spielendes, kindliches Schwimmen im Strom des Ge-schlechts, voll Reiz, voll Gefahr, voll Uberraschung. Und ich staunte dariiber, wie reich mein Leben, mein scheinbar so armes und liebloscs Steppenwolflcben, an Verliebthei-ten, an Gelegenheiten, an Lockungen gewesen war. Ich hatte sie fast alle versaumt und geflohen, war iiher sie hin-weggestolpert, hatte sie schleunigst vergcssen - aber hier waren sie alle aufbewahrt, liickenlos, Hunderte. Und jetzt sah ich sie, gab mich ihnen hin, stand ihnen offen, sank in ihre rosig dammernde Unterwelt hinab. Auch jene Verfiih-rung kchrte wieder, die mir Pablo einst angebotcn hatte, und andre, friihere, die ich zu ihrer Zeit nicht einmal be-griffen hatte, phantastische Spiele zu dreien und vieren, la-chelnd nahmen sie mich in ihren Reigen mit. Viele Dinge geschahen, viele Spiele wurden gcspielt, nicht mit Worten zu sagen.
Aus dem unendlichen Strom der Lockungen, der Laster, der Verstrickungen tauchte ich wieder empor, still, schweigend, gerustet, mit Wissen gesattigt, weise, tief erfahren, reif fur Hermine. Ais letzte Figur in meiner tausendgestaltigen My-thologie, ais letzter Name in der unendlichen Reihe tauchte sie auf, Hermine, und zugleich kehrte mir das Bewufitsein wieder und machte dem Liebesmarchcn ein Ende, denn ihr wollte ich nicht hier in der Dammerung eines Zauberspie-gels begegnen, ihr gehórte der ganze Harry. Oh, ich wiirde nun mein Figurenspiel so umbauen, dali alles sich auf sie bezog und zur Erfiillung fiihrtc.
Der Strom hatte mich an Land gespiilt, wieder stand ich im schweigenden Logengang des Theaters. Was nun? Ich griff nach den Figiirchen in meiner-Tasche, aber schon war die-ser Antrieb wieder verbla(5t. Unerschópflich umgab mich diese Welt der Tiiren, der Inschriften, der magischen Spie-gcl. Willenlos las ich die nachstc Aufschrift und schau-derte:
Wie man durch Liebe tótet
stand da geschrieben. Schncll aufzuckend Icuchtete ein Er-innerungsbild in mir, eine Sekundę lang: Hermine, am Tisch eines Restaurants, plotzlich von Wein und Speisen
weg in ein abgrundigcs Gesprach verlorcn, furchtbaren Ernst im Blick, wie sie mir sagte, daG sie mich nur darum in sich verliebt machen werde, um von meiner Hand gctótet zu werden. Eine schwere Woge von Angst und Dunkelhcit flutete iiber mein Herz, plótzlich stand wieder alles vor mii. plótzlich spiirte ich im Innersten wieder Not und Schicksal Verzweifelnd griff ich in meinc Tasche, um die Figuręn hervorzulangen, um ein wenig Magie zu treiben und die Ordnung meines Schachbrettes umzustellen. Es waren keine Figuren mehr da. Statt der Figuren zog ich ein Messer aus der Tasche. Zu Tode erschrocken lief ich durch den Korridor, an den Turen vorbei, stand plótzlich dem riesigen Spiegel gegeniiber, blickte hinein. Im Spiegel stand, hoch wie ich, ein riesiger, schóner Wolf, stand still, blitzte scheu aus unruhigen Augen. Flackernd blinzelte er mich an, lachte ein wenig, daG die Lefzen sich einen Augenblick trennten und die rotę Zunge zu sehen war.
Wo war Pablo? Wo war Hermine? Wo war der kluge Kerl. der so hubsch vom Aufbau der Persónlichkeit geschwatzi hatte?
Nochmals blickte ich in den Spiegel. Ich war toll gewesen. Kein Wolf stand hinter dem hohen Glas und rollte die Zunge im Maul. Im Spiegel stand Ich, stand Harry, mii grauem Gesicht, von allen Spielen verlassen, von allen Lastern ermudet, scheuGlich bleich, aber immerhin ein Mensch, immerhin jemand, mit dcm man reden konnte. „Harry", sagte ich, „was tust du da?"
„Nichts", sagte der im Spiegel, „ich warte nur. Ich warte auf den Tod.“
„Wo ist denn der Tod?“ fragte ich.
„Er kommt“, sagte der andere. Und ich hórte, aus den lee-ren Raumen im Innern des Theaters her, eine Musik tónen, eine schóne und schreckliche Musik, jene Musik aus dem „Don Juan", die das Auftreten des steinernen Gastes beglei-tet. Schauerlich hallten die eisigen Klange durch das gc-spenstische Haus, aus dem Jenseits, von den Unsterblichcn kommend.
„Mozart!" dachte ich und beschwor damit die geliebtesten und hóchsten Bilder meines inneren Lebens.
Da klang hinter mir ein Gelachter, ein helles und eiskaltes Gelachter. aus einem den Menschen unerhórten Jenseits
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