Obraz9 (10)

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wollte, und ich blickte ihn vorwurfsvoll an. Da neigte er sich vor und brachte seinen Mund, den schon ganz kindlich gcwordenen Mund, dicht an mein Ohr und fliisterte leise in mein Ohr hinein: „Mein Jungę, du nimmst den alten Goethe viel zu ernst. Alte Leute, die schon gestorben sind, mul? man nicht ernst nehmen, man tut ihnen sonst unrecht. Wir Unsterblichen lieben das Ernstnehmen nicht, wir lieben den Spal?. Der Ernst, mein Jungę, ist eine Angelegenheit der Zeit; er entsteht, sovieI will ich dir verraten, aus eincr Uberschatzung der Zeit. Auch ich habe den Wert der Zeit einst uberschatzt, darum wollte ich hundert Jahre alt wer-den. In der Ewigkeit aber, siehst du, gibt es keine Zeit; die Ewigkeit ist ein Augenblick, gerade lang genug fur einen SpaC.“

In der Tat war kein ernstes Wort mehr mit dem Mann zu reden, er tanzelte vergnugt und gelenkig auf und nieder und liefi die Primel aus seinem Stern bald wie eine Rakete herausschiefien, bald klein werden und verschwinden. Wahrend er mit seinen Tanzschritten und Figuren glanzte, tnulStc ich denken, dal? dieser Mann es wenigstens nicht versaumt habe, tanzen zu lernen. Er konnte es wunder-voll. Da fiel der Skorpion mir wieder ein, oder vielmehr Molly, und ich rief Goethe zu: „Sagen Sie, ist Molly nicht da?“

Goethe lachte laut. Er ging zu seinem Tisch, schlol? ein Schubfach auf, nahm eine kostbare, lederne oder samtene Dose heraus, óffnete sie und hielt sie mir unter die Augen. Da lag klein, tadellos und schimmernd ein winzigcs Frauen-bein auf dem dunklen Samt, ein entziickendes Bein, im Knie ein wenig gebogen, der Ful? nach unten gestreckt, in die zierlichsten Zehen spitz auslaufend.

Ich streckte die Hand aus und wollte das kleine Bein an mich nehmen, das mich ganz verliebt machte, aber sowie ich mit zwei Fingern zugreifen wollte, schien das Spielzeug sich mit einem winzigen Zuck zu bewegen, und es kam mir plótzlicłi der Verdacht, dies konnte der Skorpion sein. Goethe schien das zu begreifen, schien sogar gerade das gewollt und bezweckt zu haben, diese tiefe Verlegenheit, diesen zuckenden Zwiespalt von Begehren und Angst. Er hielt mir das reizendc Skorpiónchen ganz nahe vors Gesicht, sah mich danach verlangen, sah mich davor zuriickschaudern, und dies schien ihm ein gro Ges Vergniigen zu machen. Wahrend er mich mit dem holden gefahrlichen Ding neckte, war er wieder ganz alt geworden, uralt, tausend Jahre alt, mit schneeweifiem Haar, und sein welkes Greisen-gesicht lachte still und lautlos, lachte heftig in sich hincin mit einem abgriindigen Greisenhumor.

Ais ich erwachte, hatte ich den Traum vergessen, erst spater fiel er mir wieder ein. Ich hatte wohl gegen eine Stunde ge-schlafen, mitten in Musik und Getriebe, am Wirtshaustisch, nie hatte ich das fik móglich gehalten. Das liebe Madchen stand vor mir, eine Hand auf mciner Schulter.

„Gib mir zwei oder drei Mark", sagte sie, „ich habe druhen etwas verzehrt.“

Ich gab ihr meinen Geldbeutel, sie ging damit und kam bald wieder.

„So, jetzt kann ich noch ein kleines Weilchen bei dir sitzen, dann mufi ich gehen, ich habe eine Verabredung.“

Ich erschrak. „Mit wem denn?“ fragte ich schnell.

„Mit einem Herrn, kleiner Harry. Er hat mich in die Odeon-Bar eingeladen."

„Oh, ich dachte, du wurdest mich nicht allcin lassen." „Dann hattest eben du mich einladen mussen. Es ist dir ei-ner zuvorgekommen. Nun, du sparst hiibsch Geld dabei. Kennst du das Odeon? Nach Mitternacht nur Champagner. Klubsessel, Negerkapelle, sehr fein.“

Dies alles hatte Ich nicht bedacht.

„Ach", sagte ich bittend, „lafi dich doch von mir einladen! Ich hielt das fur selbstverstandlich, wir sind doch Freunde geworden. LaG dich einladen, wohin du willst, ich bitte dich."

„Das ist nett von dir. Aber schau, ein Wort ist ein Wort, ich habe angenommen, und ich werde hingehen. Gib dir keine Miihe mehr! Komm, nimm noch einen Schluck, wir haben ja noch Wein in der Flasche. Den trinkst du aus und gehst dann hiibsch nach Hause und schlafst. Versprich mir’s." „Nein, du, nach Hause kann ich nicht gehen."

„Ach du, mit deinen Geschichten! Bist du noch immer nicht mit dem Goethe fertig?" (In diesem Augenblick fiel mir der Goethetraum wieder ein.) „Aber wenn du wirklich nicht heimgehen kannst, dann bleib hier im Haus, es sind Frem-

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