eine Minute später sind hundert Nigger bei dir und reißen dir
den Arsch auf. Wir sind im Niggerviertel, Mann!

Schon vergessen? Steig lieber ein, bevor du ‘nen Knüppel ins

Gesicht bekommst! Mach schon, die Schlampe läuft uns nicht
davon! Die läuft uns irgendwann über den Weg! Und wenn
nicht, suchen wir ‘ne andere! Eine Niggerschlampe ist wie die
andere, das weißt du doch!«

Duncan trat gegen den linken Vorderreifen des Plymouth.

»Ich hab keine Angst vor Niggern!«, meinte er großspurig.
»Sollen sie doch kommen, wenn sie was von mir wollen!« Er
klopfte auf die Seitentasche seines Overalls. »Ich zieh ihnen
eins mit dem Schraubenschlüssel über!« Er drehte sich zu
seinem Kumpan um und hätte beinahe das Gleichgewicht
verloren. »Worauf wartest du noch, Mann? Nimm die Knarre
und komm! Irgendwo muss die Schlampe ja sein! Wir finden
sie, und wenn wir das ganze Viertel durchkämmen müssen!«

»Entweder steigst du jetzt ein oder ich lass dich allein in den

Slums zurück!«, rief Steve Goblett ungeduldig. »Dann wirst du
schon sehen, was du gegen die Nigger ausrichten kannst!
Komm endlich! Wenn wir Mist bauen, nimmt uns der Klan
nie!«

»Und die Schlampe? Ich will sie haben, verdammt!«
»Ich besorg dir eine andere«, erwiderte Steve Goblett. »Und

jetzt steig ein!« Er ließ den Motor aufheulen und fuhr ein paar
Meter. »Was ist mit dir, Mann?«

»Ich komm ja schon«, brummte Duncan widerwillig. Er zog

sich in den Pick-up und bekam gerade noch die Beifahrertür

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zu, bevor der Wagen davonschoss und in der Dunkelheit
verschwand.

Audrey schloss das Fenster und sank benommen auf einen

Stuhl. Minutenlang starrte sie ins Leere, die abfälligen Worte
der Männer als dumpfes Echo in den Ohren. »Verdammte
Niggerschlampe! Verdammte Niggerschlampe!« Wie ein
flammender Keil fraßen sich die Worte in sie hinein. Bittere
Tränen rannen aus ihren Augen und hinterließen schmutzige
Spuren auf ihren Wangen. »Verdammte Niggerschlampe!
Verdammte Niggerschlampe!« Mit dem Ärmel ihres
Nachthemds wischte sie ihr Gesicht trocken. »In der Hölle
sollen sie schmoren, diese gemeinen Kerle!«, stieß sie hervor.
»Wenn sie tot vor mir auf dem Boden lägen, würde ich lachen
und auf sie spucken!«

Die Tür ging auf und Alberta kam gähnend ins Zimmer.

»Audrey! Was ist denn?«, fragte sie verschlafen. »Hast du
gerufen? Ich hab geträumt, dass du dich mit Daddy streitest!«
Sie schlurfte näher und blieb erstaunt vor ihr stehen. »He,
warum liegst du denn nicht im Bett? Kannst du nicht schlafen?
Ist was passiert?«

Audrey erwachte aus ihrer Benommenheit und erkannte ihre

jüngere Schwester. Um sie nicht zu erschrecken, sagte sie: »Es
ist nichts, Alberta! Ich hab auch schlecht geträumt. Muss am
Wetter liegen. Leg dich wieder hin, du musst morgen früh
raus!«

»Du bist okay, hm?«
»Ich bin okay. Ehrenwort!«
Audrey wartete, bis ihre Schwester gegangen war, und kroch

unter ihre Bettdecke. Erschöpft ließ sie den Kopf auf das
Kissen sinken. Zum zweiten Mal an diesem Abend versuchte
sie einzuschlafen. Doch der Schock, die beiden Männer im
Pick-up wiedergetroffen zu haben, und die Gewissheit, dass ihr
Vater Recht hatte und sie ihre Familie tatsächlich in Gefahr

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brachte, hinderten sie daran, die Augen zu schließen. Sie hatte
die beiden Männer gegen sich aufgebracht. Wenn sie
herausfanden, dass sie mit einem Mitarbeiter von Martin
Luther King zusammen war, und wenn der Klan aufdeckte,
dass sie die Cahaba Boys an der Nase herumgeführt und Jay-
Jay gerettet hatte, war sie in Gefahr. Ohne dass sie es wollte,
war sie zu einem wichtigen Mosaiksteinchen in der
Auseinandersetzung zwischen Schwarz und Weiß geworden.
Eine Rolle, die ihr viel zu gewaltig schien. Sie war nicht stark
genug, um gegen den Ku-Klux-Klan zu kämpfen. Ihr Glaube
war zu schwach, um das zu tun, was Martin Luther King von
seinen Anhängern verlangte: die Weißen mit gewaltlosen
Mitteln zu bekämpfen und auf die Stärke des Herrn zu hoffen.

Sie betete leise. Das Gebet, das sie jeden Abend vor dem

Einschlafen sprach, und dann: »Ich vertraue dir, Herr! Du wirst
mich auf dem Weg leiten, der in eine bessere Zukunft führt!
Du wirst darauf achten, dass meinen Eltern und meinen
Geschwistern nichts passiert! Du wirst deine schützende Hand
über Edward halten! Beschütze mich in dieser schwierigen
Lage! Ich weiß nicht, warum du die Kapuzenmänner gewähren
lässt! Sie berufen sich auf deinen Namen. Sie glauben in
deinem Namen zu handeln, wenn sie unschuldige Schwarze zu
Tode foltern! Das kann nicht sein, Herr! Ich weiß, dass alles
einen Sinn hat, was du tust, und ich weiß, dass ich eines Tages
erfahren werde, warum wir durch dieses tiefe Tal gehen
mussten. Ich fürchte mich nicht davor. Ich versuche stark zu
sein. Weil ich weiß, dass du die Menschen beschützt, die im
Recht sind! Beschütze Martin Luther King, der mit friedlichen
Mitteln erreichen will, was mit Waffengewalt niemals
geschafft wurde! Beschütze Edward, der in seinem Sinne
handelt! Beschütze meine Eltern und meine Geschwister, die
nicht wissen, welche schrecklichen Bilder ich gesehen habe,
und lass sie nicht für etwas leiden, was ich verschuldet habe!

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Schenke uns den Frieden, nach dem wir uns so lange sehnen!
Amen!«

Erst jetzt schloss sie die Augen und schlief ein. Das Licht des

aufgegangenen Mondes schien zum Fenster herein und warf
einen silbernen Schatten auf ihr Bett und den Boden. Sie
seufzte leise und zum ersten Mal an diesem Abend huschte ein
zartes Lächeln über ihre entspannten Gesichtszüge.

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15



Gleich nach der Schule fuhr Audrey zu Woolworth und kaufte
einige Sachen für Jay-Jay. Weil es keine Baseballmütze mit
dem Schriftzug der New York Yankees gab, begnügte sie sich
mit dem Logo eines anderen Clubs, den sie nicht kannte. Die
Verkäuferin war schwarz und bediente sie freundlich. Mit den
Kleidungsstücken und einer Packung Kaugummi fuhr Audrey
zu Doc Snyder. Sie parkte hinter Edwards Cadillac in einer
Seitenstraße und blickte sich ängstlich um, bevor sie an die
Haustür klopfte.

Doc Snyder ließ sie hustend ein. Er brummte missmutig vor

sich hin und führte sie in den Behandlungsraum. »Der Junge
schläft«, sagte er, »ich hab ihm eine Spritze gegen die
Schmerzen gegeben. Wird noch einige Tage dauern, bis er
wieder vollständig auf dem Damm ist!« Er warf einen Blick
auf Jay-Jay und sah Audrey an. »Wollt ihr ‘nen Tee? Ich hab
welchen auf dem Herd!«

»Gern«, erwiderte Audrey. Sie legte die Tüte mit den

Kleidungsstücken auf einen Stuhl und begrüßte Edward.
»Mein Vater war ziemlich wütend«, beantwortete sie die
unausgesprochene Frage. »Ich glaube, er hat Angst. Angst,
dass sich zu viel verändert und unserer Familie etwas
passiert!« Sie löste sich von ihrem Freund und blickte ihn
besorgt an. »Ich habe auch Angst!«

»Wir haben alle Angst«, sagte Edward. »Aber es muss sich

etwas ändern! Oder willst du zulassen, dass so etwas noch
einmal passiert?« Er ging durch das Zimmer und blieb
lächelnd vor der Liege mit Jay-Jay stehen. »Wenn er schläft,
sieht er wie ein ganz normaler Junge aus, nicht wahr? Als

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könnte er kein Wässerchen trüben! Dabei hat er es faustdick
hinter den Ohren!«

»Er ist ein guter Junge«, meinte Audrey. »Wenn er erst mal

in besserer Gesellschaft ist, kann er es weit bringen! Ich wette,
er ist schlauer als die meisten Jungen an unserer High School!«

»Da draußen lernt man eine ganze Menge«, erwiderte

Edward. Er trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinaus.
Vor einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite saßen
einige Jungen und rauchten. Sie waren jünger als Jay-Jay.
»Vor allem, wie man überlebt! Wer zu schwach ist, kommt
unter die Räder! Jay-Jay ist ein gerissener Bursche, den wirft
so schnell nichts um.«

»Die Cahaba Boys hätten ihn beinahe geschafft«, erinnerte

Audrey. Sie stützte sich auf eine Stuhllehne. Ihr schauderte,
wenn sie an die letzte Nacht dachte. »Hat sich Floyd wieder
gemeldet?«

»Nein«, antwortete Edward, »und es hat anscheinend

niemand gemerkt, dass wir Jay-Jay hierher gebracht haben.
Heute Morgen hab ich mit Ralph Abernathy über den Jungen
gesprochen. Du weißt schon, der Pastor aus Montgomery. Er
hat vorgeschlagen, ihn bei seiner Tante zu verstecken. Noch
besser wäre es, wenn er nach Brooklyn zurückkehren könnte.
Aber das geht nicht. Wenn die Cahaba Boys herausfinden, dass
er am Leben ist, setzen sie bestimmt alles daran, ihn doch noch
umzubringen.«

»Und wenn der Klan von seiner Tante weiß?«
Edward zuckte mit den Schultern. »Jay-Jay ist nirgendwo

sicher, nicht mal in meinem Motelzimmer. Keiner von uns ist
sicher, solange ein Weißer nicht zur Verantwortung gezogen
wird, wenn er einen Schwarzen ermordet hat! Wenn der Klan
eine Bombe in unserem Motel legt, fliegen wir alle in die
Luft!« Er wirkte entschlossen. »Sollen wir deswegen
aufgeben? Dr. King glaubt daran, dass selbst die Klansmänner

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ihren Hass überwinden können. ›Der Glaube versetzt Berge‹,
heißt es in der Bibel. Wenn wir Gott vertrauen und uns
gewaltlos gegen den Hass des Ku-Klux-Klan auflehnen, legen
wir den Grundstein für ein neues Amerika. Ein Amerika, in
dem sich Weiße und Schwarze vertragen!«

»Ich glaube nicht, dass Verbrecher wie die Cahaba Boys dazu

fähig sind, mit uns in Frieden zu leben«, sagte Audrey. »Ich
habe gesehen, wie sie den Jungen behandelt haben. Sie wollten
ihn kaltblütig umbringen! Das sind schlechte Menschen! Die
kennen keine Skrupel! Die lachen uns aus, wenn wir
protestieren und fromme Lieder singen!« Sie wurde sich ihrer
Hilflosigkeit bewusst und spürte eine unbändige Wut in sich
aufsteigen. »Am liebsten würde ich die Klansmänner alle
umbringen! Man sollte sie am nächsten Baum aufknüpfen, so
wie sie es mit uns tun!«

»Und was wäre damit gewonnen?«, erwiderte Edward ruhig.

»Der Hass der Weißen würde noch größer werden und es käme
zu blutigen Straßenkämpfen! Gewalt erzeugt Gegengewalt!
Nein, nur unser Glaube und unsere Liebe können den Hass
besiegen! ›Liebet eure Feinde!‹, predigt Jesus. ›Segnet, die
euch verfluchen! Bittet für die, die euch beleidigen!‹ Dies
müssen wir leben! Wir müssen dem Hass mit Liebe begegnen,
sonst gibt es niemals Frieden! »Christentum in Aktion« nennt
Martin Luther King diese Vorgehensweise. Auch Liebe kann
Widerstand sein!«

»Und du meinst, die Schwarzen, die sich eurer Armee

anschließen, halten sich daran? Wie will Martin Luther King
diese Leute überreden, auf Gewalt zu verzichten? Sobald sie
einen Klansmann in ihre Gewalt bekommen, schlagen sie ihn
tot! Ich würde es vielleicht selbst tun!«

»Du würdest es nicht tun!«, widersprach Edward. Er ging auf

sie zu und berührte ihre Arme. Sein Blick war voller
Zuneigung. »Du kannst keinem Menschen wehtun, Audrey!

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Und ich werde dafür sorgen, dass dir niemand wehtut!« Er zog
sie sanft zu sich heran und küsste sie auf den Mund. Es war
kein leidenschaftlicher Kuss, eher zärtlich und zurückhaltend,
und seine Hände streichelten sanft über ihren Hals und ihren
Rücken. »Ich hab dich sehr lieb«, flüsterte er, »das wollte ich
dir schon lange sagen!«

Sie schmiegte sich an seine Brust und lächelte zufrieden. »Ich

hab dich auch lieb, Edward! Ich hab dich schon gemocht, als
du mich zum ersten Mal nach Hause gebracht hast.« Sie
schlang die Arme um seinen Hals und wollte den Kuss
erwidern, als das Heulen einer Sirene die Stille zerriss. Ein
Polizeiwagen! Die Sirene verstummte röchelnd und man hörte,
wie der Wagen mit quietschenden Bremsen vor dem Haus des
Arztes hielt. Die Türen wurden aufgerissen und wieder
zugeschlagen. Zwei Männerstimmen erklangen. »Da wohnt
er«, sagte der eine und der andere antwortete: »Kaufen wir uns
den verdammten Burschen!«

Audrey und Edward traten ans Fenster und blickten

vorsichtig nach draußen. Sie sahen, wie zwei Polizisten näher
kamen. Ein korpulenter Bursche mit hochrotem Gesicht, die
linke Hand am Schlagstock, und sein junger Kollege, eher
milchgesichtig und ein forsches Lächeln in den Augen. »Die
sind bestimmt hinter Jay-Jay her«, erschrak Audrey. »Woher
wissen sie, dass er hier ist? Die sollten sich lieber um die
Cahaba Boys kümmern!«

»Die machen mit dem Klan gemeinsame Sache«, erwiderte

Edward. »Irgendwie müssen die Cahaba Boys
herausbekommen haben, dass wir Jay-Jay aus dem Fluss
gezogen haben! Die können sich ja denken, dass er Hilfe
braucht, und so viele Ärzte gibt es im Schwarzenviertel nicht.
Wir hätten ihn in eine andere Stadt bringen sollen, nach
Montgomery oder Mobile.«

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Doc Snyder erschien mit dem heißen Tee, als die Polizisten

klopften. »Polizei!«, warnte Edward ihn leise. »Sie sind hinter
Jay-Jay her! Wir müssen ihn wegschaffen!« Er beugte sich
über den Jungen und versuchte ihn wachzurütteln. »Jay-Jay!
Wach auf! Wir müssen weg!« Er schüttelte ihn sanft. »Komm
schon, Jay-Jay!«

Der Junge regte sich stöhnend, aber seine Augen blieben

geschlossen und er entspannte sich gleich wieder. »Das hat
keinen Zweck«, flüsterte der Arzt, »das Beruhigungsmittel ist
zu stark! Ihr müsst ihn tragen! Nehmt den Hinterausgang, da
ist niemand!«

Einer der Polizisten rüttelte an der Tür. »Mach endlich auf,

Boy! Wir wissen, dass du zu Hause bist! Sperr auf oder wir
treten die Tür ein! Wenn du nichts zu verbergen hast, passiert
dir nichts! Ich geb dir zehn Sekunden! Eins…«

Edward schnappte sich den schlafenden Jungen, der eines der

langen Nachthemden des Arztes trug, und warf ihn sich über
die Schulter. Audrey nahm die Tüte mit der neuen Kleidung
mit. Sie schlichen aus dem Behandlungszimmer und liefen zur
Hintertür. Gerade noch rechtzeitig hörten sie, dass sich Schritte
näherten. Der junge Polizist war misstrauisch geworden und
lief um das Haus herum. Durch das Fenster beobachteten sie,
wie er seinen Schlagstock zog und leise auf die Hintertür
zukam.

»Nach oben!«, flüsterte Doc Snyder. »Klettert aus dem

Fenster im Schlafzimmer und versteckt euch auf dem Dach!«

Sie stiegen die Treppe hinauf und huschten ins Schlafzimmer.

Im Erdgeschoss öffnete Doc Snyder die Haustür und der
Polizist mit dem roten Gesicht kam herein in den Flur. Im
selben Augenblick trat sein junger Kollege ungeduldig gegen
die Hintertür und stieß sie nach innen. »Hast du ein schlechtes
Gewissen?«

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»Ich musste mir erst die Schuhe anziehen«, redete sich der

Arzt heraus, »ich war im Bad, wissen Sie, und da ziehe ich
immer…«

»Halt keine Volksreden, Boy!«, wies der ältere Polizist den

eingeschüchterten Arzt zurecht. Das herablassende »Boy«, ein
Wort aus der Sklavenzeit, benutzte jeder Weiße, der einen
Schwarzen beleidigen wollte, auch wenn ein erwachsener
Mann vor ihm stand. »Ich denke, ihr Nigger lauft alle barfuß
rum?« Er lachte schallend und blickte sich suchend um. »Wo
steckt der Junge?«

»Welcher Junge?«, fragte Doc Snyder scheinbar verwundert.
»Nennt sich Jay-Jay, ein rotzfrecher Bursche! Ungefähr

zwölf. Er hat die Fensterscheibe eines weißen Gentleman
eingeworfen und es liegt eine Anzeige gegen ihn vor! Er hat
sich mit einigen Niggern aus dem Nachbarviertel geprügelt
und ordentlich was abgekriegt! Wir nehmen an, dass er bei
einem Arzt untergekrochen ist! Na, was ist? Ist der Junge hier?
Du hast ihn, was? Sonst hättest du uns früher aufgemacht! Den
verdammten Scheiß mit den Schuhen kannst du einem anderen
erzählen!«

Audrey stand im Schlafzimmer des Arztes, den Kopf in der

angelehnten Tür, und hörte mit klopfendem Herzen, wie die
Polizisten den Arzt in die Enge trieben. Edward hatte den
schlafenden Jungen auf das Bett gelegt und zog ihm rasch die
neuen Kleider an. Die Baseballmütze und den Kaugummi
steckte er in seine Jackentasche. Er schob das Nachthemd und
die Tüte unters Bett und legte sich den Jungen wieder über die
Schulter. »Komm!«, forderte er Audrey mit gedämpfter
Stimme auf. »Wir müssen so schnell wie möglich hier raus!
Mach das Fenster auf! Beeil dich!«

Widerwillig löste sie sich von der Tür. Sie hatte große Angst,

dass die Polizisten dem Doktor etwas antaten, aber außer ihren
lauten Stimmen war nichts zu hören. Sie schob so leise wie

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möglich das Fenster hoch und stieg auf das schräg abfallende
Dach. Edward reichte ihr den Jungen nach draußen. Sie legte
ihn auf die morschen Ziegel und duckte sich, damit die Jungen
auf der anderen Straßenseite sie nicht entdeckten. Edward
folgte ihr und kauerte sich neben sie. Unter ihnen stand die
Hintertür offen und sie konnten deutlich hören, was die
Polizisten sagten.

»Und wer hat hier gelegen?«, war die Stimme des älteren

Mannes zu hören. Anscheinend stand er im
Behandlungszimmer. »Hier hat doch jemand gelegen? Und für
wen ist der verdammte Tee? Drei Becher! Du bist nicht allein,
was? Du hast gelogen, stimmt’s? Weißt du, was darauf steht,
Nigger-Boy?«

»Ich hab nicht gelogen, Officer«, antwortete die heisere

Stimme des Arztes. »Um diese Zeit kommt immer der alte Mr.
Wilkes mit seiner Frau zu mir. Zwei Leute aus der
Nachbarschaft. Ich dachte, ich gieße einen heißen Tee auf. Ich
hab sie mit meinem Husten angesteckt, wissen Sie? Heißer Tee
mit Honig wirkt wahre Wunder. Ich hab gestern noch zu Mr.
Wilkes gesagt…«

»Erzähle keine Märchen!«, fiel der Polizist ihm ins Wort.
»Ich glaub dir kein Wort! Ich glaub, dass du hier

irgendjemand versteckt hast! Sieh dich mal um, Lucky! Wenn
du den verdammten Jungen findest, prügelst du ihn die Treppe
runter!«

»Aber Sie können einen kleinen Jungen doch nicht prügeln!«,

ließ sich Doc Snyder zu einer Antwort hinreißen. »Ich meine,
wenn er wirklich nur eine Scheibe eingeschlagen hat, ist das
sicher schlimm und ich verstehe ja, dass Sie ihn zur
Rechenschaft ziehen wollen, aber Sie müssen ihn doch nicht
prügeln!«

»Das musst du schon uns überlassen, Doc!«, sagte der ältere

Polizist. »Lucky! Worauf wartest du noch? Zieh endlich los!«

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Audrey nahm an, dass Doc Snyder nur so viel redete, um

ihnen einen Vorsprung zu verschaffen, und lächelte dankbar.
Gleichzeitig sah sie sich nach einem Fluchtweg um. Es war
durchaus möglich, dass der Polizist aus dem Fenster sah und
sie entdeckte. Und das durfte auf keinen Fall passieren! Um
Edward und sich selbst hatte sie weniger Angst. Man würde sie
ein paar Tage ins Gefängnis sperren und dann wieder
freilassen. Ihre Sorge galt dem Jungen. Wenn die Polizisten
wirklich mit dem Ku-Klux-Klan unter einer Decke steckten,
war er in großer Gefahr.

Sie kroch auf den Knien zurück und zog vorsichtig das

Fenster nach unten. Die Schritte des jungen Polizisten waren
auf der Treppe zu hören. Wie ein gehetztes Tier blickte sie sich
um. In dem schmalen Durchgang, der das Haus des Arztes von
dem benachbarten Wohnblock trennte, lag eine Leiter. Wenn
es ihr gelang, nach unten zu klettern und die Leiter für Edward
und den Jungen gegen das Haus zu lehnen, entkamen sie
vielleicht. Sie erzählte Edward leise von dem Plan und
schüttelte den Kopf, als er selbst gehen wollte. »Du bist zu
schwer für das Abflussrohr!«

Mit einem leichten Lächeln, das ihre Angst verbergen sollte,

schlich sie zum Rand des Daches. Das Abflussrohr führte an
der Wand entlang nach unten und sie konnte auf das
Verandadach und auf den Boden springen, um Zeit zu
gewinnen. Am schwierigsten war es, über den Rand des
Daches zu klettern und einen festen Halt für ihre Füße zu
finden. Nach mehreren Versuchen schaffte sie es. Sie waren
auf der Rückseite des Hauses und die Leute auf der Straße
konnten sie nicht sehen.

Das Abflussrohr, das von der Dachrinne nach unten führte,

knarrte, als Audrey es zu fassen bekam. Sie hielt erschrocken
den Atem an. Das Geräusch war so laut gewesen, dass sie
Angst hatte, die Polizisten könnten es gehört haben. Aber der

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ältere Officer war laut und niemand hatte etwas gehört.
Zitternd vor Angst kletterte sie auf das Verandadach. Sie blieb
heftig atmend sitzen und lauschte einen Augenblick. Außer der
wütenden Stimme des älteren Polizisten war nichts zu hören.
»Verdammt, Lucky! Warum brauchst du so lange? Hast du
was gefunden?«

Audrey ging in die Hocke und sprang in den Durchgang,

federte auf dem harten Betonboden ab. Sie griff nach der
Leiter, wuchtete sie gegen das Haus und war froh, als Edward
nach der oberen Sprosse griff und sie behutsam gegen das
Dach lehnte. Mit dem schlafenden Jungen auf den Schultern
kletterte er nach unten. Kaum hatte er die unterste Sprosse
erreicht, ging das Dachfenster auf und das Gesicht des jungen
Polizisten erschien in der Öffnung. »Hier ist auch nichts,
Sergeant! Das heißt, warte mal, da drüben steht ‘ne Leiter! He,
die sind abgehauen!«

Noch bevor der Polizist ausgesprochen hatte, rannten Audrey

und Edward mit Jay-Jay davon. Sie flohen durch eine
angelehnte Tür in den Wohnblock und stiegen die Treppen bis
zum obersten Stockwerk empor. Edward stöhnte unter der Last
des Jungen. Im vierten Stock führte eine eiserne Treppe nach
ganz oben. Sie mussten eine verrostete Luke aufstoßen, um auf
das flache Dach zu kommen. Sie kletterten hinaus und
verschlossen die Luke.

»Wir müssen weiter!«, drängte Edward. »Hier können wir

nicht bleiben!« Er hörte den Jungen stöhnen und fragte leise:
»Jay-Jay! He, Jay-Jay! Bist du wach?« Aber er gab keine
Antwort und Edward blieb nichts anderes übrig, als ihn weiter
zu schleppen.

Audrey widerstand der Versuchung, nach unten zu sehen,

und folgte ihnen. Sie hetzten über das Dach, an qualmenden
Schornsteinen und steinernen Schächten vorbei, und stiegen
auf eines der benachbarten Häuser, das direkt an den

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Wohnblock anschloss. Immer weiter liefen sie, von einem
Dach zum anderen, bis sie eine offene Luke fanden und durch
ein anderes Treppenhaus nach unten stiegen. Unterwegs
begegneten sie einer weißhaarigen Frau, die sie neugierig
ansah, aber nichts sagte.

Neben einem Gemüseladen erreichten sie die Straße. »Da

drüben ist das Motel«, meinte Edward erleichtert, als er den
flachen Bau erkannte, »da sind wir erst mal sicher!« Er wollte
hinter einem Bus die Straße überqueren und wurde von Audrey
unsanft zurückgehalten und in den Gemüseladen gezogen.
»Die Polizei!«, stieß sie in panischer Angst hervor. Edward
verstand und ging in die Hocke, ließ den Jungen so sanft wie
möglich auf den Boden gleiten. Audrey kauerte neben ihm,
während der Streifenwagen an dem Laden vorbeifuhr und auf
die Fifth Avenue verschwand.

»Ist ‘ne lange Geschichte«, sagte Edward, als er die

erstaunten Gesichter des Gemüsehändlers und seiner Kunden
sah. »Der Junge hat sich mit einigen Weißen angelegt, wissen
Sie? Einige Klansmänner haben ihn verprügelt. Wir mussten
ihn zum Arzt bringen und er hat ein starkes Schlafmittel
bekommen, aber jetzt ist die Polizei hinter ihm her und wir
wissen nicht…« Er erkannte, dass sie die Wahrheit niemals
glauben würden, und winkte erschöpft ab. »Ist auch egal.
Verraten Sie uns nicht, ja?«

Er schulterte den Jungen und verließ den Laden. Audrey

entschuldigte sich mit einem Lächeln bei den Leuten und
folgte Edward. Sie überquerten die Straße und erreichten das
Motel.

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16



Audrey knipste eine der beiden Nachttischlampen an und ließ
sich in einen Sessel fallen. Die schweren Vorhänge waren
zugezogen und das Licht der kleinen Lampe kam kaum gegen
die Dunkelheit an. Erschöpft beobachtete sie, wie Edward den
Jungen auf das Bett sinken ließ und die Baseballkappe auf den
Nachttisch legte. Jay-Jay stöhnte im Schlaf, als er auf seinen
Wunden zu liegen kam. Der Arzt hatte einen festen Verband
angelegt, aber es würde noch einige Tage dauern, bis die
Schmerzen nachließen. »Ich bin froh, dass Doc Snyder ihm ein
starkes Mittel gegeben hat«, sagte Edward, »sonst hätte er die
Flucht niemals durchgehalten! Ein paar Peitschenhiebe mehr
und er wäre gestern im Fluss gestorben! Armer Junge!«

»Jay-Jay ist sehr tapfer«, meinte Audrey. »Was auf der

Thornton-Farm geschehen ist, muss ihn mehr aufgeregt haben,
als wir dachten. Er wollte sich an allen Weißen dafür rächen!«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Er hat sich mit dem Klan
angelegt!«

Edward griff nach dem Telefonhörer und ließ sich ein Amt

geben. »Hast du die Nummer von Doc Snyder?«, fragte er. Sie
gab ihm die Nummer und er wählte. Es dauerte eine Weile, bis
der Arzt den Hörer abnahm. »Hallo, Doc! Edward Hill. Wir
haben es geschafft, der Junge ist in Sicherheit. Wie geht es
Ihnen, Doc?«

»Sie haben mir nichts getan«, antwortete der Arzt heiser. »Ich

hab den Cops gesagt, dass die Leiter schon seit gestern am
Haus lehnt, weil ich die Wände streichen will. Sie können sich
ja vorstellen, was sie geantwortet haben. Übel beschimpft
haben sie mich und ›Nigger‹ war noch das Harmloseste, was

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ich zu hören bekam. Aber sie haben mich nicht geschlagen.
Dazu hatten sie es viel zu eilig! Sie wollten unbedingt den
Jungen haben!«

»Jay-Jay liegt in meinem Bett«, beruhigte Edward den Arzt,

»hier findet ihn so schnell keiner. Sollen wir den Verband
wechseln? Kann sein, dass er unterwegs was abbekommen hat.
Wir mussten über die Hausdächer fliehen, das war ziemlich
anstrengend.«

Doc Snyder überlegte nur ein paar Sekunden. »Rufen Sie

mich morgen früh an und sagen Sie mir, wie’s ihm geht. Falls
sich die Wanden entzündet haben, komme ich mit Salbe
vorbei. Und jetzt lassen Sie ihn schlafen! Das Mittel wirkt
noch eine ganze Weile.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, Doc. Sie sind mutig!«
»Unsinn!«, widersprach Doc Snyder. »Mein Urgroßvater, der

war mutig! Er war Sklave auf einer Plantage in Georgia und
ließ sich lieber zu Tode prügeln, als einen Jungen zu verraten,
der etwas Brot gestohlen hatte!« Er schnaufte tief. »Passen Sie
auf den Jungen auf, ja? Und rufen Sie mich an, wenn’s nicht
besser wird!«

Das versprach Edward. Er verabschiedete sich und legte den

Hörer auf. Er berichtete Audrey, was Doc Snyder gesagt hatte.

»Sein Urgroßvater war Sklave?«, fragte sie bestürzt.
»Alle unsere Vorfahren waren Sklaven«, antwortete Edward,

»hast du das vergessen? Die Weißen haben Männer, Frauen
und Kinder aus Afrika geholt und wie Vieh auf ihre Schiffe
verladen. Ich hab das Tagebuch eines Sklaven gelesen. Ein
Krieger der Asante, der seiner Familie entrissen und
bewusstlos auf ein Segelschiff gebracht wurde. Während der
Überfahrt wurden die Schwarzen angekettet. Es waren so viele
Gefangene auf den Schiffen, dass sie sich kaum bewegen
konnten. Wenn einer krank wurde, warfen ihn die weißen
Männer über Bord, auch Frauen und Kinder. In Amerika

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wurden sie verkauft. Sie mussten auf den Baumwollplantagen
arbeiten und konnten froh sein, wenn sie überlebten.«

»Ich weiß«, erwiderte Audrey leise. Ihr Großvater hatte oft

von dieser schrecklichen Zeit erzählt und sie ermahnt, die
Bilder dieser Zeit in ihrem Herzen zu tragen. »Wer die
Vergangenheit vergisst, hat die Zukunft nicht verdient«, war
einer seiner Lieblingssätze gewesen. Sie hatte die Erzählungen
nicht vergessen, aber verdrängt.

Edward schrieb einen Zettel für den schlafenden Jungen und

legte ihn auf den Nachttisch. »Ich glaube, wir können ihn eine
Weile allein lassen. Er braucht dringend Ruhe.« Er lächelte.
»Und wir haben uns, denke ich, einen starken Kaffee verdient!
Komm, wir gehen ins Lokal rüber, da haben sie den besten
Apfelkuchen der Welt. Ich meine gleich nach dem, den meine
Mutter macht!«

Audrey war einverstanden und merkte erst jetzt, wie sehr sie

die Aufregungen der letzten Stunden mitgenommen hatten. Die
überstürzte Flucht aus dem Haus des Arztes hatte sie mehr
Kraft gekostet, als sie geglaubt hatte. Oder war es die Angst,
die ihr so zusetzte? Mit aller Macht sträubte sie sich gegen die
Vorstellung, was mit Jay-Jay passiert wäre, wenn die
Polizisten ihn erwischt hätten. Sie arbeiteten mit dem Klan
zusammen, daran bestand kein Zweifel, wenn man erlebt hatte,
wie sie mit Doc Snyder umgegangen waren, und sie hätten ihn
bestimmt zu den Cahaba Boys gebracht. Warum passierte so
etwas? Amerika war keine Diktatur. Sie lebten im zwanzigsten
Jahrhundert, in einem Land, das stolz auf seine Demokratie
war! Warum gab es keine Gerechtigkeit in diesem Land?

Sie betraten den Coffee Shop und setzten sich an einen der

hinteren Tische. Es waren kaum Gäste im Lokal. Von der
niedrigen Decke hingen Lampen und beleuchteten die braunen
Tische und die dunkelroten Plastikbänke. Es roch nach
demselben Putzmittel wie in dem Motelzimmer. Sie bestellten

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Kaffee und Apfelkuchen und hatten gerade den ersten Bissen
gegessen, als Martin Luther King und Ralph Abernathy das
Lokal betraten. Sie trugen die schwarzen Anzüge und
schwarzen Krawatten, ohne die man sie selten in der
Öffentlichkeit sah, und blieben neben ihrem Tisch stehen.
»Hallo, Edward!«, grüßte Dr. King freundlich. »Audrey, nicht
wahr? Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«

»Natürlich«, sagte Edward und die Pastoren setzten sich und

bestellten Kaffee. Martin Luther King lächelte das Mädchen
an. »Ich freue mich, dass Sie sich entschlossen haben bei uns
mitzumachen, Audrey! Das ist Mr. Ralph Abernathy, ein guter
Freund aus Montgomery. Er ist Vizepräsident der SCLC, was
immer das bedeuten mag. Wir geben nicht viel auf solche
Posten, aber ohne Organisation ist eine Aktion wie Project C
nicht durchführbar.«

Audrey war verlegen, weil sie keines der Formulare

unterschrieben hatte, die Martin Luther King in der Kirche
verteilt hatte, ließ sich aber nichts anmerken. Sie trank von
ihrem Kaffee und hörte, wie Edward sagte: »Jay-Jay ist in
meinem Zimmer.« Er berichtete von ihrer überstürzten Flucht
aus dem Haus des Arztes und fügte hinzu: »Ich behalte ihn ein
paar Tage hier. Im Motel ist er einigermaßen sicher. Zu seiner
Tante will er nicht.« Er stocherte in seinem Apfelkuchen
herum. »Ich hab Angst, dass die Cahaba Boys hinter ihm her
sind. Irgendwie haben sie herausgefunden, dass er noch am
Leben ist. Ich möchte ihn beschützen.«

»Vollkommenen Schutz gibt es nicht, solange die Gesetze so

sind, wie sie sind«, sagte Ralph Abernathy, »nicht einmal für
die Frauen und Kinder.« Er war ein korpulenter Mann mit
einem breiten Gesicht, schmalen Augen und einem
Schnurrbart. Von Edward wusste Audrey, dass er zu den
Mitbegründern der SCLC gehörte und sich um die Finanzen
der Vereinigung kümmerte. »Wir helfen dem Jungen am

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besten, wenn wir Project C durchführen, wie wir es geplant
haben. Wenn der Präsident die Gesetze ändert, wird auch die
Polizei zur Vernunft kommen. Vielleicht nicht morgen oder
übermorgen, aber in naher Zukunft. Der Junge wird es erleben.
Es geht nicht nur um uns Schwarze, es geht um ganz Amerika!
Wenn wir verlieren, geht dieses Land vor die Hunde! Dann
siegt die Gewalt, wie sie immer in Amerika gesiegt hat! Alle
Erfolge, über die in den Schulbüchern geschrieben steht,
basieren auf Gewalt – die Eroberung des Westens, der
Aufschwung des Südens, der Bau der Eisenbahn… Nur wir
Schwarze können Amerika noch retten, weil wir die
Gewaltlosigkeit zurückbringen. Ist es nicht so, Martin?«

Martin Luther King nickte. »Aber der Weg ist sehr

dornenreich und einige von uns werden Opfer bringen müssen.
Das bewundere ich so an Mahatma Gandhi. Vor über dreißig
Jahren protestierten 2.500 Inder gegen das Salzmonopol der
Briten in den Salzbergwerken von Darshana. Sie marschierten
zum Bergwerk

und blieben schweigend vor dem

Stacheldrahtzaun stehen. Als die ersten Menschen durch den
Graben wateten, ging ein Aufschrei durch die Polizisten und
sie knüppelten mit ihren Schlagstöcken auf die Leute ein.
Keiner der Demonstranten wehrte sich. Und doch trugen sie
am Ende den Sieg davon! Die Engländer mussten erkennen,
dass es kein Mittel gegen den gewaltlosen Widerstand gab.
Indem sie wehrlose Menschen schlugen, stellten sie ihre eigene
Hilflosigkeit bloß. Sie fanden heraus, dass ihr brutales
Vorgehen falsch war und an der großen Macht der Liebe
scheitern musste. Gandhi nannte sie ›satyagraha‹, ›die Macht,
die aus der Wahrheit kommt und in der Liebe ihre Anwendung
findet‹. Ich bewundere Mahatma Gandhi!«

»Ich weiß nicht, ob ich so tapfer wäre«, meinte Audrey

ehrlich. Sie dachte daran, welche Schmerzen der Junge
ausgehalten hatte, und blickte Martin Luther King direkt an.

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»Wären Sie bereit, für die Gleichberechtigung der Schwarzen
zu sterben, Dr. King?«

Der Pastor überlegte eine Weile. »Wie jeder andere Mensch

würde ich gerne lange leben«, sagte er dann. »Aber das macht
mir keine Sorgen. Ich möchte nur den Willen Gottes tun. Ich
möchte den hohen Berg besteigen, der vor uns liegt, und auf
die sonnige Seite blicken. Ich weiß nicht, ob ich diese Täler
jemals erreichen werde, aber ich möchte sie zumindest
erblicken. Vor dem Tod habe ich keine Angst. Gott ruft mich,
wenn er es für richtig hält.«

Ralph Abernathy stimmte ihm zu und lächelte hintergründig.

»Vor Gott sind wir alle gleich. Schon deshalb habe ich keine
Angst vor dem Jenseits. Ich freue mich schon auf die Gesichter
der Klansmänner, wenn Gott zu ihnen sagt: ›Ihr seid nicht
besser und nicht schlechter als diese schwarzen Männer!‹ Sie
werden ziemlich wütend sein und sich daran erinnern, dass sie
die Schwarzen nicht einmal in ihren Kirchen geduldet haben.
Ausgerechnet der Klan, der sich ständig auf das Wort Gottes
beruft!«

»Der erste Schritt, in dieser Stadt für Gerechtigkeit zu sorgen,

ist, die Schwarzen als Wähler eintragen zu lassen«, sagte
Martin Luther King. »Sie machen zwei Fünftel aller
Stimmberechtigten in Birmingham aus und doch lässt sich nur
ein Achtel in die Wahllisten eintragen. Am 5. März stehen drei
Männer zur Wahl: Albert Boutwell, Bull Connor und Tom
King. Und Bull Connor darf auf keinen Fall zum
Bürgermeister gewählt werden! Er ist der größte Rassist, den
ich kenne! Auch Boutwell und King sind für die
Rassentrennung, aber nicht so radikal wie der Polizeichef. Sie
gehen vielleicht auf unsere Forderungen ein, wenn wir
genügend Druck hinter unsere Protestaktionen legen.«

»Wie viele Freiwillige haben wir schon?«, fragte Edward.

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»Ungefähr dreihundert«, antwortete Martin Luther King,

»aber es werden täglich mehr, und wenn die Wahl eine klare
Entscheidung bringt, können wir sofort loslegen.« Er wandte
sich an Audrey. »Edward hat Recht. Sie sind eine tapfere junge
Frau! Es gehörte eine Menge dazu, dem Jungen unter der
Brücke zu helfen!«

»Ich hab nicht darüber nachgedacht«, räumte sie ein. Sie

fühlte sich nicht als Heldin. »Sollte ich ihn vielleicht ertrinken
lassen? Jay-Jay ist unser Freund und diese Männer hatten ihn
beinahe zu Tode geprügelt! Hätten Sie zugesehen, wie Jay-Jay
ertrinkt?«

»Nein, das hätte ich nicht«, antwortete Martin Luther King

ernst. »Aber ich kenne Männer, die nicht mal angehalten
hätten, wenn sie die Cahaba Boys gesehen hätten.

Sie haben wie die Inder gehandelt, von denen ich erzählt

habe. Gott war auf Ihrer Seite!«

»Amen«, stimmte Ralph Abernathy zu. »Da fällt mir ein,

Martin, wir haben gleich ein Meeting mit Fred und Wyatt.
Zimmer 30.«

»Ja, es wird Zeit«, entschuldigte sich Dr. King. Er stand auf

und schüttelte Audrey die Hand. »Ich freue mich, Sie kennen
gelernt zu haben, Miss, es war mir ein außerordentliches
Vergnügen.«

Die Pastoren unterschrieben ihre Rechnungen und verließen

den Coffee Shop. Audrey fühlte sich wie ein junges Mädchen,
das man vor versammelter Klasse gelobt hat. »Jetzt gehöre ich
wohl zu euch«, sagte sie. »Bringst du mich zu meinem
Wagen?«

Sie zahlten und kehrten ins Motelzimmer zurück, um nach

Jay-Jay zu sehen. Seine Atemzüge gingen regelmäßig. »Der ist
morgen wieder auf dem Damm!«, meinte Edward
zuversichtlich. Audrey blickte einige Zeit auf ihn hinab und
merkte gar nicht, wie sie und Edward sich immer näher kamen.

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Eine Hand fand die andere und seine Wärme strömte in ihren
Körper und löste ein unstillbares Verlangen aus. Sie schlang
beide Arme um seinen Hals und küsste ihn. Es war ein inniger
und leidenschaftlicher Kuss. Ihr Körper drückte gegen seinen
Unterleib und ihre Knie begannen zu zittern. Seine Hände
berührten ihre Schulterblätter, strichen über ihren Rücken und
fanden ihre Oberschenkel. »Ich liebe dich, Edward«, flüsterte
sie erregt, »ich liebe dich wirklich!«

Ein leises Stöhnen des Jungen holte sie in die Wirklichkeit

zurück. Sie lösten sich voneinander und Audrey strich verlegen
ihren Rock glatt. Edward griff nach ihren Händen. »Wir haben
viel Zeit, Audrey«, sagte er leise, »ein ganzes Leben, wenn du
willst!«

Auf dem Weg zu ihren Wagen sprachen sie kaum. Zu

überwältigend waren die Gefühle, die beide bewegten. Im
Haus des Doktors brannte kein Licht und sie verzichteten
darauf, an seine Tür zu klopfen. »Ich rufe dich an«, versprach
Edward, als er sich von ihr verabschiedete. Sie küsste ihn sanft
auf die Lippen und stieg in ihren Plymouth. Während sie
davonfuhr, sah sie ihn im Rückspiegel vor seinem Cadillac
stehen und winken. »Edward«, flüsterte sie seinen Namen
zärtlich. Dies war der wichtigste Tag in ihrem Leben, das
würde sie noch viele Jahre später behaupten.

Diesmal wartete ihr Vater nicht im Hausflur und sie erreichte

ungehindert ihr Zimmer. Sie trank etwas kalte Milch, wie sie
es jeden Abend vor dem Schlafengehen tat, und schlief
friedlich in den nächsten Tag hinein. Ihre Eltern schienen es
leid zu sein, jeden Morgen über Martin Luther King und die
Rassentrennung zu diskutieren, und beschränkten sich auf
belanglose Dinge. Nur der freche Napoleon fragte: »Hast du
deinen Freund geküsst? So richtig auf den Mund, wie die
Leute im Fernsehen?« Emory Jackson wies ihn scharf zurecht:
»Hast du heute keine Schule, Napoleon? Wenn ich du wäre,

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würde ich schleunigst meine Sachen packen!« Und Alberta
meinte leise: »Sag bloß, du liebst den Kerl wirklich?«

Dann kam der 5. März und für Audrey brach eine Welt

zusammen. Bei der Bürgermeisterwahl gab es kein eindeutiges
Ergebnis und es wurde eine neue Wahl für den 2. April
festgelegt, diesmal nur zwischen Albert Boutwell und Eugene
»Bull« Connor. Sobald Audrey davon hörte, rief sie bei
Edward im Gaston Motel an. »Mr. Hill ist abgereist«, bekam
sie zu hören, »vor ungefähr einer Stunde!« Ob er denn keine
Nachricht hinterlassen habe, wollte sie wissen und die Stimme
antwortete: »Leider nicht, Miss.«

Auch Martin Luther King und Ralph Abernathy hatten das

Motel verlassen.

»Aber das kann nicht sein«, sagte Audrey noch, als sie den

Hörer bereits aufgelegt hatte. »Er hätte mich bestimmt
angerufen!«

Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein und warf sich weinend

aufs Bett. Den ganzen Abend ließ sie sich nicht bei ihrer
Familie blicken. Sie heulte die ganze Nacht und zog die
Möglichkeit gar nicht in Betracht, dass Edward vielleicht keine
Möglichkeit gehabt hatte, ihr Bescheid zu sagen. Für ein
Telefongespräch ist immer Zeit, sagte sie sich. Am nächsten
Morgen duschte sie doppelt so lange wie sonst, um
einigermaßen erholt zum Frühstück zu erscheinen. Sogar die
teure Creme, die sie sonst nur vor einem Date auftrug, benutzte
sie. Doch ihr gepflegtes Aussehen konnte nicht darüber
hinwegtäuschen, dass sie kaum geschlafen hatte und sehr
traurig war. »Ich hab keinen Hunger, Mom«, seufzte sie beim
Anblick der gebratenen Eier.

Ihr Vater war froh, dass sich seine Probleme auf so einfache

Weise gelöst hatten. »Hör mal, Audrey«, meinte er, »vielleicht
ist es so am besten. Für uns alle, meine ich. Martin Luther
King hat wohl erkannt, dass er in Birmingham nicht gewinnen

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kann, und Edward…« Er trank geräuschvoll von seinem
Kaffee. »Nun, es gibt noch andere Jungen außer Edward.
Jungen, die besser zu dir passen. In ein paar Tagen bist du
drüber weg, glaube mir!«

»Bin ich nicht!«, rief sie so laut, dass ihre Mutter erschrocken

zusammenzuckte. Sie knallte den Kaffeebecher auf den Tisch
und rannte nach draußen. Im Auto starrte sie minutenlang ins
Leere, die Augen voller Tränen, bevor sie den Motor anließ
und zur Schule fuhr. »Bist du traurig?«, fragte Cynthia Wesley
im Schulhof. »Nur ein bisschen«, antwortete Audrey. »Ich
auch«, sagte Cynthia, »ich weine immer, seit Sarah Lee
weggezogen ist.«

Der ersehnte Anruf kam vor der Mittagspause. Sie riss ihrer

Kollegin beinahe den Hörer aus der Hand, als sie »Für dich,
Audrey!« hörte. »Edward?«, rief sie aufgeregt. »Bist du’s,
Edward?«

»Audrey? Gott sei Dank, endlich erreiche ich dich! Ich wollte

dich nicht erschrecken! Wir mussten überstürzt abreisen wegen
der Wahl. Bull Connor würde sich wie ein Geier auf uns
stürzen, wenn wir blieben, um daraus Kapital für seine Wahl
zu schlagen. Dr. King hält es für besser, wenn wir am 2. April
nach Birmingham zurückkehren, wenn die Wahl entschieden
ist. Dann sind es immer noch zwei Wochen bis Ostern. Wir
haben Project C nicht aufgegeben, Audrey! Wir haben es nur
verschoben!«

Sie weinte leise in den Hörer hinein. »Warum hast du nicht

angerufen, Edward? Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Du
wärst abgereist, haben sie im Motel gesagt, und ich dachte
schon…«

»Ich bin nicht durchgekommen, Audrey. Ich hab’s ein

paarmal versucht, aber es war dauernd besetzt, und dann
musste ich einige Sachen für Dr. King erledigen und… ich
liebe dich, Audrey.«

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»Ich liebe dich auch!« Sie spürte den neugierigen Blick ihrer

Kollegin, kümmerte sich aber nicht darum und wischte sich
mit einem Taschentuch die Tränen vom Gesicht. »Wo ist Jay-
Jay, Edward? Der Junge?«

»Verschwunden… so wie damals. Als ich ins Motelzimmer

kam, war er verschwunden. ›Macht euch keine Sorgen!‹, stand
auf einem Zettel. Ich soll dir sagen, dass die Baseballkappe
okay ist.«

»Das ist gut.«
»Hör zu, Audrey! Ich muss weiter! Mach dir keine Sorgen,

ja? Geh kein unnötiges Risiko ein! Jay-Jay kommt schon allein
zurecht, den wirft so schnell nichts aus der Bahn! Bis bald,
Audrey!«

»Bis bald, Edward!« Sie legte auf und griff dankbar nach der

kalten Flasche Coca-Cola, die ihre Kollegin auf den
Schreibtisch stellte. »Zur Feier des Tages«, sagte das Mädchen
grinsend.

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17



Wenn Edward in der Schule anrief, und das kam ungefähr
jeden zweiten Morgen vor, verscheuchte Audrey ihre junge
Kollegin mit einer ungeduldigen Handbewegung. Sogar der
Direktor zeigte sich nachsichtig und blieb in seinem Büro.
Dabei wusste selbst der Hausmeister, dass sie in den jungen
Mitarbeiter von Martin Luther King verliebt war. Sie machte
kein Hehl aus ihren Gefühlen und sprach in jeder freien Minute
über ihn. »Wie ein verliebter Teenager«, lachte die Kollegin,
die selbst noch ein halbes Kind war und alle paar Wochen von
einem anderen Jungen schwärmte. Audrey genoss ihre
Verliebtheit und fühlte sich seltsam beschwingt, seit Edward
ihr seine Liebe gestanden hatte. Er wartete ungeduldig darauf,
nach Birmingham zurückzukehren, und gestand ihr, eine neue
Kurzgeschichte angefangen zu haben. »Es geht um eine junge
Frau, die gegen die Rassentrennung kämpft«, verriet er,
»vielleicht wird sogar ein Roman daraus. Mehr wird noch nicht
verraten! Aber die Frau, um die es geht, ist sehr hübsch und am
Schluss heiratet sie einen jungen Pastor aus Chicago. Ich hoffe
es jedenfalls…«

Audrey wurde immer verlegen, wenn er so ehrlich war, und

bewunderte ihn für die Fähigkeit, seine Gefühle in schöne
Worte zu kleiden. Gegen seine Liebeserklärungen kamen ihr
Worte wie »Ich liebe dich!« beinahe banal vor. Sie sagte es
dennoch und schämte sich nicht für ihre Offenheit. Spätestens
seit er in Atlanta war, glaubte sie, ohne ihn nicht mehr leben zu
können. Ein Zustand, den sie bisher nur aus dem Kino gekannt
hatte. Eine Erfindung der Studios in Hollywood, die solche
Gefühle für Stars wie Paul Newman und Liz Taylor ersannen,

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um möglichst viele Leute mit ihren romantischen Märchen in
die Theater zu locken.

Über seine Arbeit sprach Edward wenig. Er wusste, dass sie

noch ein wenig Zeit brauchte, um sich endgültig über ihre
Rolle im Kampf gegen die Rassentrennung klar zu werden,
und wollte sie nicht bedrängen. Doch einmal war seine Freude
zu groß. »Gestern waren wir auf einer Benefizveranstaltung
mit Harry Belafonte. Er ist mit Martin Luther King befreundet.
Stell dir vor, er hat über 30.000 Dollar für uns gesammelt! Das
Geld brauchen wir, um die Kaution für unsere Leute zu
bezahlen, falls sie eingesperrt werden! Ist das nicht
wunderbar? Endlich kommen wir weiter!«

Audrey wusste nicht, was sie antworten sollte. »Ich weiß

nicht, Edward. Ich bin immer noch skeptisch. Warum wollt ihr,
dass eure Leute ins Gefängnis gehen? Was passiert, wenn die
Weißen sie nicht mehr laufen lassen? Du weißt doch, wie sie in
Alabama die Gesetze verdrehen! Du weißt doch gar nicht, ob
euer Project C noch steht, wenn ihr nach Birmingham
zurückkommt!«

»Ich hab nicht gesagt, dass es einfach wird«, sagte Edward.

»Ich weiß auch, dass uns einige Leute schon vergessen haben.
Aber solange uns bekannte Künstler wie Harry Belafonte
unterstützen und solange Präsident Kennedy auf unserer Seite
ist, dürfen wir nicht aufgeben! So eine Chance kommt nicht
wieder!«

Audrey dachte über seine Worte nach und sprach mit Betty

Ann darüber. Seit Edward die Stadt verlassen hatte, war sie
wieder öfter mit ihrer Freundin zusammen. »Keine Bange«,
meinte Betty Ann, »ich sorge schon dafür, dass uns die Leute
nicht abspringen! Ich schicke jede Woche dreihundert Briefe
raus. Wir haben die Adressen aufgeschrieben und ich hab Dr.
King versprochen, dass ich mich darum kümmere. Das Geld
für die Briefmarken hat er mir dagelassen. Wenn’s mir

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ausgeht, nehm ich mein Taschengeld.« Sie blickte Audrey
herausfordernd an. »Ehrlich gesagt, du könntest mir ruhig
dabei helfen! Beim Schreiben und Verschicken, meine ich! Du
bringst die Briefe zur Post, okay?«

Und da Betty Ann ihr gar nicht die Gelegenheit gab, sich

dagegen zu wehren, fuhr sie jeden zweiten Nachmittag nach
Bessemer hinaus und half ihr beim Schreiben und Eintüten der
Briefe. Ihre Freundin formulierte sie selbst, benutzte aber
Zitate von Martin Luther King und Fred Shuttlesworth, um die
Leute besser motivieren zu können. In ihren Sammelalben
waren die Wortlaute fast aller Reden zu finden, die Pastoren
wie Dr. King und Dr. Shuttlesworth während der letzten zwei
Jahre gehalten hatten. Jedes Schreiben beendete Betty Ann mit
den Worten: »Ich hoffe inständig, dass Sie unserer Idee
gewogen bleiben und mit unserer Armee des Friedens
marschieren, sobald Martin Luther King zurückkehrt und dazu
aufruft! Möge Gott uns alle beschützen und uns Kraft für einen
erfolgreichen Widerstand geben! B. A. P.«

»Du bist sehr mutig, Betty Ann Palmer!«, lobte Audrey ihre

Freundin. »Du warst eine der Ersten, die bei Dr. King
unterschrieben haben. Manchmal habe ich Angst um dich. Was
ist, wenn dir der Klan auf die Schliche kommt? Die haben ihre
Leute auch bei der Post sitzen. Wenn einer von denen einen
Brief aufmacht?«

Betty Ann grinste selbstgefällig. »Deshalb unterschreib ich

nicht mit meinem Namen! B. A. P. das kann sonst wer sein!«
Ihr Grinsen verstärkte sich. »Außerdem musst du gerade
reden! Belauscht die gefährlichsten Klansmänner, die es gibt,
und zieht den armen Jay-Jay aus dem Cahaba River und will
mir erzählen, dass ich mutig bin! Weißt du, was Dr. King über
dich gesagt hat? Du wärst die mutigste Frau, die er seit Rosa
Parks getroffen hat!«

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»Rosa Parks? Die Frau, die mit dem Busboykott in

Montgomery angefangen hat?« Audrey stieg das Blut ins
Gesicht und sie wurde verlegen. »So schlimm war’s nicht. Es
ist mir ja nichts passiert!«

Ihren Eltern verschwieg Betty Ann, wie aktiv sie am Project

C von Martin Luther King beteiligt war. Und wenn Audrey das
Haus verließ und ihr Vater rief: »Willst du schon wieder zu
Betty Ann?«, antwortete sie lachend: »Von den Männern will
ich nichts mehr wissen!« Sie verriet nicht einmal ihrer
Schwester, dass Edward fast jeden Morgen in der Schule
anrief. Warum sollte sie unnötig Öl ins Feuer gießen? Die
zweite Bürgermeisterwahl fand in wenigen Wochen statt und
dann war es immer noch früh genug, ihrer Familie reinen Wein
einzuschenken. Selbst die furchtbaren Bilder, die Audrey und
Betty Ann am Freitag vor der Wahl sahen, verschwiegen sie
ihren Familien. Die Ereignisse jenes Tages brannten sich wie
ein quälender Albtraum in ihr Gedächtnis ein.

Am Nachmittag dieses Schwarzen Freitags, wie sie ihn später

nannten, wartete Betty Ann aufgeregt vor der Schule. »He, wo
kommst du denn her?«, fragte Audrey verwundert. »Ich
dachte, wir wollten uns bei dir treffen! Deine Mutter wollte
Pudding machen!«

Betty Ann wartete, bis ihre Freundin den Plymouth

aufgesperrt hatte und sie im Wagen saßen. »Ich habe Jay-Jay
gesehen!«, platzte sie heraus. »Er muss es gewesen sein! Er
hatte die Baseballkappe auf, von der du erzählt hast! Ich war
gerade auf dem Heimweg von der Fabrik und hab ihn vom Bus
aus gesehen! An der Abzweigung zur Thompson-Farm. Er ist
hinter die Bäume gerannt, als wir um die Ecke kamen, aber ich
hab ihn genau erkannt! Am Bessemer Highway, Audrey! Da
gibt es weit und breit kein Haus und keinen Laden! Möchte
wissen, was er da wollte. Ich hab den Fahrer gefragt, ob er
mich rauslässt, aber der war stur. ›Ich muss mich an die

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Vorschriften halten‹, sagte er. Also bin ich schnell nach Hause,
die Taschenlampe holen, und hab den nächsten Bus in die
Stadt genommen. Zu Fuß wär ich sowieso nicht weit
gekommen.« Sie deutete ungeduldig nach vorn. »Worauf
wartest du, Audrey? Lass uns endlich fahren!«

Audrey ließ zögernd den Motor an und steuerte den Plymouth

vom Schulhof. Sie wollte ihrer Freundin sagen, dass es viel zu
gefährlich war, auf dem Bessemer Highway anzuhalten und
nach dem Jungen zu suchen. In der Gegend war jeder zweite
Weiße ein Klansmann und sie wusste aus eigener Erfahrung,
wie eine Begegnung mit aufgebrachten Weißen ausgehen
konnte. Dann dachte sie an Jay-Jay, wie er verängstigt durch
das Unterholz kroch, und hielt den Mund. Schweigend fuhr sie
durch die weißen Vororte nach Südwesten. Sie erreichte den
Stadtrand und lenkte den Plymouth auf den zweispurigen
Highway. Wie jeden Freitagnachmittag war reger Verkehr. Sie
wurde ruhiger und sagte sich, dass selbst der Ku-Klux-Klan es
nicht wagen würde, sie vor so vielen Zeugen zu belästigen.
»Seit wann rauchst du?«, fragte sie, als Betty Ann nach einer
Zigarette griff.

»Seit ich bei Dr. King unterschrieben habe«, antwortete sie

nervös. »Irgendwann hätte ich sowieso damit angefangen.
Ohne das Zeug stehe ich die Sache nicht durch! Und du?
Irgendein Laster musst du doch haben?« Sie grinste schwach.
»Ich meine außer diesem Edward, mit dem du neuerdings
durch die Lande ziehst! Liebst du ihn wirklich? Denkst du
etwa daran, ihn zu…«

»… heiraten?« Audrey vergaß für einen Augenblick ihre

Besorgnis und strahlte über das ganze Gesicht. »Ich glaube
schon. Ich werde in drei Monaten zwanzig, schon vergessen?
Mit zwanzig bekam meine Großmutter ihr zweites Kind und
meine Mutter war auch längst verheiratet! Außerdem gefällt
mir Edward! Und ich gefalle ihm! Er ist der beste Junge, den

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ich jemals getroffen habe!« Sie senkte verlegen den Kopf.
»Neulich haben wir uns geküsst, so richtig geküsst, wie sie es
im Kino tun! Da hat er mir gesagt, dass er mich liebt, und ich
hab ihm dasselbe gesagt…«

»Da drüben«, unterbrach Betty Ann sie aufgeregt, »da drüben

hab ich Jay-Jay gesehen!« Sie deutete auf einen Feldweg, der
neben einer verfallenen Hütte abzweigte und quer durch einen
Kartoffelacker nach Süden führte. Ein zerbeultes Schild wies
darauf hin, dass der Feldweg zum Privatbesitz der Thompson-
Farm gehörte und Unbefugten das Befahren nicht gestattet
war.

Audrey stieg auf die Bremse. »Da dürfen wir nicht rein!

Wenn uns die Besitzer erwischen, rufen sie bestimmt die
Polizei! Oder sie hetzen die Hunde auf uns!« Sie überlegte nur
kurz und steuerte den Wagen hinter die Hütte. Zwischen dem
Gestrüpp war er kaum zu sehen. »So denken sie, jemand hätte
seine Schrottkarre entsorgt. Das machen die meisten Leute so.
Bist du sicher, dass es hier war?«

»Ganz sicher«, bestätigte Betty Ann. Sie stiegen aus und

Betty Ann deutete auf das Wäldchen, das jenseits des
Kartoffelackers einen steilen Hang bedeckte. »Er war da
drüben, am Waldrand!«

»Wie lange ist das her?«
»Ungefähr drei Stunden. Ich weiß, ich weiß, er ist

wahrscheinlich längst über alle Berge, aber versuchen müssen
wir es! Er ist vielleicht in großer Gefahr! Kein Mensch treibt
sich freiwillig in dieser öden Gegend rum! Ein Schwarzer
schon gar nicht! Auf der Thompson-Farm hält der Klan seine
großen Meetings ab!«

Audrey nahm an, dass auch Jay-Jay davon gehört hatte.

Selbst wenn nicht, musste er wissen, dass der Bessemer
Highway durch Klan-Gebiet führte und es nicht ratsam war,
sich dort herumzutreiben. »Möchte wissen, was er vorhat«,

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überlegte sie, »seine Tante wohnt woanders. Ob er irgendwas
entdeckt hat? Eine Spur? Er will sich doch nicht schon wieder
mit dem Klan anlegen?«

»Wenn wir nicht nachsehen, finden wir es nie heraus«,

erwiderte Betty Ann. »Die Polizei können wir nicht rufen!
Lass uns bis zum Waldrand gehen, okay? Wenn wir ihn dort
nicht sehen, fahren wir zu mir heraus und halten Kriegsrat,
okay? Los, am Zaun entlang und durch das hohe Gestrüpp,
dort sieht uns keiner…«

Obwohl sich die Mädchen davor fürchteten, von den

Thompsons oder irgendeinem anderen Weißen entdeckt zu
werden, rannten sie los. Die Sorge um Jay-Jay ließ sie ihre
eigene Angst vergessen. Sie huschten geduckt an dem
verwitterten Zaun entlang, der die Felder der Thompson-Farm
vom Highway trennte, und rannten durch das Gestrüpp, das
sich abseits der Felder am Rande eines zugewachsenen
Sumpfgebiets erhob. Bis zum Waldrand waren es knapp
dreihundert Meter. Sie drehten sich nicht um und zwangen sich
nicht daran zu denken, dass ein vorbeifahrender Autofahrer sie
entdecken und anhalten könnte. Sie rannten weiter, bis sie die
ersten Bäume erreicht hatten, und ließen sich erschöpft auf den
weichen Waldboden fallen.

Audrey blickte zur Straße zurück und war erleichtert, kein

Auto am Straßenrand oder auf dem Feldweg zu sehen. Sie
waren unentdeckt geblieben. »Wir sind verrückt, weißt du
das?«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Wenn mein Vater wüsste,
was ich hier mache, würde er mich drei Monate in ein dunkles
Zimmer sperren!«

»Und ich dürfte mich für den Rest ihres Lebens um meine

Tante kümmern«, erwiderte Betty Ann. »Ihr Husten ist wieder
schlimmer geworden! Ich glaube, sie verträgt das Klima nicht!
Wenn wir Geld hätten, würden wir sie nach Colorado
schicken!«

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Sie standen auf und blickten sich suchend um. »Wenn er hier

gewesen wäre, müssten noch irgendwo Spuren sein«, überlegte
Audrey laut. »Bist du sicher, dass er in den Wald gelaufen
ist?«

»Er war auf dem Feldweg, als wir vorbeikamen«, antwortete

Betty Ann. »Wo sollte er denn sonst hin? Wenn er seine Sinne
beisammen hat, ist er im Wald. Ob er das Schild gelesen hat?
Er kann doch lesen, oder? Dann muss er doch wissen, dass die
Gegend gefährlich ist!«

»Vielleicht hat er sich verlaufen«, hoffte Audrey, »und ist

längst wieder in Birmingham!« Aber sie glaubte nicht daran,
vermutete eher, dass er losgezogen war, um es mit dem Klan
aufzunehmen. Jay-Jay war verrückt genug, so etwas zu wagen.
Auch wenn die Cahaba Boys ihm gezeigt hatten, dass der Klan
stärker war.

Sie liefen ein paar Meter in den Wald hinein und blieben

erschrocken stehen. Hinter ihnen erklang das Brummen starker
Motoren. Sie liefen zum Waldrand zurück und spähten durch
das dichte Unterholz auf den Feldweg, über dem plötzlich eine
große Staubwolke hing. Ein ganzer Konvoi von Pick-ups und
Personenwagen, sogar einige Lastwagen fuhren zwischen den
Feldern hindurch zur Thompson-Farm. An den meisten Wagen
hingen amerikanische Flaggen. Der Motorenlärm klang
bedrohlich und die Abgase zogen wie eine giftige Wolke zum
Waldrand.

»Der Klan!«, stieß Betty Ann entsetzt hervor. »Sie halten ein

Meeting ab! Gott sei Dank haben sie deinen Wagen nicht
gesehen!«

»Jay-Jay!«, flüsterte Audrey ängstlich.
Sie duckten sich tief ins Unterholz, wagten kaum sich zu

bewegen, obwohl der Konvoi in sicherer Entfernung an ihnen
vorbeizog. Audrey fühlte sich an einen Film aus dem Zweiten
Weltkrieg erinnert, an die Bilder von Lastwagen, Panzern und

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Jeeps, die über verwahrloste Felder in irgendeine Schlacht
rollten. Dieser Konvoi wirkte ähnlich Furcht erregend auf sie,
ließ sie Männer in weißen Kutten und mit gefährlichen Waffen
sehen, die nur darauf walteten, von ihren Wagen springen und
sie erschießen zu können. Doch die meisten Klansmänner
trugen zivile Kleidung und niemand ahnte, dass sie am
Waldrand in Deckung lagen.

Einer der letzten Wagen, die auf den Feldweg abbogen und

zur Thompson-Farm fuhren, war ein weißer Pick-up. Audrey
erkannte ihn auf Anhieb, trotz des vielen Staubs, der in dichten
Schwaden über die Felder zog. »Da kommen die beiden Kerle,
die mich umbringen wollten!«, sagte sie. »Die schießen mich
kaltblütig über den Haufen, wenn sie mich finden!« Sie suchte
nach der Hand ihrer Freundin und hielt sich daran fest.
»Komm, wir verschwinden! Wir hätten gar nicht herkommen
dürfen, Betty Ann!«

»Warte noch!«, hielt Betty Ann sie zurück. Auch ihr stand

die Angst ins Gesicht geschrieben. »Wenn wir über den
Kartoffelacker laufen, entdecken sie uns! Da kommen
bestimmt noch mehr Klansmänner! Lass uns im Wald bleiben,
da sind wir sicher! Sobald es dunkel ist, verschwinden wir!«
Sie zog Audrey in den Wald hinein und blieb neben einem
umgestürzten Baumstamm stehen. »Meinst du, Jay-Jay hat sich
hier irgendwo versteckt? Er macht doch keine Dummheiten,
oder? Ein zweites Mal lassen ihn die Klansmänner nicht
laufen! Die nageln ihn an ein brennendes Kreuz oder knüpfen
ihn an einem Baum auf!«

»Jay-Jay ist alles zuzutrauen«, sprach Audrey ihre

Befürchtung aus. »Vielleicht ist er noch in der Nähe!« Sie lief
weiter in den Wald hinein und rief mit gedämpfter Stimme
nach ihm. »Jay-Jay! Wo steckst du? Komm aus deinem
Versteck! Der Klan hält ein Meeting ab! Wir müssen
schleunigst verschwinden! Jay-Jay!«

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Aus lauter Angst, der Junge könnte den Klansmännern in die

Arme laufen, drangen die Mädchen immer tiefer in den Wald.
Es ging steil nach oben und sie blieben alle paar Meter stehen,
um zu Atem zu kommen und sich umzusehen. Einmal sprang
ein Eichhörnchen direkt vor Audrey auf den Boden und sie
unterdrückte mühsam einen Schrei. Von Jay-Jay war nichts zu
sehen. Sie kletterten über ein weites Geröllfeld und erreichten
schnaufend die Hügelkuppe. Dort blieben sie stehen.

Angestrengt lauschten sie in den Wald hinein. Außer dem

Wind, der in den lichten Laubbäumen rauschte, war nichts zu
hören. Die letzten Sonnenstrahlen verfingen sich in den
Baumkronen. Irgendein kleines Tier raschelte im Laub. »Hier
ist es… richtig unheimlich!«, flüsterte Audrey. Ihre Angst
wurde stärker. Sie schwankte zwischen dem Impuls, überstürzt
die Flucht zu ergreifen und zum Wagen zu rennen, und dem
Wunsch, so lange nach Jay-Jay zu suchen, wie sie nicht in
unmittelbarer Gefahr schwebten. Doch wer sagte ihr, dass die
Klansmänner sie nicht längst entdeckt hatten und irgendwo
hinter den Bäumen auf sie warteten? Was war, wenn Steve und
Duncan sie überraschten?

Sie blieb im Unterholz stehen und schüttelte den Kopf. »Es

hat keinen Zweck, Betty Ann! Es ist zu gefährlich! Was hat
Jay-Jay davon, wenn sie uns erwischen und an einen Baum
hängen?«

»Nur noch ein paar Meter«, sagte Betty Ann, »damit wir ganz

sicher sind! Wenn Jay-Jay noch hier ist und von den
Klansmännern geschnappt wird, machen wir uns ein Leben
lang Vorwürfe! Bis da vorn, okay?« Sie ging langsam weiter
und blieb so plötzlich stehen, als wäre sie gegen eine
Backsteinmauer gelaufen.

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18



Audrey hob die Baseballkappe auf und betrachtete sie mit
feuchten Augen. »Jay-Jay«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
Dann straffte sich ihre Gestalt. Sie steckte die Mütze hinter
ihren Gürtel und blickte Betty Ann grimmig an. »Ich gehe
nicht eher hier weg, bis ich Jay-Jay gefunden habe! Und wenn
es die ganze Nacht dauert! Ich lasse nicht zu, dass der
verdammte Klan ihn umbringt!«

Zusammen gingen sie noch tiefer in den Wald hinein.

Obwohl es bereits dunkel wurde, suchten sie jeden Fleck nach
Jay-Jay ab. Sie streiften durch das Unterholz und stiegen in
unwegsame Mulden hinab. Der Junge war nirgendwo zu sehen.
Zwischen einigen Felsen, die moosbehangen aus dem feuchten
Waldboden ragten, blieben sie stehen. »Es wird zu dunkel«,
sagte Betty Ann, »und ich traue mich nicht die Taschenlampe
anzumachen! Wer weiß, wo sich die Klansmänner
rumtreiben!«

Ein dumpfes Geräusch durchdrang die Nacht. Schweres

Hämmern, wie von einem Vorschlaghammer, dazwischen
Stimmen, aber so weit entfernt, dass sie kein Wort verstanden.
Plötzlich flammte Licht auf, als hätte man irgendwo im Wald
einen Scheinwerfer eingeschaltet. Wie eine gelbe Nebelwolke
verlor sich der Lichtschein zwischen den Bäumen. Audrey
zuckte unwillkürlich zusammen. Sie fühlte sich an eine
Großbaustelle erinnert, die an einem einsamen Highway die
Nacht erhellte, obwohl sie wusste, dass es in dieser
abgelegenen Gegend keine Baustelle geben konnte. Der Klan,
schoss es ihr durch den Kopf.

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Wie unter einem inneren Zwang gingen die Mädchen weiter.

Sehr langsam und darauf bedacht, kein unnötiges Geräusch zu
verursachen. Bis zum Ende des Waldes waren es nur ein paar
Meter. Sie blieben hinter zwei besonders kräftigen Bäumen
stehen, deren Stämme über dem Boden zusammengewachsen
waren, und blickten mit großen Augen in ein weites Tal hinab.
Was sie dort sahen, war so schrecklich, dass sie wie zwei
verängstigte Kinder erstarrten. Jetzt spürten sie auch den
kühlen Abendwind, der zwischen den Bäumen im Unterholz
raschelte und sich unter ihren knielangen Röcken verfing.

Die Klansmänner hatten ihre Wagen zu einem großen

Rechteck gefahren und alle Scheinwerfer eingeschaltet. Ihr
Licht erhellte den Innenraum dieser Wiese, die sich bis zum
Waldrand auf der anderen Seite erstreckte. Zwischen den
Autos waren die Klansmänner zu sehen, die bereits ihre
weißen Kutten angelegt hatten und sich wie Gespenster im
Scheinwerferlicht bewegten. Einige Männer standen
beisammen und unterhielten sich, als wären sie auf einem
Picknick oder einem Jahrmarkt. Am Kopfende des Rechtecks
ragte ein großes Holzkreuz aus dem Boden. Davor war ein
Podium errichtet worden mit einem Altar, auf dem ein
goldenes Kreuz und zwei Vasen mit Blumen standen, und
einem Rednerpult. Einer der Klansmänner testete das
Mikrofon, das an eine Batterie angeschlossen war, und rief
mehrmals »One, two, three« hinein. Er nickte zufrieden, als die
Lautstärke stimmte.

Audrey spürte, wie ihr Mund trocken wurde. So viele

vermummte Klansmänner auf einmal hatte sie noch nie
gesehen. Bevor sie die Cahaba Boys unter der Brücke
belauscht hatte, waren ihr die Männer in den weißen Kutten
nur im Fernsehen und in der Zeitung begegnet. Sie waren
ungefähr hundert Meter vom Schauplatz des seltsamen
Geschehens entfernt und die Klansmänner wirkten aus dieser

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Entfernung eher unwirklich, wie Gestalten aus einem
Gruselfilm oder der Geisterbahn. Dazu passte auch das
dröhnende Lachen eines untersetzten Mannes, der seine
Kapuze in der linken Hand hielt und sich mit einem
Sturmfeuerzeug eine Zigarre anzündete. Im flackernden
Lichtschein des Feuerzeugs glaubte sie Dynamite Bob zu
erkennen, den Anführer der Cahaba Boys. Sie kniff die Augen
zusammen, um im Licht der Scheinwerfer besser sehen zu
können, und erkannte Bobby Frank Cherry neben ihm, den
hässlichen Mann, der Jay-Jay ausgepeitscht und in den Fluss
geworfen hatte. »Die Cahaba Boys«, flüsterte sie ihrer
Freundin zu, »der Mann mit der Zigarre und der Kerl, der
neben ihm steht!« Sie blickte wie gebannt auf die beiden
Männer und ging rasch in Deckung, als Dynamite Bob den
Kopf wandte und zufällig in ihre Richtung sah.

Sie lehnte sich gegen den Baum und brauchte einige Zeit, um

sich vom Anblick der Cahaba Boys zu erholen. Dynamite Bob
und Bobby Frank Cherry schienen keinen Funken Gefühl in
sich zu haben, das sah man ihren einfältigen und groben
Gesichtern an und das hatten sie unter der Cahaba Bridge auf
nachhaltige Weise bewiesen.

Aus ihrem Pick-up stiegen Steve und Duncan. Audrey

erkannte sie sofort. Sie waren die einzigen Männer, die keine
weißen Kutten trugen, und bewegten sich ein wenig schüchtern
zwischen den meist älteren Klansmännern. Dynamite Bob
schlug Steve Goblett freundschaftlich auf die Schulter und
sagte: »Jungs wie euch können wir brauchen! Ihr packt
wenigstens an, wenn es darum geht, die Niggerbrut
auszurotten!« Er sprach so laut, dass ihn auch die Mädchen
hören konnten.

»Jetzt weiß ich, was das alles zu bedeuten hat«, flüsterte

Betty Ann, die auf unerklärliche Art fasziniert vom Anblick
der vielen Kapuzenmänner war. »Sie nehmen die beiden

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Jungen in den Klan auf! Ich habe darüber gelesen, in einem
alten Buch über den Ku-Klux-Klan, das ich in der Bibliothek
gefunden habe. Der Mann, der das Buch geschrieben hat, war
bei einer Zeremonie dabei. Da geht es feierlicher zu als bei der
Vereidigung des Präsidenten! Das hab ich von Wyatt, dem
Sekretär der SCLC. Der hat ständig Witze über den Klan
gemacht. ›Das Böse verliert seine Klauen, wenn man darüber
lacht!‹, hat er immer behauptet.«

Audrey hörte ihr kaum zu. Ihre Aufmerksamkeit galt den

Klansmännern, die sich in der Mitte des Rechtecks
versammelten und ihre Kapuzen überzogen. Eine innere
Stimme befahl ihr so schnell wie möglich zu verschwinden,
aber sie war unfähig, sich von dem schrecklichen Anblick
loszureißen, und verfolgte das Geschehen wie unter Zwang.
Betty Ann schien es ähnlich zu gehen. Jay-Jay war nirgendwo
zu sehen und die Erleichterung, ihn in Sicherheit zu wissen,
machte sie neugierig. Wie einen Kinobesucher, der riesige
Angst vor Monstern hat und dennoch fasziniert auf die
Leinwand starrt und ungeduldig darauf wartet, dass sich ein
Ungeheuer blicken lässt.

Und wie die Regisseure von Gruselfilmen liebte auch der

Klan spektakuläre Effekte. Unter den beschwörenden Worten
des Anführers traten zwei vermummte Gestalten vor das große
Holzkreuz und setzten es in Brand. Hungrig leckten die
Flammen an dem trockenen Holz empor. Wieder erklang eine
Beschwörungsformel, die Audrey nicht verstand, dann stieg
der Anführer auf das Podium und ein anderer Klansmann rief
heiser ins Mikrofon: »Der Imperial Wizard der weißen Ritter
des Ku-Klux-Klan!«

»Robert Shelton«, erklärte Betty Ann leise, »der Imperial

Wizard. So nennen sie den obersten Anführer. Er soll noch
niemals gelächelt haben, sagt Wyatt. Er kommt aus
Tuscaloosa. Arbeitet als Manager für B. F. Goodrich, du weißt

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schon, die Reifenfirma. Die Kerle sitzen überall! Weißt du,
wovor er die Weißen warnt? Sie sollen sich keine schwarzen
Babysitter mehr nehmen! Die würden sich in den Finger
schneiden und mit ihrem Blut das Essen der Babys vergiften!
Der Bursche ist krank!«

Robert Shelton trat an das Rednerpult und klopfte ein

paarmal gegen das Mikrofon, bevor er zu reden begann. Im
Scheinwerferlicht der vielen Wagen und im flackernden
Schein des brennenden Kreuzes wirkte sein Gesicht noch
hagerer und ernster als sonst. Audrey kannte nicht einmal den
Namen dieses Mannes und doch spürte sie die Macht und den
bösen Zauber, die von ihm ausgingen. Er hatte die
Klansmänner im Griff. Sogar die Cahaba Boys lauschten
ergriffen, als die Zeremonie begann.

»Eure Exzellenz«, rief einer der Klokards, wie der Klan seine

Redner und herumziehenden Prediger nannte. »Der heilige
Altar des Klan ist bereitet, das feurige Kreuz erleuchtet unsere
Welt.«

»Treuer Klokard, warum das brennende Kreuz?«
»Dies ist das Symbol unserer selbstlosen und

leidenschaftlichen Hingabe an die Aufgabe, der wir uns
verschrieben haben.«

Der Wortwechsel dauerte mehrere Minuten, dann trat der

Imperial Wizard vor den Altar, berührte das goldene Kreuz
und stimmte ein Lied an, das alle Klansmänner auswendig
kannten. »Home, home, country and home«, sangen sie,
»Klansmen we’ll live and die for our country and home!«
Heimat, Heimat, unser Vaterland und die Heimat! Wir leben
und sterben für unser Vaterland und die Heimat! Kaum war der
letzte Ton verklungen, sprach der Imperial Wizard ein langes
Gebet, in dem er mehrmals Gott beschwor und die Ideale von
Jesus Christus als vorbildlich für jeden aufrechten Klansmann
hinstellte. »Gott rette unsere Nation! Und hilf uns, eine Nation

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zu sein, die es verdient, auf dieser Erde zu bestehen! Nähre die
heilige Flamme des Patriotismus für unser Land und unsere
Regierung! Gib unserem Imperial Wizard die Klugheit und
Weisheit, uns zu führen, denn er lehrt uns, für die Rechte
unseres Volkes zu kämpfen! Amen!«

Audrey glaubte sich in einem Albtraum und wartete

sehnsüchtig darauf, von ihrer Mutter oder Schwester geweckt
zu werden, aber der Gottesdienst des Ku-Klux-Klan war bittere
Wirklichkeit. »Das ist Gotteslästerung«, flüsterte sie entsetzt.
»Sie gebrauchen den Namen Gottes, um ihre grausamen Taten
zu rechtfertigen! Gott wäre niemals damit einverstanden, dass
sie unschuldige Menschen ermorden! Wer weiß? Vielleicht ist
Gott sogar schwarz? Oder er wechselt täglich die Farbe?« Der
Gedanke gefiel ihr und sie musste trotz ihrer misslichen Lage
lachen. Betty Ann reagierte nicht. Nur ihr ungläubiger Blick
verriet, was sie von den Worten des Imperial Wizard hielt.

»Wir sind eine christliche Organisation«, verkündete Robert

Shelton mit seiner scharfen, viel zu kalten Stimme. »Wir sind
der Hort einer Gemeinschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht
hat, in brüderlicher Eintracht nach dem Guten und Schönen zu
suchen! Wir sind demokratisch und gerecht! Wir handeln nach
der Verfassung dieses Landes und sind dazu auserkoren, diese
Nation vor dem Einfluss des Bösen zu retten! Denn weder die
Konservativen noch die Liberalen bewahren diese Nation vor
dem Untergang, es sind einzig und allein die Patrioten, die sich
uneingeschränkt und im Glauben an Gott zu ihrem Land
bekennen!«

»Amen!«, riefen die Zuhörer begeistert.
»Dieses Land wurde von weißen Protestanten gegründet«,

fuhr der Imperial Wizard fort, »und nur diese Menschen haben
das Recht, Amerika als ihre wahre Heimat zu betrachten. Wir
wollen nicht, dass andere Rassen oder Menschen eines anderen
Glaubens zu uns kommen! Wir, die Weißen aus dem

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amerikanischen Süden, wurden von Gott an die oberste Stelle
gesetzt und kein Mensch wird uns diesen Platz nehmen! Und
lasst mich eines klarstellen: Wir sind der beste Freund des
Niggers, wenn er seinen angestammten Platz einnimmt und
danach strebt, ein nützliches Mitglied unserer Gesellschaft zu
sein, und sich nicht von den Traumtänzern des amerikanischen
Nordens für ihre Interessen einspannen lässt. Nein, wir haben
nichts gegen die Nigger, aber ich sage auch dies: Wir lassen
uns nicht von ihnen ins Gesicht spucken, so wie es dieser
Martin Luther King und seine Leute tun! Wir werden diese
schwarze Brut mit allen Mitteln bekämpfen! Denn wie kann
ein Nigger denken, er habe die gleichen Rechte wie ein
Weißer? In Afrika, dem reichsten Land der Erde, hat er es
nicht einmal geschafft, einen Wolkenkratzer zu bauen!
Warum, so frage ich euch, hat Gott dem Nigger eine schwarze
Haut gegeben? Auch er weiß, dass uns diese Rasse unterlegen
ist!«

Robert Shelton legte eine kunstvolle Pause ein, die von

begeisterten Rufen wie »Amen!« und »So will es der Herr!«
unterbrochen wurde, und senkte demütig den Kopf: »Herr, wir
danken dir, dass du uns eine weiße Hautfarbe gegeben hast!
Wir sind die wahren Vertreter deines Glaubens und haben uns
in diesem abgeschiedenen Tal versammelt, um deinen Namen
zu preisen! Aber wir sind auch hier, um zwei junge Männer in
unseren geheimen Bund aufzunehmen, die in den vergangenen
Wochen bewiesen haben, wie sehr sie sich unseren Lehren
verbunden fühlen! Steve Goblett und Duncan Mills! Tretet
näher und kniet vor dem brennenden Kreuz, dem Symbol
unserer wahren Hingabe!«

Audrey und Betty Ann hatten der Rede des Imperial Wizard

fassungslos zugehört und beobachteten genauso ungläubig, wie
Steve Goblett und Duncan Mills vor dem brennenden Kreuz in
die Knie gingen. Wie konnten Menschen so verblendet sein,

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dass sie das Symbol des heiligen Kreuzes für ihre niederen
Zwecke missbrauchten? War Jesus nicht für alle Menschen am
Kreuz gestorben? Wie kamen diese Menschen dazu, sich als
die Bewahrer des einzig gültigen Glaubens zu preisen? Sie
wechselte einen schnellen Blick mit Betty Ann und sah wieder
zu dem brennenden Kreuz hinab, in dessen Schein die weißen
Männer ihren Eid leisteten.

»Ihr habt die Fragen des Klokards beantwortet«, sagte der

Imperial Wizard. »Ihr seid amerikanische Bürger weißer
Hautfarbe und christlichen Glaubens. Ihr wendet euch gegen
alle fremden und andersartigen Einflüsse, die unserem Land
schaden und unsere Verfassung untergraben. Ihr habt die
Überlegenheit der weißen Rasse erkannt und wollt sie unter
Einsatz eures Lebens verteidigen. Ihr kennt die Gesetze des
Klan und achtet die hehren Ziele unserer Gemeinschaft. Ihr
besitzt das leidenschaftliche Herz und den unerschütterlichen
Mut der Klansmänner, die sich heute hier versammelt haben.«
Er trat erneut vor den Altar und berührte das goldene Kreuz.
»Darum lasst uns beten! Gott der Ewigkeit! Beschütze und
führe unser großartiges Land! Halte deine schützenden Hände
über unsere Häuser und unsere Arbeitsplätze! Denn du bist der
einzig wahre Gott und der Vater unserer Gemeinschaft in
Ewigkeit! Amen!« Er verharrte einige Augenblicke in
andächtigem Schweigen und trat dann vor Steve Goblett und
Duncan Mills. »Und nun sprecht mir nach: Ich schwöre den
Weißen Rittern des Ku-Klux-Klan unbedingte Gefolgschaft
und Gehorsam, schwöre auf die amerikanische Flagge und die
amerikanische Verfassung und im Angesicht des brennenden
Kreuzes, die hehren Ziele dieser Gemeinschaft zu
verteidigen…«

Die weißen Männer, die Audrey überfallen hatten, sprachen

jedes Wort des Imperial Wizard nach und reckten stolz die
Fäuste, als der Klokard ihnen die weißen Kutten anzog und die

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Kapuzen überstülpte. Audrey und Betty Ann erkannten, dass es
höchste Zeit war, ihr gefährliches Versteck zu verlassen.
»Komm, wir gehen!«, sagte Audrey leise, doch ausgerechnet
in diesem Augenblick lösten sich zwei Klansmänner aus der
Menge und kamen in ihre Richtung. Sie marschierten
zielstrebig auf den Waldrand zu. Einer von ihnen zog einen
Revolver unter seiner Kutte hervor.

»Sie haben uns entdeckt!«, flüsterte Audrey entsetzt.
»Das kann nicht sein!«, erwiderte Betty Ann. »Wir haben

beide dunkle Sachen an! Die können uns niemals gesehen
haben!«

»Wenn wir weglaufen, sehen sie uns auf jeden Fall!«
Die Mädchen blieben unschlüssig in ihrem Versteck,

ängstlich darauf gefasst, von den beiden Klansmännern
entdeckt und erschossen zu werden. Zitternd warteten sie
darauf, dass ein Wunder geschah. Audrey betete leise und
verfluchte ihren Leichtsinn, die Klansmänner bei einer so
wichtigen Zeremonie beobachtet zu haben. Betty Ann schien
zu Stein erstarrt, blickte mit großen Augen auf die
Klansmänner.

Ein dritter Klansmann kam ihnen zu Hilfe. Er schien aus dem

Nichts aufzutauchen, stand plötzlich vor seinen beiden
Kameraden und nahm seine Kapuze ab, als diese erschrocken
zusammenfuhren. »Wo wollt ihr denn hin?«, fragte er
scheinbar arglos. Er deutete auf den Revolver. »Wollt ihr einen
Hasen schießen?«

»Floyd! Hast du uns erschreckt!«, erwiderte einer der beiden

Klansmänner. »Sag bloß, das warst du, den ich gerade am
Waldrand gesehen habe? Ich dachte schon, da belauscht uns
jemand! Mann, dem hätte ich das Fell über die Ohren
gezogen!«

Floyd lachte. »Das wäre dir aber schlecht bekommen! Nee,

da habt ihr den Falschen aufs Korn genommen! Außer ein paar

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Hasen hab ich niemanden im Wald gesehen.« Er legte dem
Mann eine Hand auf die Schulter und führte ihn zurück.
»Komm, wir gehen zu den anderen, sonst trinken die uns noch
das ganze Bier weg!«

Mit angehaltenem Atem beobachteten Audrey und Betty

Ann, wie die Klansmänner sich von ihrem Versteck entfernten.
Erst als sie bei den Wagen waren, wagten sie wieder zu atmen.
»Floyd!«, erklärte Audrey. »Der Weiße, der uns verraten hat,
dass Jay-Jay bei den Cahaba Boys ist! Er hat ihm das Leben
gerettet!«

»Und uns auch«, sagte Betty Ann erleichtert.

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19



Jay-Jay tauchte am Tag der Bürgermeisterwahl wieder auf. Er
saß auf einem Kotflügel des Plymouth, als Audrey aus dem
Schulgebäude kam, und grinste frech. »Hallo, Audrey!«,
grüßte er. »Lädst du mich zu ‘nem Cheeseburger ein? Mit ‘ner
Extraportion Pommes? Hab seit gestern Abend nichts mehr
gegessen!«

Audrey ließ sich ihre Erleichterung, den Jungen gesund

wiederzusehen, nicht anmerken. »Barney’s Drugstore in der
Sixth Avenue? Die machen die größten Cheeseburger, die ich
kenne. Doppelt Käse, viel Zwiebeln und reichlich Ketchup und
Senf!«

»Hört sich gut an«, erwiderte Jay-Jay. Er stieg in den offenen

Wagen und kurbelte das Fenster herunter. Die Sonne stand tief
und hatte den Wagen aufgeheizt. »Was macht Edward? Halt
den Kerl fest, wenn du hier rauskommen willst! Wenn er sich
anstrengt, wird er ein berühmter Pastor, und du kannst dir
schöne Kleider kaufen und mit den Kindern im Park spazieren
gehen!«

Audrey musste lachen. »Dazu müssten wir verheiratet sein!

Was ist mit dir? Keine Lust, wieder auf die Schule zu gehen?
Wenn ich du wäre, würde ich zu deiner Tante ziehen und die
High School fertig machen. Dann kriegst du einen anständigen
Job und kannst einen Cheeseburger nach dem anderen essen!«

»Und muss mir den ganzen Tag das Geplärre dieser

Schreckschraube anhören! Nee, zu der bringen mich keine
zehn Pferde zurück! Ich werd niemals ein Farmer sein! Eher
penn ich auf der Straße!«

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»So schlimm ist sie nicht«, widersprach Audrey. »Ein

bisschen ruppig vielleicht, aber sonst ganz okay. Wenn du ein
bisschen nett zu ihr bist, brät sie dir ‘nen Riesenburger!«

Audrey steuerte den Wagen vom Schulhof. Während sie an

einer Ampel wartete, griff sie nach hinten und nahm die
Baseballkappe vom Rücksitz. »Hier! Ich nehm an, die hast du
verloren.«

»He!«, freute sich der Junge. »Wo hast du die gefunden?«
»Die hab ich dem Klan vor der Nase weggeschnappt!« Die

Ampel schaltete auf Grün und sie fuhr langsam weiter.
»Warum bist du weggelaufen, Jay-Jay? Was hattest du auf der
Thompson-Farm zu suchen? Wolltest du dich mit dem Klan
anlegen? Dir hätte sonst was passieren können!« Sie blickte
den Jungen besorgt an. »Warum bist du nicht im Motel
geblieben? Du warst krank! Edward hätte sich um dich
gekümmert, ganz bestimmt!«

»Hätte er mich nach Atlanta mitgenommen? Hätte er mir das

Motelzimmer bezahlt?« Jay-Jay setzte die Baseballkappe auf
und zog sie in die Stirn. »Er hätte mich zu meiner Tante
Amanda geschickt, das hätte er getan! Nee, ich komm schon
allein zurecht!«

»Außer du bist abgebrannt!«
»Hab ‘nen Durchhänger, das ist alles!«
Barney’s Drugstore war ein unscheinbarer Laden, in dem

eine junge Schwarze mit blond gefärbten Haaren bediente. Sie
brachte Jay-Jay einen Cheeseburger mit doppelt Käse und
extra viel Zwiebeln und so viel Ketchup, dass er beim Essen
links und rechts aus seinen Mundwinkeln lief. Audrey gab sich
mit einem Hot Dog zufrieden. Zum Nachtisch bestellte Jay-Jay
einen doppelten Milchshake mit Vanille. »So lässt es sich
leben«, seufzte er zufrieden. »Setzt du mich an der 17th Street
ab?«

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Audrey trank langsam von ihrer Cola. Obwohl sie mit ihren

Eltern nie darüber gesprochen hatte, schlug sie vor: »Du
könntest bei uns wohnen! Robin und Napoleon, das sind meine
Brüder, haben bestimmt nichts dagegen, dass du mit in ihr
Zimmer ziehst.«

»Und was sagen sie, wenn der Klan ‘ne Bombe in ihr

Zimmer wirft? Die Cahaba Boys haben es auf mich abgesehen,
das hast du doch gemerkt! So schnell geben die nicht auf! Nee,
auf der Straße bin ich sicherer!«

»Und wenn du zurück nach Brooklyn gehst?«
»Was soll ich in New York? Da gibt’s an jeder Straßenecke

so einen wie mich! Da hab ich keine Chance! Nee, ich bleib
hier! Vielleicht setzt Edward neue Gesetze durch! Dann
sperren sie die Cahaba Boys ein!« Er schien erst jetzt richtig zu
verstehen, was sie ihm angetan hatten. »Die wollten mich
umbringen, Audrey!«

»Ich weiß«, sagte sie leise.
»Die wollten mich wie einen nutzlosen Köter im Fluss

versenken!« Jay-Jay zog die Mütze noch tiefer in die Stirn,
damit niemand seine Tränen sah. »Und ich gehe jede Wette
ein, dass sie damit auch vor Gericht durchgekommen wären!
Höchste Zeit, dass ihnen mal jemand den Marsch bläst! Ich bin
jedenfalls dabei, wenn wir die verdammten Kapuzenmänner
davonjagen!«

Audrey trank ihr Cola aus und nickte beiläufig, als die

Bedienung mit der Rechnung kam. Sie studierte die Zahlen.
»Warum warst du auf der Thompson-Farm?«, fragte sie noch
einmal. »Wolltest du dich tatsächlich mit dem Ku-Klux-Klan
anlegen?«

»Zuerst schon«, räumte Jay-Jay ein. »Ich wär mit einem

Knüppel auf die Mistkerle losgegangen!« Seine Hände waren
zu Fäusten geballt und seine Tränen waren ohnmächtiger Wut
gewichen. »Sie wollten mich umbringen! Soll ich mir das

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vielleicht gefallen lassen?« Er sprach jetzt so laut, dass sich die
anderen Gäste nach ihm umdrehten. Erst als Audrey nach
seinen Händen griff, wurde er ruhiger. Er entspannte sich
langsam. »Ich war auf der Thompson-Farm, das stimmt!
Jemand hat mir gesteckt, dass sich der Klan auf der großen
Lichtung trifft. Ich wollte irgendwas tun, um ihnen die
verdammte Sache heimzuzahlen! Keine Ahnung, was ich getan
hätte! Aber dann sah ich die vielen Autos und bin weggerannt.
Immer am Fluss entlang, bis nach Birmingham! Wenn ich
gewusst hätte, dass du auch dort bist… He, was hast du
eigentlich dort gemacht? Bist du lebensmüde?«

Sie lächelte schwach. »Sieht ganz so aus, was? Betty Ann hat

dich gesehen, das ist meine Freundin. Sie hat gesehen, wie du
über den Kartoffelacker gerannt bist, und da haben wir nach
dir gesucht! Wir müssen aneinander vorbeigelaufen sein!
Stattdessen sind wir beinahe den Kapuzenmännern in die Arme
gerannt! Sie haben große Reden geschwungen und die beiden
Männer, die mich überfallen haben, in den Klan
aufgenommen!«

»Ihr habt die Klansmänner belauscht?« Jay-Jay blickte das

Mädchen mit großen Augen an. »Mann, ihr seid ja noch
verrückter als ich! Und was wär passiert, wenn sie euch
erwischt hätten?«

»Dann wären wir beide tot«, sagte Audrey ernst.
Sie bezahlte die Rechnung und fuhr den Jungen zur 17th

Street. »Bis bald«, verabschiedete sich Jay-Jay. Er war schon
wieder obenauf und trug sein freches Grinsen im Gesicht.
»Und danke für den Cheeseburger, der war erste Sahne!« Er
schlug die Tür zu, bevor Audrey etwas sagen konnte, und
rannte davon.

Sie blieb am Straßenrand stehen und beobachtete im

Rückspiegel, wie er in einem Hauseingang verschwand.
Nachdenklich stützte sie sich mit den Unterarmen auf das

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Lenkrad. Die letzten Tage waren nicht spurlos an ihr
vorübergegangen. Die Versammlung des Ku-Klux-Klan, die
wundersame Rettung vor einem grausamen Tod durch einen
Weißen in der Kutte des Klan, die vergebliche Suche nach dem
Jungen und, was am schlimmsten war, das ständige
Versteckspiel vor ihren Eltern, denen sie kein Wort von ihrem
nächtlichen Abenteuer auf der Thompson-Farm verraten hatte.
Niemandem hatte sie davon erzählt. Und die ständige Angst
davor, dass die Klansmänner ihr auf die Spur gekommen
waren und nur darauf warteten, sie umzubringen.

Und der einzige Mensch außer Betty Ann, dem sie sich

anvertrauen konnte, war nicht da. »Edward«, seufzte sie. »Ich
brauche dich, Edward!« Sie sah einem jungen Liebespaar zu,
das eng umschlungen vor einem Laden stand, und wandte sich
rasch ab. Wenn man unglücklich war, schmerzte das Glück der
anderen. Sie ließ das Bremspedal los und fuhr davon. In dieser
Stimmung wollte sie nicht nach Hause fahren. Sie würde ein
paar Runden drehen, ehe sie bei ihren Eltern auftauchte. Sie
hatten keine Ahnung, von welchen Sorgen ihre Tochter geplagt
wurde, und Audrey hatte nicht vor, ihnen die Wahrheit zu
verraten. Sie glaubten, dass alles wieder beim Alten war und
Martin Luther King und seine Leute nicht mehr nach
Birmingham zurückkommen würden. Sie wagte gar nicht
daran zu denken, was passieren würde, wenn Edward
zurückkam und sie erkennen mussten, dass Dr. King nicht
vorhatte, Project C abzublasen. Und was würden sie sagen,
wenn ihre Tochter aktiv bei den Protesten mitmachte?

Im Radio sangen Ruby and the Romantics. »Our Day Will

Come« hieß ihr großer Hit und Tall Paul machte sich einen
Spaß daraus, mit dem Song auf die Bürgermeisterwahl
anzuspielen. »Our day will come! He, ich wette, das singen
auch die Kandidaten der Bürgermeisterwahl. Unser Tag wird
kommen! Wir warten bereits gespannt darauf, wer gewonnen

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hat! In Kürze wissen wir mehr, meine Freunde, und bis es so
weit ist, leg ich ein paar starke Scheiben auf den Plattenteller,
die hauen euch glatt vom Hocker, kann ich euch sagen! Hier
sind die Drifters mit einem Song von ihrer aktuellen LP…«

Audrey bog in die l6th Street und fuhr langsam an der

Baptistenkirche vorbei. Im Licht der untergehenden Sonne
wirkte das braune Backsteingebäude noch vertrauter als sonst,
wie ein sicherer Hort inmitten einer feindseligen Umgebung.
Einem plötzlichen Impuls folgend hielt sie an und ging hinein.
Bis auf eine weißhaarige Frau, die in der ersten Reihe saß und
in der Bibel las, war die Kirche leer. Die andächtige Stille
umfing Audrey wie ein schöner Traum, der sie aus der
Wirklichkeit entführte und in einem Paradies absetzte. Die
bunten Fenster leuchteten im Abendlicht und zauberten bunte
Schatten auf den Boden. Ihre Schritte hallten als dumpfes Echo
durch die Kirche, als sie zum Altar ging und andächtig zu dem
schlichten Holzkreuz emporblickte. Bei Gott fühlte sie sich
geborgen.

Sie sprach ein leises Gebet und hielt ihr Gesicht in einen

bunten Sonnenstrahl, der durch eines der Fenster auf den Altar
fiel. »Amen!«, flüsterte sie. Als sie sich umdrehte, sah sie eine
dunkle Gestalt in der Eingangstür stehen und sie ging zuerst
langsam und dann immer schneller auf sie zu. »Edward!«,
sagte sie dankbar, als sie in seine Arme fiel und seine warmen
Lippen spürte. »Edward! Du bist zurück! Woher hast du
gewusst, wo ich bin?«

»Ich wusste es nicht«, erwiderte er, als sie nach draußen

gingen. Sie blieben auf der Treppe stehen und küssten sich
noch einmal, diesmal ausführlicher und ohne die Passanten zu
beachten, die sich neugierig nach ihnen umdrehten. »Ich wollte
beten, bevor ich dich anrufe, und dann sah ich deinen Wagen
vor der Kirche stehen! Du hast mir so gefehlt, Audrey! Ich
liebe dich, ich liebe dich wirklich!« Er küsste sie auf beide

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Augen und sonnte sich in ihrem sanften Lächeln. »Hast du
schon gegessen? Wie wär’s mit einem doppelten Cheeseburger
mit Extrapommes?«

Audrey musste lachen. »Dasselbe hat mich Jay-Jay vor einer

Stunde gefragt. Ich komme gerade von Barney’s. Aber gegen
einen Kaffee hätte ich nichts einzuwenden!« Sie fuhren zu dem
Drugstore, in dem sie nach ihrem ersten Date gewesen waren,
und Edward bestellte einen Cheeseburger. Audrey beließ es bei
Kaffee und genoss die Nähe ihres Freundes, sein Lächeln,
seine sanfte Stimme, seine warmen Hände, wenn er sie über
den Tisch hinweg berührte. Sie erzählte von Jay-Jay und ihrer
Begegnung mit dem Ku-Klux-Klan und berichtete, wie der
geheimnisvolle Weiße sie vor den Kapuzenmännern gerettet
hatte.

»Floyd trug eine Kutte?«, fragte Edward ungläubig.
»Dann muss er sich beim Klan eingeschlichen haben! Ein

Undercoveragent! Aber das FBI steht eher auf der Seite des
KKK! Vielleicht ein abtrünniger Agent oder einer von
Kennedys Leuten! Oder ein Zeitungsmann! Der Präsident ist
auf unserer Seite! Er wartet nur darauf, dass wir endlich
erfolgreich sind, dann bringt er die neuen Gesetze ein!« Er
machte eine Pause und schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt,
Audrey! Die Klansmänner hätten euch am nächsten Baum
aufgeknüpft, wenn sie euch erwischt hätten! Die bringen auch
Frauen und Kinder um, das weißt du doch! Versprich mir, dass
du so was nicht mehr tust! Ich würde mir für alle Zeiten
Vorwürfe machen!«

»Ich weiß«, erwiderte Audrey, »normalerweise wären wir gar

nicht auf die Idee gekommen. Es war nur wegen Jay-Jay.
Sollten wir vielleicht zusehen, wie der Junge in den sicheren
Tod rennt?«

»Jay-Jay hat sieben Leben«, lachte Edward.

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»Und mich bewacht ein ganz besonderer Schutzengel, wenn

du nicht bei mir bist!«, sagte Audrey. »Gott will nicht, dass wir
getrennt sind!« Sie küssten sich über den Tisch hinweg und
stießen beinahe ihren Kaffeebecher um. »Was hast du in
Atlanta getan? Hast du deine neue Story fertig?« Sie fühlte
sich beschwingt. »Ich bin gespannt, was du aus mir gemacht
hast!«

»Du bekommst das Manuskript als Erste zu lesen!«,

versprach Edward. »Du hast doch nichts dagegen, dass ich
dich zur Hauptfigur gemacht habe? Ich hab dir natürlich einen
anderen Namen gegeben und dein Aussehen ein wenig
verändert.«

»Bin ich hübscher als in Wirklichkeit?«, fragte sie lachend.
»Das geht wohl kaum! Du siehst wunderbar aus!«
»Danke«, erwiderte Audrey glücklich. Noch nie hatte sie sich

in der Gesellschaft eines anderen Menschen so wohl und so
geborgen gefühlt. Sie erwiderte seinen Händedruck. »Und
sonst? Seid ihr vorangekommen? Wisst ihr schon, wie ihr
vorgehen wollt?« Ihre Stimme klang ernst. »Was ist, wenn
Bull Connor die Wahl gewinnt? Er duldet bestimmt nicht, dass
ihr auf die Straße geht und protestiert. Er sperrt euch alle ins
Gefängnis!«

»Darauf sind wir vorbereitet. Wenn er uns einsperren lässt,

gehen wir ins Gefängnis. Wenn er den Klan auf uns hetzt,
erdulden wir die Schläge und die Peitschenhiebe. Wir sind
sogar bereit in den Tod zu gehen, wenn Gott das von uns
verlangt. Wir werden nicht zurückschlagen. Die Macht der
Liebe ist stärker, als die meisten Menschen denken!«

»Nicht stark genug, um den Ku-Klux-Klan zur Vernunft zu

bringen!«, befürchtete Audrey. »Ich habe die Klansmänner
gesehen! Ich habe gehört, was dieser Robert Shelton gesagt
hat! In seinen Worten war so viel Hass, dass er niemals

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nachgeben wird! Glaubst du, solche Fanatiker ändern sich
jemals?«

»Wir müssen fest daran glauben, Audrey«, erwiderte Edward.

»Ich weiß, manchen Leuten fällt es schwer, das Gute in diesen
weißen Fanatikern zu sehen. Aber auch sie sind von Gott
geschaffen worden. Wenn wir ihre Seele berühren, ändern sie
ihre Meinung. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber
irgendwann!«

Sie hielt eine Hand über ihren Kaffeebecher, als die

Bedienung nachschenken wollte, und schüttelte den Kopf. »Ich
habe Angst, Edward! Ich habe große Angst, dass dir etwas
passiert! Dass irgendjemand die Nerven verliert und es zu
einem Krieg kommt!«

»Gott wird uns beistehen«, glaubte er.
»Manchmal ist selbst Gott nicht stark genug«, gab Audrey zu

bedenken. »Im Zweiten Weltkrieg hat er zugelassen, dass die
Deutschen sechs Millionen Juden umgebracht haben! Die Zahl
hab ich in der Zeitung gelesen. In Korea hat er zugesehen, wie
viele tausend Soldaten starben! Warum verhindert er nicht,
dass Menschen gegeneinander kämpfen? Was ist, wenn er uns
nicht beisteht? Wenn er duldet, dass der Klan alle Schwarzen
umbringt?«

»Gott ist gerecht«, erklärte Edward. »Er wird niemals

zulassen, dass das Böse über das Gute siegt! Immer, wenn er
eine Tragödie zulässt, wächst etwas Schönes und Gutes aus
den Trümmern! Wir sind Menschen, Audrey, wir haben einen
Verstand! Jede Anwendung von Gewalt wäre eine bittere
Niederlage! Wir müssen an die Liebe glauben!«

»Ich glaube an die Liebe«, sagte Audrey lächelnd, »an unsere

Liebe! Und es gäbe kein schöneres Geschenk für mich als
Frieden zwischen Weißen und Schwarzen. Ich will, dass der
Ku-Klux-Klan verschwindet! Ich will, dass endlich dieser Hass
aufhört!«

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Es war bereits dunkel, als sie den Drugstore verließen. »Ich

fahre besser gleich nach Hause«, verabschiedete sich Audrey
von Edward. »Sonst gibt es noch Ärger! Mein Dad wird
bestimmt wütend, wenn er hört, dass Martin Luther King
zurückgekommen ist! Und wenn er erfährt, dass ich mit dir
zusammen war, dreht er durch!« Sie deutete ein Lächeln an.
»Ich bringe ihm die Wahrheit lieber schonend bei.« Sie blieben
vor ihrem Wagen stehen. »Holst du mich morgen von der
Schule ab?«

Er nahm sie in die Arme und küsste sie. »Natürlich! Ich bin

froh, dass du mich nicht vergessen hast!« Er küsste sie noch
einmal und strich ihr zärtlich über die Haare. Dann stiegen sie
beide in ihre Wagen und fuhren davon.

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20



Am 3. April erschienen die Birmingham News mit einer
farbigen Titelseite. Über einer goldenen Morgensonne, die
über der Skyline von Birmingham emporstieg, stand die
Schlagzeile: »Ein neuer Tag dämmert für Birmingham«. Albert
Boutwell, der unscheinbare Rechtsanwalt mit der Nickelbrille,
hatte die Bürgermeisterwahl gewonnen. »Ich werde mit den
Bürgern in allen Stadtteilen sprechen«, versprach der ernste
Mann in einer ersten Reaktion, »wir sind unterwegs zu
besseren Zeiten!« Seinen Sieg verdankte er vor allem den
zehntausend Schwarzen, die sich in die Wählerlisten
eingetragen und für ihn gestimmt hatten. Sein Vorsprung vor
Eugene Bull Connor betrug nur achtzehntausend Stimmen.
»Was wollt ihr noch mehr?«, fragten viele schwarze
Geschäftsleute, unter ihnen Audreys Vater, und sogar einige
Pastoren meinten: »Da habt ihr euren Sieg! Albert Boutwell ist
ein fairer Mann! Er vertritt auch die schwarzen Interessen!«
Doch Bull Connor gab sich nicht geschlagen. Er schwor vor
seinen fanatischen Anhängern, bis zum offiziellen Ende der
Wahlperiode im Amt zu bleiben, auch wenn sein Nachfolger
schon feststand. Und solange er etwas zu bestimmen hatte,
würde sich die Politik nicht ändern.

Audrey las die Zeitung in der Schule und war so in die

Lektüre vertieft, dass sie Cynthia Dianne Wesley zunächst gar
nicht bemerkte, die leise weinend auf der Treppe in der
Eingangshalle saß. Erst als sie den Artikel zu Ende gelesen
hatte und die Zeitung weglegte, entdeckte sie das Mädchen. Es
trug ein geblümtes Kleid und die hellgrüne Schleife im Haar,

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die es zusammen mit seinen Freundinnen bei Woolworth’s
gekauft hatte. »Cynthia! Was ist denn?«

»Ich will, dass Sarah Lee wiederkommt«, jammerte das

Mädchen. »Ich hab gestern einen Brief von ihr bekommen. Sie
wohnt jetzt in Indianapolis und geht dort in eine Schule, in der
Schwarze und Weiße zusammen lernen! Zuerst konnte ich’s
gar nicht glauben, aber sie sagt, dass sie eine weiße Freundin
hat, die Rosalee heißt, und dann muss es ja wohl stimmen. Ihr
Vater arbeitet in einer Fabrik und ihre Mutter bedient jeden
Abend in einem Drugstore. Stell dir vor, sie haben sich einen
neuen Fernseher gekauft! Ihr geht es richtig gut, aber ich will
trotzdem, dass sie nach Birmingham zurückkommt! Hier kann
ihr Vater doch im Stahlwerk arbeiten und für ihre Mutter gibt’s
auch Arbeit!«

Audrey reichte dem Mädchen ein sauberes Taschentuch und

wartete, bis sie sich die Tränen weggewischt hatte. »Sie
kommt dich bestimmt mal besuchen! Und wenn ihr beide älter
seid, macht es sowieso keinen Unterschied, wie weit ihr
auseinander wohnt. Dann könnt ihr euch jederzeit treffen! Sei
froh, dass es ihr gut geht, Cynthia! Du weißt doch, wie es
ihrem Bruder ergangen ist und was mit der Farm passiert ist!
Für die Thorntons war es bestimmt besser, aus Birmingham
wegzuziehen. Schreib Sarah Lee einen Brief und richte ihr
einen schönen Gruß von mir aus!«

Die Tochter des Direktors versprach es und konnte schon

wieder lachen, als sie den anderen Mädchen zum Schulbus
folgte. Audrey brachte die Zeitung ins Büro zurück und räumte
ihren Schreibtisch auf. Vor ihrem Wagen wartete Edward auf
sie. Er war die paar Blocks zu Fuß gegangen und bat sie auf
einen Kaffee ins Gaston Motel mitzukommen. Er hielt die
Zeitung mit der aufgehenden Sonne in der Hand und wirkte
ungewöhnlich ernst. »Ich wollte dir nur sagen, dass es morgen
losgeht«, sagte er im Coffee Shop, »wir starten Project C. Das

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bedeutet viel Arbeit und ich werde kaum Zeit für dich haben.
Aber das bedeutet nichts! An meinen Gefühlen zu dir hat sich
nichts geändert! Ich liebe dich, Audrey! Das wollte ich dir
noch einmal sagen! Und sobald unser Projekt beendet ist, bin
ich nur noch für dich da!«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte

Audrey. »Ich weiß doch, wie wichtig Project C ist und wie viel
Arbeit du hast!« Sie dachte einen Augenblick daran, ihm ihre
Hilfe anzubieten, und verwarf den Gedanken, als sie sich
vorstellte, wie ihre Eltern reagieren würden. Anders als Betty
Ann konnte sie sich nicht dazu überwinden, offiziell am
Project C mitzuarbeiten. Sie half ihrer Freundin Briefe zu
verschicken, versteckte Jay-Jay vor dem Klan, brachte sich
sogar in Lebensgefahr, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu
verhelfen, doch sie scheute immer noch davor zurück, ihre
Unterschrift unter das Formular der SCLC zu setzen. »Sag mir,
wenn ich dir irgendwie helfen kann!«, bot sie dennoch an und
merkte gar nicht, wie paradox ihr Vorschlag war.

Sie blickte nach draußen und sah, wie Martin Luther King

und Ralph Abernathy auf einen jungen Schwarzen einredeten.
»Einer von Fred Shuttlesworths Leuten«, erklärte Edward.
»Manche seiner Anhänger wollen nicht, dass wir uns
einmischen. Sie wollen abwarten, was der neue Bürgermeister
tut. Dr. King sagt, dass sich gar nichts verändern wird. Albert
Boutwell ist besser als Bull Connors, aber er tritt für die
Rassentrennung ein und denkt nicht daran, die Gesetze
aufzuheben. Der Klan ist zu mächtig! Nein, wenn wir in
Birmingham etwas verändern wollen, müssen wir auf die
Straße gehen. Morgen Nachmittag fangen wir an. Ungefähr
dreißig Leute, die unser Formular unterschrieben haben, setzen
sich an die Imbisstheken in den Kaufhäusern. Mal sehen, was
dann geschieht. Sie werden sich nicht wehren, wenn die
Polizei kommt, und sind sogar bereit ins Gefängnis zu gehen.«

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Vor dem Coffee Shop stiegen Martin Luther King und Ralph

Abernathy in einen Wagen und fuhren davon. Edward ergriff
Audreys Hände und lächelte sie an. »Du brauchst dich nicht
schuldig zu fühlen, Audrey! Du warst tapferer als die meisten
Männer und Frauen, die für uns arbeiten! Auch wenn du das
Formular nicht unterschreibst, hast du uns sehr geholfen! Ich
melde mich, sobald ich kann, ja? Hab keine Angst! Selbst der
Ku-Klux-Klan ermordet keine Menschen auf offener Straße!
Ich bin überzeugt, dass wir mit Project C erfolgreich sein
werden und dass sich einiges in Birmingham ändern wird! Wir
müssen daran glauben!«

Sie verabschiedeten sich und Audrey fuhr nachdenklich nach

Hause. Ohne ihre Eltern zu begrüßen sperrte sie sich in ihrem
Zimmer ein. Sie setzte sich auf den Bettrand, die Hände auf die
Patchworkdecke gestützt, die sie von ihrer Mutter zu
Weihnachten bekommen hatte, und starrte betreten zu Boden.
Ihre Gedanken verwirrten sie. Sie fürchtete sich davor, zu
ihrem Vater in den Laden zu gehen. Er hatte sicher schon
gehört, dass Martin Luther King und seine Leute nach
Birmingham zurückgekommen waren. Selbst wenn sie ihm
versicherte, das Formular nicht unterschrieben zu haben,
würde er die Nerven verlieren. Und sie war nicht in der
Stimmung, einen solchen Krach durchzustehen.

Einen Augenblick dachte sie daran, sich in ihren Plymouth zu

setzen und davonzufahren, dann ging sie mutig die Treppe
hinunter und betrat den Laden. Ihr Vater war zwischen den
Regalen, die sich hinter der Theke bis zur Wand zogen. »Da
bist du ja endlich!«, begrüßte er sie mürrisch. »Du könntest
dich mal wieder um die Buchhaltung kümmern! Wir sind einen
halben Monat zurück!« Er kam nach vorn, ein Klemmbrett in
der linken Hand, und blickte sie streng an. »Du brauchst mir
nichts zu erzählen, Audrey! Martin Luther King und seine

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Leute sind zurück und du hast dich wieder mit Edward
getroffen! So ist es doch, nicht wahr?«

Sie nickte betreten, erwartete einen heftigen Gefühlsausbruch

ihres Vaters, und blickte ihm überrascht nach, als er wortlos
zwischen den Regalen verschwand. Er notierte eine Zahl auf
seinem Klemmbrett und kehrte zurück. Seine eisige Miene war
noch schlimmer als der wütende Gesichtsausdruck, den er
bisher gezeigt hatte, wenn es um Edward ging. »Das hast du
deiner Mutter zu verdanken«, beantwortete er ihre
unausgesprochene Frage. »Sie hat einen Narren an diesem
Edward gefressen. Weiß der Teufel, was sie an dem Kerl
findet!« Er legte das Klemmbrett in eine Schublade und stützte
sich auf die Theke. »Aber es war nicht die Rede davon, dass du
kaum noch zu Hause bist und deine Arbeit vernachlässigst!«
Jetzt blitzten seine Augen wieder und seine Stimme hatte die
übliche Lautstärke erreicht. »Ich werde auf keinen Fall dulden,
dass du dieses Formular unterschreibst und bei den
Protestaktionen mitmachst! Hast du mich verstanden?«

»Ja, Dad.«
»Ich weiß, dass sich Martin Luther King nicht aufhalten lässt!

Er hat es sich in den Kopf gesetzt, die armen Nigger von ihrem
Joch zu befreien, und ich kann nicht verhindern, dass er seine
Show in Birmingham abzieht. Er ist ein eitler Selbstdarsteller!
Er will, dass im Fernsehen über ihn berichtet wird! Wie kommt
dieser Pastor aus Atlanta eigentlich dazu, sich in unsere
Angelegenheiten zu mischen? Warum fordert er ahnungslose
Jugendliche auf, sich gegen die weiße Obrigkeit aufzulehnen?
Wir brauchen keinen Fremden, der für uns die Kastanien aus
dem Feuer holt! Gewaltloser Widerstand, dass ich nicht lache!
Sobald sie auf die Straße gehen, hetzt Bull Connor seine
Hunde auf sie!«

»Das siehst du falsch, Dad!«, widersprach Audrey ihrem

Vater. »Ich habe mit Martin Luther King gesprochen! Er ist

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nicht eitel! Er ist ein Gerechtigkeitsfanatiker! Er sagt, dass alle
Menschen gleich sind. So wie es in der Verfassung steht. Er
will die Weißen mit seinem gewaltlosen Widerstand
überzeugen! In jedem Menschen ist Liebe, sagt er! So wie
Gandhi in Indien! Er hat die Engländer vertrieben ohne einen
einzigen Schuss abzufeuern, hast du das gewusst? Ich glaube,
Martin Luther King würde sogar sein Leben opfern, um die
Rassentrennung aufzuheben!«

»Wenn er unbedingt den Märtyrer spielen will, meinetwegen!

Ich werde auch manchmal wütend, wenn ich daran denke, wie
die Weißen uns behandeln, und den Ku-Klux-Klan würde ich
am liebsten auf den Mond schießen! Aber was können wir
dagegen tun? Die Weißen haben das Gesetz auf ihrer Seite; sie
werden Martin Luther King einsperren und alles wird so
bleiben wie bisher, da gehe ich jede Wette ein! Und der Klan
wird sich an allen Schwarzen rächen, die ihm geholfen haben!
Ich habe keine Lust, mir von den Klansmännern den Laden
wegbomben zu lassen! Also halte dich gefälligst von King und
seinen Leuten fern! Und lass dich nicht mit Edward auf der
Straße sehen! Halte unsere Familie da raus, hörst du? Sonst
schicke ich dich zu meinem Bruder nach Mobile, bis die ganze
Sache vorüber ist! Und jetzt geh endlich ins Büro und erledige
die Buchhaltung! Mach schon!«

Audrey war froh, dass es zu keiner lautstarken

Auseinandersetzung gekommen war, und verzog sich in ihr
kleines Büro. Um nicht über die quälenden Probleme
nachdenken zu müssen, stürzte sie sich in die Arbeit. Beim
Abendessen wechselte sie nur ein paar belanglose Worte mit
ihren Eltern und ihren Geschwistern und reagierte nicht auf das
schnippische »Na? Immer noch verliebt?« ihrer Schwester.
Dann kehrte sie ins Büro zurück und erledigte den Rest der
Buchhaltung. Spätabends ging sie ins Bett. Sie schlief sofort
ein und wachte nur einmal auf, als sie glaubte, den Pick-up der

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jungen Klansmänner vor dem Fenster zu hören. Aber ihre
Einbildung hatte ihr einen Streich gespielt und die Straße lag
verlassen unter ihr.

Während der Mittagspause in der Schule erhielt sie einen

Anruf von Betty Ann. »Hallo, Audrey! Ich hab mir heute
Nachmittag frei genommen! Ich geh zu Newbeny’s und mach
bei dem Sit-in mit. Kommst du auch? Du darfst uns nicht im
Stich lassen, Audrey!«

Audrey wand sich vor Verlegenheit. »Ich kann nicht, Betty

Ann, das weißt du doch! Mein Vater würde mich umbringen!«
Ihre Freundin reagierte mit betretenem Schweigen und Audrey
fügte schnell hinzu: »Ich bete für dich, Betty Ann! Sei mir
nicht böse!«

»Überleg’s dir noch mal, Audrey!«
Ihre Freundin legte auf und Audrey hielt sekundenlang den

Hörer in der Hand und starrte aus dem Fenster. Erst als der
Direktor den Raum betrat und nach einem Aktenordner fragte,
legte sie auf. »Natürlich, sofort, der steht da drüben«, meinte
sie verwirrt.

Nach der Schule blieb sie lange im Wagen sitzen, den linken

Ellbogen im offenen Fenster, dann ließ sie den Motor an und
fuhr in die Stadt. Sie parkte am Straßenrand und ging zu
Newbeny’s, einem der großen Kaufhäuser in der Innenstadt
von Birmingham. Schon von weitem erkannte sie die
Menschenmenge vor dem zweistöckigen Laden. Sie zögerte,
dachte einen Augenblick daran, zu ihrem Wagen
zurückzukehren und nach Hause zu fahren, und beschleunigte
dann ihre Schritte. Vor dem Kaufhaus standen weiße und
schwarze Passanten und starrten ungläubig über die Auslage
im großen Schaufenster hinweg.

Audrey drängelte sich nach vorn und hielt die rechte Hand

über ihre Augen, um besser sehen zu können. Die Sonne stand
schon tief und spiegelte sich in dem Fenster. Ihr Atem stockte,

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als sie die jungen Schwarzen an der Theke im Coffee Shop
erkannte. Sie saßen auf den roten Drehstühlen und warteten
geduldig darauf, bedient zu werden. Die Bedienung, eine junge
Frau mit aufgetürmten Haaren und einem viel zu stark
gepuderten Gesicht, bewegte sich nicht. Sie stand teilnahmslos
am Ende der langen Theke und sprach mit dem Manager,
einem nervösen Mann mit Halbglatze und Nickelbrille. Er
drehte das Licht ab und Audrey glaubte zu erkennen, wie er zu
den Schwarzen sagte: »Wir haben geschlossen! Gehen Sie
nach Hause!«

Betty Ann blieb sitzen, die Unterarme auf die Theke gestützt,

und dachte nicht daran, der Aufforderung des Managers zu
folgen. Ihr Blick war fest und unnachgiebig. Auf diesen
Augenblick hatte sie viele Monate gewartet und sie war nicht
bereit, nach wenigen Minuten aufzugeben. Audrey war sehr
stolz auf ihre Freundin und verspürte gleichzeitig große
Scham, weil sie es nicht fertig brachte, sich an der Aktion zu
beteiligen. »Ich bin feige!«, sagte sie so laut, dass sich einige
Schwarze nach ihr umdrehten. »Verdammt, ich bin feige!«
Doch gerade, als sie sich entschlossen hatte zu Betty Ann in
das Kaufhaus zu gehen, rauschte ein Pick-up heran und sie
brauchte sich nicht einmal umzudrehen um zu wissen, dass
Steve Goblett und Duncan Mills vor dem Kaufhaus hielten und
ausstiegen. Sie duckte sich und beobachtete durch das Fenster,
wie die beiden Klansmänner das Kaufhaus betraten und die
Schwarzen belästigten. Die Tür war nicht zugefallen und man
konnte hören, was sie sagten.

»Ich glaub, ich hab was auf den Augen!«, spottete Duncan

Mills. »Sitzen da wirklich Nigger?« Er schlug einem der
jungen Männer hinter das rechte Ohr. »He, hast du was auf den
Ohren, Boy? Ob ihr Nigger seid, will ich wissen! Mach das
Maul auf, verdammt!«

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Der junge Mann schwieg. Duncan Mills versetzte ihm eine

Ohrfeige und lachte, als der Schwarze beinahe das
Gleichgewicht verlor. Er blickte seinen Kumpan an. »Was
sagst du dazu, Steve? Was fällt diesen Scheißniggern ein, sich
auf unsere Stühle zu setzen?« Er versetzte Betty Ann einen
Stoß. »Schau dir die Schlampe an! Ich hätte große Lust, ihr
eine zu verpassen!«

Audreys Kehle wurde eng. Der Drang, schreiend in das

Kaufhaus zu laufen und mit den Fäusten auf die Klansmänner
loszugehen, wurde beinahe unerträglich. »Geben Sie mir einen
Milchshake!«, hörte sie Steve Goblett sagen. Die Bedienung
fragte: »Mit Vanille und Schokostreuseln?« Und Steve nickte
und grinste schadenfroh, als er den großen Becher in den
Händen hielt. Mit einer aufreizend langsamen Bewegung goss
er die zähe Flüssigkeit über Betty Anns Kopf. Sie schloss die
Augen und verzog ansonsten keine Miene. Der Milchshake lief
über ihr Gesicht und breitete sich auf ihrem Kleid aus. Das
höhnische Gelächter der Klansmänner klang wie ein Echo in
Audreys Ohren.

Unbändiger Zorn stieg in ihr hoch. Sie begann zu weinen und

ihre Stimme überschlug sich fast, als sie schrie: »Lasst sie in
Ruhe, ihr verdammten Mistkerle! Lasst meine Freundin in
Ruhe!«

Steve Goblett fuhr herum und erkannte Audrey zwischen den

Schaulustigen. »He, wen haben wir denn da?«, rief er seinem
Kumpan zu. »Ist das nicht die Schlampe, die wir auf dem
Highway aufgegriffen haben?« Duncan Mills verzog sein
Gesicht und lachte breit. »Nicht zu fassen, das ist sie! Ich
glaube, die hat auf uns gewartet, Steve! Wie geht’s dir,
Niggerschlampe? Bist du so heiß auf uns?«

Audrey konnte ihren Zorn nicht länger unterdrücken und

rannte auf den Eingang zu. »Ihr verdammten Schweine! Betty
Ann hat euch nichts getan!« Sie wollte das Kaufhaus stürmen

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und wurde von einem kräftigen Schwarzen festgehalten. »Das
bringt doch nichts! Die schlagen dich tot!«, hörte sie ihn
flüstern. Sie versuchte sich loszureißen, wand sich schreiend
und weinend in seinem festen Griff und gab erst auf, als das
Sirenengeheul einiger Streifenwagen durch die
Häuserschluchten drang. Die Polizeiwagen hielten vor dem
Kaufhaus und einige Polizisten drängten die Schaulustigen
gewaltsam zur Seite. »Zurück! Zurück! Machen Sie Platz!
Dies ist ein Polizeieinsatz!«, riefen sie.

Audrey wurde angerempelt und prallte gegen einen

parkenden Lieferwagen. Sie hielt sich am Rückspiegel fest und
beobachtete fassungslos, wie die Schwarzen mit den Händen
über dem Kopf aus dem Kaufhaus kamen. Wie
Schwerverbrecher wurden sie abgeführt und in die
Polizeiwagen gestoßen. Betty Ann sah bemitleidenswert aus.
»Versau mir bloß nicht den Wagen!«, schrie ein Polizist sie an
und forderte einen jüngeren Kollegen auf, Servietten aus dem
Lokal zu holen. Betty Ann wischte sich notdürftig ab und stieg
in den Wagen. Sie weinte nicht. »Betty Ann!«, rief Audrey
verzweifelt. »Betty Ann! Wir holen dich raus!«

Hinter den Polizisten erschienen Steve Goblett und Duncan

Mills auf dem Bürgersteig. Sie schienen Audrey schon wieder
vergessen zu haben. »Haltet euch da raus!«, blaffte sie ein
Sergeant an und die beiden stiegen rasch in ihren Pick-up und
fuhren davon.

Audrey wartete, bis der Pick-up und die Streifenwagen

verschwunden waren, und kehrte zu ihrem Plymouth zurück.
Von innen verriegelte sie alle Türen. »Betty Ann, das hab ich
nicht gewollt!«, sagte sie leise. Sie brach über dem Lenkrad
zusammen und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Dann
fuhr sie langsam zurück.

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21



Am späten Vormittag holte Audrey ihre Freundin vom
Gefängnis ab. Edward hatte sie in der Schule angerufen und ihr
mitgeteilt, dass ein Mitarbeiter von Martin Luther King die
Kaution für die zwanzig Gefangenen bezahlt hatte. Betty Ann
wirkte blass und erschöpft, aber in ihren Augen war immer
noch das Feuer, das sie während des Sit-ins im Kaufhaus
erfüllt hatte. »Betty Ann!«, begrüßte Audrey sie
überschwänglich. Sie schloss ihre Freundin in die Arme und
drückte sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. »Ich lasse
dich nicht mehr allein, das verspreche ich dir!«

Sie löste sich von ihr und blickte ihr besorgt in die Augen.

»Haben sie dich gut behandelt, Betty Ann? Bist du gesund? Sie
haben dich doch nicht geschlagen, oder? Ich habe gesehen, wie
dieser Steve dir einen Milchshake über den Kopf gegossen hat!
Ich schäme mich so sehr, Betty-Ann! Ich hätte dir helfen
sollen!«

»Halb so schlimm«, tat Betty Ann den Zwischenfall mit einer

verächtlichen Handbewegung ab. »So können sie mich nicht
aufhalten!« Sie winkte einigen anderen Schwarzen zu, die mit
ihr im Gefängnis gewesen waren, und entdeckte Edward, der
in einiger Entfernung an seinem Cadillac lehnte. »Hallo,
Edward! Sie haben uns nichts getan! Es ist alles okay!« Sie
ging auf ihn zu und drückte seine Hand. »Vielen Dank, dass
ihr uns rausgeholt habt!«

»Dafür haben wir das Geld gesammelt«, sagte Edward. Die

Mädchen stiegen in den Cadillac. »Wie wär’s mit einem fetten
Cheeseburger?«, fragte er Betty Ann. »Im Gefängnis hast du

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bestimmt nur Haferbrei und dünnen Kaffee bekommen,
stimmt’s?«

»Haferbrei? Das Zeug schmeckte wie Altpapier!«
»Dann fahren wir zu Barney’s.«
Unterwegs sagte Audrey kein Wort. Ihre Freude, die

Freundin gesund wiederzusehen, wurde von dem wachsenden
Schuldgefühl überschattet, ihr nicht geholfen zu haben. Und
sie war eifersüchtig, weil Edward sich ständig mit Betty Ann
unterhielt und sie vergessen zu haben schien. Die beiden
sprachen wie Verschwörer miteinander, arbeiteten für ein
Projekt, an dem Audrey nicht beteiligt war. Und obwohl
Edward betont hatte, dass er großes Verständnis für sie und
ihre Eltern empfand, spürte sie einen leichten Vorwurf in der
Art, wie er sie behandelte. Oder bildete sie sich das ein? Als er
den Wagen vor dem Drugstore parkte und ihr heraushalf, war
seine Berührung zärtlich wie immer und in seinem Lächeln
schien ein Versprechen zu liegen.

Audrey hatte keinen Hunger. Sie beobachtete, wie Betty Ann

ihren Cheeseburger verschlang, und trank lustlos von ihrem
Kaffee. Die Ereignisse des vergangenen Abends waren ihr auf
den Magen geschlagen. Sie durfte nicht länger zögern! Wenn
ihre beste Freundin ihre Gesundheit aufs Spiel setzte, um die
Gleichberechtigung der Schwarzen durchzusetzen, war es eine
Sünde, sich feige im Hintergrund zu halten. Sie war zwei Jahre
älter als Betty Ann. Sie war stark genug, den Druck
auszuhalten, der auf alle Beteiligten von Project C ausgeübt
wurde. Es ging nicht nur darum, den eigenen Unmut über die
Benachteiligung der Schwarzen auszudrücken. Die Zukunft
aller Schwarzen in Amerika stand auf dem Spiel. Project C war
ein historisches Unternehmen, über das man später in den
Geschichtsbüchern lesen würde, das ahnte sie jetzt schon, und
es war ihre Pflicht, dabei mitzumachen!

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Der Anblick ihrer Freundin, die sich lachend den Ketchup

vom Kinn wischte und trotz ihrer Erlebnisse im Kaufhaus und
der Nacht im Gefängnis großen Optimismus ausstrahlte,
erfüllte sie mit neuer Kraft. Die Gewissheit, sich gegen den
Willen ihrer Eltern für diese große Sache einsetzen zu müssen,
wurde immer stärker. Natürlich hatte sie große Angst davor,
nach Hause zu gehen und ihrem Vater zu eröffnen, dass sie bei
den Protestaktionen mitmachen würde. Er würde toben und sie
konnte froh sein, wenn er sie nicht zwang, zu ihrem Onkel
nach Indianapolis zu ziehen. Aber sie konnte nicht mehr
anders. Sie würde die Hand ihrer Freundin ergreifen und
gemeinsam mit ihr und vielen anderen Schwarzen für eine
bessere Zukunft kämpfen!

Noch tat sie ihre Entscheidung nicht kund. Sie wollte die

Auseinandersetzung mit ihrem Vater abwarten und erst dann
das Formular unterschreiben. »Ich ruf dich an«, versprach
Edward, als sie ihn zum Abschied flüchtig küsste. Sie stieg aus
und wartete, bis Betty Ann auf den Vordersitz geklettert und
der Cadillac in der nächsten Querstraße verschwunden war.
Mit gemischten Gefühlen wandte sie sich zur Haustür. Sie
drehte sich noch einmal um und erstarrte. Hinter dem
Sportplatz parkte ein weißer Pick-up. Steve Goblett und
Duncan Mills? Sie kniff die Augen gegen die Sonne
zusammen, konnte aber nicht erkennen, ob es sich um den
Wagen der Klansmänner handelte. Unsinn, dachte sie, die
wagen sich nicht am helllichten Tag ins Schwarzenviertel.
Doch ihr Magen verkrampfte sich, als sie die Treppe zu ihrer
Wohnung hinaufstieg, und sie setzte rasch einen Kamillentee
auf um sich zu beruhigen. Vielleicht hab ich zu viel Kaffee
getrunken, überlegte sie und verwarf den Gedanken gleich
wieder. Sie trat ans Küchenfenster und blickte auf die Straße
hinaus. Der Wagen war verschwunden. Sie schüttelte

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ungläubig den Kopf und sagte leise: »Guter Gott, jetzt seh ich
schon Gespenster!«

Ihre Eltern hatten nicht gemerkt, dass sie nach Hause

gekommen war, und sie schob den Zeitpunkt der drohenden
Auseinandersetzung immer weiter hinaus. Sie dachte sogar
daran, ihre Absicht, sich an den Protestaktionen zu beteiligen,
ganz zu verheimlichen. Die Flucht vor dem Ku-Klux-Klan
hatte sie ihren Eltern auch verschwiegen. Aber ihr Herz sagte
ihr etwas anderes. Sobald sie den Tee ausgetrunken hatte, ging
sie nach unten und betrat den Laden ihrer Eltern. Ihr Vater
verabschiedete sich gerade von einer Kundin. Als sie gegangen
war, blickte er seine Tochter verwundert an. »Ich dachte, du
bist noch in der Schule!«

»Ich hab Betty Ann vom Gefängnis abgeholt«, gestand sie,

»sie war bei den Leuten, die sie im Kaufhaus festgenommen
haben.«

Er schob die Schublade der Registrierkasse zu. »Ich hab

davon gehört. Da siehst du, was passiert, wenn man sich gegen
die Weißen auflehnt! Der Gouverneur, der Bürgermeister, der
Polizeichef, der Klan… sie stecken alle unter einer Decke und
haben das Gesetz auf ihrer Seite! Die sperren dich so lange ein,
bis dir die Lust am Protestieren vergangen ist! Sit-ins. Mein
Gott, mit dem Kinderkram erreicht man doch nichts! Ich hätte
Martin Luther King und seine Leute für klüger gehalten. Wenn
sie so weitermachen, stürzen sie uns alle ins Unglück! Wie
geht es ihr?«

»Sie ist sehr tapfer«, antwortete Audrey. »Sie denkt gar nicht

daran, aufzugeben! Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt,
dass wir uns dem gewaltlosen Widerstand von Martin Luther
King anschließen müssen, wenn wir andere Gesetze haben
wollen.« Sie holte tief Luft. »Und das glaube ich inzwischen
auch! Sei mir nicht böse, Dad! Ich habe gesehen, wie zwei
weiße Männer Betty Ann einen Milchshake über den Kopf

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gegossen haben! Dann kamen die Cops! Ich darf sie nicht
allein lassen, Dad! Ich muss ihr helfen! Wir dürfen nicht mehr
wegsehen! Wir müssen was tun, sonst werden uns die Weißen
auch die nächsten hundert Jahre wie Abschaum behandeln!«

Emory Jackson blickte seine Tochter verständnislos an. Ihre

Worte drangen wie zäher Honig in seine Gedanken und es
dauerte eine ganze Weile, bis er ihren Sinn erfasste. Audrey
wartete auf ein Donnerwetter und schaute an ihrem Vater
vorbei aus dem Fenster, um die Veränderung in seinen Augen
nicht sehen zu müssen. Nur deshalb sah sie den weißen Pick-
up vor dem Laden halten. Das Seitenfenster wurde
heruntergekurbelt und eine Hand erschien in der dunklen
Öffnung. Ein hölzerner Kasten mit einer glimmenden
Zündschnur flog auf sie zu, eine leuchtende Spur hinterlassend,
und sie rannte zu ihrem Vater und schrie: »Daddy! Daddy! Sie
werfen eine Bombe!« Wie in Zeitlupe erreichte sie ihren Vater
und warf ihn zu Boden, gerade noch rechtzeitig, bevor das
Schaufenster zersplitterte und die Brandbombe mitten im
Laden explodierte.

Die Flammen breiteten sich nach allen Seiten aus,

verwandelten den Laden in eine lodernde Flammenhölle. In
unendlich weiter Ferne hörte Audrey ihre Mutter und ihre
Brüder schreien. »Mama!«, rief der kleine Robin entsetzt.
»Raus! Raus! Ich ruf die Feuerwehr!«, war die Stimme ihrer
Mutter zu hören. Audrey beugte sich zu ihrem Vater hinab.
»Daddy! Daddy! Was ist mit dir?« Er musste bei dem Sturz
gegen ein Regal geprallt und ohnmächtig geworden sein. Sie
griff ihm unter die Arme und schleifte ihn hinter der Theke
hervor. Prasselnde Flammen schlugen ihr entgegen. Sie zerrte
den leblosen Körper ihres Vaters über den Boden und suchte
verzweifelt nach einem Ausweg aus der Flammenhölle.
Verzweifelt griff sie nach einem Lappen und hielt ihn sich vor

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den Mund, um gegen den Rauch geschützt zu sein. Sie ächzte
und keuchte und spürte die unerträgliche Hitze.

Sie blieb gebückt stehen und sah, dass der Weg ins Haus

noch frei war. Entschlossen machte sie weiter. Sie warf den
Lappen ins Feuer und zog ihren Vater mit beiden Armen über
die wenigen Stufen. Vor ihr klappte die Tür auf und ihre
Mutter erschien, einen Feuerlöscher in der Hand. Schluchzend
drückte sie auf den schwarzen Hebel. Das Feuer wich zurück,
schmolz unter dem weißen Schaum. Mit vereinten Kräften
zogen sie den Vater ins Haus und auf die Straße hinaus, weg
von den Flammen, die immer noch aus dem Laden züngelten.
Dann erschien die Feuerwehr und das Feuer erstickte
qualmend unter dem Wasser.

»Einen Krankenwagen, wir brauchen einen Krankenwagen!«,

rief Audrey und rollte ihren Vater auf die Seite, wie sie es im
Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Sie legte ihre Wange an sein
Gesicht, weinte stockend und seufzte: »Das wollte ich nicht,
Daddy! Das wollte ich nicht!« Sie strich über seine heißen
Wangen, hielt Ausschau nach einem Arzt und beobachtete
erleichtert, wie ein Krankenwagen vor dem Bordstein hielt und
zwei Sanitäter mit einer Bahre auf sie zurannten. »Er ist
bewusstlos«, sagte sie, »er muss gegen ein Regal geprallt
sein!«

»Wir tun, was wir können«, sagte einer der beiden Sanitäter,

ein Weißer, der keinen Unterschied zwischen den Hautfarben
zu machen schien. »Nun fass doch endlich mit an!«, forderte er
seinen Begleiter auf, der wohl anders dachte und abfällig das
Gesicht verzog, als er Audreys verletzten Vater sah. Er half
seinem Kollegen, den bewusstlosen Mann auf die Bahre zu
legen und in den Krankenwagen zu heben. »Emory! Du musst
wieder gesund werden, hörst du?«, bat Audreys Mutter
eindringlich. Sie kletterte hinter ihrem Mann in den
Krankenwagen und sagte: »Kümmere dich um die Jungen,

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Audrey! Ich fahre mit Dad ins Krankenhaus! Ich rufe dich an,
sobald ich weiß, was mit ihm geschieht, okay?«

»Ja, Mom«, gehorchte sie kleinlaut. Sie fühlte sich schuldig,

obwohl der Überfall der beiden Klansmänner nichts mit ihren
nächtlichen Abenteuern zu tun hatte. Steve Goblett und
Duncan Mills hatten ihren Plymouth gesehen und wohl
beschlossen, ihren Job doch noch zu Ende zu führen. Sie
konnte von Glück sagen, dass sie ihr nicht aufgelauert und sie
vergewaltigt hatten. In Gedanken verfluchte sie die beiden
Weißen und ihren hinterhältigen Anschlag. Und sie schimpfte
auf die Polizei, die es nicht einmal für nötig hielt, mit ihr zu
reden. Die beiden Officers, die aus dem Streifenwagen
gegenüber gestiegen waren, blickten kopfschüttelnd auf die
qualmenden Überreste des Ladens und einer meinte
verächtlich: »Da können wir nichts machen, Partner.«

Audrey schloss ihre Brüder in die Arme und redete

beruhigend auf sie ein. »Geht in euer Zimmer!«, sagte sie nach
einer Weile. »Jetzt kann euch nichts mehr passieren! Das Feuer
ist aus!« Sie gab ihnen einen aufmunternden Klaps und
lächelte ihrer Schwester zu, die von der Tankstelle
herübergerannt war und erschöpft auf einem Kotflügel des
Plymouth saß. Der Wagen hatte nichts abbekommen. »Mach
dir keine Sorgen, Alberta! Daddy hat nichts Schlimmes! Der
wird bald wieder entlassen, ganz bestimmt!«

Alberta beobachtete, wie die Feuerwehrleute den Bürgersteig

abspritzten und die Schläuche aufrollten, und schüttelte den
Kopf. »Den Laden können wir zusperren«, meinte sie traurig,
»das Feuer hat alles zerstört! Meinst du, wir kommen jemals
wieder auf die Beine? Das schaffen wir nie, Audrey!«

»Immer mit der Ruhe«, beruhigte Audrey ihre Schwester.

»Das kriegen wir wieder hin! So viele Waren sind nicht
verbrannt! Wenn uns die Nachbarn helfen, können wir in ein
paar Tagen wieder aufmachen!« Sie stieg über die Scherben

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des zertrümmerten Schaufensters in den Laden hinein und
blickte sich um. Vielleicht waren ihre Worte doch etwas
voreilig gewesen. Die Hitze war immer noch zu spüren und es
stank nach verbranntem Holz und geschmolzenem Plastik. Der
Boden war mit Abfällen bedeckt. Es würde einige Tage
dauern, bis sie den Laden gesäubert hatten. Wie lange der
Gestank bleiben würde, wusste sie nicht. Doch sie ließ sich
nicht entmutigen. »Hilfst du mir beim Aufräumen?«, fragte sie,
nachdem sie sich von dem Anblick des qualmenden Ladens
erholt hatte. »Ich glaube, da wartet ‘ne Menge Arbeit auf uns!
Hol einen Besen!«

Audrey stürzte sich in die Arbeit, als könnte sie dadurch die

Sorge um ihre Familie vertreiben. Sie hatte große Angst davor,
dass ihr Vater ernsthaft verletzt war, und ließ die Tür zur
Wohnung weit offen stehen, damit sie das Telefon nicht
überhörte. Auch ihre Schwester unterbrach ihre Arbeit alle
paar Minuten und warf einen nervösen Blick zur Tür.
Napoleon und Robin waren in ihrem Zimmer. Nachdem die
Mädchen den größten Schmutz beseitigt und die meisten
Waren in Kisten verpackt hatten, damit keine Plünderer
angelockt wurden, sperrten sie das Geld aus der
Registrierkasse in den kleinen Safe, der unter dem Schreibtisch
im Büro versteckt war, und gingen in die Küche. Sie wuschen
sich die Hände und setzten sich erschöpft an den Tisch.

Kaum saßen sie, klingelte das Telefon. Audrey sprang auf

nahm den Hörer ab. »Mom?«, rief sie aufgeregt. »Mom! Bist
du das?« Und als ihre Mutter antwortete: »Wie geht es Dad?
Er wird doch wieder gesund, oder? Er ist doch okay? Sag was,
Mom!«

Aus dem Telefon war leises Schluchzen zu hören, dann hörte

man, wie sich jemand schneuzte. »Eurem Vater geht es gut«,
sagte Nellie Jackson. »Er hat eine leichte Gehirnerschütterung
und der Rauch ist ihm auf die Lunge geschlagen, aber morgen

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oder übermorgen darf er wieder nach Hause!« Sie schluchzte
wieder, diesmal heftiger. »Ich mach mir große Sorgen,
Audrey!«

»Aber ich denke, es ist alles okay?«, wunderte sich Audrey.

»Eine Gehirnerschütterung ist nicht schlimm, die geht schnell
vorbei! Weißt du noch, letztes Jahr? Da ist Napoleon vom
Fahrrad gefallen, er hatte auch eine Gehirnerschütterung. Er
musste…«

»Das ist es nicht«, schnitt ihre Mutter ihr das Wort ab. »Dad

ist wieder bei Bewusstsein und es geht ihm einigermaßen gut,
den Umständen entsprechend, sagen die Ärzte. Aber er… er
hat mir gesagt, dass du bei den Protesten mitmachst! Wie
kannst du uns so was antun, Audrey? Willst du, dass der Klan
noch mal kommt und deinen Vater umbringt? Willst du das?«
Ihr Weinen ging in hysterisches Schluchzen über und Audrey
wartete betreten, bis sich ihre Mutter wieder gefasst hatte. »Er
will dich nicht mehr sehen, Audrey! Er will, dass du ausziehst!
Er sagt, dass wir nur überfallen wurden, weil du mit Edward
zusammen bist! Warum machst du das, Audrey? Denk doch an
unsere Familie!«

Audrey wechselte einen raschen Blick mit Alberta, die müde

auf einem Küchenstuhl saß und fragend die Augenbrauen
hochzog, und suchte nach den richtigen Worten. »Ich weiß,
wer den Brandsatz geworfen hat«, sagte sie, »das waren die
beiden Männer, die mich auf dem Highway überfallen haben!
Sie haben herausgefunden, wo ich wohne! Ich kann nichts
dafür, Mom! Dass ich mit Edward zusammen bin, hat nichts
damit zu tun!« Das Schluchzen ihrer Mutter ließ nach und sie
sagte schnell: »Ich liebe euch, Mom! Ich liebe euch alle! Und
ich möchte nicht, dass euch etwas passiert! Aber ich darf Betty
Ann nicht allein lassen! Wir tun nichts Böses! Wir wollen nur
die Rechte, die uns in der Verfassung zugesichert werden! Wir
wenden keine Gewalt an und wir lassen uns nicht provozieren!

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Wir müssen endlich aufwachen, Mom! Wenn wir alle
protestieren, kann uns gar nichts passieren! Selbst der Ku-
Klux-Klan kann nicht alle Schwarzen umbringen! Martin
Luther King sagt, dies ist unsere letzte Chance! Wir müssen
handeln, wenn wir friedlich mit den Weißen zusammenleben
wollen! Wir haben Gott auf unserer Seite!«

»Martin Luther King hat nur Unheil über uns gebracht!«,

erwiderte ihre Mutter unter Tränen. »Wenn er nicht
zurückgekommen wäre, hätten sie unseren Laden gar nicht
angezündet! Sei vernünftig, Audrey! Überlass die Proteste den
Politikern und Pastoren! Bleib zu Hause! Ich hab nichts gegen
Edward, aber wenn du ihn unbedingt treffen willst, warte
damit, bis Martin Luther King die Stadt verlassen hat! Denk an
deine Familie, Audrey! Ich bitte dich!«

»Ich… ich kann nicht, Mom!«
»Dann pack deine Sachen und geh!«, rief ihre Mutter

schluchzend. »Ich möchte dich nicht mehr sehen, hörst du?
Wenn ich nach Hause komme, möchte ich dich nicht mehr
sehen!« Sie legte auf und Audrey ließ benommen die Hand mit
dem Hörer sinken. Als sie den fragenden Blick ihrer Schwester
sah, sagte sie: »Es wird alles wieder gut, Alberta! Es wird alles
wieder gut!«

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22



Fünf Minuten später klingelte das Telefon erneut. Mom,
vermutete Audrey, sie will mir sagen, dass sie es nicht so
gemeint hat! Ich soll gleich ins Krankenhaus kommen und mit
Dad sprechen! Dann soll ich mit ihr nach Hause fahren! Sie
nahm überhastet den Hörer ab und erschrak, als sich eine
männliche Stimme meldete. »Audrey Jackson?«, vergewisserte
sich der Fremde.

»Am Apparat«, antwortete Audrey zögernd.
»Hier ist Floyd. Sie haben von mir gehört, nicht wahr?«

Seine Stimme klang ruhig und vertrauenswürdig. »Ich wollte
Ihnen nur sagen, dass ich den Anschlag nicht verhindern
konnte. Niemand beim Klan wusste, was die beiden Jungen
vorhatten. Es tut mir Leid! Ich konnte wirklich nichts tun! Ich
hoffe, Ihr Vater wird bald wieder gesund!« Er legte eine kurze
Pause ein und sagte dann: »Wir werden diesen Kampf
gewinnen, Audrey! Hier geht es nicht um Schwarz oder Weiß,
es geht um die Rechte, die jedem Amerikaner in unserer
Verfassung zugesichert werden, und es geht um Gerechtigkeit!
Nicht alle Weißen sind Verbrecher, Audrey!«

»Wer sind Sie, Floyd? Warum helfen Sie uns?«
»Auf Wiedersehen, Audrey.«
Audrey hörte, wie der geheimnisvolle Fremde auflegte, und

behielt den Hörer in der Hand, bis nur ein dumpfes Brummen
zu hören war. Sie ignorierte den neugierigen Blick ihrer
Schwester. »Schick Napoleon und Robin ins Bett«, bat sie,
»und geh in dein Zimmer! Ich mach hier weiter. Ich kann
sowieso nicht schlafen.«

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»Warum hörst du nicht auf Daddy?«, fragte Alberta

vorsichtig. »Warum lässt du Martin Luther King seinen Kram
nicht alleine machen! Du siehst doch, was passiert, wenn du
dich einmischst! Ich hab keine Lust, von diesen verdammten
Kapuzenmännern aufgeknüpft zu werden!«

»Geh ins Bett, Alberta!«
Alberta wollte etwas sagen, überlegte es sich anders und

verließ wortlos die Küche. Aus der Wohnung im ersten Stock
hörte man, wie sie Napoleon und Robin dazu brachte, sich
auszuziehen, ins Bad zu gehen und sich ins Bett zu legen.
Audrey ging in den Flur. Sie dachte daran, nach oben zu gehen
und sich bei ihrer Schwester zu entschuldigen, und blieb
unschlüssig stehen. »Daddy geht es gut«, hörte sie ihre
Schwester sagen. »Ihr braucht keine Angst zu haben! In ein
paar Tagen haben wir den Laden wieder aufgebaut! Nein, nein,
die bösen Männer kommen nicht wieder! Schlaft schön! In ein
paar Stunden ist Mom zurück!«

Dann knarrten wieder Stufen und im zweiten Stock klappte

die Wohnungstür. Audrey seufzte leise und kehrte in die
Küche zurück. Sie füllte einen Eimer mit heißem Wasser, warf
den Putzlumpen hinein und ging in den Laden. Die Hitze hatte
deutlich nachgelassen und der Staub war durch das
zerbrochene Fenster abgezogen. Sie schaltete das Licht ein,
wunderte sich darüber, dass es noch funktionierte, und machte
sich daran, die Regale, die Verkaufstheke und den Boden zu
wischen. Alle paar Minuten ging sie in die Küche und tauschte
das Wasser aus. Sie schuftete ohne Unterlass, arbeitete sich
systematisch durch den ganzen Laden und hatte nach zwei
Stunden das Gefühl, kaum vorangekommen zu sein. Mit dem
Unterarm wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Schon
um nicht nachdenken zu müssen, stürzte sie sich erneut in die
Arbeit. Sie schraubte die verkohlten Regalbretter ab und
stapelte sie neben der Tür auf dem Boden.

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Als sie das erste Mal auf die Uhr blickte, war es kurz nach

Mitternacht. Sie blieb vor der Öffnung im Schaufenster stehen
und hielt ihr Gesicht in den lauen Wind, atmete die frische
Luft, die mit dem Nachtwind in den Laden wehte. In Gedanken
sah sie noch einmal den weißen Pick-up aus einer Seitenstraße
kommen. Sie duckte sich unwillkürlich und begann leise zu
weinen, als sie daran dachte, wie sie ihren Vater zu Boden
gerissen hatte. Sie trat wütend gegen den Wassereimer und
verfluchte den Ku-Klux-Klan, Steve Goblett und Duncan
Mills.

Sie arbeitete weiter, rutschte mit dem Scheuerlappen auf dem

Boden herum, bis ihre Arme erlahmten und sie sich kaum noch
auf den Beinen halten konnte. Nach einiger Zeit lehnte sie sich
mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen.
Wenige Minuten später war sie eingeschlafen. Sie versank in
einem Traum, an den sie sich später kaum noch erinnern
konnte, und wurde gegen zwei Uhr von ihrer Mutter geweckt.
»Honey!«, hörte sie die vertraute Stimme. »Wach auf, Honey!
Ich bin’s, Mom!«

Sie öffnete die Augen und blinzelte in das grelle Licht. Es

dauerte eine ganze Weile, bis sie sich daran erinnerte, was
geschehen war. »Mom!«, rief sie überrascht. Sie rieb sich den
Schlaf aus den Augen und stand langsam auf. »Ich geh schon,
Mom, gib mir ein paar Minuten, dann bin ich weg!« Sie ging
benommen zur Tür und stolperte über die Stufen. Mit beiden
Händen stützte sie sich an der Wand ab. »Ich hol nur meine
Tasche! Gleich bin ich weg!«

»Red keinen Unsinn, Honey!«, hielt die Stimme ihrer Mutter

sie zurück. »So hab ich es nicht gemeint!« Nellie Jackson
folgte ihrer Tochter und schloss sie in die Arme. »Ich hab dich
doch lieb! Dad und ich, wir haben dich beide lieb! Wir wollen
nur nicht, dass dir was passiert! Du hast doch gesehen, was der
Klan uns angetan hat! Geh erst mal ins Bad und stell dich unter

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die heiße Dusche! Du siehst ja furchtbar aus!« Sie lachte
schüchtern und blickte sich im Laden um. »Das hat doch
morgen noch Zeit!«

Audrey war zu müde, um den Sinn ihrer Worte zu verstehen,

und nickte nur. Ihr reichte es, dass ihre Mutter nicht mehr
wütend war und sie das vertraute »Honey« hörte. »Wie geht
es… Dad?«, fragte sie leise. »Wird… wird er wieder…
gesund?«

»Er ist schon beinahe wieder der Alte! Er braucht Ruhe, das

ist alles! Geh ihn morgen nach der Schule besuchen und
entschuldige dich bei ihm! Und versprich ihm, dass du nicht
mehr protestieren gehst! Tu mir den Gefallen, Honey! Sei
vernünftig, ja?«

»Ich kann nicht, Mom! Ich… ich kann nicht…«
»Sprich mit ihm, dann erledigt sich der Rest von selbst!«, ließ

ihre Mutter sich nicht entmutigen. »Ich will keinen Krach in
der Familie! Denk an Alberta und die Jungen! Sprich dich mit
ihm aus!«

»Ja, Mom!«
Audrey stieg in den zweiten Stock hinauf und war viel zu

erschöpft, um ihre Kleider auszuziehen und sich unter die
Dusche zu stellen. Sie schaffte es gerade noch, sich auf ihr Bett
fallen zu lassen, und schlief augenblicklich ein. Am nächsten
Morgen wusch sie sich umso gründlicher. Sie ließ das heiße
Wasser auf ihren Körper prasseln, trocknete sich gründlich ab
und zog frische Kleider an. Sie war spät dran und ihre Mutter
und Geschwister saßen bereits beim Frühstück. »Ich hab wenig
Zeit«, entschuldigte sie sich, »ich muss gleich weiter!« Sie
trank hastig etwas Kaffee, schnappte sich einen Toast und
rannte davon.

In der Schule überschüttete man sie mit Fragen. »Ich hab

gehört, bei euch ist eine Bombe explodiert! Seid ihr alle
gesund?«; »Wie geht es deinen Eltern und deinen

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Geschwistern?«; »Es war keine Bombe? Was dann?«; »Was ist
ein Brandsatz? Hast du gesehen, wer ihn geworfen hat?« Und
Claude A. Wesley, der Direktor, wollte sie sogar nach Hause
schicken. »Bleib für den Rest der Woche zu Hause! Ihr habt
doch jetzt sicher andere Sorgen!«

Sie schüttelte energisch den Kopf und sagte: »Ich bin okay!

Wir schaffen das auch so! Ich fühle mich besser, wenn ich
arbeite!«

Doch der Gedanke an den gemeinen Anschlag und die

Reaktion ihrer Eltern ließ sie nicht los. Sie war fest
entschlossen, ihre Freundin im Kampf gegen die
Unterdrückung zu unterstützen und hatte ein mulmiges Gefühl,
wenn sie daran dachte, wie sehr ihre Eltern und ihre
Geschwister unter dieser Entscheidung litten. Während der
Pause traf sie Cynthia. »Na, hast du Sarah schon
geschrieben?«, fragte sie und das Mädchen antwortete: »Na
klar, einen ganz langen Brief, und sobald ich genug Geld
gespart habe, besuche ich sie!« Audrey freute sich, wie gut
Cynthia die Trennung von ihrer Freundin verkraftet hatte.
»Und was macht der Chor?«, fragte sie. »Probt ihr fleißig?«

Cynthia nickte begeistert. »Du bist doch dabei, wenn wir am

Ostersonntag in der Kirche singen? Das wird ein tolles
Konzert!«

»Natürlich bin ich dabei und ich werde ganz laut klatschen!«,

versprach Audrey. Sie mochte die Tochter des Direktors, die
Unbekümmertheit, mit der sie nach der Flucht ihrer besten
Freundin in die Zukunft sah, und ihr fröhliches Lachen, wenn
sie von dem Konzert des Kinderchors am Ostersonntag sprach.
Die Stimmen der Kinder durften in der gewalttätigen
Atmosphäre, die der Ku-Klux-Klan verbreitete, nicht
verstummen. Sie waren die Hoffnung des amerikanischen
Südens, die schwarzen und weißen Kinder. Wenn sie den Hass
überwanden, der beide Rassen trennte, würde es keinen Ku-

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Klux-Klan mehr geben. Und Martin Luther King konnte mit
seinem gewaltfreien Protest den Weg für diese friedliche
Zukunft ebnen.

In der Schule versuchte Audrey vergeblich ihren Freund ans

Telefon zu bekommen. Der Besitzer des Gaston Motels sagte
ihr, dass Edward unterwegs war und er keine Nachricht
hinterlassen hatte. Audrey beschloss bei ihm vorbeizufahren,
bevor sie ihren Vater im Krankenhaus besuchte. Der junge
Mann im Büro schüttelte den Kopf und versicherte ihr, dass
Edward noch nicht zurückgekehrt war. Sie ging in den Coffee
Shop und hörte ein gelangweiltes »Hier war keiner!« von der
Bedienung. Audrey erinnerte sich daran, wie sie Edward in der
Kirche getroffen hatte, und fuhr zur Sixteenth Street Baptist
Church. Der Cadillac ihres Freundes war nirgendwo zu sehen.
Sie stieg aus, ging die Treppen zur Eingangstür hinauf und
öffnete sie.

Aus der Kirche tönte ihr vielstimmiger Kindergesang

entgegen. Sie blieb eine Weile stehen und genoss den
harmonischen Klang der jungen Stimmen, vergaß für einen
Augenblick sogar, warum sie die Kirche betreten hatte.
Langsam ging sie zwischen den Sitzreihen entlang. Außer
einer weißhaarigen Dame, die in der ersten Reihe saß und leise
betete, war niemand zu sehen.

Sie drehte sich um und blickte zur Empore hinauf. Die

Kinder standen vor der großen Orgel und sangen »Rock of
Ages« mit einer solchen Leidenschaft, dass sie eine Gänsehaut
bekam. Der Pastor stand am Geländer und gab den Takt vor.
Sie winkte Cynthia zu, die mit ihrer grünen Schleife im Haar
links außen stand und sich riesig freute, als sie Audrey
erkannte. Neben ihr sangen Addie Mae Collins, das Mädchen
mit der dicken Hornbrille, das Audrey einmal vor der Kirche
getroffen hatte, und Carole Robinson und Carol Denise
McNair, zwei weitere Freundinnen, die sie nur vom Sehen

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kannte. Mit ihrer kunstvollen Dauerwelle wirkte Carol Denise
älter als ihre elf Jahre. Die vierzehnjährige Carole sah
wesentlich jünger aus. Alle vier Mädchen trugen grüne
Schleifen im Haar und waren mit Begeisterung bei der Sache.

Audrey wartete, bis sie den Choral zu Ende gesungen hatten,

und winkte den Mädchen zu. Dann sprach sie ein kurzes Gebet
und verließ die Kirche. Auch Gott wusste keine Antwort auf
ihre Fragen. Sie nahm an, dass er von ihr erwartete, selbst mit
ihrem Vater ins Reine zu kommen, und stieg entschlossen in
den Plymouth. Vor dem Krankenhaus verlor sie ihre
Selbstsicherheit. Sie stieg zögernd aus und blickte mit
gemischten Gefühlen an den schmucklosen Mauern empor.
Ihre Kehle wurde eng und ihre Stimme klang heiser, als sie
nach dem Zimmer fragte, in dem ihr Vater untergebracht war.
Auf der Station nickte ihr eine Schwester höflich zu. Sie
klopfte an die Tür und betrat schüchtern das Krankenzimmer,
begrüßte die anderen Männer, die dort untergebracht waren,
und lächelte ihrer Mutter zu, die neben dem Bett ihres Vaters
saß und seine linke Hand hielt. Emory Jackson war bei vollem
Bewusstsein und saß aufrecht im Bett.

»Hallo, Dad!«, sagte Audrey zu ihrem Vater. »Ich hab gehört,

dir geht es besser! Bekommst du alles, was du willst?«

»Mir geht es gut«, erwiderte ihr Vater. Er war müde und

gereizt und machte kein Hehl aus seiner schlechten Laune.
Sein Gesicht wirkte noch kantiger als sonst. »Sobald ich hier
rauskomme, räumen wir den Laden auf, Audrey! Ich hoffe, du
hilfst uns dabei! Das ist sinnvoller, als gegen den Klan zu
marschieren!«

»Wir marschieren nicht gegen den Klan«, erwiderte sie. »Wir

protestieren gegen alle Weißen, die an die Überlegenheit ihrer
Rasse glauben! Wir wollen nicht mehr wie Menschen zweiter
Klasse behandelt werden. Keine ›Nur für Weiße‹-Schilder
mehr!«

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»Da hast du’s«, wandte Emory Jackson sich an seine Frau,

»jetzt redet sie schon so geschwollen wie Martin Luther
King!« Und zu seiner Tochter: »Reiß dich zusammen, Audrey!
Reicht es denn nicht, dass sie unseren Laden abfackeln? Willst
du, dass sie das nächste Mal mit Gewehren kommen und uns
alle erschießen? Willst du, dass deine Eltern und Geschwister
sterben?« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht,
Audrey! Gestern Abend wollte ich dich aus dem Haus werfen,
so verbittert war ich! Du hast es deiner Mutter zu verdanken,
dass ich’s mir anders überlegt habe! Sie hat mir gesagt, dass du
dich entschuldigen wirst! Sie hat mir versprochen, dass du dich
nicht mehr mit diesem Edward treffen wirst! Ist das wahr,
Audrey?«

Audrey senkte den Blick: »Es tut mir Leid, Dad! Dass sie den

Laden angezündet haben und dass ich euch solchen Kummer
bereiten muss! Ich kann nicht anders! Es ist nicht wegen
Edward. Ich tue es für uns! Ich würde den Glauben an mich
verlieren, wenn ich jetzt aufgäbe!«

In die angespannte Stille, die ihren Worten folgte, klopfte es.

Zwei Männer betraten das Krankenzimmer. Martin Luther
King und Edward! Audrey starrte sie mit großen Augen an und
war viel zu überrascht, um sie zu begrüßen. Ihre Eltern
schienen verwirrt.

»Mr. und Mrs. Jackson«, grüßte Martin Luther King höflich.

Er lächelte Audrey aufmunternd zu. »Entschuldigen Sie, wenn
wir stören, aber wir haben von dem Unglück gehört, das Ihnen
widerfahren ist! Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser!« Er
blieb vor dem Bett stehen und wartete eine Weile, bis sich
Emory Jackson und seine Frau gefasst hatten. »Ich wollte
Ihnen persönlich gute Besserung wünschen und die Nachricht
überbringen, dass die SCLC alle Kosten übernehmen wird.
Unsere Gesellschaft hat ein Spendenkonto für solche Fälle
eingerichtet und ich bin befugt, Ihnen einen Scheck zu geben.

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Edward hat bereits eine Firma beauftragt, das Schaufenster zu
ersetzen und Ihren Laden neu einzurichten, Ihre Erlaubnis
vorausgesetzt, und sie haben zugesagt, bereits morgen mit der
Arbeit zu beginnen.«

Emory Jackson konnte sich nicht freuen, ganz im Gegensatz

zu seiner Frau, die vor Dankbarkeit strahlte. »Vielen Dank.
Aber das ändert nichts daran, dass ich dieses Project C, wie Sie
es nennen, für falsch halte! Dieses Unglück wäre niemals
passiert, wenn Sie meine Tochter nicht überredet hätten!« Er
blickte Edward vorwurfsvoll an. »Sehen Sie denn nicht, was
Sie anrichten? Sie hetzen den Klan gegen uns auf! Warum
lassen Sie nicht alles so, wie es ist? Ich weiß, wir werden von
den Weißen unterdrückt! Sie verbieten uns, in den Drugstores
der Innenstadt einen Hamburger zu essen, und wollen, dass wir
getrennte Toiletten benutzen! Na und? Irgendwann wird Gott
dafür sorgen, dass wir die gleichen Rechte haben! Wir sollten
ihm nicht ins Handwerk pfuschen! In Birmingham gehen die
Uhren anders!«

»Ich verstehe Ihre Bedenken«, erwiderte Dr. King. »So wie

Sie denken einige Schwarze in dieser Stadt und ich bin ihnen
nicht einmal böse deswegen. Sie denken an ihre Familien, an
ihre Arbeit, an das Geschäft, das sie mühsam aufgebaut haben.
Aber ich glaube nicht, dass wir Gott die ganze Arbeit
überlassen sollten. Ich habe einmal gesagt: ›Es kann eine Zeit
kommen, in der wir mit unserem Schweigen einen Verrat
begehen.‹ Diese Zeit ist da! Wenn wir jetzt schweigen würden,
wäre Jesus nur ein Träumer, der umsonst auf die Erde
gekommen ist!« Er ließ seine Worte wirken und fügte hinzu:
»Ich will Sie nicht mit meinen Predigten langweilen, Mr.
Jackson! Ich möchte Sie nur bitten, auch uns zu verstehen. Mit
unserem gewaltlosen Protest wenden wir uns gegen das Böse.
Ich weiß, dass einige Leute darüber lachen, dass wir die andere
Wange hinhalten, wenn wir geschlagen werden. Auch über

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Gandhi haben sie sich lustig gemacht. Weil sie nicht verstehen,
dass wir nicht nur gegen das Böse, sondern auch gegen die
Gewalt kämpfen. Durch unseren gewaltlosen Protest wollen
wir ein Gefühl der Scham auf der anderen Seite wecken. Wir
wollen die Seelen der Klansmänner berühren und ich sage
Ihnen, auch diese gewalttätigen Männer haben eine Seele. Der
Tag wird kommen, an dem sie erkennen müssen, dass es nicht
nur um Schwarze und Weiße geht! Wir kämpfen für die
Gerechtigkeit auf der ganzen Welt, denn nur, wenn wir alle
zusammenhalten, kann es eine Zukunft geben!«

»Und was ist mit den Schwarzen, die für diese Ideale leiden

müssen?«, fragte Emory Jackson bitter. »Was ist, wenn ich
meine Tochter verliere? Geben Sie mir dann auch einen
Scheck?«

Martin Luther King ließ sich nicht beirren und zog eine Bibel

aus seiner Jackentasche. Er zitierte aus der Bergpredigt: »Selig
sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden!« Er
deutete ein Lächeln an. »Ich habe Ihnen nicht nur einen Scheck
mitgebracht, Mr. Jackson! Ich möchte Ihnen diese Bibel
schenken! Aus ihr schöpfe ich die Kraft, die ich für meinen
Kampf gegen das Unrecht brauche! Möge sie Ihnen die Kraft
geben, unsere Motive besser zu verstehen! Gott steht bei allen
unseren Aktionen an erster Stelle! Denken Sie bitte daran, Mr.
Jackson! Amen!«

»Amen!«, wiederholte Nellie Jackson.
Und nach einer ganzen Weile, als Martin Luther King und

Edward längst gegangen waren und Audrey sich bereits auf
dem Heimweg befand, sagte auch Emory Jackson leise:
»Amen!«

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23



Der Protestmarsch am Gründonnerstag begann in der Sixteenth
Street Baptist Church. Audrey sah ihre Freundin in der offenen
Eingangstür stehen, als sie die Stufen hinaufstieg, und
umarmte sie stumm. »Ich wusste, dass du mich nicht allein
lassen würdest«, hörte sie Betty Ann leise sagen. »Hab keine
Angst, die Nacht im Gefängnis war halb so schlimm!« Die
Mädchen betraten die Kirche und schüttelten die Hände der
anderen Teilnehmer, die im Vorraum warteten. Über dreißig
Schwarze waren gekommen und es strömten immer noch mehr
Menschen herbei, die bei der Demonstration mitmachen
wollten. Sogar zwei Weiße waren dabei. Sie studierten in
Kalifornien und hatten ihre Eltern in Florida besucht. In
Birmingham waren sie aus dem Bus gestiegen und zur
Sixteenth Street Baptist Church gegangen. Sie wussten mehr
über die Freiheitsbewegung als Betty Ann. »Dieser Protest
betrifft uns alle«, sagte einer der beiden Studenten.

Edward erschien im Vorraum und umarmte Audrey liebevoll.

»Ich freue mich, dass du hier bist!«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Ich hab dich sehr lieb!« Er begrüßte Betty Ann und wandte
sich an die Demonstranten: »Ich freue mich, dass ihr alle
gekommen seid! Dies ist einer von mehreren Protestmärschen,
die wir in dieser Woche durchführen, das wisst ihr sicher.
Sobald wir die Kirche verlassen haben, wenden wir uns nach
links und gehen dann rechts die Seventh Avenue hinunter. Vor
der City Hall knien wir nieder und beten. Ihr habt alle unser
Formular unterschrieben und wisst, worauf es ankommt! Was
auch passiert, selbst wenn die Polizei mit Schlagstöcken auf
uns losgeht oder die Hunde von der Leine lässt – ihr wehrt

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euch nicht! Wir wenden keine Gewalt an! Nur wenn unser
Widerstand gewaltlos bleibt, haben wir eine Chance, diesen
Kampf zu gewinnen! Ihr habt gehört, was Martin Luther King
gepredigt hat! Gott ist auf unserer Seite! Alle rechtschaffenen
Menschen auf dieser Erde unterstützen uns! Habt keine Angst,
meine Freunde! Euer Mut wird belohnt werden, an dem Tag,
an dem eure Kinder mit den Kindern eurer weißen Nachbarn
spielen werden! An dem Tag, an dem ihr euch mit euren
weißen Freunden zum Barbecue treffen werdet! Manche Leute
sagen, dass wir Träumer sind. Aber wir sind nicht allein, meine
Freunde, und wie ihr seht, gibt es auch Weiße, die an unserer
Seite marschieren! Die Liebe wird siegen! Denkt immer daran!
Wir marschieren für die ganze Welt!«

Audrey griff nach einem der Schilder, die Edward

bereitgestellt hatte. FREEDOM stand in großen Lettern auf
dem weißen Karton. FREIHEIT. Sie war stolz, eines dieser
Schilder tragen zu dürfen, und war fest davon überzeugt, sich
richtig entschieden zu haben. Es war ihre heilige Pflicht, zu
marschieren! Auch wenn ihre Eltern sie dann verstießen!
Martin Luther King und Edward hatten vor dem Krankenhaus
auf sie gewartet und der Pastor hatte ihr versichert, dass ihr
Vater einsehen würde, dass sie das Richtige taten. »Er ist in
einer schwierigen Lage. Die meisten schwarzen Geschäftsleute
denken wie er. Warum soll man etwas ändern, wenn man
selbst nicht in akuter Gefahr schwebt? Aber er wird seine
Meinung ändern, das verspreche ich Ihnen. Alle Schwarzen
werden auf unserer Seite sein, wenn sie erkennen, wie stark die
Liebe sein kann!«

Edward führte die Marschierer an. »Gott sei mit uns!«, sagte

er, bevor er die Kirche verließ und die Schwarzen zur Seventh
Avenue führte. »Amen!«, antworteten die Teilnehmer. Betty
Ann stimmte das Lied an, das zur Hymne ihrer Bewegung
geworden war, und sang aus voller Kehle: »We shall

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overcome, we shall overcome, we shall overcome some day!«
Eines Tages werden wir unsere Träume verwirklicht haben.
Und alle anderen antworteten mit dem Refrain: »Oh, deep in
my heart I do believe, we shall overcome some day!« Tief in
meinem Herzen glaube ich daran. Das Lied gab ihnen Kraft,
nahm die Angst, die viele von ihnen beim Verlassen der
Kirche empfunden hatten. »We shall all be free«, sang Audrey
laut die dritte Strophe mit, »we shall all be free, we shall all be
free some day!« Eines Tages werden wir alle frei sein. Sie lief
dicht neben Betty Ann, bewunderte die Entschlossenheit ihrer
Freundin, die ihr »We shall overcome« wie einen Schwur
erklingen ließ.

Solange sie im Schwarzenviertel waren, machte Audrey sich

keine Sorgen. Die vielen Schaulustigen, die aus den Häusern
traten und die Gehsteige säumten, waren auf ihrer Seite und
riefen ihnen aufmunternde Worte zu. »Freiheit! Freiheit!«,
fielen sie in die Rufe der Marschierer ein. Doch dann näherten
sie sich der City Hall, dem Rathaus von Birmingham, und ihr
Protestmarsch wurde zum Spießrutenlaufen. Die ersten
Weißen ließen sich blicken, schwangen drohend ihre Fäuste
und belegten sie mit Schimpfwörtern und Verwünschungen.
»Warum bleibt ihr nicht in euren Hütten, ihr verdammten
Nigger?«, rief eine Frau, die sich zu Hause wahrscheinlich
liebevoll um ihren Mann und ihre Kinder kümmerte. »Nehmt
eure Schilder und verschwindet!«

Zwei junge Männer, die in einem baufälligen Chevy

unterwegs waren, zeigten den Marschierern den ausgestreckten
Mittelfinger. Einige Kinder warfen mit Steinen. Hinter den
Fenstern der umliegenden Häuser waren weiße Gesichter zu
sehen. »Verdammtes Niggerpack!«, schimpfte

ein

Jugendlicher. »Geht nach Hause oder wir prügeln euch aus der
Stadt!« Ein älteres Ehepaar wandte sich entrüstet ab. »Wollen
wir uns das gefallen lassen?«, hörte Audrey jemanden rufen.

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»Wo ist der Klan? Warum knüpft niemand diesen Martin
Luther King auf? Schießt die verdammten Nigger über den
Haufen!« Ein Schuss fiel, gleich darauf fluchte eine weibliche
Stimme und der aufgebrachte Weiße verschwand in einem der
Häuser. »Überlasst sie der Polizei!«, mahnte ein Weißer. »Die
kümmern sich um das schwarze Pack!«

Audrey spürte, wie sich Angst in ihr ausbreitete. Ihre Hände,

die das Schild mit der Aufschrift FREEDOM hielten, wurden
schwach. »Hör einfach nicht hin!«, munterte Betty Ann sie auf.
»Die Liebe ist stärker als der Hass! Das hat Martin Luther
King uns gelehrt!« Audrey zweifelte an diesen Worten, glaubte
nicht daran, dass einer der aufgebrachten Weißen seine
Meinung ändern könnte. Wenn sie in die verzerrten Fratzen
dieser Menschen blickte, war es schwer, an die Macht der
Liebe zu glauben. Doch sie hielt durch und ging weiter,
obwohl sie am liebsten umgekehrt und davongerannt wäre.
»We shall overcome«, bekämpfte sie ihre Schwäche, »we shall
overcome some day!«

Von den Klansmännern in ihren weißen Kutten war nichts zu

sehen. Die Marschierer wussten nichts von der Abmachung,
die Bull Connor und der Ku-Klux-Klan getroffen hatten, und
wunderten sich darüber. Normalerweise hätte der Klan die
Gelegenheit genützt, um ein Exempel zu statuieren und es den
protestierenden Schwarzen heimzuzahlen. Aber die
Klansmänner hielten sich an die Abmachung und zogen sich in
ihre Wohnungen und Versammlungsräume zurück. Sie würden
losschlagen, sobald Project C gescheitert war. Das dreiste
Vorgehen dieses Martin Luther King durfte nicht ungesühnt
bleiben, munkelte man in der gefürchteten Eastview Klavern.
Sobald Bull Connor aufgeräumt hatte, würde man ein Zeichen
setzen, das die Schwarzen niemals vergessen würden. Man
würde die verdammten Nigger in ihre Schranken weisen.
Amerika gehörte allein den Weißen!

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Vor der 19th Street, im Schatten der Busstation, wurden die

Schwarzen von der Polizei aufgehalten. Zwei Streifenwagen
blockierten die Seventh Avenue. Die Polizisten hatten ihre
Helme aufgesetzt und hielten ihre Schlagstöcke bereit. Ihre
Gesichter wirkten hart und entschlossen. Einige der Männer
grinsten still in sich hinein, als freuten sie sich darauf, die
protestierenden Schwarzen mit ihren Schlagstöcken zu
bearbeiten.

Edward ließ sich nicht beirren. Er kniete vor den Polizisten

nieder und sprach ein Gebet. Die anderen Marschierer folgten
seinem Beispiel. Audrey griff nach der freien Hand ihrer
Freundin und sagte: »Amen!«

»We shall overcome«, stimmte Betty Ann noch einmal an,

»we’ll walk hand in hand.« Wir gehen Hand in Hand. Sie stand
auf, zog Audrey hoch und blickte furchtlos nach vorn, als einer
der Polizisten »Okay, das reicht, ihr Nigger!« sagte und
Edward eine Hand auf die Schulter legte. Unter dem
inbrünstigen Gesang der Schwarzen und dem schadenfrohen
Beifall der Weißen ließ sich Audreys Freund abführen. Die
Polizisten stießen ihn in einen der bereitstehenden
Lieferwagen.

Audrey wollte aufbegehren, sich von Betty Ann losreißen

und zu den Polizisten laufen, aber ihre Freundin hielt sie
zurück. »Keine Gewalt!«, hörte sie Betty Ann sagen. »Selbst
wenn ihr geschlagen und gedemütigt werdet… keine Gewalt!
Unsere Opfer sind nicht umsonst!« Ihre Augen glänzten,
zeigten den anderen, wie mutig und entschlossen sie war. »We
shall all be free«, erklang die dritte Strophe ihrer Hymne. Wir
werden alle frei sein!

Ein Marschierer nach dem anderen wurde festgenommen und

in den Lieferwagen geschoben. Die anderen ließen sich nicht
beirren und sangen weiter. Beinahe trotzig schallte ihr »We
shall all be free!« den Polizisten entgegen. Dann war der

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Lieferwagen voll und ein Teil der uniformierten Männer rückte
ab. Die Besatzungen der beiden Streifenwagen blieben und
schlugen mit ihren Gummiknüppeln auf einige Demonstranten
ein. Eine Frau brach weinend zusammen. »Haut ab! Geht nach
Hause!«, schrien die Polizisten, dann stiegen sie in ihre
Streifenwagen und fuhren davon. »We shall overcome«,
sangen die Schwarzen weiter, bis ihre Stimmen heiser wurden
und einer der Männer entschied: »Es ist vorbei, Leute! Geht
nach Hause!«

Erschöpft kehrten Audrey und ihre Freundin ins

Schwarzenviertel zurück. Sie setzten sich auf die Stufen vor
der Sixteenth Street Baptist Church, die Schilder immer noch
in den Händen, und blinzelten in die tief stehende Sonne.
Orangefarbener Glanz lag über den düsteren Gebäuden des
Viertels und ließ die Mauern der Kirche in einem dunklen
Braun erstrahlen. »Wir kommen nicht voran«, sagte Betty Ann
enttäuscht, »wenn das Fernsehen nicht dabei ist, erfährt
niemand von unseren Protesten! Wir müssen die Welt
aufrütteln, hat Ralph Abernathy gestern gesagt. Wie sollen wir
die Welt aufrütteln, wenn niemand von uns weiß?«

Nachdem sie die Schilder im Vorraum der Kirche verstaut

hatten, verabschiedeten sich die Mädchen voneinander. Beide
waren hundemüde. Seitdem Betty Ann für die SCLC arbeitete,
durfte sie in einem der Gästezimmer im Gaston Motel
übernachten, wenn es zu spät war, um nach Hause
zurückzukehren. »Komm in der Mittagspause rüber«, bat sie
ihre Freundin, »ich glaube, morgen ist ein wichtiges Meeting!«
Sie schüttelte ihre Hand und lächelte. »Du willst doch nicht
kneifen, oder? Du bist doch dabei?«

»Wenn ich morgen noch in Birmingham bin«, antwortete

Audrey mit einem säuerlichen Lächeln. »Ich hab das Gefühl,
mein Daddy schickt mich auf den Mond, wenn er erfährt, dass
ich bei einem Protestmarsch dabei war!« Ihre Wege trennten

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sich und Audrey kehrte nach Hause zurück. Ihre Eltern
beachteten sie kaum. Es gab kein Donnerwetter und keinen
Streit und selbst beim Abendessen kam das Gespräch nicht auf
das heikle Thema. Emory Jackson war mürrisch wie immer
und brummte nur, als Audrey ihm die Schüssel mit den süßen
Kartoffeln reichte. Ihre Mutter hielt den Kopf gesenkt und
kämpfte mit den Tränen. Nur Napoleon und Robin ließen sich
von der gedrückten Stimmung nicht beeindrucken und stritten
lauthals um den Pudding.

»Jetzt reicht’s aber!«, schimpfte Nellie Jackson und nahm

ihnen die Schüssel ab. »Geht in euer Zimmer, aber schnell!
Den Pudding könnt ihr morgen essen! Wenn ihr brav seid!
Verstanden?«

»Aber wir haben doch gar nichts gemacht!«, meinte

Napoleon.

»Ihr sollt verschwinden!«, schrie Nellie Jackson so laut, dass

selbst ihr Mann zusammenzuckte. Napoleon und Robin zogen
weinend davon. Sie begann zu schluchzen. »Mein Gott!«,
wandte sie sich an ihren Mann und an Audrey. »Warum redet
ihr nicht miteinander? Das ist ja nicht auszuhalten! Wir sind
eine Familie, habt ihr das vergessen? Gott verdammt, wir sind
eine Familie!«

»Tut mir Leid«, erwiderte Audrey leise.
Am nächsten Morgen beschränkte sie ihr Frühstück auf einen

Becher Kaffee. Sie trank ihn im Stehen und umarmte ihre
Mutter wortlos, bevor sie in die Schule fuhr. Die Arbeit fiel ihr
schwer. Sie war unkonzentriert und sie musste ständig an
Edward denken, der mit den anderen Marschierern im
Gefängnis saß. Ob Martin Luther King die Kaution schon
bezahlt hatte? Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und sich
vorgestellt, wie es sein musste, auf einer harten Pritsche in
einer Zelle zu übernachten.

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»Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei«, sagte Direktor

Wesley am späten Vormittag. Er wusste, dass Audrey bei dem
Protestmarsch dabei gewesen war, und hatte Verständnis für
ihre Unruhe. »Heute passiert sowieso nichts mehr!« Er
verabschiedete sie lächelnd. »Frohe Ostern! Passen Sie auf
sich auf!«

Audrey stieg in ihren Plymouth und fuhr zum Gaston Motel.

Vor dem Coffee Shop traf sie Edward und Betty Ann. Sie
umarmte ihren Freund und küsste ihn ungeniert. »Edward! Du
bist frei! Ich hatte Angst, du musst Ostern im Gefängnis
bleiben!« Sie blickte ihre Freundin an. »Hi, Betty Ann! Ich hab
den Nachmittag frei bekommen, was sagst du dazu?« Die
Wiedersehensfreude hatte ihre Stimmung erheblich gebessert.
»Habt ihr schon gegessen?«

»Wir haben Sandwiches bestellt«, antwortete Edward. »Wir

haben ein wichtiges Meeting in Zimmer 30. Unser
Kriegszimmer!«, fügte er lächelnd hinzu. »Da fallen die
wichtigen Entscheidungen. Dr. King will mit uns reden. Es
geht um die nächsten Aktionen.«

Audrey folgte ihren Freunden in das überfüllte Motelzimmer.

Außer Martin Luther King waren Ralph Abernathy, Fred
Shuttlesworth und über zwanzig andere wichtige Leute in dem
kleinen Raum. Die Diskussion war bereits in vollem Gange.
Audrey nickte den Männern freundlich zu und setzte sich auf
die Fensterbank. »Ralph und ich haben beschlossen, uns
morgen festnehmen zu lassen«, sagte Martin Luther King
gerade. »Morgen ist Karfreitag, ein Tag von symbolischer
Bedeutung für alle Christen, und wir wollen unsere Körper als
Blutzeugen in diesem Kreuzzug darbieten! Ich weiß, das klingt
etwas übertrieben, aber was bleibt uns anderes übrig? Bisher
war Project C erfolglos. Kaum eine Fernsehstation und nur
wenige liberale Zeitungen im Norden haben über unsere
Aktionen berichtet. Nur wenn wir etwas Außergewöhnliches

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tun, bringen wir das Fernsehen und die Presse dazu, uns in den
Sieben-Uhr-Nachrichten und auf den Titelseiten zu bringen!
Wir brauchen die Öffentlichkeit, wenn wir etwas erreichen
wollen!«

Alle waren einverstanden, doch am Abend erhielt Martin

Luther King einen Anruf und erfuhr, dass die Stadtverwaltung
bares Geld sehen wollte, wenn eine Kaution für die
Gefangenen verlangt wurde. Bisher hatte es ausgereicht, wenn
bei größeren Beträgen ein verlässlicher Bürge für die Summe
unterschrieben hatte. »Das ist ein ernster Schlag für unsere
Bewegung«, sagte Martin Luther King, als sie sich am
nächsten Morgen im »Kriegszimmer« trafen. »Wie sollen wir
die Beträge für die Gefangenen aufbringen? Wo wollt ihr die
Summe hernehmen, die man für Ralph und mich festsetzen
wird?« Er zündete sich eine Zigarette an, was er selten in der
Öffentlichkeit tat, und lief nervös auf und ab. In seine Stirn
hatten sich tiefe Sorgenfalten gegraben. Seine Verzweiflung
war im ganzen Raum zu spüren. Er drückte die Zigarette im
Aschenbecher aus und sah seine Freunde fragend an.

Audrey spürte die Hoffnungslosigkeit, die sich im Zimmer

ausgebreitet hatte, und wechselte einen Blick mit Betty Ann,
die auf der Sofalehne saß und ratlos zu Boden sah. Selbst Fred
Shuttlesworth, der die Stadtverwaltung von Birmingham am
besten kannte, wusste nicht, was er sagen sollte. Endlich ergriff
einer der engsten Vertrauten von Martin Luther King das
Wort: »Unter diesen Umständen kannst du nicht ins Gefängnis
gehen, Martin!«, sagte er. »Wir brauchen viel Geld. Wir
brauchen es jetzt. Du bist der Einzige, der die Verbindungen
hat, um es aufzutreiben. Wenn du ins Gefängnis gehst, sind wir
verloren! Dann ist auch die Schlacht von Birmingham
verloren! Du darfst nicht gehen!«

Martin Luther King zündete sich eine weitere Zigarette an

und blickte unentschlossen in die Runde. »Lasst mich einen

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Augenblick nachdenken«, sagte er beinahe flüsternd. Er ging
in den Nebenraum der kleinen Suite. Seine Mitarbeiter blieben
schweigend zurück. Audrey suchte die Hand ihrer Freundin
und drückte sie fest. Jeder in Zimmer 30 wusste, dass Martin
Luther King eine Entscheidung von weit reichender Bedeutung
treffen musste. Von seiner Antwort hing das Wohl des ganzen
Unternehmens ab und das Schlimme war, dass niemand sagen
konnte, welcher Entschluss der richtige sein würde. Nervös
warteten sie auf die Rückkehr des Pastors.

Als er zurückkam, richteten sich alle Augen auf ihn. »Über

dreihundert Menschen sitzen noch im Gefängnis«, sagte er.
»Tausende von Schwarzen warten darauf, dass wir in die Tat
umsetzen, was ich so leidenschaftlich gepredigt habe. Wie
könnte ich diesen Menschen erklären, dass ich mich der
Festnahme entziehe? Wie würde das Land über einen Mann
urteilen, der Hunderte ermutigt hat, ein ungeheures Opfer zu
bringen, und sich dann drückt? Ich werde gehen, meine
Freunde! Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich weiß nicht,
woher das Geld kommen wird! Aber ich werde gehen. Ich
muss mich durch diese Tat zu meinem Glauben bekennen!«
Ohne dass sie jemand dazu aufgefordert hätte, fassten sich die
Menschen an den Händen und sangen »We shall overcome«.
Audrey war endgültig davon überzeugt, dass sie auf dem
richtigen Weg war.

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24



Noch am selben Tag, dem Karfreitag des Jahres 1963,
marschierten Martin Luther King, Ralph Abernathy und
fünfzig andere Schwarze zur City Hall Die Pastoren trugen
Overalls, als sie die Sixteenth Street Baptist Church verließen.
Ihre Gesichter waren von großer Ernsthaftigkeit geprägt und in
ihren Augen brannte eine Entschlossenheit, wie Audrey sie
noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Sie waren
besondere Männer, wurden von dem festen Glauben
angetrieben, mit ihrem Handeln ein ganzes Volk retten zu
können. Sie trugen keine Schilder, um die Polizei nicht unnötig
zu reizen, und blieben sogar an den roten Ampeln stehen. Der
Refrain von »We Shall Overcome« begleitete sie über die
Seventh Avenue und bis zur Kreuzung 17th Street.

Audrey und Betty Ann und auch Edward waren nicht bei den

Marschierern. Martin Luther King hatte ihnen empfohlen, im
Hintergrund zu bleiben und Fred Shuttlesworth bei der Arbeit
für die SCLC zu helfen, solange er im Gefängnis saß. Doch sie
wollten wenigstens in der Nähe sein, wenn es zu der
historischen Begegnung zwischen Martin Luther King und
Bull Connor kam. Der Polizeichef würde bestimmt nicht
zulassen, dass die Anführer des »Negeraufstandes«, wie er
Project C nannte, ihn mit ihrem Marsch demütigten. In
angemessener Entfernung liefen sie hinter den Demonstranten
her. Sie mischten sich unter die vielen Schaulustigen und
gingen hinter einem geparkten Auto in Deckung, als die
Polizei mit einem Aufgebot nahte und die Kreuzung an der
17th Street sperrte. Aus den Streifenwagen und den

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Lieferwagen sprangen Beamte mit Schlagstöcken und Bull
Connor höchstpersönlich stieg aus einer schwarzen Limousine.

Der Polizeichef war ein untersetzter Mann mit klobigem

Schädel und weißen Haaren. Unter der Krempe seines
Strohhuts und hinter den dicken Gläsern seiner Brille waren
seine Augen kaum zu sehen. Er bewegte sich wie ein Mann,
der sich seiner Macht voll bewusst ist, und ließ schon durch
seine Körpersprache erkennen, was er von den protestierenden
Schwarzen hielt. Wie ein uniformierter Polizist, der endlich
einen stadtbekannten Raser erwischt hat, bewegte er sich auf
Martin Luther King zu. »Haben Sie was auf den Ohren,
Nigger-Boy?«, meinte er abfällig. »Die Stadt Birmingham hat
ein Demonstrationsverbot verhängt und das gilt auch für
verdammte Nigger wie dich!« Er schob seinen Strohhut in den
Nacken und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß
von der Stirn. Ohne seinen abfälligen Blick von King zu
nehmen, wandte er sich an einige Polizisten: »Nehmt die
Nigger fest und sperrt sie ein!« Er musste grinsen. »Das wär’s
dann wohl, Nigger-Boy! Die Show ist vorbei!«

Audrey sah, wie die Polizisten auf Martin Luther King und

Ralph Abernathy zugingen und die beiden Pastoren an den
Hemdkragen packten. Man fesselte sie mit Handschellen, wie
zwei Schwerverbrecher, und brachte sie zu einem
Lieferwagen. Sie leisteten keinen Widerstand. Auch die
anderen Schwarzen ließen sich willenlos von der Polizei
abführen. Audrey beobachtete einen jungen Mann, der nicht
einmal die Hände hob, als ein Polizist mit dem Schlagstock auf
ihn eindrosch, und zuversichtlich lächelte, als man ihn in den
Lieferwagen stieß. »We shall overcome«, sangen einige
Schwarze selbst jetzt noch.

»Wir werden diesen Kampf gewinnen!«, meinte Betty Ann

zuversichtlich. »Sie können Martin Luther King nicht
besiegen! Nicht einmal mit einer Kugel oder einem Strick

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könnten sie ihn aufhalten! Seine Lehre wird überleben! Hast
du gesehen, wie stolz sie waren, als die Polizei sie abführte?
Martin Luther King. Ralph Abernathy. Irgendwann stehen ihre
Namen in den Schulbüchern…«

Die Mädchen kehrten zur Kirche zurück. Ein Pastor wartete

vor dem Altar und sprach ein Gebet mit ihnen und den anderen
Schwarzen, die diesmal nicht mitmarschiert waren, und erteilte
ihnen den Segen. Im Vorraum verabschiedete sie sich von
Betty Ann. Der Bus nach Bessemer ging in zwanzig Minuten
und Betty Ann hatte ihren Eltern versprochen, über Ostern zu
Hause zu bleiben. Sie hatten nichts dagegen, dass ihre Tochter
bei den Protestaktionen mitmachte. »Pass auf dich auf, du bist
alt genug!«, mehr hatte ihr Vater nicht gesagt. Er war der
Meinung, dass man ab einem bestimmten Alter für sich selbst
verantwortlich war. »Ich hab mit vierzehn auf der Straße
gelebt«, sagte er zu seiner Frau, »du musst dich allein
durchschlagen, wenn du’s zu was bringen willst!« Die Tante
hatte Betty Ann in den Arm genommen und gesagt: »Diese
Protestmärsche sind nichts für kleine Mädchen!«

Nachdem Betty Ann gegangen war, brachte Edward seine

Freundin zum Wagen. »Ich rufe dich an, wenn sich was tut«,
versprach er. »Ich hoffe, es läuft alles so, wie Dr. King sich das
vorstellt.« Er war besorgt und kaum bei der Sache, als Audrey
ihn zum Abschied küsste. »Ich hoffe, wir kriegen das Geld
zusammen. Wyatt will sich mit Harry Belafonte in Verbindung
setzen.«

Audrey stieg ein und kurbelte das Fenster hinunter. »Es wird

schon klappen! Dr. King hat sich alles gut überlegt.« Sie
startete den Plymouth und winkte ihm lächelnd zu, aber er
hatte sich bereits abgewandt und überquerte gedankenverloren
die Straße. Audrey wusste, er machte sich große Sorgen; er
glaubte nicht daran, dass sie den hohen Betrag, den das Gericht
für Kings Freilassung fordern würde, auftreiben konnten. Auch

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ein erfolgreicher Künstler wie Harry Belafonte verfügte nicht
über unbegrenzte Mittel. »Wenn ich nur irgendwas tun
könnte«, stieß sie frustriert hervor. Enttäuscht fuhr sie nach
Hause und parkte vor dem elterlichen Laden. Die Handwerker
waren bereits da gewesen und hatten alle Spuren des Feuers
beseitigt. Es gab eine neue Theke, und auf den Regalen
stapelten sich neue Waren. In der neuen Schaufensterscheibe
spiegelte sich die Sonne. Die SCLC hatte alles bezahlt, gegen
den Willen ihres Vaters, der missmutig brummte, wenn man
ihn auf den Anschlag ansprach und dem Pastor einer
benachbarten Gemeinde Recht gab, der öffentlich gefordert
hatte, dass Martin Luther King und seine Leute die Stadt
verließen.

Am Osterwochenende wurde nicht über dieses Thema

gesprochen, weder bei den Jacksons noch bei den meisten
anderen Familien. Man feierte die Auferstehung des Herrn, saß
mit seinen Verwandten beim Essen zusammen und schwelgte
in Erinnerungen. Emory Jackson erzählte von seinem
Urgroßvater, der im Wilden Westen gelebt hatte und bei einem
Überfall der berüchtigten Dalton-Bande mitgemacht haben
wollte, und Nellie Jackson träumte von der Krone, die sie als
schönstes Mädchen eines High-School-Balls gewonnen hatte.
»Eure Mutter war eine Schönheitskönigin!«, betonte ihr Mann.
»Ich heirate nie«, meinte Alberta, »mir ist es egal, wie ich
aussehe!« Napoleon und Robin waren drüben auf dem
Sportplatz und spielten Baseball.

Audrey war viel zu nervös, um sich an der Unterhaltung zu

beteiligen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu
Edward, den Mitarbeitern von Martin Luther King und den
Menschen im Gefängnis. Wyatt T. Walker, der Sekretär der
SCLC, würde sicher alle Hebel in Bewegung setzen, um einen
größeren Betrag aufzutreiben, und Edward und die Studenten,
die Martin Luther King in Birmingham angeheuert hatte,

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würden ihm dabei helfen. Aber wie erging es Martin Luther
King und Ralph Abernathy in der Zwischenzeit? Würde man
sie fair behandeln oder würde Bull Connor seine Macht
ausnützen und sie misshandeln? Seit sie gesehen hatte, wie der
Polizeichef mit Dr. King umgegangen war, traute sie ihm alles
zu. Und wie wurden die Gefangenen mit dem Druck fertig,
dem sie in der Gefangenschaft ausgesetzt waren? Welche
Gedanken gingen ihnen durch den Kopf? Wenn das Geld nicht
kam, würde man sie wochenlang festhalten. Sie stellte sich vor,
wie Martin Luther King in einer Einzelzelle saß, allein mit der
Dunkelheit und seinen düsteren Gedanken und nur von der
Hoffnung erfüllt, dass Gott auf seiner Seite war und ihn nicht
vergaß. Wie lange würde Dr. King durchhalten? Und was
würden seine Anhänger tun, wenn er im Gefängnis bleiben
musste?

Zum Gottesdienst am Sonntagvormittag zog Audrey ihr

festliches Kleid mit den grünen Rüschen an. Sie war am
Samstag beim Friseur gewesen und hatte sich eine neue
Dauerwelle legen lassen. Mit den dunklen Haaren, die
schwungvoll bis auf ihre Schultern fielen, und dem
breitkrempigen Hut mit der bunten Feder sah sie wie eine
Königin aus. Das behauptete ihre Mutter, als sie aus ihrem
Zimmer kam, und etwas Ähnliches sagte Edward, als er in der
Tür wartete, um Audrey zur Kirche mitzunehmen. Ihre Eltern
hatten nichts dagegen, dass sie mit Edward ging, hatten
allerdings darauf bestanden, dass sie den Nachmittag mit ihrer
Familie verbrachte. »Das gehört sich so, Audrey!«

Im Cadillac küssten sich Audrey und Edward so

leidenschaftlich, dass sie beinahe ihren Hut verloren hätte. Sie
hatte ihn kunstvoll mit schwarzen Nadeln befestigt, damit er
nicht herunterfiel. Sie lachten beide und er sagte: »Du siehst
wunderbar aus, Audrey!«

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Während der Fahrt kehrte die Erinnerung an Martin Luther

King und Ralph Abernathy zurück. Anscheinend war den
Pastoren kein Leid geschehen. Coretta King, die Frau des
Pastors, hatte mit Präsident Kennedy telefoniert und die
Zusicherung bekommen, dass man sich auf höchster Ebene um
die Sache kümmern würde. Harry Belafonte bemühte sich das
Geld aufzutreiben und hatte bereits einige Zusagen. »Die
Sache sieht nicht übel aus«, versicherte Edward, als sie zur
Kirche fuhren, »endlich geschieht etwas. Überall in Amerika
spricht man über Dr. Kings Festnahme. Die Zeitungen
berichten darüber. Sogar in der Chicago Tribune gab es einen
großen Artikel! Jetzt muss sich die Regierung um uns
kümmern!«

Mit neuem Optimismus begleitete Audrey ihren Freund in die

Kirche. Ihr strahlendes Lächeln fiel sogar ihrer Schwester auf,
die leise raunte: »He, du siehst Spitze aus! Wie eine richtige
Lady!« Sie war stolz, am Arm ihres Freundes die Sixteenth
Street Baptist Church zu betreten, und rief fröhlich: »Amen!«,
als der Pastor die Gemeinde begrüßte. Es gab wieder
Hoffnung, das spürte sie ganz deutlich. Dazu passte auch das
halbstündige Konzert, das der Kinderchor nach dem
Gottesdienst gab. Mit fröhlichen Gesichtern standen die Kinder
vor dem Altar und sangen zum Klang der Orgel. »Das
Mädchen ganz links, die mit dem weißen Kleid und der grünen
Schleife, das ist Cynthia!«, flüsterte Audrey ihrem Freund zu.
»Siehst du ihre Freundinnen? Addie Mae, Carol Denise und
Carole. Sie tragen alle grüne Schleifen! Ihr
Erkennungszeichen!«

»Ich wusste gar nicht, dass ihr einen Geheimbund gegründet

habt!«, sagte Edward. »Trägst du deswegen ein grünes Kleid?«

Mit überschwänglichen »Hallelujah!« und »Amen!«

bedankten sich die Erwachsenen bei den Kindern. Vor der
Kirche schlossen die stolzen Eltern ihre Söhne und Töchter in

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die Arme. Wie nach jedem Gottesdienst unterhielt man sich
mit dem Pastor und den anderen Leuten und die heiße Luft war
vom Gelächter der Kirchgänger erfüllt. Doch die Fröhlichkeit
verflog schnell, wenn die Sprache auf Martin Luther King,
Ralph Abernathy und die anderen Menschen im Gefängnis
kam, und nur der Kinder willen bemühte man sich, die gute
Stimmung beizubehalten. Während des Gottesdiensts hatte der
Pastor ein Gebet für die Menschen im Gefängnis gesprochen
und Gott darum gebeten, sie in die Freiheit zu entlassen und
die schwarzen Bewohner von Birmingham vor einer
gewalttätigen Auseinandersetzung mit den Weißen zu
bewahren. Der Pastor der Sixteenth Street Baptist Church
gehörte zu den Menschen, die auf der Seite von Martin Luther
King standen, äußerte seine Meinung aber nicht zu laut, um
nicht das Opfer eines Bombenanschlags zu werden. Sein
Kollege Fred Shuttlesworth war nur knapp dem Tod
entronnen.

Zwei Tage nach Ostern verabredeten sich Audrey und

Edward im Coffee Shop des Gaston Motels. Sie teilten sich ein
Thunfisch-Sandwich und tranken heißen Kaffee. »Ich brauche
dich«, sagte Edward. Er zeigte ihr eine Zeitung, in der acht
Vertreter der führenden Kirchen eine große Anzeige geschaltet
hatten. Ein Bischof der katholischen Kirche, ein Rabbi der
jüdischen Gemeinde, ein anerkannter Reverend der Baptisten
und andere Würdenträger. Sie kritisierten die
Demonstrationen, beschimpften Martin Luther King und seine
Leute als Gesetzesbrecher, Extremisten und Anarchisten.
Audrey schoss das Blut ins Gesicht, als sie die Schmähungen
las. »Das ist nicht fair!«, schimpfte sie aufgebracht. »Wie
kommen diese Männer dazu, uns zu kritisieren? Wollen sie,
dass die Schwarzen unterdrückt werden?« Sie schüttelte den
Kopf, blickte wütend in ihren Kaffeebecher und schien für
einen Augenblick jede Hoffnung verloren zu haben. Ihre

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Stimme wurde leise. »Hat Martin Luther King die Zeitung
gesehen?«

Edward nickte. »Wir haben sie ihm in die Zelle

geschmuggelt, in der Nacht von Sonntag auf Montag. Und
heute hat er geantwortet! Sein Anwalt durfte zu ihm und hat
mir den Brief gegeben.« Er öffnete eine Aktentasche und zog
eine Zeitung, Fetzen von Toilettenpapier und ein paar
Briefumschläge heraus. »Mehr hatte er nicht.« Die
Zeitungsränder und die Papierfetzen waren dicht beschrieben.
»Ich wollte dich bitten, die Schnipsel in die richtige
Reihenfolge zu bringen und den Brief abzuschreiben. Ich hab
eine Schreibmaschine in meinem Zimmer stehen. Wegen der
Kurzgeschichte, du weißt schon!« Er lächelte kurz. »Würdest
du das tun? Jetzt gleich? Ich will den Brief so schnell wie
möglich an die Kirchenmänner schicken und an einige
Zeitungen verteilen.«

Natürlich erklärte Audrey sich bereit, seine Bitte zu erfüllen.

Sie gingen in sein Zimmer und sie setzte sich an den kleinen
Schreibtisch neben dem Fenster und spannte ein weißes Blatt
Papier in die Maschine. Martin Luther Kings Schrift war
einfach zu lesen, selbst auf dem zerknitterten Toilettenpapier.
Sie suchte nach dem Anfang des Briefes und legte los: »Meine
lieben Amtsbrüder: Hier im Gefängnis von Birmingham kam
mir Ihr Schreiben in die Hände, in dem Sie unsere Aktivitäten
als ›unklug und zeitlich ungelegen‹ bezeichnen.« Im ersten
Teil seines langen Briefes erklärte Martin Luther King den
Kirchenmännern, warum er nach Birmingham gekommen war.
Sie hatten ihm vorgeworfen, sich in die Angelegenheiten
anderer Gemeinden einzumischen. »Ich kann nicht untätig in
Atlanta herumsitzen ohne mich darum zu kümmern, was in
Birmingham geschieht. Wenn irgendwo Unrecht geschieht, ist
überall die Gerechtigkeit in Gefahr. Wer in den Vereinigten
Staaten lebt, kann nirgendwo innerhalb seiner Grenzen als

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Außenseiter angesehen werden.« Auf die Frage, ob
Verhandlungen denn nicht besser gewesen wären, antwortete
er: »Gerade das ist ja der Zweck unserer gewaltlosen
Handlungsweise: Sie will eine Krise herbeiführen, um damit
eine Stadt, die sich bisher hartnäckig gegen Verhandlungen
gewehrt hat, zu zwingen, sich mit den Problemen zu
beschäftigen.«

Audrey merkte kaum, wie Edward das Zimmer verließ und

mit Kaffee zurückkehrte. Er stellte ihr wortlos den Becher hin
und ging wieder nach draußen. Sie war von den eindringlichen
Worten des Pastors tief beeindruckt und ahnte schon beim
Schreiben, dass dieser Brief aus dem Gefängnis von
Birmingham eine große Wirkung haben würde. Vielleicht sind
Worte doch stärker als Taten, überlegte sie. Besonders
beeindruckt war sie von dem Satz: »Die Völker Asiens und
Afrikas bewegen sich mit der Geschwindigkeit von
Düsenjägern auf das Ziel politischer Unabhängigkeit zu, wir
aber kriechen noch im Tempo eines Einspänners dahin, um
eine Tasse Kaffee in einem Drugstore trinken zu dürfen.«
Martin Luther King fuhr fort: »Sicherlich ist es für die
Menschen, die den quälenden Stachel der Rassentrennung nie
gespürt haben, sehr leicht, ›Warte!‹ zu sagen. Aber wenn Sie
erlebt haben, wie der brutale Mob Ihre Väter und Mütter, Ihre
Brüder und Schwestern nach Laune lyncht und ertränkt; wenn
Sie gesehen haben, wie hasserfüllte Polizisten ungestraft Ihre
schwarzen Brüder und Schwestern beschimpfen, mit Füßen
treten, misshandeln und sogar umbringen; wenn Ihnen
plötzlich die Zunge nicht mehr gehorcht und Sie bei dem
Versuch, Ihrer sechsjährigen Tochter zu erklären, warum sie
nicht in den Vergnügungspark gehen darf, für den gerade im
Fernsehen geworben wurde, zu stammeln anfangen und Sie
Tränen in ihren Augen aufsteigen sehen; wenn sie hört, dass
farbige Kinder den Park nicht betreten dürfen; wenn Sie tagein,

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tagaus durch die quälenden Schilder ›Nur für Weiße‹ und ›Nur
für Schwarze‹ gedemütigt werden; wenn Sie immer wieder
gegen das erniedrigende Gefühl ankämpfen müssen, ein
Niemand zu sein – dann werden Sie verstehen, warum es uns
so schwer fällt zu warten!«

Auf vielen Seiten erklärte Martin Luther King den

Geistlichen seine Motive. Auf den Vorwurf, ein Extremist zu
sein, der auch zu äußersten Mitteln griff, um sein Ziel zu
erreichen, antwortete er: »War nicht Jesus ein Extremist der
Liebe? ›Liebet eure Feinde! Segnet die, die euch verfluchen!
Tut wohl denen, die euch hassen!‹ War nicht Abraham Lincoln
ein Extremist? »›Diese Nation kann nicht weiterleben – zur
Hälfte Sklaven, zur Hälfte Freie!‹« Er beklagte sich über die
Rolle der weißen und der schwarzen Kirche, weil sie ihn nicht
unterstützte. »Um des Friedens und der Brüderlichkeit willen,
Ihr Martin Luther King«, schloss er den Brief.

Audrey lehnte sich zurück und trank von dem Kaffee, der

inzwischen lauwarm geworden war. Sie las den Brief noch
einmal durch und nickte zufrieden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte
sie noch nicht, dass bereits einige Tage später über eine
Million Menschen den Brief aus dem Gefängnis von
Birmingham gelesen haben würden. Und dass eine
Entscheidung dicht bevorstand.

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25



Am 20. April durften Martin Luther King und Ralph
Abernathy das Gefängnis verlassen. Harry Belafonte hatte eine
größere Geldsumme gesammelt, um die Anführer des Project
C aus der Gefangenschaft zu befreien. Wyatt T. Walker holte
die beiden Pastoren vom Gefängnis ab und brachte sie zum
Gaston Motel, wo Audrey, Betty Ann, Edward und die
Mitarbeiter der SCLC auf sie warteten. Sie sangen »We shall
overcome« und klatschten rhythmisch, als die Pastoren
eintraten. Fred Shuttlesworth, der während der letzten Tage
stark abgenommen hatte, umarmte die Freunde und sagte:
»Willkommen zu Hause!«

Doch Martin Luther King wollte von einer Wiedersehensfeier

nichts wissen. Er nahm ein paar Bissen von einem Sandwich,
trank von dem Kaffee, den man ihm anbot, und war mit seinen
Gedanken schon wieder bei Project C. Seine Vertrauten
berichteten, was in der Zwischenzeit passiert war, und
vergaßen nicht, den überwältigenden Erfolg seines Briefes aus
dem Gefängnis von Birmingham zu erwähnen. Dann raffte
King sich auf und sprach zu den Versammelten: »Meine
Freunde, ich danke euch für die Unterstützung und die Gebete.
Ich freue mich, wieder bei euch zu sein. Aber unser Kampf
gegen die Unterdrückung ist noch nicht zu Ende! Obwohl die
Medien von unseren Aktionen berichten und mein Brief in den
größten Zeitungen des Landes zu lesen ist, sind wir keinen
Schritt weitergekommen. Es wird Zeit, die Schüler auf die
Straße zu schicken! Natürlich wird man uns deswegen
kritisieren! Aber wir brauchen eine neue Dimension, wenn wir
Erfolg haben wollen!«

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Audrey gehörte zu den Mitarbeitern von Martin Luther King,

die während der folgenden Tage in die Schulen gingen und die
Kinder baten, ihr nach dem Unterricht in der Eingangshalle
zuzuhören. Sie erzählte ihnen von dem kühnen Plan und war
überrascht, mit welcher Begeisterung die Kinder bereit waren,
an den Demonstrationen teilzunehmen. Sie betrachteten
Project C als großes Abenteuer, sahen aber auch den ernsten
Hintergrund und waren sich der Gefahr bewusst, in die sie sich
begaben. »Wir wollen die gleichen Rechte wie die weißen
Kinder haben«, rief ein Junge und ein Mädchen antwortete:
»Ich will in den Vergnügungspark, ich will endlich in den
Vergnügungspark!« Im Schulhof beobachtete Audrey, wie ein
Vater eindringlich auf seinen Sohn einredete und ihm verbot,
an den Friedensmärschen teilzunehmen. »Daddy«, antwortete
der Junge, »ich will dir nicht widersprechen, aber ich habe
einen Schwur geleistet. Wenn du mir Hausarrest gibst, klettere
ich aus dem Fenster! Ich mache nicht nur mit, weil ich frei sein
will. Ich will Freiheit für dich und Mama und ich will, dass ihr
diese Freiheit erlebt, bevor ihr sterbt!«

Die Mitarbeiter der SCLC brachten den Kindern bei, was

gewaltloser Widerstand bedeutete, und man setzte den 2. Mai
für den ersten Protestmarsch fest. »D-Day«, scherzte ein
Lehrer, in Erinnerung an den legendären Tag, an dem die
Alliierten während des Zweiten Weltkriegs in Europa gelandet
waren, und der Name prägte sich allen ein. Audrey und Betty
Ann gehörten zu den Betreuern der vielen Kinder, die sich am
Nachmittag des 2. Mai in der Sixteenth Street Baptist Church
und in vielen anderen Kirchen des Schwarzenviertels
versammelten. Sie redeten mit ihnen, machten ihnen Mut und
stellten erstaunt fest, dass die Kinder keinen Zuspruch
brauchten. Ihr jugendlicher Enthusiasmus nahm ihnen alle
Angst. Sie waren bereit, für eine bessere Zukunft auf die
Straße zu gehen und Schmerzen zu ertragen. »Nehmt euch ein

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Beispiel an diesen Kindern!«, predigte Martin Luther King am
selben Abend. »Ihre Herzen waren voller Fröhlichkeit, als sie
von den Polizisten in die Lieferwagen gestoßen wurden! Habt
ihr das Mädchen gesehen, sieben oder acht Jahre alt, das mit
seiner Mutter marschierte? Ein Polizist beugte sich belustigt zu
ihr herab und fragte mit vorgetäuschter Strenge: ›Was willst
du?‹ Das Mädchen blickte ihn unerschrocken an und
antwortete: ›Freiheit!‹ Selbst die Trompete des Erzengels
Gabriel hätte in diesem Augenblick nicht lauter erklingen
können!« Beinahe tausend Kinder wurden an diesem Tag mit
Lieferwagen, Schulbussen und Streifenwagen in die
Gefängnisse gebracht.

Am nächsten Tag, einem Freitag, war eine neue

Demonstration angesetzt und wieder kamen die Kinder in
Scharen. Die Bewegung hatte alle Schwarzen ergriffen und
selbst Audreys Vater räumte beim Frühstück ein, dass Martin
Luther King mit seinen Protesten etwas bewegte: »Ich weiß
nicht, ob es richtig ist, unsere Kinder einer so großen Gefahr
auszusetzen, aber er hat etwas mit seinem gewaltlosen
Widerstand erreicht. Im Fernsehen kommt nichts anderes
mehr. Eine Kundin hat mir gesagt, dass Birmingham auf der
Titelseite der New York Times war! Heiliger Moses, vielleicht
hat dieser Martin Luther King doch Recht!«

»Danke, Daddy!« Audrey lächelte glücklich und drückte die

Hand ihrer Mutter, als sie das Haus verließ. Sie fuhr zur
Sixteenth Street Baptist Church und parkte hinter dem
Gebäude. Sie betrat die Kirche durch den Hintereingang. In
einem Nebenraum stand Betty Ann und rauchte nervös. Beide
Mädchen hatten beschlossen, an diesem Tag selbst an dem
Friedensmarsch teilzunehmen. »Da draußen wartet jemand auf
dich«, meinte sie.

»Edward?«, fragte Audrey erstaunt. Ihr Freund hatte während

der Mittagspause in der Schule angerufen und ihr gesagt, dass

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er die Kinder in einer anderen Kirche betreuen würde. »Hab
keine Angst«, meinte er aufmunternd, »wir sind kurz vor dem
Ziel!«

Sie betrat die Kirche und blieb verwundert stehen. Im

Mittelgang, nur ein paar Schritte vom Altar entfernt, wartete
Jay-Jay. Er hielt seine neue Baseballkappe in einer Hand und
grinste frech. »Hi, Audrey«, meinte er, »wie geht’s immer so?
Ich hab gehört, ihr braucht Leute, die keine Angst haben! Nun,
hier bin ich!« Er wurde ernst. »Ihr habt doch nichts dagegen,
dass ich mitmache?«

»Jungs wie dich können wir immer brauchen«, antwortete

Audrey. Sie ging auf Jay-Jay zu und umarmte ihn erfreut. Ihm
war offensichtlich nicht besonders wohl dabei. »Wo bist du die
ganze Zeit gewesen, Jay-Jay? Ich dachte schon, du wärst nach
Brooklyn zurückgegangen! Hier war so viel los, da hatten wir
gar keine Zeit, nach dir zu suchen! Du hattest doch keinen
Ärger mit dem Klan?«

Er löste sich von ihr und fuhr sich mit der freien Hand durch

die Haare. »Dann wär ich wohl kaum noch am Leben! Nee, ich
kenn Verstecke, von denen hat der Klan noch nie was gehört!
Und meine Stammkunden haben mich über Wasser gehalten.«
Er deutete mit dem Daumen auf die vielen anderen Kinder, die
sich in der Kirche versammelt hatten. »Ihr habt ordentlich was
in Gang gebracht! Auf der Fourth Avenue sagen sie, dass die
Kaufleute in der Innenstadt kurz davor sind, in die Knie zu
gehen! Lange halten die nicht mehr durch, das ist mal sicher.
Was läuft heute?«

Audrey erklärte ihm, dass der Protestmarsch in die Innenstadt

führen sollte und man es darauf anlegte, möglichst viele
Kinder von der Polizei verhaften zu lassen. »Wenn kein Platz
mehr in den Gefängnissen ist, muss irgendwas geschehen, sagt
Dr. King.«

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»Wenn er sich da mal nicht ins eigene Fleisch schneidet«,

erwiderte Jay-Jay. »Ich hab die Cops belauscht. Die sind
richtig sauer auf euch und wollen sogar auf Kinder
einschlagen! Die Leute vom Rat Killer sagen, dass Bull
Connor die Hunde von der Leine lassen will! Bull macht
keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen! Der
legt uns um, wenn es sein muss!«

»Und du willst trotzdem mitmachen?«
Er fand sein freches Grinsen wieder. »So schnell lass ich

mich nicht unterkriegen! Wer soll die Kids denn bei Laune
halten, wenn ich nicht dabei bin?« Er deutete auf einige
Kinder. »Die kippen doch aus den Latschen, wenn sie in den
Knast kommen!«

»Du weißt, was dich erwartet?«
»Vielleicht besser als ihr alle! Und es würde mich in den

Fingern jucken, den verdammten Cops eine Bombe in den
Wagen zu werfen!« Er lachte, als er Audreys erschrockene
Miene sah. »Keine Angst, ich hab keine dabei! Auch keine
Knarre und kein Messer! Ich hab den Brief gelesen, den Martin
Luther King aus dem Knast geschrieben hat! Na ja, nicht alles,
hab nur die Hälfte verstanden. Das Ding war in der Zeitung
abgedruckt, mit der ich mich gestern Nacht zugedeckt hab. Ich
will sehen, ob er Recht hat, verstehst du? Ich will dabei sein,
wenn die Weißen in die Knie gehen! Vielleicht nehm ich dann
sogar einen richtigen Job an. Wenn ich wirklich so viel Zaster
bekomm wie die Weißen…«

Audrey und Betty Ann marschierten in der ersten Reihe.
Gleich dahinter gingen Jay-Jay und einige Jungen aus der

Ullman High. »We shall all be free some day«, sangen die
Kinder. Jay-Jay war der Einzige, der den Text von »We Shall
Overcome« nicht auswendig kannte. Audrey drehte sich alle
paar Meter nach dem Jungen um. Sein zuversichtliches
Grinsen machte ihr Mut. Jay-Jay schien am wenigsten Angst

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vor der Polizei zu haben, obwohl er am meisten zu befürchten
hatte. Wenn einer der Polizisten mit dem Klan unter einer
Decke steckte und ihn erkannte, war er in höchster Gefahr.
Audrey wurde übel, als sie daran dachte, dass der Klan ihn
erwischen könnte.

Die Polizisten warteten zwischen der 18th und 19th Street

und schon beim ersten Blick in ihre grimmigen Gesichter
erkannte Audrey, dass es diesmal besonders schlimm werden
würde. Die uniformierten Männer wirkten entschlossener als
sonst und hatten Mühe, ihre Hunde unter Kontrolle zu halten.
Die Schäferhunde zerrten wütend an den Leinen und zeigten
ihre scharfen Zähne. Quer über der Straße parkte ein
Spritzenwagen. Die Feuerwehrleute hielten den schweren
Schlauch und schienen darauf zu warten, dass jemand »Wasser
los!« brüllte. An der 19th Street standen einige Schaulustige.
»Brennt es irgendwo?«, fragte eine ältere Dame verwundert.
Ein junger Mann schüttelte den Kopf. »Wie im Krieg! Und ich
dachte, die lassen nur noch Kinder marschieren!«

»Verdammt, das wird ‘ne harte Sache!«, hörte Audrey die

Stimme von Jay-Jay. »Ich hätt mir ‘nen Regenmantel klauen
sollen!«

Im gleichen Augenblick wurden Befehle gebrüllt und in der

Innenstadt von Birmingham brach das Inferno los. Wütende
Polizisten stürzten sich mit erhobenen Gummiknüppeln auf die
Kinder und die Erwachsenen, die sich dem Protestzug
angeschlossen hatten. Ein geifernder Hund riss sich von der
Leine und fiel ein schreiendes Mädchen an. Jay-Jay versetzte
dem Hund einen Fußtritt und schob das Kind in die Arme eines
Erwachsenen. Aus einem Megafon tönte der blecherne Befehl
»Wasser los!« und aus dem Schlauch schoss ein dichter
Wasserstrahl, der sich wie ein mächtiges Schwert in die Masse
der Demonstranten bohrte. Die Wucht des Wassers warf
mehrere Kinder zu Boden, trieb sie wie Abfall über den

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Asphalt und schleuderte sie gegen parkende Autos. Einigen
Kindern riss der Wasserstrahl die Kleider vom Leib. »Zeigt es
den verdammten Niggern!«, rief jemand.

Der Refrain von »We Shall Overcome« erstarb in dem

höllischen Lärm. Audrey stolperte und fiel zu Boden, riss sich
das rechte Knie auf und wurde von dem Wasserstrahl
getroffen. Sie wurde über die Straße gepeitscht, prallte gegen
eine Hauswand und spürte, wie die Luft aus ihrem Körper
gepresst wurde. Einen Augenblick war sie unfähig zu denken
oder sich zu bewegen. Sie versank in tiefschwarzer Dunkelheit,
hörte die Schreckensschreie der Kinder wie aus weiter Ferne.
Dann wurde der Druck schwächer und sie öffnete die Augen.
Ein paar Meter vor ihr lag Betty Ann. Sie klammerte sich mit
beiden Händen an die Stoßstange eines Chevy und schien mit
ihren Schreien das Tosen des Wassers und das Bellen der
Hunde übertönen zu wollen. Der Wasserstrahl drückte eine
Fensterscheibe des Wagens ein und wanderte weiter, ließ sie
triefend und weinend auf der Straße zurück. Audrey kroch zu
ihr und nahm sie in den Arm, strich ihr das Wasser aus dem
Gesicht und sagte: »Du bist okay, Betty Ann!«

In die Schreckensrufe der Kinder mischte sich das Heulen der

Polizeisirenen. Audrey blickte auf und beobachtete, wie die
ersten Kinder zu den Lieferwagen und Schulbussen gebracht
wurden. Das entsetzte Gesicht eines jungen Mädchens brannte
sich in ihr Gedächtnis. Sie stand offensichtlich unter Schock,
sie konnte nicht weinen oder schreien und wurde von einem
Polizisten in einen Schulbus gestoßen. »Bringt das verdammte
Niggerpack zum Gefängnis!«, rief ein Sergeant. »Macht
schon! Befehl von oben!«

Aus der Gischt, die wie trüber Nebel über der Straße hing,

torkelte Jay-Jay auf sie zu. Er schaffte es hinter den Chevy und
hielt sich an einem Kotflügel fest. »So ‘ne Scheiße hab ich
noch nie erlebt!«, stieß er keuchend hervor. Er drehte den Kopf

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und sah Audrey und Betty Ann auf dem Boden sitzen. »He,
seid ihr okay? Habt ihr gesehen, wie sie dem Mädchen die
Kleider runtergerissen haben? Mann, wenn ich eine Knarre
hätte, würde ich sie alle erschießen! Warum wehren wir uns
nicht, verdammt? Die bringen uns alle um!« Der Wasserstrahl
trommelte erneut auf den Chevy und er ging blitzschnell hinter
dem Wagen in Deckung.

Als er den Kopf hob, sah er zwei Gespenster aus dem

Wassernebel auftauchen. Zwei dunkle Gestalten, die aufgeregt
auf die beiden Mädchen deuteten. Steve Goblett und Duncan
Mills! Sie scherten sich einen Teufel um die Anordnung des
Klan, sich vorerst aus dem Kampf herauszuhalten, und waren
begierig darauf, sich an den »verdammten Niggern« zu rächen.
»Siehst du die Schlampe?«, rief Duncan Mills in den Lärm.
»Die schickt uns der Himmel, Mann! Diesmal machen wir sie
fertig!«

Jay-Jay reagierte blitzschnell. Er rannte zu den beiden

Mädchen und zog sie vom Boden hoch. »Schnell! Weg hier!«,
rief er ihnen zu. »Da kommen die beiden Typen, die dich
umbringen wollten!«

Audrey drehte sich um und sah die hassverzerrten Gesichter

der jungen Klansmänner. Sie kamen über die Straße gerannt,
waren keine zwanzig Meter von ihnen entfernt. Vor lauter
Entsetzen war sie unfähig sich zu bewegen. Diesmal haben sie
mich, schoss es ihr durch den Kopf, die Mistkerle bringen
mich um!

Ausgerechnet ein Wasserstrahl des Birmingham Fire

Department rettete ihr das Leben. Er fegte wie ein Irrwisch
über die Seventh Avenue und riss Steve Goblett und Duncan
Mills von den Beinen. Fluchend landeten sie zwischen den
schreienden Kindern. »Worauf wartet ihr noch, verdammt?«,
schrie Jay-Jay die Mädchen an. »Wo hast du den Plymouth

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stehen, Audrey? Du hast den Wagen doch dabei, oder? Mach
schon, wir schaffen es!«

Zu dritt flohen sie vor den wütenden Klansmännern. Der

Wasserstrahl hatte sie hart getroffen und bei jedem Schritt
verspürten sie brennende Schmerzen. Zum Glück war keiner
von ihnen ernsthaft verletzt. Außer ein paar blutigen
Schrammen und der Übelkeit, die der Wasserstrahl
hinterlassen hatte, war ihnen nichts passiert. Sie rannten zur
Sixth Avenue und in den Kelly Ingram Park und blieben
erschöpft neben einem Baum stehen. Als sie sich umdrehten,
waren die Klansmänner nicht mehr zu sehen.

»Wo sind die Scheißkerle?«, rief Jay-Jay verwundert. Er

atmete schwer und hielt sich seinen rechten Oberschenkel. Der
Wasserstrahl hatte ihn härter getroffen, als er angenommen
hatte. »Verdammt, die Typen haben sich doch nicht in Luft
aufgelöst?«

»Wir haben sie abgehängt«, hoffte Betty Ann.
»Das glaubst du doch selbst nicht«, meinte Audrey.
Jay-Jay deutete zur 17th Street. »Da sind sie! Sie haben den

Pick-up geholt!« Sie rannten weiter. »Der Wagen, Audrey! Wo
steht dein Wagen? Wenn wir den nicht erreichen, sind wir
geliefert!«

»Hinter der Kirche!«, keuchte Audrey.
Sie stürmten auf die andere Seite des Parks, zur l6th Street,

und blieben unschlüssig am Straßenrand stehen. Jay-Jay
deutete auf eine Lücke zwischen den Häusern. »Da durch! Da
gibt’s einen Hinterhof! Da können wir uns verstecken!« Die
Mädchen folgten Jay-Jay durch den schmalen Gang und
erreichten einen schmutzigen Abstellplatz voller Abfall. Neben
der Tonne, die hoffnungslos überfüllt war, lag eine verrostete
Nähmaschine. Eine Ratte verschwand unter einem Gestrüpp.
Ein baufälliger Holzzaun trennte den Abstellplatz von der
Straße.

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»Hier sind wir sicher!«, glaubte Jay-Jay. Doch kaum waren

sie wieder zu Atem gekommen, hielt der weiße Pick-up mit
quietschenden Bremsen vor dem Haus und sie waren
gezwungen, so schnell wie möglich zu verschwinden. Jay-Jay
trat den Holzzaun ein und sie flohen in panischer Angst auf die
Sixth Avenue.

In Windeseile rannten sie zu dem Wagen. Audrey sperrte mit

zitternden Händen die Fahrertür auf und sie saßen in dem
Plymouth und verriegelten die Türen, noch bevor Steve
Goblett und Duncan Mills sie entdeckt hatten. Audrey
versuchte mehrmals die Zündung anzuwerfen, verzweifelte
fast, als der Motor nicht ansprang, und ließ ihn laut aufheulen,
als er endlich reagierte.

Sie drückte den Schalthebel nach oben und gab Gas. Der

Wagen schoss nach vorn und streifte den Bordstein. Sie ließ
ihn auf die Sixth Avenue schlittern ohne das Gas
wegzunehmen und hätte beinahe einen weißhaarigen Mann
über den Haufen gefahren, der mit zwei Taschen beladen über
die Straße schlich. Mit schweißnassem Gesicht fuhr sie weiter.
Als sie in den Rückspiegel blickte, sah sie den weißen Pick-up.
»Jetzt haben sie uns!«, stöhnte sie.

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26



Von panischer Angst getrieben, lenkte Audrey den Wagen aus
der Stadt hinaus. Sie hielt das Lenkrad mit beiden Händen
umklammert und trat das Gaspedal voll durch. Aus ihren
Haaren triefte das Wasser. Neben ihr saß Betty Ann und hielt
sich am Armaturenbrett fest. Auf der Rückbank kauerte Jay-
Jay, die nasse Mütze in der Stirn. Wie er es geschafft hatte, sie
in dem Chaos nicht zu verlieren, wusste er selbst nicht. Sie
waren erschöpft und die Mädchen litten unter den
Nachwirkungen der wuchtigen Schläge, die sie von dem
Wasserstrahl abbekommen hatten. Betty Ann rang keuchend
nach Luft und beruhigte sich nur langsam. Audrey hatte das
Gefühl, einen schweren Faustschlag in die Magengrube
bekommen zu haben. Sie war nahe daran, sich zu übergeben.
Jay-Jay rief: »Schneller, Audrey! Fahr schneller! Die
Scheißkerle sind dicht hinter uns!«

Der weiße Pick-up nahm fast den ganzen Rückspiegel ein.

Wie ein wildes Tier, das eine wehrlose Beute verfolgte, hing er
hinter dem Plymouth. Audrey schnitt die Kurven ohne auf den
Gegenverkehr zu achten, ging selbst an einer belebten
Kreuzung nicht vom Gas. Ein Radfahrer stürzte vor Schreck zu
Boden, ein Fußgänger schüttelte drohend die Faust und der
Fahrer eines Lieferwagens konnte gerade noch rechtzeitig
bremsen. Von der Polizei war weit und breit nichts zu sehen.
Die meisten Polizisten waren zu den Demonstrationen in der
Innenstadt beordert worden und so gab es niemanden, der sie
aufhalten konnte.

Aus der Second Avenue tauchte ein Bus auf und Audrey riss

mit aller Kraft das Steuer nach links. Der Plymouth geriet ins

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Schleudern und legte sich bedrohlich auf die Seite. Der
Busfahrer trat auf die Bremse und hupte laut. Audrey schaffte
es, den Wagen unter Kontrolle zu bringen, und bog auf den
Highway nach Montgomery ab. Auf ihrer Stirn glänzte der
Schweiß. Ein rascher Blick in den Rückspiegel verriet ihr, dass
Steve Goblett und Duncan Mills noch hinter ihnen waren. »Die
geben nicht auf, Audrey!«, rief Jay-Jay. Er starrte durch das
Rückfenster und glaubte zu sehen, wie einer der beiden
Klansmänner nach einer Schrotflinte griff. »Die wollen auf uns
schießen! Wir müssen sie abhängen!«

»Schneller geht’s nicht, verdammt! Der Wagen ist zu

langsam!« Audrey saß nach vorn gebeugt hinter dem Steuer,
als könnte sie den Wagen durch ihre Haltung beschleunigen,
und raste an einigen verfallenen Häusern vorbei. Ihr Blick ging
zu Betty Ann, die zitternd auf dem Beifahrersitz kauerte und
zum ersten Mal richtige Angst zu haben schien. Im
Innenspiegel waren die geweiteten Augen von Jay-Jay zu
sehen. »Wir müssen es schaffen!«, stieß sie hervor. »Die
Klansmänner dürfen nicht gewinnen!«

Die Sorge um Betty Ann und Jay-Jay verlieh Audrey neue

Kraft. Mit der linken Hand wischte sie sich den Schweiß vom
Gesicht. Im Seitenspiegel tanzte der weiße Pick-up. Sie würde
sich von diesen Klansmännern nicht wie ein wehrloses Kalb
zur Schlachtbank führen lassen! Sie würde kämpfen! Vielleicht
gelang es Betty Ann und Jay-Jay, in den Wald zu fliehen,
wenn sie anhielt und auf ihre Verfolger losging! In diesem
Augenblick hatte sie keine Angst vor dem Tod. Die Sorge um
ihre Freundin und den Jungen war größer als alle Furcht. Einen
Augenblick dachte sie an die Worte ihres Vaters, der sie
eindringlich davor gewarnt hatte, sich mit dem Ku-Klux-Klan
einzulassen.

Etwas Schweres schlug gegen ihren Wagen. »Sie rammen

uns!«, rief Jay-Jay von der Rückbank. Sie blickte in den

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Spiegel und sah, wie der Kleinlaster immer näher kam und mit
voller Wucht gegen ihre Stoßstange prallte. Der Plymouth
wurde nach vorn geschleudert. Sie behielt die Kontrolle über
ihren Wagen und drückte noch fester auf den Gashebel. »Der
Pick-up ist stärker!«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Gleich
überholen sie uns!«

Sie blickte nach vorn, zermarterte sich das Hirn nach einem

Ausweg. Eine halbe Meile vor ihr wand sich der Highway in
zahlreichen Kurven zum Red Mountain hoch und verschwand
zwischen den Bäumen. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit
gab, den Verfolgern zu entkommen, dann in dem Wäldchen.
Vielleicht gelang es ihr, den Wagen auf einen Waldweg zu
steuern und einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Dann
konnten sie sich im Unterholz verstecken oder sie konnte die
Klansmänner ablenken und Betty Ann und Jay-Jay die Flucht
ermöglichen. »Haltet euch gut fest!«, rief sie ihnen zu, als sie
den Wald erreichten. Sie drehte das Steuer nach rechts,
schlitterte mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen
in einen schmalen Waldweg und brachte den Wagen auf der
zerfurchten Piste in die Spur.

Ihr Manöver kam so plötzlich, dass die Verfolger an der

Abzweigung vorbeifuhren und mitten auf dem Highway
wenden mussten, um dem Plymouth folgen zu können. Aber
das sah Audrey nicht. Ihr Wagen war in eine dichte
Staubwolke gehüllt und sie hoffte, dadurch etwas Abstand zu
ihren Verfolgern zu gewinnen. »Kennst du dich hier aus, Betty
Ann?«, rief sie ihrer Freundin zu. Die schüttelte nur den Kopf,
stützte sich mit beiden Händen am Armaturenbrett ab und
schrie schmerzerfüllt auf, als der Plymouth über einige Steine
polterte und sie nach vorn geschleudert wurde. »Bist du
okay?«, rief Audrey ängstlich und Betty Ann nickte.

Plötzlich war der Wald zu Ende. Audrey erkannte beinahe zu

spät, dass der Weg scharf nach rechts abbog. Sie trat heftig auf

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die Bremse. Der Plymouth pflügte durch das Unterholz, prallte
gegen einen Baum, drehte sich einmal um die eigene Achse
und blieb mit qualmenden Bremsen im Gestrüpp stehen.
Audrey sank über dem Lenkrad zusammen und weinte leise.
Betty Ann stöhnte vor Schmerzen. »Verdammt! Ich hab was
abbekommen!«, fluchte Jay-Jay. Er griff sich an die blutende
Stirn. Eine gewaltige Staubwolke zog durch den Wald und
legte sich über den Wagen. Obwohl alle Fenster geschlossen
waren, drang Staub in den Innenraum und brachte Audrey,
Betty Ann und Jay-Jay zum Husten.

Den weißen Pick-up sahen sie kaum. Wie ein dunkler

Schatten röhrte er durch den Staub und in die felsige Schlucht,
die sich unterhalb der scharfen Kurve auftat. Steve Goblett war
viel zu überrascht um zu schreien. Duncan Mills ließ die
Schrotflinte fallen und starrte in den Abgrund, der mit rasender
Geschwindigkeit näher kam. Der Pick-up prallte gegen einen
Felsvorsprung, knallte mit voller Wucht auf dem felsigen
Grund auf und explodierte in einer gewaltigen Feuerwolke.
Die Klansmänner waren längst tot, als die Flammen
aufloderten und ihren Wagen verschlangen.

Audrey, Betty Ann und Jay-Jay traten an den Rand der

Schlucht und blickten benommen in die Tiefe. Sie fühlten kein
Mitleid mit den Toten, aber auch keinen Triumph über ihr
unfreiwilliges Manöver und ihren Sieg. Gott hatte die jungen
Klansmänner gerichtet. Er hatte ihr Lenkrad geführt, als sie in
den Waldweg abgebogen waren. »Gegen die beiden hätte auch
Martin Luther King keine Chance gehabt«, sagte Betty Ann
heiser, »die hätten sich niemals bekehren lassen! Deshalb hat
Gott sie in den Tod getrieben!«

Jay-Jay presste ein Taschentuch auf seine Wunde. »Was

machen wir jetzt?«, fragte er. »Die sperren uns in die
Todeszelle, wenn sie rausbekommen, dass wir dabei waren!

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Die drehen die Sache so, dass wir schuldig sind! Die machen
uns fertig, Mann!«

»Zuerst bringen wir dich zu Doc Snyder«, sagte Audrey, die

sich erstaunlich schnell von ihrem Schrecken erholt hatte. »Er
soll deine Wunde nähen.« Sie deutete auf seine blutige Stirn.
»Ist sicher nur eine Platzwunde, aber sicher ist sicher. Und
dann liefere ich dich höchstpersönlich bei deiner Tante ab!
Solange die Friedensmärsche laufen, bist du bei ihr am
sichersten! Wenn du ihr nicht auf die Nerven gehst, wird sie
dich wie einen erwachsenen Menschen behandeln, das hat sie
mir hoch und heilig versprochen!«

»Na toll«, meinte Jay-Jay, der sich immer wieder nach vorn

beugte und in die Schlucht hinabblickte. Aus dem Wrack des
Pick-ups stieg dunkler Qualm. »Tante Amanda, die fehlte mir
noch! Ich hab keine Lust, auf dieser verdammten Farm zu
versauern!«

»Ist doch nur für ein paar Wochen«, redete Audrey auf ihn

ein. »Sobald die Protestmärsche vorüber sind, kannst du
machen, was du willst! Dann ist die Polizei vielleicht auf
unserer Seite. Die Cahaba Boys sind immer noch hinter dir her,
vergiss das nicht!«

Jay-Jay kehrte langsam zum Wagen zurück. »Meinetwegen.

Die letzten Tage waren wirklich ein bisschen stressig. Aber
nur, wenn sie mich in Ruhe lässt!« Er blieb vor dem zerbeulten
Wagen stehen. »Und was ist, wenn wir hier nicht
rauskommen?«

Doch der Plymouth lief noch und es bereitete Audrey kaum

Schwierigkeiten, ihn auf den Waldweg zurückzulenken. Außer
ein paar Dellen hatte er nichts abbekommen. Sie fuhr nach
Birmingham zurück und lieferte Jay-Jay bei Doc Snyder ab.
Der Arzt verzog mürrisch das Gesicht, als er den Jungen
erblickte, und stöhnte: »Jay-Jay! Bist du unter eine
Dampfwalze gekommen?«

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»Wir waren in der Stadt dabei«, antwortete Audrey. Sie

hütete sich von der Verfolgungsjagd im Wald zu erzählen und
hatte auch Betty Ann und Jay-Jay eingeschärft, darüber zu
schweigen. Sie blickte an sich herunter. »Deshalb sehen wir so
furchtbar aus! Sie haben das Wasser aufgedreht und die Hunde
losgelassen! Wir haben noch Glück gehabt!« Sie deutete auf
den Jungen, der inzwischen auf einem Stuhl saß und die
Untersuchung des Arztes widerwillig über sich ergehen ließ.
»Ist es schlimm?«

»Eine Platzwunde«, bestätigte Doc Snyder. »Aber es könnte

sein, dass er eine leichte Gehirnerschütterung hat. Ich behalte
ihn besser eine Nacht hier.« Er grinste in sich hinein, während
er nach einem Pflaster suchte. »Noch mal wird die Polizei
nicht kommen! Die hat jetzt bestimmt andere Sorgen!« Er
lächelte. »Morgen Mittag kannst du ihn abholen! Ich hänge
seine Kleider auf die Leine, solange er hier ist.« Er schickte
den Jungen ins Bad. »Ich hab von der Brandbombe gehört.
Alles wieder okay?«

Audrey nickte. »Das haben wir Martin Luther King zu

verdanken. Die SCLC hat die Kosten übernommen.« Sie ging
mit Betty Ann zur Tür. »Aber wenn wir nicht bald nach Hause
fahren und uns waschen und frische Kleider anziehen, holen
wir uns eine schwere Erkältung und wir müssen alle bei Ihnen
bleiben!«

Die Mädchen verabschiedeten sich von Jay-Jay und fuhren zu

Audrey nach Hause. Nach einer heißen Dusche ging es ihnen
besser. Audrey versicherte ihren Eltern, dass nichts passiert
war, und war froh, als sie nicht weiter nachfragten. Sie wollte
sich gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn ihr Vater
von der Verfolgungsjagd erfuhr. Sie lieh ihrer Freundin frische
Unterwäsche und einen Overall und schlüpfte in einen
bequemen Trainingsanzug. Nachdem sie heißen Tee getrunken

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und noch einmal über alles geredet hatten, brachte sie den
Wagen zur Tankstelle und spritzte ihn mit dem Schlauch ab.

»Bist du über einen Acker gefahren?«, fragte Alberta

verwundert, als sie den schmutzigen Wagen sah. Sie strich mit
der flachen Hand über das eingedrückte Blech. »He, du hattest
einen Unfall!«

»Nichts Ernstes«, wiegelte Audrey ab. Sie bemühte sich um

einen gleichgültigen Gesichtsausdruck. »Ich bin den Bordstein
hoch und hab eine halbe Mauer mitgenommen, weiter nichts!«
Sie lachte. »Kein Wort! Sonst regt sich Dad nur auf! Wenn du
so ‘ne gute Mechanikerin bist, wie du immer tust, kannst du
das Blech ja ausbeulen. Ich spendier dir ‘nen Cheeseburger
dafür!«

»Mit doppelt Käse, sonst geht gar nichts«, erwiderte Alberta.
»Vielfraß«, meinte Audrey.
Noch am selben Abend berichtete sie Edward von der

Verfolgungsjagd. Als sie beschrieb, wie der Pick-up durch den
Staub gebraust und in den Abgrund gestürzt war, und als sie
stammelnd davon erzählte, wie ein riesiger Flammenpilz aus
dem Wagen geschossen und die halbe Schlucht ausgefüllt
hatte, wurde ihr die ganze Tragweite des Unfalls bewusst. »Oh,
Edward, es war so furchtbar!« Sie schmiegte sich in seine
Arme und weinte lange. Dann wischte sie sich mit dem
Handrücken die Tränen aus den Augen. »Sie sind tot, Edward!
Ich hab ihnen alles Schlechte gewünscht, aber ich wollte doch
nicht… sie sind nur in die Schlucht gestürzt, weil wir so viel
Staub aufgewirbelt hatten!«

»Und wenn das nicht passiert wäre, hätten sie euch

umgebracht! Ihr braucht euch nichts vorzuwerfen, Audrey!
Steve Goblett und Duncan Mills waren dafür bekannt, dass sie
betrunken durch die Gegend fuhren. Denen weint keiner eine
Träne nach!«

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So war es tatsächlich. Die Birmingham News vom nächsten

Morgen berichteten unter der Überschrift »Betrunken in den
Tod« über den Unfall und neben den High-School-Fotos der
jungen Klansmänner stand, dass man Steve Goblett und
Duncan Mills am Morgen in einer Bar gesehen hatte. Die
Polizei verzichtete darauf, den tragischen Unfall genauer zu
untersuchen, und auch sonst schien der Tod der jungen Männer
auf geringes Interesse zu stoßen. Steve Goblett hatte seine
Eltern schon früh verloren und die Eltern von Duncan Mills
wohnten in Los Angeles und kamen nicht mal zur Beerdigung
nach Birmingham. »Na siehst du«, meinte Edward, »dir
passiert nichts!«

Audrey blieb den ganzen Samstag zu Hause. Edward hatte ihr

empfohlen, sich von den Strapazen des vergangenen Tages zu
erholen und sich von den Demonstrationen fernzuhalten. »Das
gilt auch für Betty Ann!«, betonte er. »Ihr habt eine Menge
durchgemacht und ich will nicht, dass ihr euch in Gefahr
begebt! Bleibt zu Hause und ruht euch aus!« Und nach einer
kurzen Pause fügte er hinzu: »Es sieht nicht schlecht aus,
Audrey! Ich darf es eigentlich gar nicht sagen, aber heute
Nachmittag treffen sich Martin Luther King und Ralph
Abernathy mit den weißen Geschäftsleuten! Scheint so, als
würden sie endlich nachgeben! Unsere Proteste zeigen
Wirkung, und dass kaum noch jemand bei ihnen einkauft,
macht ihnen schwer zu schaffen. Wenn wir Glück haben,
kommt endlich was in Gang! Die Bilder von unseren Protesten
sind um die Welt gegangen und die Stimmung in der
Bevölkerung hat sich gewandelt. Sogar die meisten Weißen
sind jetzt dafür, dass sich was ändert! Präsident Kennedy will
in seiner nächsten Pressekonferenz darüber sprechen! We shall
overcome, Audrey! Wir werden es schaffen!«

Doch die Demonstrationen am Samstagnachmittag schienen

das Gegenteil zu beweisen. Bull Connor gab nicht auf und

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kümmerte sich nicht um die öffentliche Meinung, die ihm
immer kritischer gegenüberstand. Er ließ einen Panzerwagen
gegen die Demonstranten vorrücken und wies die Feuerwehr
an, den Wasserstrahl so scharf einzustellen, dass er die Rinde
von den Bäumen riss. Fred Shuttlesworth, der an diesem Tag
bei den Marschierern war, wurde ernsthaft verletzt und mit der
Ambulanz ins Krankenhaus gebracht. »Mir wäre es lieber
gewesen, ein Leichenwagen hätte ihn geholt!«, sagte Bull
Connor öffentlich.

Nach dem Mittagessen wollte Audrey bei Jay-Jay

vorbeigehen, aber noch bevor Doc Snyder die Tür öffnete,
wusste sie, wie er sie empfangen würde: »Hallo, Audrey, Jay-
Jay ist gegangen. Er hat mir gesagt, dass er es sich anders
überlegt hätte. Er würde es keine zwei Tage bei seiner Tante
aushalten. Du bräuchtest dir aber keine Sorgen zu machen, er
käme schon zurecht. Seltsamer Junge, dieser Jay-Jay!« Sie zog
unverrichteter Dinge wieder ab und rief Betty Ann an, um ihr
vom Verschwinden des Jungen zu berichten. »Das hab ich mir
gedacht«, sagte Betty Ann. »Er ist nicht der Typ, der bei seiner
Tante auf einer Farm lebt. Den bringst du nie von der Straße
weg! Vielleicht später mal, wenn er älter ist. He, gehst du
morgen wieder mit? Morgen ist ganz wichtig!«

Gleich nach der Kirche beteiligten Audrey und Betty Ann

sich an einem Protestmarsch, bei dem ein Sieg gegen das Böse
im Menschen errungen wurde, der alle Beteiligten zum
Strahlen brachte. Ein kleiner Teilerfolg nur, aber genug, um
alle Beteiligten zum Strahlen zu bringen. Auch Edward war
diesmal dabei. Reverend Charles Billups führte den Marsch an.
Sie gingen von der New Pilgrim Baptist Church zum
Birmingham City Jail, wo sie für die eingesperrten Schwarzen
beten wollten. Die Marschierer sangen »We shall overcome«
und waren bereit, die Schmerzen zu ertragen, als sie die
Polizisten mit den Hunden und die Feuerwehrleute mit den

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Wasserschläuchen vor dem Gefängnis sahen. Bull Connor
stoppte den Marsch und sagte zu dem Reverend: »Kehrt um,
ihr verdammten Nigger!«

Charles Billups weigerte sich und kniete nieder um zu beten.

Audrey und Betty Ann, die in der ersten Reihe marschiert
waren, taten es ihm nach. »Stellt das Wasser an, verdammt!«,
befahl der Polizeichef und Audrey schloss die Augen, stellte
sich mit ihrem Körper und ihrer Seele gegen die Polizei. Doch
nichts geschah. Weder die Polizisten noch die Feuerwehrleute
gehorchten dem Befehl des Polizeichefs. Sie blieben
regungslos stehen, die Schlagstöcke nach unten gerichtet und
die schlaffen Wasserschläuche in den Händen, als wären sie
hypnotisiert. »Ihr sollt das verdammte Wasser aufdrehen,
verdammt! Vorwärts!«

Noch immer regte sich keine Hand. Audrey stand auf, zog

Betty Ann mit nach oben und ging langsam weiter. Edward
und die anderen Schwarzen folgten ihnen. Leise singend
marschierten sie an den Polizisten und Feuerwehrleuten vorbei,
ohne dass diese eingriffen. Bull Connor war unfähig,
irgendetwas gegen die Befehlsverweigerung seiner Männer zu
tun, gab schließlich auf und verkroch sich fluchend in seinen
Wagen. Die Schwarzen knieten vor dem Gefängnis nieder und
beteten für die Gefangenen. »Du hast uns den Weg gewiesen,
Herr«, bedankte sich Billups bei Gott, »du hast diesen
Männern gezeigt, dass die Macht der Liebe stärker sein kann
als aller Hass. Dafür danken wir dir!«

»Amen!«, erwiderte Audrey. Sie schloss die Augen und

diesmal waren es Tränen des Glücks, die über ihre Wangen
liefen.

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27



Edward wartete auf dem Parkplatz, als Audrey am Freitag,
dem 10. Mai 1963, die Schule verließ. Er lehnte an seinem
Cadillac und strahlte über das ganze Gesicht. »Wir haben es
geschafft, Audrey!«, verkündete er feierlich, »die
Geschäftsleute haben nachgegeben! Unser Protest war nicht
umsonst!« Sie ließ ihren Plymouth stehen, stieg zu ihm in den
Wagen und hörte staunend zu, als er die Zusagen der weißen
Geschäftsleute von Birmingham aufzählte: 1. Innerhalb von
neunzig Tagen würde es an den Imbisstheken, in Toiletten,
Ankleidekabinen und an Trinkbrunnen keine Rassentrennung
mehr geben, die Schilder »Nur für Weiße« und »Nur für
Farbige« würde man abmontieren. 2. Innerhalb von sechzig
Tagen würden Schwarze auch in den Berufszweigen
zugelassen, die ihnen bisher verschlossen waren. 3. Die
Gerichte würden mit den Rechtsanwälten der
Bürgerrechtsbewegung zusammenarbeiten und sich bemühen,
alle inhaftierten Schwarzen gegen eine Bürgschaft oder
Kaution freizulassen. 4. Innerhalb von zwei Wochen würden
sich Schwarze und Weiße an einen Tisch setzen um
Vereinbarungen zu treffen, die weitere Demonstrationen und
Protestmärsche verhindern sollten. »Jetzt gehen unsere Träume
endlich in Erfüllung, Audrey!«

»Und du meinst, die Weißen halten sich daran?«, erwiderte

sie misstrauisch. »Der Klan lässt sich das bestimmt nicht
gefallen!«

Edward küsste sie sanft. »Es ist ein erster Schritt, Audrey!

Präsident Kennedy hat versprochen, so schnell wie möglich
eine Gesetzesvorlage in den Kongress einzubringen! Selbst

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wenn es Rückschläge gibt… jetzt ist die Entwicklung nicht
mehr aufzuhalten! Du wirst sehen, in drei Jahren gibt es den
Klan nicht mehr!«

»Das wäre schön«, meinte sie hoffnungsvoll. Sie griff nach

seiner Hand und erschauderte, als sie an die Klansmänner und
das brennende Kreuz auf der Thompson-Farm dachte. Wenn es
den Klan nicht mehr gab, brauchte Jay-Jay sich nicht mehr zu
verstecken und die Thorntons konnten nach Birmingham
zurückkehren. Cynthia würde sich bestimmt freuen, wenn
Sarah Lee wieder zu ihr in die Klasse kam. »Ich bin froh, dass
wir auf die Straße gegangen sind, Edward!«, sagte sie. »Ohne
Martin Luther King wäre hier alles noch wie früher und ich
würde Betty Ann auslachen, weil sie für die SCLC arbeiten
will!«

»Du hast viel für unsere Bewegung getan«, lobte Edward.

»Du hast dein Leben riskiert um Jay-Jay zu retten! Du hast
dich gegen deinen Vater gestellt um unseren Zielen zu dienen!
Dafür sind dir viele Schwarze dankbar! Wir alle wissen, dass
du dir Vorwürfe machst, weil Steve Goblett und Duncan Mills
auf so grausame Weise in den Tod gestürzt sind, aber du
konntest nichts dafür! Gott hat sich diese Strafe für die beiden
Verbrecher ausgedacht!«

Audrey blickte aus dem Fenster. Cynthia Wesley ging an

ihrem Wagen vorbei, die grüne Schleife im Haar, und hielt
lachend ihren Saxofonkoffer hoch. Sie spielte seit einigen
Monaten im Schulorchester. Zwei Jungen streckten dem
Mädchen die Zunge raus. Ein Lehrer stieg in seinen Wagen
und fuhr vom Parkplatz.

»Sie wollten mich umbringen!«, sagte Audrey. »Sie hatten

den Tod verdient! Aber ich wollte nicht, dass sie auf diese
Weise sterben. Meinst du wirklich, Gott hat sie in die Schlucht
gelockt?«

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»Ich weiß es nicht«, meinte Edward ehrlich. Er lenkte den

Wagen vom Schulgelände und fuhr nach Süden. »Warum hat
er zugelassen, dass der Klan so viele Menschen auf grausame
Weise quält und umbringt? Warum hat er den Menschen
unterschiedliche Hautfarben gegeben? Warum lässt er zu, dass
wir Kriege führen? Wer kann schon sagen, dass er Gott
versteht.«

»Er hat dich und mich beschützt! Er hat über meinen Vater

gewacht, als der Brandsatz explodierte! Er hat auf Jay-Jay
aufgepasst! Manchmal hat er ein Einsehen mit uns Menschen,
glaubst du nicht auch? Er hat dafür gesorgt, dass Martin Luther
King in unserer Stadt erfolgreich war! Dafür bin ich ihm
dankbar.«

An diesem Abend trafen sich Audrey und Edward mit allen

Teilnehmern an Project C zu einem Dankgottesdienst in der
Sixteenth Street Baptist Church. Martin Luther King dankte
Gott für seine Hilfe und ermahnte die Schwarzen, wachsam zu
bleiben und über den Frieden zu wachen. Nach einem Gebet,
das die Gemeinde mit einem vielstimmigen »Amen!«
beantwortete, sangen sie gemeinsam »We shall overcome« und
umarmten einander, glücklich darüber, die schwere Zeit der
Protestaktionen und Friedensmärsche unbeschadet überstanden
zu haben.

Doch schon am nächsten Tag wurde deutlich, dass der Kampf

um die Gleichberechtigung noch nicht vorüber war. Audrey
und Edward kamen von einer Spazierfahrt und wollten gerade
in die 15th Street abbiegen, als eine gewaltige Explosion das
Gaston Motel erschütterte. Edward fuhr an den Straßenrand
und sie sprangen aus dem Wagen. Noch bevor sie das Motel
erreicht hatten, waren die Sirenen der Polizei und der
Feuerwehr zu hören. »Was ist passiert?«, fragte Edward den
verstörten Hausmeister, der mit rußgeschwärztem Gesicht aus
dem Büro kam.

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»Eine Bombe… in Zimmer 30…«, stammelte er. »Zum

Glück war niemand drin. Dr. King… ist nach Atlanta geflogen
und… und Mr. Abernathy und Mr. Walker… sind heute
Nachmittag abgefahren…«

»Der Klan«, sagte Edward, als der Hausmeister im Coffee

Shop verschwunden war. »Sie wollten Martin Luther King
umbringen!« Er griff nach Audreys Hand. »Ich bring dich
besser nach Hause!«

Audrey war einverstanden und verabschiedete sich mit einer

flüchtigen Umarmung von ihm, als sie vor dem Laden ihrer
Eltern hielten. Sie ging nach oben, ohne sich bei ihren Eltern
zurückzumelden, und verbrachte die halbe Nacht am offenen
Küchenfenster. Auch ohne auf der Straße zu sein ahnte sie,
was in der Stadt passierte. Die Schwarzen rebellierten!
Schwarze Jugendliche warfen Steine auf Polizeiwagen, legten
Feuer und fingen Schlägereien mit den Weißen an. So war es
am Montag in der Zeitung zu lesen. Aber dort stand auch, was
Präsident Kennedy in seiner Pressekonferenz gesagt hatte: »Ich
werde nicht zulassen, dass es zum Ausbruch von
Gewalttätigkeiten kommt!« Noch am Samstag beorderte er
dreitausend Soldaten nach Birmingham und drohte an, die
Nationalgarde von Alabama unter Bundeskontrolle zu bringen.

Die radikalen Maßnahmen brachten sogar den Ku-Klux-Klan

zum Schweigen, der ebenfalls am Samstag in Bessemer getagt
und sich mit flammenden Reden gegen die Abmachungen
zwischen weißen Geschäftsleuten und schwarzen
Bürgerrechtlern gewandt hatte. »Wenn ihr heute Abend nach
Hause fahrt«, hatte der Sprecher der Eastview Klavern seine
Leute verabschiedet, »fahrt vorsichtig, aber fahrt jeden Nigger
tot, dem ihr begegnet!«

Einige Tage später zog Ruhe in Birmingham ein. Die

Behörden zwangen Eugene Bull Connor von seinem Posten
zurückzutreten und selbst der erzkonservative Gouverneur

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Wallace verkniff sich seine Hassreden. Präsident Kennedy
hatte die Unbelehrbaren unter den Weißen mundtot gemacht.
Martin Luther King und seine Leute räumten endgültig das
Feld und auch Audrey und Edward waren gezwungen, noch
einmal Abschied zu nehmen.

»Es ist nur für ein paar Monate«, versprach Edward. Sie

lagen angezogen auf seinem Bett und blickten einander zärtlich
an. »Sobald Dr. King mich nicht mehr braucht und ich eine
Anstellung als Pastor habe, heiraten wir.« Er küsste sie auf die
Nase und lächelte. »Vorausgesetzt, deine Eltern sind
einverstanden!«

»Dad hat nichts gegen dich«, erwiderte sie. »Neulich hat er

sogar zugegeben, dass es richtig war, auf die Straße zu gehen.
Nun ja, nicht direkt zugegeben, aber er hat gesagt, dass wir
einiges in Birmingham bewirkt und die Schwarzen jetzt mehr
Rechte hätten. Er hat sogar versprochen zur Wahl zu gehen!
Kennedy ist ein guter Mann, hat er gesagt, der tut was für uns
Schwarze! So was hätte er vor ein paar Wochen nie gesagt!«

Edward strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Meine

Eltern lieben dich! Ich hab ihnen so viel von dir erzählt, dass
sie es gar nicht erwarten können, dich endlich kennen zu
lernen!«

»Werden wir nach Chicago gehen?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Wohin die Kirche mich schickt.

Chicago, Washington, Atlanta, vielleicht auch Detroit oder
Kansas City. Oder hast du Angst, irgendwo in der Fremde mit
mir anzufangen?«

»Ich geh überallhin«, antwortete sie. »Außer nach Alaska!«
Edward verließ die Stadt am nächsten Morgen und in

Audreys Leben kehrte der Alltag wieder ein. Ungeduldig
wartete sie in jeder Mittagspause auf den Anruf von Edward,
der sich mit Martin Luther King in Atlanta aufhielt und ihr
voller Stolz berichtete, dass er den Roman über die junge

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Freiheitskämpferin so gut wie fertig habe. »Nur das Kapitel
mit dem Happy End fehlt noch«, sagte er.

Audrey verstand die Andeutung und verriet ihm, dass ihre

Mutter bereits an einem Brautkleid nähte. »Mom ist
aufgeregter als ich«, gestand sie. Nellie Jackson war begeistert
von der bevorstehenden Hochzeit. Sie freute sich darauf, ihre
zahlreichen Verwandten wieder zu sehen, und verdrängte den
Gedanken, dass ihre Tochter in eine andere Stadt ziehen
würde, wahrscheinlich einige hundert Kilometer von
Birmingham entfernt. Emory Jackson fragte Audrey jeden
Morgen, ob sie sich diese Sache auch gründlich überlegt habe,
und nickte mürrisch, wenn sie ihm lächelnd versicherte, dass
sie Edward über alle Maßen liebte.

Auch Betty Ann würde die Stadt verlassen. Das erfuhr

Audrey an einem lauen Sommerabend, als sie mit ihr auf der
Veranda in Bessemer saß und Vanilleeis löffelte. »Stell dir vor,
ich werde im Büro von Dr. King arbeiten«, freute sie sich, »in
Atlanta! Mom meint, ich wär noch zu jung um in eine andere
Stadt zu gehen, aber ich krieg ein Zimmer bei Dr. Kings
Sekretärin und sie hat versprochen, sich um mich zu kümmern,
bis ich volljährig bin!«

Audrey freute sich: »Vielleicht ziehen wir auch nach Atlanta,

dann kannst du uns besuchen! Edward will als Pastor
arbeiten.« Sie leckte den Löffel ab und lachte befreit. »Ich bin
richtig froh, dass wir die Sache endlich hinter uns haben!«

Betty Ann wurde ernst. »Ich traue dem Frieden nicht,

Audrey! Die Cahaba Boys haben bestimmt noch was auf der
Pfanne! Wir müssen wachsam sein, sonst passiert ein Unglück!
Gestern hab ich geträumt, dass der Klan ein kleines Mädchen
aufhängt!«

»Jetzt nicht mehr«, widersprach Audrey. »Präsident Kennedy

würde dafür sorgen, dass die Mörder vor Gericht kommen und

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zum Tode verurteilt werden! Bull Connor ist nicht mehr im
Amt!«

»Wir müssen aufpassen«, sagte Betty Ann noch einmal.
Einige Tage später verkündete ein Regierungssprecher, dass

Präsident Kennedy den Entwurf eines neuen
Bürgerrechtsgesetzes in den Kongress eingebracht habe. »Jetzt
kommt endlich Bewegung in die Sache«, sagte Edward am
Telefon. Er verriet Audrey, dass ein bekannter Bürgerrechtler
auf die Idee gekommen war, das Gesetz mit einem Marsch auf
Washington zu unterstützen. Viele tausend Schwarze aus allen
Teilen des Landes sollten in die Hauptstadt kommen und an
einer Kundgebung teilnehmen. »Dr. King ist begeistert«, sagte
Edward, »er will eine Rede in Washington halten! Am 28.
August ist es so weit. Wir haben schon mit den Vorbereitungen
begonnen…«

Betty Ann war fest entschlossen, mit einigen Freunden nach

Washington zu fahren, und auch Audrey dachte daran, an
dieser historischen Kundgebung teilzunehmen. Doch ihr Vater
hatte Angst, dass der Klan sie unterwegs überfallen würde, und
sie entschied sich, ihm diesmal nicht zu widersprechen. »Er
soll auch mal seinen Willen haben«, erklärte sie ihrer Freundin
scherzhaft. Edward verstand sie und versprach ihr spätestens
im September nach Birmingham zurückzukehren. »Wie wär’s,
wenn wir die Hochzeit am Unabhängigkeitstag feiern?«,
meinte er.

Audrey war einverstanden, hatte aber Tränen in den Augen,

als sie Betty Ann und ihren Freunden im August zuwinkte. Sie
hatten ihren klapprigen VW-Bus mit Schlafsäcken und
Proviant beladen und fuhren singend über den Bessemer
Highway davon. »Du siehst mich bestimmt im Fernsehen!«,
rief Betty Ann ihr zum Abschied zu. Audrey blickte ihnen
nach, bis der VW-Bus hinter dem nächsten Hügel
verschwunden war, dann stieg sie in ihren Plymouth und fuhr

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langsam nach Birmingham zurück. Schon jetzt bereute sie,
Betty Ann nicht nach Washington begleitet zu haben.

Am 28. August saß Audrey mit der ganzen Familie vor dem

Fernseher. Die Bilder aus der Hauptstadt waren so
eindrucksvoll, dass selbst Emory Jackson sich verstohlen
einige Tränen aus den Augen wischte und seine Frau laut
schniefte und sagte: »Das ist wunderbar, das ist einfach
wunderbar!« Audrey schwieg und musste lächeln, als sie daran
dachte, was ihre Freundin zum Abschied gesagt hatte. Wie
sollte sie Betty Ann in dieser Menschenmenge finden? Über
eine viertel Million Menschen hatte sich vor dem Lincoln
Memorial in Washington versammelt. Nicht nur Schwarze aus
allen Teilen des Landes, auch zahlreiche Weiße, über
fünfzigtausend, wie der Nachrichtensprecher sagte. Pastoren,
Studenten, Handwerker, Fabrikarbeiter, Farmer, Hausfrauen.
Aktive Bürgerrechtler und einfache Menschen, die zum ersten
Mal an einer Kundgebung teilnahmen. Berühmte Schwarze
wie Jackie Robinson, der erfolgreiche Baseballspieler, Harry
Belafonte, Mahalia Jackson, die bekannte Gospelsängerin, und
Sammy Davis Jr. der Schauspieler. Berühmte Weiße wie die
Protestsänger Bob Dylan und Joan Baez und die Schauspieler
Burt Lancaster und Charlton Heston. Verantwortliche einiger
großen Kirchen, die bisher meist neutral geblieben waren.

Alle diese Menschen und Millionen von Zuschauern an den

Fernsehgeräten und Radioapparaten lauschten den Reden der
Sprecher und den Gospelsongs von Mahalia Jackson und
blickten erwartungsvoll zum Rednerpult, als Martin Luther
King vor das Mikrofon trat und schon nach wenigen Minuten
sein Manuskript zur Seite legte.

»Heute sage ich euch, meine Freunde«, rief er den vielen

Menschen zu, »trotz der vielen Schwierigkeiten von heute und
morgen habe ich einen Traum. Es ist ein Traum, der tief
verwurzelt ist im amerikanischen Traum. Ich habe einen

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Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und
der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: Wir
halten diese Wahrheit für selbstverständlich: dass alle
Menschen gleich erschaffen sind!« Ich habe einen Traum, dass
eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne
früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter
miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich
habe einen Traum, dass sich eines Tages selbst der Staat
Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und
Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und
Gerechtigkeit verwandelt.

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines

Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach
ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.
Ich habe einen Traum. Ich habe einen Traum, dass eines Tages
in Alabama, mit seinen bösartigen Rassisten, mit einem
Gouverneur, von dessen Lippen Worte wie ›Intervention‹ und
›Annullierung der Rassenintegration‹ triefen, dass eines Tages
genau dort in Alabama kleine schwarze Jungen und Mädchen
die Hände schütteln mit kleinen weißen Jungen und Mädchen
als Brüder und Schwestern.

Ich habe heute einen Traum. Ich habe einen Traum, dass

eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg
erniedrigt wird. Die rauen Orte werden geglättet und die
unebenen Orte begradigt werden.

Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden und

alles Fleisch wird es sehen. Das ist unsere Hoffnung. Mit
diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück. Mit diesem
Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung
einen Stein der Hoffnung zu hauen. Mit diesem Glauben
werden wir fähig sein, die schrillen Missklänge in unserer
Nation in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu
verwandeln. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein,

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zusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu
kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, zusammen für
die Freiheit aufzustehen, in dem Wissen, dass wir eines Tages
frei sein werden.

Das wird der Tag sein, an dem alle Kinder Gottes diesem

Lied eine neue Bedeutung geben können: ›Mein Land, von dir,
du Land der Freiheit, singe ich. Land, wo meine Väter starben,
Stolz der Pilger, von allen Bergen lasst die Freiheit
erschallen.« Soll Amerika eine große Nation werden, dann
muss dies wahr werden. So lasst die Freiheit erschallen von
den gewaltigen Gipfeln New Hampshires. Lasst die Freiheit
erschallen von den mächtigen Bergen New Yorks, lasst die
Freiheit erschallen von den hohen Alleghenies in
Pennsylvania. Lasst die Freiheit erschallen von den
schneebedeckten Rocky Mountains in Colorado. Lasst die
Freiheit erschallen von den geschwungenen Hängen
Kaliforniens.

Aber nicht nur das, lasst die Freiheit erschallen von Georgias

Stone Mountain. Lasst die Freiheit erschallen von Tennessees
Lookout Mountain. Lasst die Freiheit erschallen von jedem
Hügel und Maulwurfshügel Mississippis, von jeder Erhebung.
Lasst die Freiheit erschallen!

Wenn wir die Freiheit erschallen lassen – wenn wir sie

erschallen lassen von jeder Stadt und jedem Weiler, von jedem
Staat und jeder Großstadt, dann werden wir den Tag
beschleunigen können, an dem alle Kinder Gottes -schwarze
und weiße Menschen, Juden und Heiden, Protestanten und
Katholiken – sich die Hände reichen und die Worte des alten
Negrospirituals singen können: »Endlich frei! Endlich frei!
Großer, allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!«

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28



Als am Freitagmorgen das Telefon klingelte und die junge
Sekretärin »Für dich, Audrey!« rief, war Audrey fest davon
überzeugt, dass Edward am anderen Ende war. Doch die
Stimme gehörte einem Weißen. »Hier spricht Floyd«, meldete
er sich. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie in der Schule
anrufe, aber es ist sehr wichtig und ich habe wenig Zeit!« Er
klang nervös und gehetzt, als hätte er Angst, jeden Augenblick
entdeckt zu werden. »Ich möchte Sie warnen, Audrey! Die
Cahaba Boys führen irgendetwas im Schilde! Etwas Ernstes!
Ich habe gehört, wie Bob Chambliss und Bobby Cherry über
Dynamit gesprochen haben. Mehr weiß ich leider nicht. Ich
habe das FBI und die Polizei informiert, aber das FBI arbeitet
mit dem Klan zusammen und bei der Polizei hat sich seit Bull
Connor wenig verändert. Passen Sie auf den Jungen auf,
Audrey! Jay-Jay heißt er, glaube ich. Und sagen Sie Martin
Luther King und seinen Mitarbeitern Bescheid!«

»Wer sind Sie, Floyd?«, fragte Audrey nervös. »Woher

wissen Sie das alles? Wie haben Sie herausgefunden, wo ich
arbeite?«

Aber Floyd hatte bereits aufgelegt. Sie ließ den Hörer sinken

und schüttelte den Kopf, als sie den besorgten
Gesichtsausdruck ihrer Kollegin bemerkte. »Ein Mitarbeiter
von Dr. King«, log sie, »ich soll eine Rede abschreiben.« Sie
verließ das Büro, um ungestört nachdenken zu können, und trat
an eines der Fenster in der Eingangshalle. Wer war dieser
Floyd? Wie konnte er behaupten, das FBI arbeite mit dem
Klan zusammen, wenn er selbst für die Regierung arbeitete
und sich bei den Kapuzenmännern eingeschlichen hatte? Oder

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war er gar kein Spion? Vielleicht ein Reporter, der eine Story
über die dunklen Machenschaften des Ku-Klux-Klan schreiben
will, überlegte sie. Aber er hatte sie auf die Spur der Cahaba
Boys gebracht und ihnen ermöglicht, den Jungen zu retten. Sie
tat gut daran, seine Warnung ernst zu nehmen.

Die Tür eines Klassenzimmers ging auf und Cynthia Wesley

kam heraus. »Hallo, Audrey!«, grüßte sie fröhlich. »Ich soll
das Lexikon aus dem Büro holen, das mit dem schwarzen
Einband.«

Audrey löste sich von ihren quälenden Gedanken. »Hallo,

Cynthia! Warte hier, ich bring’s dir!« Sie ging ins Büro, zog
das Lexikon aus dem Regal und gab es dem Mädchen. Es trug
ein einfaches Kleid und eine Strickjacke. Die Schleife fehlte
diesmal.

»Kommst du übermorgen in den Elf-Uhr-Gottesdienst?«,

fragte Cynthia. »Am Sonntag ist Youth Day und wir dürfen
wieder singen, nach der Sonntagsschule! Pastor Cross sagt,
dass ich eine schöne Stimme habe.«

»Natürlich komme ich in die Kirche«, versprach Audrey.

»Und jetzt geh in den Unterricht zurück, sonst schimpft deine
Lehrerin!«

In der Mittagspause telefonierte Audrey mit Edward. Sie

wartete, bis ihre Kollegin den Raum verlassen hatte, und
erzählte ihm, was Floyd gesagt hatte. Ihr Freund war sehr
besorgt und versicherte ihr, dass er Martin Luther King sofort
informieren werde. »Aber viel können wir nicht tun, Audrey!
Solange keine Straftat vorliegt, dürfen die Behörden nicht
eingreifen. Selbst wenn die Polizei auf unserer Seite wäre,
dürfte sie das nicht. Wir brauchen Beweise! Ich bin sicher,
Floyd versucht alles um sie zu bekommen. Er ruft sicher noch
mal an, wenn er herausbekommen hat, was der Klan plant!«

Den Nachmittag und die halbe Nacht verbrachte Audrey

damit, nach Jay-Jay zu suchen. Ihren Eltern schwindelte sie

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vor, mit einer Freundin ins Kino zu gehen. Sie sollten sich
keine unnötigen Sorgen machen. Sie fuhr alle Straßen des
Schwarzenviertels ab, fragte in Lokalen und Läden nach dem
Jungen und wagte sich sogar auf die Fourth Avenue. Zwei
Schwarze in Lederjacken pfiffen ihr nach, und als sie beim Rat
Killer hielt und einen Mann nach Jay-Jay fragte, lachte man sie
ungeniert aus. »Geh nach Hause, Mädchen!«, lästerte er
abfällig, »hier hast du nichts zu suchen!«

Den Jungen hatte niemand gesehen. Jay-Jay war spurlos von

der Bildfläche verschwunden. Ein gutes Zeichen, wie Audrey
glaubte. Offensichtlich hatte Jay-Jay erfahren, dass die Cahaba
Boys einen Anschlag planten, und war rechtzeitig auf
Tauchstation gegangen. Er war sicher schlau genug, um sich
nicht erwischen zu lassen. Obwohl er erst seit ein paar
Monaten in der Stadt war, schien er jedes Versteck zu kennen.
So leichtsinnig wie damals, als er den Klansmännern in die
Hände gefallen war und beinahe den Tod gefunden hatte,
würde er nicht mehr sein.

Auch in dieser Nacht schlief Audrey wenig. Sie stand am

Küchenfenster, die Milchflasche in der Hand, und blickte
sorgenvoll in die Dunkelheit. War der Krieg zwischen Weißen
und Schwarzen denn niemals vorbei? Wollte der Klan, dass
noch mehr Menschen starben und die Gewalt wieder die
Oberhand gewann? Was hatten die Cahaba Boys vor? Sie
wusste keine Antworten auf diese Fragen und ging ins Bett.
Erschöpft schlief sie ein. Sie träumte von Cynthia Wesley, sah
sie mit ihren Freundinnen, der jungen Denise McNair, der
etwas fülligen Carole Robinson und der frechen Addie Mae
Collins, vor der Orgel stehen und »We shall overcome«
singen: »We are not afraid, we are not afraid, we are not afraid
some day.«

Beim Frühstück saß sie mit ihren Eltern zusammen. »Ich bin

froh, dass alles so gekommen ist«, sagte ihre Mutter. »Stell dir

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vor, bei Woolworth darf ich jetzt in denselben Ankleideraum
wie die weißen Frauen! Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das
schafft!«

»Und was hast du davon?«, erwiderte Emory Jackson. »Ist

das Kleid, das du gekauft hast, deswegen billiger? Mir ist es
egal, wo ich mich umziehe oder von welchem Brunnen ich
trinke.« Aber seine Augen sagten etwas anderes und er konnte
nicht verhehlen, dass er stolz auf seine Tochter war.
»Immerhin heiratet sie einen Pastor«, sagte er zu seiner Frau,
»das können nicht viele Eltern von ihrer Tochter sagen. Sie ist
etwas Besonderes!«

Nach dem Frühstück fuhr Audrey zu ihrer Freundin nach

Bessemer. Betty Ann war gerade dabei, einen Zeitungsbericht
über den Marsch auf Washington auszuschneiden und in ihr
Album zu kleben. »War die Rede von Martin Luther King
nicht wunderbar?«, fragte sie. »Ich kann es gar nicht erwarten,
für ihn zu arbeiten.«

»Wann soll’s denn losgehen?«
»In zwei Wochen«, antwortete sie. »Meine Eltern haben

schon das Busticket gekauft und ich darf das Geld von meinem
Sparbuch behalten, damit ich mir ein paar neue Kleider kaufen
kann. In Atlanta tragen sie andere Sachen als hier. Hab ich dir
schon gesagt, dass ich ein Gehalt von Dr. King bekomme?
Wenn ich älter bin, miete ich mir eine Wohnung, und wenn ich
genug gespart habe, kaufe ich mir ein Auto, so eines wie
deinen Plymouth!«

Audrey musste lachen. »Und nach zwei Tagen bleibst du mit

der Schrottkiste auf einem Highway liegen! Kauf dir lieber ein
anständiges Auto, einen Station Wagon für deine vielen
Kinder!«

»So schnell heirate ich nicht«, meinte Betty Ann etwas

schnippisch, »dafür hab ich keine Zeit. Im Büro von Dr. King
gibt es genug zu tun. Vielleicht darf ich ja nach Washington

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mit, wenn er den Präsidenten trifft, oder nach New York zu
Harry Belafonte…«

»Hauptsache, du bleibst auf dem Teppich! Nicht dass du mit

einem bekannten Politiker oder einem Sänger durchbrennst…«

»Keine Bange!«, beruhigte Betty Ann ihre Freundin. Sie

klappte das Album zu und hielt es mit beiden Händen fest, wie
einen wertvollen Schatz. Ihre Miene verdüsterte sich, als sie
daran dachte, was Audrey ihr am Telefon erzählt hatte.
»Gestern Abend waren die Cahaba Boys in Bessemer«, sagte
sie. »Einige Leute haben den Chevy von Dynamite Bob
erkannt, den türkisfarbenen mit den weißen Streifen. Bobby
Cherry war bei ihm. Man hat sie beobachtet. Sie haben sich
mit zwei anderen Männern auf einem Campingplatz getroffen,
draußen am Stadtrand. Sie haben irgendwas vor, das ist mal
sicher!«

»Thomas Blanton?«, fragte Audrey beunruhigt. »Hieß einer

der beiden Männer, die sie getroffen haben, Thomas Blanton?
Er war dabei, als sie Jay-Jay in den Fluss warfen. Widerlicher
Kerl!«

Betty Ann wusste es nicht. »Keine Ahnung. Ich hab nur die

anderen beiden Namen gehört. Wenn’s um den Klan geht, traut
sich doch keiner was zu sagen.« Sie legte das Album ins Regal
und blieb neben ihrem Schreibtisch stehen. »Weiß Dr. King
Bescheid? Hast du ihm gesagt, dass dieser Floyd angerufen
hat?«

»Na klar. Aber Martin Luther King und seine Leute können

wenig tun. Solange keine Straftat vorliegt, kann man die Leute
nicht festnehmen, sagt Edward.« Sie senkte den Kopf und
überlegte krampfhaft. »Wenn ich nur wüsste, was sie
vorhaben! Floyd sagte, dass die Cahaba Boys über Dynamit
gesprochen haben. Vielleicht sind sie ja gar nicht mehr hinter
Jay-Jay her! Was ist, wenn sie wieder eine Bombe werfen
wollen, so wie im Gaston Motel?«

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»Das wagen sie nicht«, hoffte Betty Ann. »Wenn sie so was

noch mal versuchen, schickt Präsident Kennedy die
Nationalgarde und gegen die hat auch der Klan keine Chance!«
Mrs. Palmer kam herein und stellte zwei Gläser mit gesüßtem
Eistee auf den Tisch. »In einer halben Stunde gibt es Essen«,
sagte sie, »du bist natürlich eingeladen, Audrey!« Betty Ann
war in Gedanken versunken und beachtete ihre Mutter kaum.
»Es darf keine Gewalt mehr geben!«, erklärte sie, als ihre
Mutter das Zimmer verlassen hatte.

»Was sollen wir bloß tun?«, fragte Audrey verzweifelt.
»Ich hab keine Ahnung«, antwortete Betty Ann ehrlich.
Am nächsten Morgen, dem 15. September 1963, war Audrey

schon vor ihren Eltern und ihren Geschwistern in der Sixteenth
Street Baptist Church. Sie hatte Pastor John Cross versprochen,
vor dem Elf-Uhr-Gottesdienst im Büro auszuhelfen, und war
gerade damit beschäftigt, die Predigt noch mal abzutippen, als
die ersten Kinder zur Sonntagsschule eintrafen. Sie waren sehr
aufgeregt und plapperten wild durcheinander. Der Youth Day
war ein ganz besonderer Tag, auch für die Kinder, die nicht im
Chor sangen, und alle freuten sich auf den Gottesdienst. »Sind
Cynthia, Carole und Addie Mae schon da?«, fragte Denise. Sie
trug einen Mantel über ihrem Sonntagskleid und einen flachen
Hut und die grüne Schleife in ihren kunstvoll frisierten Haaren
leuchtete hell.

Audrey blickte nach draußen und sah, wie Cynthia und Addie

Mae die l6th Street überquerten. Sie warfen ihre kleinen
Handtaschen wie Bälle hoch und fingen sie kichernd wieder
auf. »Da kommen Cynthia und Addie Mae«, sagte Audrey.
»Carole ist noch nicht da.« Sie musterte das Mädchen. »Du
siehst wie eine Dame aus, Denise! Ich wollte, ich hätte deine
Haare!«

»Die frisiert meine Mutter«, erwiderte das Mädchen stolz.

»Sie macht auch die Haare von meinen beiden Tanten. Sie

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wollte mal Friseuse werden, aber dann ist sie doch Lehrerin
geworden.«

Cynthia und Addie Mae betraten das Büro. »Hi, Audrey! Hi,

Denise!«, rief Cynthia ausgelassen. Auch sie trug ihre grüne
Schleife im Haar und strahlte über das ganze Gesicht. Wie
kaum ein anderes Mädchen hatte sie sich auf den Youth Day
gefreut. Zum ersten Mal durfte sie ein Solo singen. »Kommst
du in den Gottesdienst?«, fragte sie. »Das zweite Lied singe
ich ganz allein!«

Audrey erwiderte ihr Lächeln. »Um nichts in der Welt würde

ich das versäumen! Ich tippe nur die Predigt fertig ab. Pastor
Cross hat einiges geändert. Wie ich ihn kenne, hält er sich
sowieso nicht an seinen Text. Er spricht am liebsten frei, so
wie Dr. King.«

»Dann bis später, Audrey!«
Die Mädchen verschwanden und Audrey machte sich an die

Arbeit. Sie brachte die fertigen Seiten zu Pastor Cross und
machte einen Knicks, bevor sie sein Zimmer verließ. Im
Vorraum begegnete ihr Carole Robinson, die wieder mal zu
spät kam und mit wehendem Mantel zur Sonntagsschule
rannte. Audrey blickte ihr lächelnd nach. Carole hatte es
immer eilig. Sie trug zum ersten Mal mittelhohe Absätze und
konnte kaum das Gleichgewicht halten.

Im Büro beantwortete Audrey einige Anrufe. Sie hatte die

meiste Arbeit erledigt und ließ sich Zeit. Sie winkte Betty Ann
zu, die mit ihren Eltern vor dem Haupteingang wartete, und
trank von der frischen Limonade, die auf einem Tisch neben
der Tür stand. Hätte Audrey in diesem Augenblick aus einem
der Fenster im östlichen Flügel der Kirche geblickt, hätte sie
den türkisfarbenen Chevrolet mit den weißen Streifen bemerkt,
der kurz nach zehn an der Seventh Avenue parkte, und alles
wäre vielleicht anders gekommen. Aber niemand sah, wie

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Robert E. Chambliss alias Dynamite Bob aus seinem Wagen
stieg und zehn Stangen Dynamit unter die Kirchentreppe legte.

Ungefähr zur selben Zeit verließen die elfjährige Carol

Denise McNair und die vierzehnjährigen Carole Robinson,
Addie Mae Collins und Cynthia Dianne Wesley ihr
Klassenzimmer. Sie betraten den Umkleideraum im
nordöstlichen Teil der Kirche, um sich für den Gottesdienst
zurechtzumachen. Alle vier Mädchen trugen strahlend weiße
Kleider, wie es für die jungen Damen üblich war, die den
Erwachsenen ihre Plätze zeigten. Danach würden sie die
Treppe zum Chor hinaufsteigen. Addies kleine Schwester
Sarah stand am Waschbecken und wusch sich die Hände.

Um 10.20 Uhr kam Bernadine Mathews in den

Umkleideraum. Das Mädchen war von seiner Lehrerin
geschickt worden, ihre Freundinnen ins Unterrichtszimmer
zurückzuholen. »Ich komme gleich«, meinte Cynthia, »meine
Haare sitzen noch nicht richtig!«

»Wer Gott nicht gehorcht«, mahnte Bernadine in gespieltem

Ernst und mit erhobenem Zeigefinger, »lebt nur halb so
lange!«

Kaum war sie gegangen, erschütterte eine gewaltige

Explosion das Gebäude. Es war genau 10.22 Uhr. Die Wand
der Sixteenth Street Baptist Church stürzte ein, bunte Fenster
zersplitterten und Türen flogen aus den Rahmen. Eine riesige
Staubwolke wallte aus der Kirche und hüllte die braunen
Wände ein. Vor der Kirche wurde ein Autofahrer aus seinem
Wagen geschleudert und ein schwarzer Passant, der gerade
seine Frau von einer Telefonzelle aus anrief, wurde durch die
offene Tür in eine Reinigung geworfen, den abgerissenen
Hörer in der linken Hand.

Cynthia Dianne Wesley, Carol Denise McNair, Carole

Robinson und Addie Mae Collins waren auf der Stelle tot; sie
starben durch die gewaltige Druckwelle und die einstürzende

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Mauer. Sarah Collins überlebte wie durch ein Wunder, kroch
aus den Trümmern und rief verzweifelt:

»Addie! Addie! Addie!« Maxine McNair, die Mutter der

toten Denise, schrie hysterisch und Claude A. Wesley, der
Adoptivvater von Cynthia, der sich zwei Häuserblocks entfernt
die Schuhe putzen ließ, flüsterte entsetzt: »Das ist unsere
Kirche!«, und rannte in die Staubwolke.

Audrey lief nach unten und blickte mit geweiteten Augen auf

die toten Mädchen und die über zwanzig Verletzten.
»Cynthia!«, schrie sie. »Cynthia! Du bist nicht tot!« Von
draußen waren die Sirenen der Polizei und der Krankenwagen
zu hören. Mit brennenden Augen und halb benommen von dem
Staub, der in dichten Schwaden durch die Kirche zog und sich
schwer auf ihre Lungen legte, beobachtete Audrey, wie die
Sanitäter die toten Mädchen auf Bahren aus den Trümmern
trugen. Die verzweifelten Schreie der Angehörigen und das
Stöhnen der Verwundeten erfüllten die Luft. Audrey sah die
starren Gesichter ihrer Eltern und Geschwister und schloss
weinend Betty Ann in die Arme, die mit zerfetzter Bluse aus
dem Staub auf sie zukam. »Es… es wird niemals aufhören«,
sagte Audrey zu ihrer Freundin. »We are not afraid some
day!«, sang Betty Ann heiser.

Zur Beerdigung der Mädchen kamen über achttausend

Menschen, darunter zahlreiche Weiße, die nach diesem feigen
Mord nicht mehr nur schweigend zusehen wollten. Audrey war
unter den vielen Trauernden in der Sixteenth Street Baptist
Church und starrte mit verweinten Augen auf die Särge der
Mädchen. Neben ihr standen Edward, der noch am Sonntag
aus Atlanta gekommen war, und Betty Ann. Martin Luther
King betrat die Kanzel und sprach zur Trauergemeinde. Seine
Worte wurden in die ganze Welt übertragen. »Diese Kinder«,
klagte er mit fester Stimme an, »harmlos, unschuldig und
wunderschön, wurden zu Opfern eines der niederträchtigsten

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und abscheulichsten Verbrechen, das jemals gegen die
Menschlichkeit begangen wurde. Aber sie starben ehrenvoll.
Sie sind die Märtyrerinnen eines heiligen Kreuzzuges für
Freiheit und menschliche Würde. Sie starben nicht vergeblich.
Das unschuldige Blut dieser kleinen Mädchen könnte die
erlösende Kraft sein, die neues Licht in diese dunkle Stadt
bringt. Die Bibel sagt: »Ein kleines Kind wird sie führen.« Der
Tod dieser kleinen Mädchen könnte den ganzen Süden von der
dunklen Straße der Unmenschlichkeit auf die helle Straße von
Frieden und Brüderlichkeit führen. Dieses tragische Ereignis
könnte dem weißen Süden sein Gewissen wiedergeben.«
Audrey hörte ergriffen zu, als Martin Luther King die
verzweifelten Eltern tröstete: »Der Tod ist keine Sackgasse,
der die Menschen ins Nichts führt, er ist eine offene Tür zum
ewigen Leben!«

Sie folgte dem Trauerzug, der sich über die Sixteenth Avenue

bewegte, und sang »We shall overcome«.

»Am Ende unseres Weges wird Licht sein«, hörte sie Edward

sagen, und als sie sein Lächeln sah und den Druck seiner Hand
spürte, als sie Jay-Jay inmitten der Trauernden entdeckte, da
wusste sie, dass die Liebe immer stärker sein würde, stärker als
alles andere auf der Welt.

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Was danach geschah



Die Ermordung von Cynthia Dianne Wesley, Carol Denise
McNair, Carole Robinson und Addie Mae Collins gehört zu
den niederträchtigsten Verbrechen der amerikanischen
Geschichte. Die ganze Welt sah die Bilder aus Birmingham
und war entsetzt über das kaltblütige Vorgehen des Ku-Klux-
Klan. Noch unglaublicher aber waren die Ereignisse, die dem
feigen Anschlag folgten. Denn obwohl Robert E. Chambliss
als Bombenleger überführt wurde, dauerte es noch
sechsundzwanzig Jahre, bis er für sein entsetzliches
Verbrechen verurteilt wurde. Natürlich wurde er nach dem
Anschlag festgenommen und wegen Mordes und des
unerlaubten Besitzes von Dynamit angeklagt. Aber das Gericht
verkündete am 8. Oktober 1963 ein »Nicht schuldig«, was den
Mord betraf. Für den unerlaubten Besitz von Sprengstoff
wurde er zu einer Strafe von hundert Dollar und sechs
Monaten Gefängnis verurteilt. Zwei Jahre später glaubte das
FBI genügend Beweise gesammelt zu haben, um Robert E.
Chambliss, Bobby Frank Cherry, Thomas E. Blanton und
Herman Frank Cash erneut wegen Mordes anzuklagen. J.
Edgar Hoover, der langjährige FBI-Direktor, vereitelte eine
Festnahme. Ihm wurden später Kontakte zum Ku-Klux-Klan
nachgewiesen. 1968 wurde die Akte des »Sixteenth Street
Baptist Church Bombing« geschlossen.

Doch die Cahaba Boys freuten sich zu früh. 1971

beschäftigte sich Bill Baxley, der neue Generalstaatsanwalt
von Alabama, erneut mit dem Fall. Mit neuen Beweisen, vor
allem heimlichen Tonbandaufnahmen und Aussagen von
Familienmitgliedern und ehemaligen Freunden der

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Angeklagten, gelang es ihm, den Haupttäter zu überführen.
Am 18. November 1977 wurde der inzwischen 73-jährige
Robert E. Chambliss wegen Mordes zu einer lebenslänglichen
Haftstrafe verurteilt. Er starb am 29. Oktober 1985 in einem
Gefängnis in Alabama. Die Ermittlungen konzentrierten sich
nun auf die anderen drei Mörder. Herman Frank Cash starb
1994 und entzog sich auf diese Weise einer Verurteilung. Am
17. Mai 2000 standen Thomas E. Blanton und Bobby Frank
Cherry wieder vor Gericht. Inzwischen hatte das FBI eindeutig
bewiesen, dass die Cahaba Boys für den Anschlag
verantwortlich waren. Blanton erhielt am 1. Mai 2001 eine
lebenslange Haftstrafe. Erst ein Jahr später verurteilte ein
Gericht den 71-jährigen Bobby Frank Cherry zu derselben
Strafe. Der Mord an den vier Mädchen war endlich gesühnt!

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Die Fakten



Der Freiheitskampf der amerikanischen Schwarzen begann mit
dem Transport der ersten Sklaven in die USA. Bereits im 17.
Jahrhundert wurden afrikanische Männer, Frauen und Kinder
nach Amerika entführt, um dort auf den Baumwoll- und
Reisplantagen zu arbeiten. Die protestantische Mehrheit der
amerikanischen Siedler betrachtete diese Sklaven als
minderwertige Wesen. Gott bevorzugte die weiße Rasse, so
ihre feste Überzeugung, und hatte die Schwarzen geschaffen,
damit sie den Weißen dienten. Der Kernsatz der
amerikanischen Verfassung, alle Menschen seien gleich
geboren, bezog sich in ihren Augen nur auf die Weißen, die
»wirklichen« Menschen. 1669 wurde ein Gesetz verabschiedet,
das besagte: »Wenn ein Sklave nicht auf seinen Herrn hört
oder die Befehle anderer, die ihn beaufsichtigen, nicht befolgt
und die Zwangsgewalt dieser Person seinen Tod herbeiführt,
soll diese Tat nicht als Verbrechen bestraft werden.«

Doch schon damals gab es Weiße und Schwarze, die sich

gegen diese Herabsetzung der Schwarzen wehrten. Thomas
Jefferson, der Verfasser der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung, wollte den Satz »Es ist
unehrenhaft, ein Sklave zu sein« in die Verfassung aufnehmen,
wurde aber von den Abgeordneten aus dem ländlichen Süden
überstimmt. In den Aufzeichnungen von Thomas Jefferson ist
zu lesen: »Ich fürchte um mein Land, wenn ich daran denke,
dass Gott gerecht ist und sein Urteilsspruch einmal kommen
muss.« Im frühen 19. Jahrhundert wagten mehrere Schwarze,
unter ihnen der Freiheitskämpfer Nat Turner, einen Aufstand
und wurden von den Weißen gnadenlos bestraft.

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Noch vor dem Bürgerkrieg (1861-1865) gab es auch unter

den Weißen so genannte »Abolitionisten«, die sich öffentlich
gegen die Sklaverei wandten und den Sklaven sogar halfen,
von den Plantagen in den sicheren Norden und nach Kanada zu
fliehen. Über die »Underground Railroad«, ein Netz von
Fluchtwegen mit schwarzen und weißen Helfern, entkamen sie
der Zwangsherrschaft. (Nachzulesen in meinem Roman
»Hinter den Sternen die Freiheit«, der 2002 bei Ueberreuter
erschien.)

Der amerikanische Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den

Südstaaten wurde vor allem geführt, um die Vormachtstellung
des industriellen Nordens zu sichern. Er wandte sich aber auch
gegen die Unterdrückung der schwarzen Minderheit und
brachte die ersten Gesetze gegen die Sklaverei auf den Weg.
Nach dem Sieg des Nordens erklärte Präsident Abraham
Lincoln alle Schwarzen zu vollwertigen Bürgern und sicherte
ihnen das Wahlrecht zu. Zwei Anordnungen, die der Süden
noch im 20. Jahrhundert missachtete. Während des
Wiederaufbaus nach dem Bürgerkrieg, der so genannten
»Reconstruction« (1865-1877), formierte sich der Ku-Klux-
Klan, ein Geheimbund fanatischer Südstaatler, die mit Gewalt
gegen die schwarze Bevölkerung vorgingen. Vermummte
Gestalten in weißen Kutten peitschten Schwarze aus, töteten
unschuldige Männer, Frauen und Kinder und hinterließen eine
Spur der Verwüstung. Ihre brennenden Kreuze wurden zum
Symbol der gewaltsamen Unterdrückung.

Ein offizielles Verbot, das 1871 von Präsident Ulysses S.

Grant erlassen wurde, ließ das »unsichtbare Imperium« des
Klan nur vorübergehend von der Bildfläche verschwinden.
1915 lebte der Geheimbund in Georgia wieder auf. Die
Bevölkerung des Südens ließ ihn gewähren, lebte sie doch in
dem festen Glauben, der Schwarze sei ein Tier, das außerhalb
der Gesellschaft zu leben und dem weißen Herrenmenschen zu

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dienen habe. Die Schwarzen wurden auch im 20. Jahrhundert
gezwungen, in Slums zu leben, minderwertige Jobs
anzunehmen, den Weißen überall den Vortritt zu lassen und
die »Nur für Weiße«- und »Nur für Farbige«-Schilder zu
beachten. Ein Verbrechen an einem Schwarzen blieb vor allem
im Süden ungesühnt.

Die erste schwarze Organisation, die sich um die

Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner bemühte, war
die National Association for the Advancement of Colored
People (NAACP). Sie wandte sich mit aller Macht gegen die
ungesühnten Lynchmorde an unschuldigen Schwarzen,
unterstützte angeklagte Schwarze vor Gericht und setzte sich
öffentlich für eine Gleichstellung der Schwarzen und ihr
Wahlrecht ein. Den massiven Protesten der NAACP war auch
die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu verdanken, die
es schwarzen Kindern erlaubte, eine weiße Schule zu
besuchen. Der Süden missachtete dieses Gesetz und erließ ein
»Southern Manifesto«, das den Behörden vorschrieb, den
Bundesentscheid zu umgehen. 1957 versuchte die weiße
Menge, die schwarze Schülerin Elizabeth Eckford daran zu
hindern, die High School zu besuchen, und 1957 sah Präsident
Eisenhower sich gezwungen, Soldaten einzusetzen, um
schwarzen Schülern den Zugang zu einer weißen Schule im
amerikanischen Süden zu ermöglichen.

Zum Führer der Bürgerrechtsbewegung, die in den fünfziger

Jahren begann, sich gegen die Unterdrückung der Schwarzen
aufzulehnen, wurde Martin Luther King Jr. Er wurde am 15.
Januar 1929 als Sohn eines schwarzen Baptistenpastors in
Atlanta (Georgia) geboren und wuchs in einer behüteten
Umgebung auf. Nach der High School studierte er Soziologie
am Morehouse College in Atlanta, der einzigen Hochschule für
Schwarze. Er beschloss Pastor zu werden und predigte 1946
erstmals in der Ebenezer Baptist Church seines Vaters. Im

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Crozer Theological Seminary in Chester (Pennsylvania)
studierte er Theologie. Er las die Schriften von Mahatma
Gandhi und wurde zu einem aufrichtigen Bewunderer des
indischen Pazifisten. An der Boston University erhielt der
angehende Pastor im Jahr 1955 seine Doktorwürde. Zwei Jahre
zuvor, am 18. Juni 1953, hatte er Coretta Scott geheiratet.

Am 1. September 1954 trat Dr. Martin Luther King Jr. seine

erste Pfarrstelle in der Dexter Avenue Baptist Church in
Montgomery (Alabama) an. Auch in dieser Stadt wurden die
Schwarzen systematisch unterdrückt. Am 1. Dezember 1955
weigerte sich die Schwarze Rosa Parks, ihren Sitzplatz in
einem Stadtbus für einen Weißen frei zu machen. Sie wurde
festgenommen. Martin Luther King gehörte zu den Pastoren,
die alle Schwarzen der Stadt zu einem Busboykott und dem
gewaltlosen Widerstand gegen die weißen Behörden aufriefen.
Als Präsident der neu gegründeten Montgomery Improvement
Association setzte er sich vehement für die Befreiung von
Rosa Parks ein. Selbst als am 30. Januar 1956 eine Bombe auf
der Veranda seines Hauses explodierte, sagte er: »Wir müssen
der Gewalt mit Gewaltlosigkeit begegnen! Wir müssen Hass
mit Liebe beantworten!«

Nach einem Jahr zeigte der Boykott endlich den gewünschten

Erfolg. Die Rassentrennung in den öffentlichen
Verkehrsmitteln wurde aufgehoben. Doch die weißen
Fanatiker gaben sich noch lange nicht geschlagen. In
Birmingham bombardierten sie das Haus des Pastors Fred
Shuttlesworth und der Ku-Klux-Klan schüchterte die
aufbegehrenden Schwarzen mit willkürlichen Gewaltakten und
Lynchmorden ein. Um den Protest der Schwarzen in
organisierte Bahnen zu lenken, gründete man die Southern
Christian Leadership Conference (SCLC). Martin Luther King
war ihr erster Präsident, Ralph Abernathy und Wyatt T.
Walker wurden zu seinen engsten Mitarbeitern. Sie

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unterstützten die meist jungen Schwarzen, die bereits 1957 zu
Protestaktionen aufriefen und sich mit Sit-ins in Drugstores,
Hotels, Kinos, Büchereien und anderen öffentlichen Gebäuden
gegen die Diskriminierung wandten.

Die SCLC, NAACP, der Congress On Racial Equality

(CORE) und das neue Student Nonviolent Coordinating
Committee (SNCC) standen auch hinter den »Freedom Rides«,
die 1961 für Aufsehen sorgten. Um gegen die Rassentrennung
zu protestieren, die in den Überlandbussen vorherrschte, wollte
man zwei Busse mit jungen Schwarzen und Weißen durch den
Süden schicken. Die Weißen würden versuchen, die
Warteräume und Toiletten mit dem »Nur für Farbige«-Schild
zu benutzen, und die Schwarzen würden die Türen mit dem
»Nur für Weiße«-Schild öffnen. Aufgebrachte Klansmänner
stoppten den einen Bus in Anniston (Alabama), warfen einen
Brandsatz ins Innere und verprügelten die Insassen. Am
Muttertag des Jahres 1961 sah die Polizei dann zu, wie
wütende Weiße die Passagiere des anderen Busses
niederknüppelten. Einer der Schwarzen fiel ins Koma.

Dennoch behielt Martin Luther King seine Strategie des

gewaltfreien Widerstands aufrecht. Im Februar 1963 ging er
nach Birmingham (Alabama), der berüchtigtsten Stadt des
amerikanischen Südens. Hier war der Widerstand gegen die
schwarze Bürgerrechtsbewegung am größten. Dennoch
entschlossen sich Martin Luther King und seine Mitarbeiter,
dieser Übermacht mit friedlichen Protestmärschen und Sit-ins
zu begegnen. Die Polizei ging rigoros vor und die Gefängnisse
füllten sich mit Schwarzen. Auch Martin Luther King wurde
festgenommen und schrieb seinen berühmten »Letter from
Birmingham Jail« an jene Pastoren, die mit seinen Aktionen
nicht einverstanden waren. Unter dem Druck der Regierung
John F. Kennedys gab die Stadt im Sommer 1963 nach.

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Am 28. August 1963 versammelte sich über eine viertel

Million Menschen in Washington, D.C. um die Inkraftsetzung
der neuen Bürgerrechtsgesetze zu beschleunigen. Martin
Luther King hielt seine berühmte Rede »Ich habe einen
Traum«. Seine Worte gingen wie die Botschaft eines
Propheten um die Welt. Doch sein Optimismus war verfrüht,
denn auch im Herbst dieses Jahres regierte die Gewalt. Am 15.
September bombardierten die Cahaba Boys die Sixteenth
Street Baptist Church. Am 22. November wurde Präsident
John F. Kennedy von einem Attentäter ermordet.

1964 erhielt Martin Luther King den Friedensnobelpreis.

Obwohl die Bürgerrechtsgesetze im Juli 1964 in Kraft getreten
waren, herrschte immer noch Unrecht und King fühlte sich
ermutigt seine Proteste weiterzuführen. In Selma (Alabama)
setzte er sich für das Wahlrecht der schwarzen Bevölkerung
ein. Sheriff Jim Clark ließ die Demonstranten mit Gewalt
vertreiben. Am Sonntag, dem 7. März 1965, wollte Martin
Luther King einen Protestmarsch von Selma nach Montgomery
durchführen, aber die Polizei hatte rechtzeitig von seinem Plan
erfahren und trieb die Marschierer an der Edmund Pettus
Bridge mit Tränengas und Knüppeln zurück. Am 9. März
wurde James Reeb, ein Pastor aus Boston, von weißen
Radikalen angepöbelt. Er bekam einen Schlag auf den Kopf
und starb im Krankenhaus. Sein sinnloser Tod bestärkte Martin
Luther King und zahlreiche Menschen aus allen Teilen des
Landes, den Marsch noch einmal zu versuchen und die Willkür
des militanten Gouverneurs Wallace zu brechen.

Am Sonntag, dem 21. März 1965, war es so weit. Martin

Luther King und seine dreitausend Anhänger marschierten
über die Edmund Pettus Bridge. Diesmal wurden sie von der
Nationalgarde beschützt. Auf dem letzten Stück des Weges
bekamen sie Beistand von über zehntausend Demonstranten,
darunter auch bekannte Sänger wie Harry Belafonte und Joan

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Baez. Am 25. März sprach Martin Luther King vor dem
Kapitol. Gouverneur Wallace weigerte sich, die Petition der
Schwarzen für ein generelles Wahlrecht anzunehmen, aber
seine Reaktion ging im Jubel der versammelten Marschierer
unter, die ihre Aktion als triumphalen Erfolg feierten. Kein
halbes Jahr später unterschrieb Präsident Lyndon B. Johnson
die Voting Rights Bill. Die Gleichstellung der Schwarzen war
damit noch längst nicht gewährleistet. Im amerikanischen
Süden wehrte man sich noch immer vehement gegen die neuen
Gesetze. Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King vor dem
Lorraine Motel in Memphis (Tennessee) von einem weißen
Attentäter erschossen. Doch seine Idee lebt weiter. Seinem
Erbe ist es zu verdanken, dass der amerikanische Süden in eine
neue und bessere Zukunft blickt. Zu seinen Ehren wird an
jedem dritten Montag im Januar »Martin Luther King’s
Birthday« gefeiert, zum Andenken an einen großen Mann.

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Nachwort



Ich interessiere mich seit meiner Kindheit für die Geschichte
der USA. Für dieses Buch war ich monatelang in den
amerikanischen Südstaaten und in Birmingham (Alabama)
unterwegs. Ich sprach mit schwarzen Zeitzeugen, stöberte in
Bibliotheken und Archiven, studierte die alten Fernsehberichte
und Zeitungsartikel und stand im Kelly Ingram Park und in der
Sixteenth Street Baptist Church und stellte mir vor, wie es
damals gewesen sein muss. Das ist meine Art, für ein Buch
wie »Sie hatten einen Traum« zu recherchieren. Seit jenem
heißen Sommer hat sich viel in Birmingham geändert und
Weiße und Schwarze leben heute friedlich nebeneinander. Der
Ku-Klux-Klan arbeitet nur noch im Verborgenen und kann die
Liberalisierung des amerikanischen Südens nicht länger
verhindern. Obwohl es bis zur völligen Gleichberechtigung
immer noch ein weiter Weg ist.

Zu den Fachbüchern, die ich für diesen Roman gelesen habe,

gehören unter anderem folgende Werke: »Carry Me Home«
von Diane McWhorter, »The Autobiography of Martin Luther
King Jr.« von Martin Luther King, »The Civil Rights
Movement« von Paul A. Winters, »Eyes on the Prize« von
Juan Williams, »My Soul Is A Witness« von Bettye C. Thomas
und V. P. Franklin, »Martin Luther King Jr.« von Brendan
January, »Freedom Bound« von Robert Weisbrot, »Ich habe
einen Traum« von Martin Luther King, »The Fiery Cross« von
Wyn Craig Wade, »Hooded Americanism« von David M.
Chalmers und »The Invisible Empire« von Albion W. Tourgee
sowie zahlreiche Zeitschriften, Zeitungen und Websites.

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Wer mehr über meine Person und meine Arbeit wissen

möchte, schreibt an

Thomas Jeier
c/o Verlag Carl Ueberreuter
Alser Straße 24,
Postfach 306
A-1091 Wien

oder schlägt meine Website im Internet auf: www.jeier.de


Ich bitte um Verständnis, wenn meine Antwort auf sich warten
lässt. Ich bin oft unterwegs, um für meine Bücher zu
recherchieren.


Thomas Jeier


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