nen, lachen zu lernen, leben zu lerncn. Ich abcr brauche dich, nicht heute, spater, auch zu etwas sehr Wichtigem und Schónem. Ich werde dir, wenn du in mich verliebt sein wirst, meinen letzten Befehl gcbcn, und du wirst gehor-chen, und das wird fur dich und mich gut sein.“
Sie hob eine von den braunvioletten, griingeaderten Orchi-decn ein wcnig im Glasc, beugte ihr Gesicht einen Augen-blick dariiber und starrte die Blume an.
„Du wirst es nicht leicht haben, aber du wirst es tun. Du wirst meinen Befehl erfiillen und wirst mich tóten. Das ist es. Frage mich nicht mehr!“
Mit dem Blick noch bei der Orchidee, verstummte sie, ihr Gesicht entspannte sich, wie eine aufgehende Blumen-knospe entrolltc es sich aus Druck und Spannung, und pldtzlich stand ein entziickendes Lacheln auf ihren Lippcn, wahrend die Augen noch einen Augenblick starr und ge-bannt blieben. Und jetzt schuttelte sie den Kopf mit der kleinen Bubenlocke, trank einen Schluck Wasser, sah plótz-lich wieder, dafi wir am Essen waren, und fiel mit freudi-gem Appetit uber die Speisen her.
Ich hatte Wort fur Won ihrer unheimlich.cn Rcdc deutlich gehórt, hatte sogar ihren „letzten Befehl" erraten, noch ehe sie ihn aussprach, und war uber das „Du wirst mich tóten" nicht mehr erschrocken. Alles, was sie sagte, klang mir iiber-zeugend und schicksalhaft, ich nahm es an und wehrte mich nicht dagegen, und doch war alles, trotz dem grauenhaften Ernst, mit dem sie gesprochen hatte, fur mich ohne volle Wirklichkeit und Ernsthaftigkeit. Ein Teil mciner Secie sog ihre Worte auf und glaubtc ihncn, ein andrer Teil meiner Seele nicktc begiitigend und nahm zur Kenntnis, dafi also doch auch diese so kluge, gesunde und sichere Hermine ihre Phantasien und Dammerzustande habe. Kaum war ihr letz-tes Wort gesprochen, so iiberzog eine Schicht von Unwirk lichkeii und Unwirksamkeit die ganze Szene.
Immerhin konnte ich nicht mit derselben seiltanzerischen Leichtigkeit wie Hermine den Sprung ins Wahrscheinlichc und Wirkliche zuriick tun.
„Also ich werde dich einmal tóten?" fragte ich, leise nach traumend, wahrend sie schon wieder lachte und voll Eifer ihr Gefliigel zerschnitt.
„Natiirlich", nickte sie obenhin, „gcnug davon, es ist Es scnszeit, Harry, sei nett und bestelle mir noch ein wenig griinen Sałat! Hast du denn keinen Appctit? Ich glaube. du inufit alles lernen, was sich bei andern Menschen von selber vcrsteht, sogar dic Freude am Essen. Also sieh, Kleiner, dies hier ist ein Entenbeinchen, und wenn man das helle hubsche Fleisch vom Knochen lóst, dann ist das ein Fest, und es mufi einem dabei gerade so appetitlich und span-nend und dankbar ums Herz sein, wie einem Verliebten, wenn er seinem Madchen zum erstenmal aus der Jacke hilft. I iast du verstanden? Nicht? Du bisi ein Schaf. PaC auf, ich gebe dir ein Stiick von diesem schónen Entenbeinchen, du wirst sehen. So, mach den Mund auf! - Oh, was fur ein Scheusal du bist! Jetzt hat er, weifi Gott, zu den andern i-euten hiniibergeschielt, ob sie es nicht sehen, wenn er ci-nen Bissen von meiner Gabel kriegt! Sei ohne Sorge, du ver-lorener Sohn, ich werde dir keine Schande machen. Aber wenn du zu deinem Vergniigen erst die Erlaubnis anderer l.eute brauchst. dann bist du wirklich ein armer Tropi." Iinmer unwirklicher wurde die vorige Szene, immer un-glaublicher, dafi diese Augen noch vor Minuten so schwer und grauenvoll gestarn hatten. Oh, darin war Hermine wie das Leben selbst: stets nur Augenblick, nie im voraus zu be-rechnen. Jetzt ad sie, und das Entenbein und der Sałat, dic forte und der Likór wurden ernst genommen, wurden zum (icgenstand von Freude und Urteil, von Gesprach und 1'hantasie. War der Teller weggetragen, so begann ein neues Kapitel. Diese Frau, die mich so vollkommen durchschaut hatte, die mehr iiber das Leben zu wissen schien ais alle Weisen, betrieb das Kindsein, das kleine Lebensspiel des Augenblicks mit eincr Kunst, die mich ohne weiteres zu ih-tetn Schuler machte. Mochte das nun hohe Weisheit sein tider einfachste Naivitat: wer so dem Augenblick zu leben vcrstand, wer so gegenwartig lebte und so freundlich-sorg-•,un jedc kleine Blume am Weg, jeden kleinen spielerischen Augenblickswert zu schatzen wuftte, dem konnte das Leben ttichts anhaben. Und dieses frohe Kind mit seinem guten Appetit, mit seiner spielerischen Feinschmeckerei sollte zu-glcich eine Traumerin und Hysterikerin sein, die sich den l ud wiinschte, oder eine wachsame Rechnerin, die mich be-«ufit und kiihlen Herzens verliebt und zu ihrem Skiaven iii.n hen wollte? Das konnte nicht sein. Nein, sie war ein-
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