denzimmcr da. Soli ich dir eins besorgen?"
Ich war damit zufrieden und fragte, wo ich sie wiedersehcn konne. Wo sie denn wohne? Das sagte sie mir nicht. Ich solle nur ein wenig suchen, dann fande ich sie schon.
„Darf ich dich nicht einladen?"
„Wohin?"
„Wohin du magst und wann du magst.“
„Gut. Am Dienstag zum Abendessen im Alten Franziska-ner, im ersten Stock. Auf Wiedersehen!"
Sie gab mir die Hand, und erst jetzt fiel diese Hand mir auf, eine Hand, die ganz zu ihrer Stimme paGte, schon und voll, klug und gutig. Sie lachte spóttisch, ais ich ihr die Hand kuGte.
Und im letzten Augenblick wandte sie sich nochmals zu mir um und sagte: „Ich will dir noch etwas sagen, wegen des Goethe. Schau, so, wie es dir mit dem Goethe gegangen ist, daG du das Bild von ihm nicht vertragen konntest, so geht es mir manchmal mit den Heiligen."
„Den Heiligen? Bist du so fromm?“
„Nein, ich bin nicht fromm, leider, aber ich bin es einmal gewesen und werde es einmal wieder sein. Man hat ja keine Zeit zum Frommsein."
„Keine Zeit? Braucht mann denn Zeit dazu?“
„O ja. Zum Frommsein braucht man Zeit, man braucht so-gar noch mehr: Unabhangigkeit von der Zeit! Du kannst nicht ernstlich fromm sein und zugleich in der Wirklichkeit leben und sie auch noch ernst nehmen: die Zeit, das Geld, die Odeon-Bar und all das.“
„Ich verstehe. Aber wie ist das mit den Heiligen?"
„Ja, da gibt es manche Heilige, die habe ich besonders gem: den Stefan, den heiligen Franz und andere. Von ihnen sehe ich nun manchmal Bilder und auch vom Heiland und der Muttergottes, solche verlogene, verfalschte, verdummte Bilder, und die kann ich gerade so wenig ausstehen wie du je-nes Goethebild. Wenn ich so einen siiGen dummen Heiland oder heiligen Franz sehe und sehe, wie andere diese Bilder schon und erbaulich finden, dann spiire ich es wie eine Be-leidigung des richtigen Heilands und denke: ach, wozu hat er gelebt und furchtbar gelitten, wenn den Leuten schon so ein dummes Bild von ihm geniigt! Aber ich weiG trotzdem, daG auch metn Heiland- oder Franzbild bloG ein Menschen-bild ist und an das Urbild nicht hinreicht, da 15 dem Heiland selbst mein inneres Heilandbild gerade so dumm und unzu-langlich vorkommen wiirde wie mir jene siifilichen Nachbil-der. Ich sagę dir das nicht, um dir in deiner Verstimmung und Wut gegen das Góethebild recht zu geben, nein, du bist da im Unrecht. Ich sagę es blofi, um dir zu zeigen, dafi ich dich verstehen kann. Ihr Gelehrte und Kunstler habt ja allerlei aparte Sachen in euren Kópfen, aber ihr seid Men-schen wie andre, und auch wir andern haben unsre Traume und Spiele im Kopf. Ich habe namlich gemerkt, gelehrter Herr, dafi du ein bifichen in Verlegenheit kamst, wie du mir deine Goethegeschichte erzahlen solltest - du mufitest dich anstrengen, um deine idealen Sachen so einem einfachen Madchen verstandlich zu machen. Nun, und da móchte ich dir doch zeigen, dafi du dich nicht so anzustrengen brauchst. Ich verstehe dich schon. So, und jetzt Schlufi! Du gehórst ins Bett.“
Sie ging, und mich fiihrte ein greiser Hausdiener zwei Trep-pen hinauf, vielmehr, erst fragte er nach meinem Gepack, und ais er hórte, es sei keines da, mufite ich das, was er „Schlafgeld“ nannte, vorausbezahlen. Dann brachte er mich, durch ein altes finstres Treppenhaus, in eine Kammer hinauf und liefi mich allein. Da stand ein diirres Holzbett, sehr kurz und hart, und an der Wand hing ein Sabel und ein far-biges Bildnis von Garibaldi, auch ein verwelkter Kranz von einer Vereinsfeier. Fur ein Nachthemd hatte ich viel gege-ben. Wenigstens war Wasser und ein kleines Handtuch da, ich konnte mich waschen, dann legte ich mich in den Klei-dern aufs Bett, liefi das Licht brennen und hatte Zeit zum Nachdenken. Also mit Goethe war ich jetzt in Ordnung. Herrlich, dafi er im Traum zu mir gekommen war! Und die-ses wunderbare Madchen - wenn ich doch ihren Namen gewufit hatte! Plótzlich ein Mensch, ein lebendiger Mensch, der die triibe Glasglocke meiner Abgestorbenheit zerschlug und mir die Hand hinstreckte, eine gute, schóne, warme Hand! Plótzlich wieder Dinge, die mich etwas angingen, an die ich mit Freude, mit Sorge, mit Spannung denken konnte. Plótzlich eine Tiire offen, durch die das Leben zu mir hereinkam! Ich konnte vielleicht wieder leben, ich konnte vielleicht wieder ein Mensch werden. Meine Seeie, in der Kalte eingeschlafen und nahezu erfroren, atmete wie-
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