Wahrend in der weiblichen Kleidung die Verande-rungen des 14. Jahrhunderts auf den ersten Blick weniger auffallig sind ais in der mannlichen, sticht die „uppigere und wandelbarc Gcstaltung der Kopftracht"94 direkt ins Auge. Auf dieser Haupt-domane der weiblichen Tracht ruht offensichtlich in dieser Zeit der modische Hauptakzent; denn in keiner anderen Epoche hat es so viele unterschied-liche weibliche Kopftrachten gegeben wie in der Spatgotik. Wahrend der Zuschnitt der wichtigsten Kleidungsstucke von Land zu Land nicht oder nur wenig variiert,95 bilden sich hier von Land zu Land und von Region zu Region unterschiedliche Kopftrachten aus.
Zu Beginn des Betrachtungszeitraums sehen wir das offene oder in einem Netz gefangene Haar noch gelegentlich von dem alten Gebende des 13. Jahrhunderts umschlossen, wobei allerdings das Kinnband zu einem schmalen Streifen ge-schrumpft ist und auch der aus gesteiftem Leincn gefertigte Kopfreif bedeutend niedriger er-scheint.96 Zusatzlich zum Gebende oder ais dessen Ersatz triigt die Damę von Stand von ca. 1320 bis ca. 1340 den Wimpel (frz. guimple), der Kinn, Wangen und Hals verdeckt und seitlich an der Fri-sur befestigt wird (Tafel C, Abb. 2) oder die fran-zosische gorgiere, eine Art Gugel ohne Kopfteil.
Im Gegensatz zu der in der Ilochgotik beobach-teten Sitte der verheiraleten Frau, das Haar mog-lichst vollstandig zu verhiillen, sehen wir seit den zwanziger Jahrcn vielfach auch verheiratete Frau-en, die sich mit einem Haarnetz begniigen, wobei das Haar geflochten und zu zwei Uber den Ohren getragenen Schnecken bzw. Hornem (frz. cornet-tes) aufgerollt wird. Diese Kopftracht begegnet uns bereits in der Manessischen Liederhandschrift auf den Miniaturen des 2. Nachtragsmalers.
Uber all diesen Gebilden tragt man vielfach einen leichten durchsichtigen Schleier, der entwc-der von unsichtbaren Haarnadeln oder einem Schapel bzw. Band gehalten wird. Bisweilen nimmt dieser Schleier auch Schalform an, wie auf einer Abbildung des Kasseler Willehalm-Codex sehr gut zu erkennen ist. Dabei wird das lange rechteckige Tuch, welches an einer Schmalseite halbrund abgeschnitten ist, mit dem runden Ende iiber den Kopf gclcgt und dort mit einer Krone oder einem Schapel fixiert, wahrend das lang auf den Riicken herabhangende andere Ende iiber eine Schulter nach vorne gefiihrt, locker vor der Biust drappiert und dann iiber die andere Schulter wie-der auf den Riicken zuriickgefiihrt wird (Tafel E, Abb. 7).
Ahnliche Frisuren, doch ohne Netz und Schleier, werden von Madchen und jungen Frauen im 2. Viertel des Jahrhunderts europaweit bcvorzugt. Bei einer Variante wird das gescheitelte Haar an den Schlafen zu Zopfen geflochten, in verschiedc-ner Weise iiber die Ohren in den Nacken gefiihrt und hier ineinander verschlungen; bei einer anderen beginnen die Zopfe im Nacken, werden nach vorn zu den Schlafen und von da aus wieder in den Nacken zuriickgefiihrt und dort verschlungen (Tafel E, Abb. 6). In der zweiten Halfte des Jahrhunderts bevorzugt man kurze, doppelt gelcgte Schlafenzopfe, die entweder offen getragen oder wie in England in zwei walzenfdrmige Drahtgit-terbehalter gesteckt werden, die an einem Kopfreif befestigt sind (Tafel D, Abb. 7). Reicht das eigene Haar nicht aus, so greift man auf falsche Zopfe zuriick, die an einem Haarband festgenaht sind
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