Die Judenbuche und Erzählungen


Die Judenbuche und Erzählungen

Als ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen gibt sich im Untertitel Die Judenbuche, Annette von Droste-Hülshoffs berühmteste Erzählung, aus - und verspricht, obwohl sie auch etwas ganz anderes ist, keineswegs zuviel. Schon der Beginn der Erzählung führt den Leser, fast in der Manier eines Handbuches, in die Besonderheiten der Topographie und der Bewohner des westfälischen Walddorfes B. ein: »Holz- und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung, und bei den häufig vorfallenden Schlägereien hatte sich jeder selbst seines zerschlagenen Kopfes zu trösten.« In diesem Umfeld wächst Friedrich Mergel auf, der zusätzlich den gewalttätigen, vom Alkoholmißbrauch entfremdeten Vater als prägende Gestalt erleben muß. Doch auch in die Figur der frommen, Rosenkränze betenden Mutter hat die Autorin unübersehbar aggressive Züge gezeichnet: »'Verfluchter Junge [...]. Wart, ich muß einmal sehen, ob du keine Zunge im Munde hast!'« - das ist der Umgangston im Hause Mergel, das durch die Lebensweise und den frühen Tod des Vaters auch noch finanziell in den Ruin treibt.

Die Armut ist nicht so sehr wegen der materiellen Not eine Belastung, sondern vor allem wegen der sozialen Diskriminierung, die sie mit sich zieht. So gehört Friedrich ohne sein Zutun zu denjenigen Dorfbewohnern, denen eine Verbindung zu den Holzfrevlern unterstellt wird. Die Gehässigkeit, mit der ihm die Etablierten, verkörpert durch den Oberförster Brandis, begegnen, bedeutet eine dauernde Demütigung: »'[...] ich möchte dich prügeln wie einen Hund, und mehr seid ihr auch nicht wert. Ihr Lumpenpack, dem kein Ziegel auf dem Dach gehört! Bis zum Betteln habt ihr es, gottlob, bald gebracht, und an meiner Tür soll deine Mutter, die alte Hexe, keine verschimmelte Brotrinde bekommen.'«

Daß letztlich die Mutter und Friedrich mit den Holzfrevlern tatsächlich sympathisieren und dem halbkriminellen Milieu zuzurechnen sind, ändert nichts an der Tatsache, daß sie von der Dorfgemeinschaft ohnehin in diese Position gedrängt worden wären: die Fakten bestätigen nur das, was aufgrund der gegebenen Verhältnisse ihnen a priori zugewiesen wird. Der Oberförster wird getötet, und einmal mehr wiederholt sich der Mechanismus: Der Verdacht fällt auf Friedrich, er muß ein langes und demütigendes Verhör über sich ergehen lassen, obwohl sein Alibi einwandfrei ist: jetzt bereits ist er in den Augen der Dorfjustiz das, was er erst später de facto werden wird: ein Mörder. Eine fatale Umkehrung des Sprichworts Wer einmal lügt... findet statt.

Der Auslöser für die Katastrophe ist konsequenterweise wieder eine Erniedrigung. Die Rückforderungen Aarons vor der Öffentlichkeit sind für Friedrich »vernichtend«, noch eben war er - wieder nur eine Verdächtigung - gehänselt worden, ob er denn die Uhr, die er stolz zeigte, bezahlt habe, und dies ausgerechnet in dem Augenblick, als sein »Schützling« Johannes beim Diebstahl von einem halben Pfund Butter ertappt worden ist: »Er kehrte niedergeschlagen zurück; seine Würde war verletzt, das allgemeine Gelächter schnitt ihm durch die Seele«. Daß der Ausbruch von Friedrichs angestauter Wut, die sich bisher höchstens durch »ein paar derbe Zurechtweisungen mit der Faust« Luft verschafft hatte, ausgerechnet in dem Juden Aaron ein Opfer findet, ist eine weitere Folge des Zusammentreffens von Friedrichs psychischer Situation mit den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen. Für Friedrich ist der Zeitpunkt von Aarons Auftritt durch das Vorangegangene äußerst schmerzlich, zumal dieser auf einer Dorfhochzeit stattfindet und niemandem verborgen bleibt.

Andererseits handelt es sich um einen Juden. Daß diese Gruppe marginalisiert ist und einen niedrigeren Status als die nicht-jüdischen Bewohner der Gegend einnimmt, geht nicht erst aus der Szene selbst hervor, in welcher auch »'Packt den Juden! Wiegt ihn gegen ein Schwein!'« gerufen wird, obwohl Aarons Forderungen völlig legitim sind. Schon als Kind wird Friedrich anläßlich eines Vorfalls im Dorf von der Mutter erklärt: »'Hat er dem Aaron Geld genommen, so hat ihn der verfluchte Jude gewiß zuvor darum betrogen. Hülsmeyer ist ein ordentlicher angesessener Mann, und die Juden sind alle Schelme.'« Der gesellschaftliche Druck führt dazu, daß die benachteiligten Gruppen sich nicht etwa solidarisch zueinander verhalten, sondern im Gegenteil die eigene Ohnmacht an den anderen, ebenfalls Schwachen, versuchen zu relativieren.

So bedeutet Aarons Versuch, seine Schulden einzutreiben, für Friedrich den Höhepunkt der Schmach. Während er seinem Rivalen Wilm, der es als einziger »wagte[,] im Bewußtsein seiner Kraft und guter Verhältnisse ihm die Spitze zu bieten«, nicht beikommen kann, ist die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung gegenüber einem als 'minderwertig' wahrgenommenen Menschen so gesenkt, daß an diesem Punkt von Friedrichs Biographie der Mord nur als folgerichtig gesehen werden kann.

Mit sparsamen Mitteln und höchster Präzision entfaltet Annette von Droste-Hülshoff dieses Sittengemälde vor den Augen des Lesers. Um gut ein halbes Jahrhundert nimmt sie vorweg, was einer der zentralen programmatischen Punkte des Naturalismus sein wird: die Bedeutung des Milieus für die charakterliche Entwicklung und das Handeln jedes Menschen. Die Ansiedlung des Geschehens in der untersten Gesellschaftsschicht, die Verwahrlosung, der Alkoholismus, die Unentrinnbarkeit des Geschehens - all das sind Elemente, die in den Dramen eines Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Johannes Schlaf wiederkehren werden.

Eine eigene, für die Autorin charakteristische Rolle spielt dagegen (es klingt wie ein Wortspiel) die Natur. Annette von Droste-Hülshoff kann - mit Sicherheit zu Recht - als Naturlyrikerin par excellence bezeichnet werden. Was immer diese Bezeichnung im einzelnen aussagen mag, sie bezieht sich auf ein Merkmal ihres Œuvres, das sie in eine Reihe mit Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann und Peter Huchel stellt: Natur und ihre Erscheinungen sind nie bloßer Hintergrund, nie bloße Träger von Stimmungen, nie bloß Symbole: sie sind wesenhaft, sind am Weltgeschehen beteiligt, besitzen geheimnisvolle Macht.

Es ist also kein Zufall, daß die Erzählung nicht nach einem Menschen oder einem inhaltlichen Aspekt benannt ist, sondern nach dem Baum, der Zeuge der Bluttat ist. Die in der Inschrift enthaltene Prophezeiung erfüllt sich; überhaupt ereignen sich alle Todesfälle im Brederholz, das so zu einem Ort des Unheimlichen und Bedrohlichen wächst. Und doch wäre es falsch, die Rolle der Natur als Richterin, gar als Rächerin überzubewerten. Alle Geschehnisse bleiben rational erklärbar; der Wald, die stürmische Nacht haben Bezug zu den Ereignissen, treten jedoch nie als selbständige Mächte auf. Nichts Übernatürliches spielt sich ab, sondern das Drama eines Menschen, das von der Natur einen besonderen, magischen Rahmen erhält. In der Koinzidenz von individuellem Schicksal und Naturgegebenheiten kann und muß ein 'Sinn' vermutet werden, etwas Sinnhaftes, das über die Grenzen des empirisch Erfaßbaren hinausgeht. Allerdings ist die - oft vorgenommene - Übertragung eines höheren Richteramtes auf die Natur eine Über-, wenn nicht gar Fehlinterpretation. Die Natur ist in dieser Erzählung weder eine handelnde noch eine Handlung bestimmende Instanz.

Das zeigt mit aller Deutlichkeit die Konzeption des Textes. Bei allem Furchtbaren, das sich ereignet, bleibt eine Distanz zum Geschehen und den Personen bewahrt; obwohl der Stoff sich gut dazu eignete, vermeidet die Autorin jegliche Nähe zur Schauergeschichte. Kühl, sachlich, oft mit genauen Datums- und Uhrzeitangaben betont der Text seinen dokumentarischen Anspruch; es gibt keine echten Sympathieträger, dafür aber auch keine ausgesprochenen Bösewichte, und über die inneren Regungen der Personen erfährt der Leser nur soviel, wie er als guter Beobachter aus dem Wahrnehmbaren selbst erschließen könnte.



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