Richard Skowronnek Der weisse Adler


Der weiße Adler

Ein Roman von Richard Skowronnek

1.

„Es muß daher mit allem erforderlichen Nachdruck ausgesprochen werden: Bei der gegenwärtigen Regierungsvorlage handelt es sich nicht um ein neues, bei geschickterer Verwaltung vielleicht entbehrliches Kampfgesetz gegen das Polentum, sondern um eine von bitterer Notwendigkeit erzwungene Maßregel zum Schutze des schwer bedrängten Deutschtums! Die Rollen zwischen Polen und Deutschen in unseren Ostmarken sind längst vertauscht. Nicht die Polen sind die Unterdrückten oder Angegriffenen, sondern wir! Dieser Kampf aber wird aussichtslos, wenn der Regierung durch Ablehnung dieser Vorlage die Möglichkeit versagt wird, der an Gehässigkeit kaum noch zu überbietenden Hetzarbeit der polnischen Presse, der in einer Unzahl von Vereinen von Geistlichen geschürten Agitation gegen alles, was deutsch ist, das Handwerk zu legen. Und diese polnischen Vereine — von der „Straz“ angefangen bis hinab zu den „Skaut-Genossenschaften“ der Schulen — haben als allerletztes Ziel die Wiedererrichtung des alten Reiches, die Befreiung des ehemals polnischen Landesteile von preußischer Herrschaft!

Als ein stolzer, aus Ewigkeitsquadern gefügter Bau steht das Königreich Preußen da. Nur einer seiner Eckpfeiler — der im Osten — ist nicht aus dem gleichen unzerstörbaren Granit errichtet wie die anderen. Da gilt es, einzusetzen mit heimlich nagendem Zahn. Und braust eines Tages der gewaltige Sturm über die Welt, dessen unheilkündende Zeichen schon lange am Himmel stehen, bricht dieser Pfeiler zusammen. Weil er nur noch von außen wie Stein aussah, innerlich längst morsch war. Mit ihm aber wankt und stürzt das ganze Haus...“

Der Geheime und Vortragende Rat im Ministerium des Innern Freiherr Ulrich von Dolinga-Dolinowski legte die Feder nieder und sah sinnend zum Fenster hinaus. In der Erinnerung stand ihm noch ein anderes Bild von dem einmal kommenden Untergange Preußens...

Vor langen Jahren war es gewesen. Er trug noch als krasser Fuchs den weißen Stürmer der Sachsenpreußen zu Heidelberg und wanderte in Ferienseligkeit den Rhein entlang. Das Herz weitete sich ihm noch heute beim Gedenken.

In Sankt Goarshausen traf er einen Schulkameraden vom Heinrichsburger Gymnasium, Bruno Erdmann. Er freute sich über das Wiedersehen, denn sie verknüpfte ein besonderes Band: Der um fünf oder sechs Jahre ältere Oberprimaner Erdmann hatte dem Tertianer Dolinga Nachhilfestunden gegeben, ihm neben allerhand Unnützlichem wie Zigarettenrauchen und Biertrinken, das methodische Arbeiten beigebracht. Und auf der Terrasse eines altväterisch-gemütlichen Gasthofes kneipten sie sich zur Feier des unverhofften Wiedersehens fest. Die niedliche Kellnerin — eine Granatblüte im tiefschwarzen Haar — hatte ihnen zu einem „Niersteiner Glöck“ geraten. Er schmeckte herrlich und kostete nur einen Taler die Flasche…

Aber da kam noch vieles hinzu, was nicht mit Geld zu bezahlen war. Drüben auf der Loreley lag der letzte Schein des Abendrots, unten floß dunkel der deutsche Rhein, und irgendwo in der Ferne blies ein Trompeter getragene Weisen. Wundervoll war es für einen im Osten des weiten Vaterlandes Geborenen, am Ufer des Stromes zu sitzen, von dem man so oft in Sehnsucht gesungen: „Da geht dir das Leben so lieblich ein, da wächst dir so feurig der Mut...“

Sie stießen an und gedachten der fernen Heimat, die ihnen in aller flachen Kärglichkeit doch lieb und teuer war. Und von der Heimat kamen sie auf die Schule, wurden fröhlich in alten Erinnerungen. Bei der dritten Flasche aber fingen sie an zu politisieren. Ein anmaßliches Auftreten der Polenfraktion im Abgeordnetenhause war der Anlaß. Und Ulrich bezeichnete es als feige Kneiferer, daß der Vertreter der Regierung dem Polen nicht mit einer energischen Abfuhr gedient hatte. Bruno Erdmann aber meinte mit schon reichlich schwerer Zunge: „Ob energisch oder nicht... im Schlußeffekt doch alles egal! Das Schicksal Preußens war in dem Augenblick besiegelt, in dem es sich verleiten ließ, nach Teilen des von Rußland zerschlagenen Königreiches Polen zu greifen.“

„Na erlaube mal: Hätte es damals untätig dabeistehen sollen, wo ein großes Stück Welt verteilt wurde?“

„Wenn es klug beraten war, ja! Es schluckte sich den Tod, denn es bekam eine krebsige Stelle in seiner sonst so gefunden Haut!... Oder ein anderes Bild: Ein Block Kerneis, fest und blank wie Stahl, schwimmt im lauwarmen Wasser eines Stromes. Eines Tages wird von dem Block nichts mehr übrig sein, der Strom aber zieht ruhig weiter seine Bahn. Er hat noch andere, ähnliche Arbeit zu verrichten...“

„Herr, dunkel ist der Rede Sinn...“

„Tut mir leid, aber ich kann dich nicht aufklären“, sagte Bruno Erdmann. „Wenn du aber mal später Landrat irgendwo im Osten bist und es mit dem polnischen Klerus zu tun kriegst, denk' an diese Stunde zurück...“ Er schwieg, stützte den Kopf in die Hand. Plötzlich aber brach ein lautes Aufschluchzen aus seiner Brust, über seine hageren Wangen rannen Tränen.

„Nanu, was 's denn los?“ fragte er lachend. „Graues Elend?“

„Mehr, mein Jungchen, mehr... Verzweiflung!... Und nirgends ein Ausweg... Überall rennst du mit dem Kopf gegen eine Mauer aus Stein...“

„Versteh' ich nicht...“

„Na denn, da...“

Bruno Erdmann griff in die Tasche, warf eine Visitenkarte auf den Tisch. Es las mit einiger Verwunderung: „Bronislav Erdman, stud. theol. Louvain“... „Verrückt“, sagte er. „Früher hast du doch Medizin studiert, in Breslau? Und auch deinen Namen hast du verändert? Früher schriebst du dich doch 'Bruno Erdmann' mit zwei n?“

„Na ja, früher, wie ich noch ein anständiger Kerl war! Ein Glück bloß, daß mein alter Vater nicht mehr lebt... Totschlagen würd' er mich!...“ Und nach einem schier fassungslosen Schluchzen fuhr er, etwas ruhiger, fort:

„Aber — schließlich und genau besehen — er hat eigentlich die meiste Schuld. Immer das verfluchte Streben, die Kinder über den eigenen Stand hinaus zu bringen!... Hätt' er mich auf die Mittelschule geschickt, wär' ich, wie er es war, heute irgendwo ein zufriedener kleiner Beamter. Aber nein, Gymnasium mußte es sein und hinterher die Universität. Wie ich im ersten Semester stand, legte er sich hin und starb. Die Mutter siech und elend... die Witwenpension reichte gerade für ihre Medizinen. Die Schwester nähte sich die Finger wund und die Augen blind, aber jeden Tag schmälte und klagte sie, sie hätt' es satt, ginge lieber auf die Straße. Und ich dazwischen als unnütze Drohne. Die Medizin ist eine egoistische Sache. Will man sie in zehn Semestern bewältigen und was Ordentliches leisten, kann man nicht nebenher sein Brot verdienen. Da kam zu meiner Mutter — sie war gläubige Katholikin — der polnische Herr Kaplan als Retter aus aller Not. Ich brauchte mich nur bereitfinden zu lassen, meine hohen Geistesgaben in den Dienst der alleinseligmachenden, das heißt in Wirklichkeit polnischen Kirche zu stellen, und wir könnten alle herrlich und in Freuden leben! Ein Semester wehrte ich mich, dann gab ich nach...“

„Um Himmels willen“, sagte er erschreckt, „dann bist du ja ein Renegat?“

Und der andere, mit einem wilden Faustschlag auf den Tisch, daß die eingeschlafene kleine Kellnerin entsetzt zusammenfuhr: „Ein Renegat?... Ein Lump bin ich, ein Vaterlandsverräter! Ein so großer Lump, daß ich immer vor mir selbst ausspeien müßte vor Ekel!... Aber wartet nur, ihr Schleicher, noch habt ihr mich nicht! An dem Tag, wo die Mutter sich endlich in den Himmel gebetet hat — lang' kann's nicht mehr dauern — fahr' ich auch ab! Aber eine Etage tiefer. Da, wo die hinkommen, die ihre unsterbliche Seele durchs unanständige Ende ins Freie gejagt haben, weil der obere Ausgang mit 'nem Strick verschnürt war…“ Er brach ab, starrte mit schwimmenden Augen ins Dunkle...

Der junge Sachsenpreuße aber griff ihm in heißem Mitgefühl über den Arm.

„Na na na, man immer powoly! Hübsch langsam fahren über die neue Brücke!... Wenn jemand so ernstlich bereut wie du, ist's zu einer Umkehr nie zu spät. Von meiner lieben verstorbenen Mutter her — sie war eine Hamburger Großkaufmannstochter — hab' ich ein anständiges Stück Geld geerbt. Da zahlen wir den Pfaffen den ganzen Krempel zurück, du wirst wieder Mediziner...“

Der andere schüttelte den Kopf.

„Geht nicht, Dolichen, geht nicht! Von Preußen kannst du abfallen und vom evangelischen Glauben — kräht kein Hahn danach! Aber aus der Kutte springen, die ich einmal tragen soll?... Mein Jungchen, ich würd' meines Lebens nicht mehr froh werden! Da war die heilige Feme seligen Angedenkens ein gemütliches Kaffeekränzchen 'gegen. Und nähme ich die Flügel der Morgenröte, entflöhe ans äußerste Ende des Meeres — der Bannstrahl ereilte mich doch! Also heißen Dank für dein so großmütiges Anerbieten, aber es nützt nichts...“

„Unsinn“, sagte er, „kommt alles doch auf das finanzielle Rückgrat an! Ich stelle dich so, daß du selbst unabhängig bist, Mutter und Schwester versorgen kannst...“

Da ließ der andere sich nach einigem Widerstreben überzeugen. Und im Ausmalen der neuen Zukunft — zu ihrer Begrüßung hatten sie nach den drei „Niersteiner Glöck“ eine Flasche deutschen Schaumweins kommen lassen — entzündete sich seine Phantasie. Nicht zur Medizin zurückkehren wollte er, sondern ein echter Streiter für Recht und Wahrheit, ein politischer Tagesschriftsteller wollte er werden. Um dann aus seiner genauen Kenntnis der gegnerischen Methoden die Dunkelmänner mit der Fackel der Aufklärung bis in ihre geheimsten Schlupfwinkel zu verfolgen...

Damit gingen sie schlafen, wollten am nächsten Tag rheinaufwärts nach Bingen wandern, auf dem Wege alles Nötige für die Zukunft besprechen. Als der junge Herr von Dolinga aber am Morgen zum Frühstück auf die Terrasse kam, überreichte ihm die schwarzhaarige kleine Kellnerin zu seiner Verwunderung einen Brief. Er brach ihn auf und las:

 

„Lieber Doli!

 

Zu meinem Bedauern habe ich Dein Erwachen nicht abwarten können. Um sechs Uhr geht mein Schiff rheinabwärts nach Köln. Von dort fahre ich nach Louvain, zurück ins Kollegium. Sollte ich dort mal etwas von Dir hören, würde ich mich freuen.

Ich habe die unklare Empfindung, wir haben gestern unter dem Einflüsse des Weines allerhand Törichtes geschwatzt. Phantasien, die im klaren Tageslicht verfliegen wie leichte Seifenblasen. Vielleicht waren es Versuchungen des Bösen, die ja keinem Staubgeborenen hienieden erspart bleiben. In jedem Falle bedaure ich tief, daß ich mich von Dir verleiten ließ, der Flasche mehr zuzusprechen, als es in meiner sonst so enthaltsamen Lebensführung liegt. Ich werde mir nach der Rückkehr ins Kollegium dafür eine strenge Buße auferlegen. Aber auch Du nimm Dir zur Warnung: Im Weine wohnt nicht die Wahrheit, sondern der Satanas!

Was nun den Vorwurf des Renegatentums anlangt, den Du mir gesprächsweise gemacht hast, so weise ich ihn — wie auch gestern schon — Mit Entrüstung zurück. Aus freien Stücken, keinem irgendwie gearteten Zwange folgend habe ich den wahren Glauben und meinen jetzigen Beruf zu seiner immer weiteren Ausbreitung erwählt! Was aber meinen Anschluß an die polnische Nationalität betrifft, so habe ich dieses edle Volk aus reiner und heißer Begeisterung gesucht. Seine hervorragenden Tugenden zogen mich unwiderstehlich an, während das Preußentum — in der rechten Hand die Polizeiknute, in der linken das Bild der Unduldsamkeit — mich ebenso heftig abstieß. Ich rate auch Dir, Deine noch jugendlich-unfertigen Anschauungen zu überprüfen. Als Träger des echt polnischen Namens Dolinga-Dolinowski hast Du Verpflichtungen gegen Dein altes Vaterland, die stärker sein müßten als Nützlichkeitserwägungen. Dein Vorfahr unter dem preußischen König, den Schmeichler den Großen nennen, verkaufte sein Vaterlandsgefühl für die Belehnung mit der Herrschaft Friedrichstein. Auf, mach' diesen Frevel wieder gut, kehr' zu Deinem eigentlichen Volke zurück!

Aber auch die Arme der alleinseligmachenden Kirche stehen jedem Reuigen weit offen. Denk' daran, daß nur sie binden und lösen kann, daß nur ihren treuen Söhnen das ewige Heil verbürgt ist!

In der Hoffnung, beim nächsten Wiedersehen in Dir einen anderen begrüßen zu können, einen würdigen Nachkommen jenes Miecislav Dolinga, der am ewig denkwürdigen 15. Juli des Jahres 1410 die Polen zum Siege von Grunwald führte, verbleibe ich mit katholischem Gruß

 

Dein alter Lehrer

 

Bronislav Erdman.“

 

Den Brief hatte er zweimal lesen müssen, ehe er ihn ganz begriff. Sein Kopf schmerzte ein wenig; der tiefe Trunk am Abend vorher war auch für eine geeichte Studentenkehle recht reichlich gewesen. Dann aber schob er mit einem verächtlichen Auflachen das Schreiben in seine Brusttasche: Habeat sibi!... Und er nahm sich vor, nie mehr in seinem Leben Schicksal zu spielen am untauglichen Objekt...

Der Vorwurf des Renegatentums, der da gegen sein Geschlecht erhoben wurde, war lächerlich. Der Dolinga, der einen polnischen Heerhaufen in der Schlacht von Tannenberg führte, hatte ein noch heute im Galizischen blühendes Geschlecht begründet. Seine Vorfahren aber hatten von Anbeginn an im Herzogtum Preußen gesessen, lutherisch seit Einführung der Reformation, und als der Markgraf Albrecht von Brandenburg sich von Polen löste, hatten sie treu zu ihm gestanden... Und was hätte sie wohl später locken sollen, ihr Preußentum aufzugeben?... Das mit Fug und Recht von seinen Nachbarn aufgeteilte Polen war ein verrottetes Gebilde gewesen, von Parteihader zerrissen, von Mißwirtschaft verderbt. Wenn je im Lauf des Weltgeschehens ein Staat sich unfähig gezeigt hatte, seine Geschicke selbst zu bestimmen, war es der polnische gewesen. Sogar seine Könige hatte er sich von fremden Völkern holen müssen — von den Litauern, den Ungarn, Österreichern, Sachsen! Wenn die Polen jetzt, nach langem Daniederliegen, wieder den Kopf hoben, geschah es, weil ihr an Preußen gefallener Teil in harter Schule Zucht und Ordnung gelernt hatte, an gutem Beispiel wirtschaftlich erstarkt war. Da sollte ein altes Geschlecht, das im Lauf der Jahrhunderte unter den Fittichen des schwarzen Adlers so gut preußisch geworden war wie nur je ein altwendisches in der Mark und in Pommern, die Farbe wechseln?... Dem weißen Adler Polens waren die Schwingen geknickt — durch eigene Schuld. Selbst wenn die unter preußischer Herrschaft ertüchtigten Posener und Westpreußen ihm wieder auf die Stange halfen, es gab nur ein klägliches Aufflattern, keinen dauernden Flug. Schon in den unterirdischen Verschwörergebilden, die hüben und drüben an seiner Befreiung arbeiteten, waren mehr Parteiungen vertreten als seinerzeit im alten Königreiche. Da zerrten die einen ihn rechts, die anderen links; die dritten und vierten hingen sich ihm an die Fänge und ins Gefieder. Vorher aber gab es unnützes Blutvergießen. Da mußte eine klug vorbauende Politik den bösartigen Kindern das Messer, mit dem sie sich und andere schneiden konnten, aus der Hand nehmen...

Damals aber, auf der Rheinterrasse in Sankt Goarshausen, dachte er noch nicht so weit. Was scherte den Sachsenpreußenfuchs und jungen Studiosus der Jurisprudenz die hohe Politik mit all ihren schweren Fragen? Unten floß der Rhein im Sonnenglanz, drüben winkte die Loreley. Und ein zierliches braunes Mädel — im schwarzen Haar eine frische, leuchtende Granatblüte — stand mit lachenden Augen auf Armslänge neben ihm... „Gelle“, sagte sie, „Sie sin so verblüfft un kucke so dumm, weil der andere abgefahre is, ohne sei' Rechnung zu zahle?“

„Nee“, erwiderte er lustig, „darauf war ich halb und halb gefaßt. Er ermangelte schon früher nicht dieser schätzenswerten Eigenschaft, als er einen Obertertianer Bier trinken lehrte.“

Die Kleine sah ihn schelmisch an.

„Na un heut' awend? Werde Sie da aach wieder über den Pabscht dischkeriere, über die Pollakke un Preuße?“

„Heute abend?“ sagte er nachdenklich. „Heute abend bin ich wohl längst schon in Frankfurt. Ich wollte in einer Stunde losmarschieren, in Bingen übersetzen und von Rüdesheim aus die Eisenbahn benutzen...“

„Na, denn als nor los! Sie komme sonst vielleicht zu spät! Ich hab' heut' nachmittag frei, geh' drübe durchs Schweizertal 'enuff zur Loreley. So'n Kaffee, wie's drobe im Wirtshaus gibt — un aderzu den Quetschekuche... als die Finger könnt mer sich dernach lecke!“

„So, so“, sagte er, noch ein wenig unsicher, „und diesen Ausflug gedenken Sie allein zu unternehmen, mein gnädiges Fräulein?“

„Ha, na ja“, erwiderte sie, schlug listig die Augen nieder. „Was bleibt 'nem alloistehende Mädche anderster übrig, wenn die nette Leut' als zu Fuß nach Binge laafe wolle?“

Da sah er sich das liebe junge Ding unwillkürlich näher an, verstand und blieb... Blieb noch acht Tage in Sankt Goarshausen, fuhr erst mit Schluß der Ferien nach Heidelberg... Wenn er zurückdachte, waren es die letzten, frohbeschwingten Jugendtage gewesen. Nicht viel später war die unglückselige zweite Ehe des Vaters gekommen mit all ihrem wilden Ungemach...

Der Geheime Rat von Dolinga wandte sich wieder zu seiner Arbeit. Noch Bogen um Bogen hatte er zu füllen, wenn er seiner Aufgabe gerecht werden wollte: an der Hand aktenmäßigen, amtlichen Materials ein überzeugendes Bild der unerträglichen Zustände in Posen, Westpreußen und Oberschlesien zu geben. Mit einem Seufzer aber gestand er sich ein, aller darauf verwandte Fleiß und Scharfsinn waren wohl verlorene Mühe. Bei der gespannten äußeren Lage erschien es ihm ausgeschlossen, daß dieser Gesetzentwurf jemals das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Aus allen Seiten war der politische Horizont von dunklen Wolken umzogen, jeder Augenblick konnte das Unwetter bringen. Und wenn es kam, brach es zuerst wohl im Osten los... Da sollte die Regierung, deren Taktik auf allen Gebieten nach kurzen, energischen Anläufen aus mutigem Zurückweichen bestand, sich zu kraftvollem Handeln gegen die immer unverhohlener ihre letzten Ziele zeigenden Polen aufraffen?...

Ein Bote aus der Anmeldestube betrat geräuschlos das Zimmer, räusperte sich leicht. Herr von Dolinga hob unwillig den Kopf.

„Was gibt's denn? Ich habe doch befohlen, mich unter keinen Umständen zu stören l“

„Sehr wohl, Herr Geheimer Regierungsrat, aber der junge Herr ließ sich nicht abweisen. Und weil er doch... also da ist seine Karte!“

Der Geheime Rat warf einen Blick auf das schmale Blättchen: „Freiherr von Dolinga-Dolinowski, Regierungsassessor“ stand da zu lesen. Er sprang mit freudigem Gesicht auf, eilte an die Tür, und als er den angemeldeten Besucher auf dem Gange erblickte, rief er: „Ja Viktor, du?... Das ist natürlich etwas anderes! Aber eigentlich hatte ich dich schon gestern erwartet?!...“

Die beiden Stiefbrüder umarmten sich, der jüngere sagte:

„Ja, verzeih', lieber Ulrich, ich kam von Düsseldorf nicht los, mußte noch einen Tag zulegen. Nicht eine, sondern zwei Garnituren Kollegen und Freunde tranken mich fort, da konnte ich nicht anders...“

Daß er trotzdem schon seit gestern in Berlin war, hinter einer weiblichen Reisebekanntschaft her, verschwieg er.

„Wenn du mir wenigstens ein kurzes Telegramm geschickt hättest!“

„Entschuldige, aber ich war die ganzen letzten Tage in einem solchen Trubel... Die hundert Abschiedsbesuche dazu...“

Aber das starkknochige, von einem kurzgehaltenen, grauen Vollbart umrahmte Gesicht des Älteren glitt ein Schatten.

„Na gut, ich bin ja an schlechte Behandlung gewöhnt! Nur, für gestern hatte ich in meinem Junggesellenheim eine festliche Bewirtung vorbereitet. Jetzt mußt du vorliebnehmen, wenn ich dich in einen banalen Gasthof zum Essen führe. Aber, bitte, leg' doch endlich deinen Hut weg und nimm Platz...“

Viktor von Dolinga sah sich in dem Amtszimmer seines Bruders um. In der Mitte stand ein langer und breiter Tisch. Ganze Stapel von Büchern, Broschüren, Akten und dicken blauen Heften, in denen eingeklebte Zeitungsausschnitte aufbewahrt wurden, ließen neben der grünbeschirmten elektrischen Lampe kaum den Platz für die Schreibmappe frei. An den mit einer hellgrauen, sicherlich sehr hygienischen Lackfarbe gestrichenen Wänden hohe Schränke aus gelb poliertem Holz, an der Rückwand, gegenüber der Tür, als einziger Schmuck ein Kaiserbild in schmaler, vergoldeter Leiste. Sonst nichts in dem vom Gerüche alten Papiers erfüllten, nüchternen Raume, was davon gesprochen hätte, daß der hier hausende Mensch neben seinem amtlichen noch ein eigenes, persönliches Leben führte. Keine Blume in schlanker Vase, auf der das aktenmüde Auge für eine Minute hätte ausruhen können, keine gerahmte Photographie auf dem Schreibtische, die ein liebes Frauenantlitz zeigte... Aus den Fenstern aber ein Blick auf einen staubigen, gepflasterten Hof, dem drei Fronten ähnlicher Fenster in grauer Wand als Umrahmung dienten. Hinter all diesen Fenstern aber sahen pflichttreue preußische Beamte in ebenso nüchternen Zimmern wie der Geheime Rat von Dolinga... Männer, denen das Blut doch auch einmal heiß durch die Adern gelaufen war, und die nun hier langsam eintrockneten im ewigen Gleichmaß des täglichen Dienstes... Ihn fror bei dem Gedanken, auch er könne einmal in diesem Hause enden, das grau und unfreundlich auf seinen Fundamenten ruhte, wie eine Versteinerung jener kategorischen Formel, die ein preußischer Philosoph als höchstes Sittengesetz aufgestellt hatte... Und er nahm sich vor, bei der kommenden Aussprache unter allen Umständen seinen Willen durchzusehen, den festen Entschluß, sein Lebensschifflein in sonnigere Breiten zu lenken... Nur eins störte ihn dabei: Wenn er vielleicht wieder nach Düsseldorf zurückkehrte, mußte er die Verfolgung der mühsam festgehaltenen Spur aufgeben, die anscheinend nach Osten führte...

Der Geheime Rat von Dolinga hatte den Blick, mit dem der Jüngere sich umsah, wohl verstanden. Auch er konnte sich ein vergnüglicheres und leichteres Leben vorstellen als das eines mit Arbeit überbürdeten Vortragenden Rates im Ministerium des Innern. Zum Beispiel als freier Mann auf eigener Scholle sitzen, ein ordentlicher Landwirt werden, seine Rehböcke, Hasen, Hühner und Fasanen schießen. Es ging nicht, zum Ankauf eines Gutes langte es nicht mehr, nicht einmal auf sein Geheimratsgehalt durfte er verzichten. Die Herrschaft Friedrichstein war schon von dem verstorbenen Vater veräußert worden, um die Launen einer jungen Frau zu befriedigen, deren Verschwendungssucht nur noch von ihrer Schönheit übertroffen wurde... Die traurige Geschichte von dem alternden Manne, der eine blendendschöne, von allen Seiten umschwärmte Zwanzigjährige geheiratet hatte... aus allervornehmstem Hause und über die Maßen verwöhnt, aber arm wie eine Kirchenmaus... Sein eigenes Vermögen aber, das er von der Mutter geerbt hatte, einer geborenen Bensinck aus Hamburg, war schmäler und schmäler geworden, weil der schlanke und elegante junge Herr da am Fenster von der geborenen Komtesse Napieha neben einer ins Männliche übertragenen Schönheit auch den leichten Sinn geerbt hatte. Den leichten Sinn und die unbekümmerte Art, die sorglos Geld verstreute, ohne viel darüber nachzudenken, daß das Vermögen des älteren Stiefbruders doch mal ein Ende nehmen könnte! Und neben dem Vermögen die Langmut... So wie bisher durfte das nicht weitergehen.

Schließlich hatte er selbst doch auch noch gewisse Ansprüche ans Leben... Und der Geheimrat von Dolinga begann nach einem leichten Räuspern, das ihm die — wie immer vor so peinlichen Aussprachen — beklommene Brust frei machen sollte, in leidlich festem Tone:

„Lieber Viktor, du weißt, daß ich nur sehr ungern die Rolle eines strengen Moralpredigers spiele...“

Der Jüngere fuhr zusammen. Er war mit seinen Gedanken ganz wo anders gewesen. Eine „Helene Ostermann“ — so lautete der Name auf der polizeilichen Anmeldung, die er sich von dem gefälligen Hotelportier hatte zeigen lassen — reiste doch nicht mit Diener und Kammerjungfer? Mit einer Jungfer, die fließend Französisch, und einem Diener, der Polnisch sprach?... Das heißt, soweit er das beurteilen konnte. Es konnte auch Russisch gewesen sein. Und — wenn er sich's recht überlegte — war es nicht eigentlich eine Schande, daß er als Sohn einer aus polnischem Königsgeschlecht stammenden Mutter kein Wort ihrer Sprache verstand?...

„Verzeih'“, sagte er, „was meintest du eben? Ich war noch nicht ganz bei der Sache.“

„Dann muß ich dich bitten, von jetzt an recht aufmerksam zuzuhören“, erwiderte der Geheime Rat schärfer, als er beabsichtigt hatte. „Es handelt sich um eine Aussprache, von deren Ergebnis unser ganzes zukünftiges Verhältnis abhängen wird.“

„Entschuldige, ich konnte nicht ahnen, daß du gleich in der ersten Minute meine kleinen Sünden zum Gegenstand eines hochnotpeinlichen Verfahrens...“

„Einen Augenblick“, unterbrach ihn der Ältere. „Nennst du das auch 'kleine Sünde', daß ich vor einigen Wochen dreißigtausend Mark Spielschulden für dich bezahlen mußte?“

„Na ja... ich habe mir auch die wahnsinnigsten Vorwürfe darüber gemacht! Aber ich war zu 'nem Liebesmahl bei den Ulanen gewesen, ging hinterher noch — leicht angesäuselt — hinauf in den Klub. Da passierte das Malheur. Und ich habe dir doch geschrieben, es soll definitiv das letzte Mal gewesen sein.“

„Lieber Viktor“, sagte der Geheime Rat ernst, „solcher Versprechungen habe ich mehr als ein Dutzend in der Schublade meines Schreibtisches liegen. Du darfst mir nicht übelnehmen, wenn sie mir nicht mehr als hinreichende Bürgschaft erscheinen. Ich habe zunächst also dafür gesorgt, daß du aus Düsseldorf fortkamst... Das Pflaster dort war mir zu teuer.“

Der Assessor sprang auf, auf seiner weißen Stirn zeichnete sich eine feine blaue Ader ab.

„Ach, die Verschmetterung in das kleine ostpreußische Nest verdanke ich also dir?“

Jetzt reckte sich auch der Ältere aus seiner immer ein wenig gebeugten Haltung auf, und es zeigte sich, daß er der hochgewachsenen Gestalt des jüngeren Bruders fast um Haupteslänge überlegen war.

„Ja, hast du dir vielleicht eingebildet, man wäre in der Personalabteilung des Ministeriums von allein auf deine hervorragenden Verwaltungstalente — sie zeigten sich, unter uns, bisher vornehmlich in Reiten, Karten- und Tennisspielen, Musizieren, Versemachen, Malen und ähnlichen brotlosen Künsten — ja also, man wäre dort von selbst auf dich verfallen?... Und wenn du von einer 'Verschmetterung' sprichst, so zeigt mir das deutlich, daß du dir noch immer nicht klargemacht hast, wie ernst eigentlich deine und meine Lage ist! Es geht nicht an, daß du das bisherige Leben weiterführst, du mußt im Interesse deiner zukünftigen Laufbahn mit aller Energie zu arbeiten anfangen! Dazu hast du als kommissarischer Landrat des Kreises Heinrichsburg reichliche Gelegenheit. Der Kreis erfreut sich im Ministerium ganz besonderer Beachtung. Er ist durch das Eindringen reinpolnischer Großgrundbesitzer und Bauern, das dort schon seit Jahren eingesetzt hat, stark bedroht. Ich habe lange geschwankt, ob ich es mit meinem Gewissen als preußischer Beamter vereinigen dürfte, dich an eine so verantwortliche Stelle zu setzen. Da ich aber weiß, daß du Hervorragendes leisten kannst, wenn du willst, habe ich mich entschlossen, diese Verantwortung zu übernehmen. Ich vertraue darauf, du wirst wollen, denn meine weiteren Auseinandersetzungen werden dir zeigen, daß in deinem Leben unter allen Umständen eine vollkommene Wendung einzutreten hat!“

Dem Jüngeren schien es geraten, ein wenig einzulenken. Predigten hatte es schon immer früher, bei jeder Zusammenkunft, gesetzt. Diesmal aber war der Ton ein so nachdrücklicher und entschiedener...

„Na ja“, sagte er, „aber ich möchte dir doch zu bedenken geben, daß du es warst, der mir meinen Beruf ausgesucht und aufgenötigt hat! Begabung und Neigung wiesen mich auf einen ganz anderen Weg. Und wenn ich ehrlich sein soll...“

Der Geheime Rat hob die Hand.

„Ich weiß, du hast mir vor einiger Zeit in einem deiner Briefe etwas Ähnliches angedeutet. Da ich nun nicht der unmoderne Mensch und verknöcherte preußische Beamte bin, den du aus mangelnder näherer Bekanntschaft in mir zu sehen scheinst, so habe ich deine in meinem Besitz befindlichen künstlerischen Versuche von Sachverständigen prüfen lassen. Das Urteil war vernichtend. Deine Skizzen in Pastell und Kreide stehen auf derselben Stufe wie deine Kompositionen und Gedichte: alles mit modern scheinenden Mittelchen künstlich aufgeputzter, schlimmster Dilettantismus!“

Der Assessor zuckte die Achseln.

„Werden schöne alte Bonzen sein, denen du meine Arbeiten gezeigt hast!... Mir hat Professor Hilbrich in Düsseldorf — eine europäische Berühmtheit, und er verkauft jährlich für hunderttausend Mark Bilder — also er hat mir nach eingehender Prüfung meiner Skizzen gesagt, es wär' eine Sünde gegen mich selbst und die Kunst, wollte ich mein großes Talent brachliegen lassen! Er wäre mit Freuden bereit, mich als Schüler anzunehmen.“

„Zu wie viel Mark die Stunde?“

„Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich war ja seiner Einwilligung nicht sicher.“

„Na denn frag' ihn einmal!... Sag' ihm aber zugleich: 'Mein älterer Stiefbruder, der mir bisher einen höheren Zuschuß gegeben hat, als sein Geheimratsgehalt beträgt, der mir außerdem regelmäßig alle Jahre zwischen vierzig- und fünfzigtausend Mark Schulden bezahlt hat, verweigert die Einwilligung! Sie müssen also so freundlich sein, mich auf Kredit oder umsonst zu unterrichten, Herr Professor!'... Ich bin neugierig, was er dir antworten wird.“

Viktor von Dolinga brauste auf.

„Die Art, wie du mir deine Wohltaten vorwirfst, könnte mich reizen, es auszuprobieren!... Aber hab' keine Angst, du wirst das Geld, das du mir gegeben hast, nicht verlieren. Im schlimmsten Falle verkauft ich mich an eine der Schlotprinzessinnen, die in Düsseldorf und Umgebung ja zu Dutzenden wachsen. Jede von ihnen könnte ich haben, brauchte nur die Hand auszustrecken...“

„Meinst du, mir macht diese Auseinandersetzung Vergnügen? Kannst du dir nicht denken — oder vielmehr, müßtest du aus meinem bisherigen Verhalten nicht mit Notwendigkeit schließen, daß ich dich herzlich gerne dein bisheriges Leben fortsetzen ließe?... Wenn es ginge?... Du bist, wenn nicht etwas ganz Unvorhergesehenes passiert, einmal mein Erbe. Sollte es da nicht auch in deinem Interesse liegen, daß ich nicht allzu wenig hinterlasse?“ ... Und als der andere schwieg, fuhr er in noch herzlicherem Tone fort:

„Sieh, Viktor... als unser lieber Vater nach der Scheidung von deiner Mutter so langsam einging — du warst damals sechs Jahre alt — vermachte er dich mir. Er legte mir damit eine schwere Last auf die Schultern — ich habe sie treulich getragen, das Zeugnis darf ich mir wohl ausstellen. Der einzige Vorwurf, den ich mir machen muß: Ich war zu nachsichtig, hätte dich schon früher schärfer anfassen müssen, als du vielleicht noch zu biegen warst! Daß ich's nicht tat, hatte seine besonderen Gründe, über die ich mir nur selbst Rechenschaft abzulegen habe. Von Jahr zu Jahr hoffte ich immer, die Selbsterziehung, um die ich dich in jedem meiner Briefe und bei jeder unserer Aussprachen bat, würde endlich einsetzen, die erwünschte Frucht tragen. Es war nicht der Fall; da mußte ich jetzt mit fester Hand durchgreifen. Die Zeiten, wo ich deinen jährlichen Verbrauch aus den Zinsen meines mütterlichen Vermögens bestreiten konnte, sind längst vorbei. Ich besitze nur noch um weniges mehr als dreimalhunderttausend Mark. Du kannst dir selbst ausrechnen, wie lange die reichen, wenn du weiter dieselben Ansprüche stellst wie bisher. Vielleicht sagst du dir aber mal selbst: Es liegt auch in deinem Interesse, wenn ich jetzt endlich bremse?“

Der Jüngere fühlte es heiß in die Augen steigen, aber er wehrte sich dagegen, wandte das Gesicht in den Schatten.

„Du kannst mich ja jeden Augenblick aufs Trockene setzen, wenn es dir beliebt! Habe ich denn an dich irgend welche legale Ansprüche?“ ...

Der Geheime Rat schüttelte bekümmert den Kopf. Seine schon stark ergrauten Haare zeugten von vielen arbeits- und folgenreichen Nächten...

„Du hast den Anspruch, daß du mein lieber, junger Bruder bist! Ich aber habe den, daß ich dich mit heißer Liebe und brennendem Ehrgeiz an dem Platze sehen möchte, auf den dich deine außerordentliche Begabung hinweist!... Ich bin nur ein mittelmäßiger und schwerfälliger Mensch... hätte ich nicht meinen eisernen Fleiß, hätte ich's nicht mal zu der bescheidenen Stellung hier gebracht... Und ich habe den Blick, mit dem du dich vorhin zwischen diesen nüchternen Wänden umsahst, wohl bemerkt. Glaub' mir, mein Junge, wenn ich nicht müßte, ich bliebe auch keine vierundzwanzig Stunden mehr hier! Was ich leiste, können hundert andere auch, denen ich durch mein Kleben den Weg versperre. Hilft nichts, ich muß noch eine ganze Weile aushalten... Aber nimm dir's nicht zu sehr zu Herzen, bisher war es noch zu tragen. Alle Jahre drei Wochen Karlsbad, um meine vergällte Leber zu pflegen, und hinterher vierzehn Tage auf'n Rehbock bei einem meiner Posener oder ostpreußischen Korpsbrüder... also das hat meine unerwiderte Liebe zum Leben in freier Natur bisher immer gestillt. Trostlos wäre es nur, wenn ich mir eines Tages sagen müßte: Du alter Esel hast umsonst hier in diesem Mauerloch gesessen.“

Da brach es in dem Jüngeren aus. Mit einem Aufschluchzen warf er sich an die Brust des älteren Bruders, schlang die Arme um ihn.

„Verzeih', Uli, und vergib! Ich bin eine so verdammt egoistische Natur, daß ich... na, ist gut, es soll von jetzt an anders werden!... Und hättest du nur längst schon einmal so mit mir gesprochen!“

Der Geheime Rat klopfte ihm begütigend den Rücken:

„Na, schon gut, noch ist's ja nicht zu spät! Und jetzt beruhige dich wieder... Ich bin mit dem, was ich dir zu sagen habe, leider noch nicht ganz fertig. Und nimm mir's nicht übel, wenn ich dieser Unterredung einen feierlichen Abschluß gebe... Auch daraus magst du ersehen, wie ernst deine und meine Lage ist! Also, bist du bereit, mir mit Wort und Handschlag zu versprechen, daß du in deinem neuen Wirkungskreise deine Pflicht als preußischer Beamter mit dem ganzen Einsatz deiner Kraft und deines Willens erfüllen willst?... Willst du mir ferner und ebenso feierlich versprechen, daß du niemals mehr wieder dich an einen Kartentisch setzen wirst, außer zu einem harmlosen und leichten Spiel um geringen Betrag?... Wenn du dir die Charakterfestigkeit zutraust, diese ehrenwörtlichen Versprechungen zu halten, so schlag' ein…“ Und er streckte dem Bruder die Hand entgegen.

Der Jüngere umspannte sie mit kraftvollem Druck, in den Augen standen ihm die hellen Tränen.

„Und ob ich mir's zutraue!... Nimm mein feierliches Versprechen, daß ich von meinem Wort auch nicht um Haaresbreite abweichen werde! Und hab' Dank, daß du mich endlich einmal in dein gütiges Herz hast sehen lassen! Ich werde es dir nie vergessen!“

„Unsinn“, sagte der Ältere, um die Rührung abzuwehren, die auch ihn zu übermannen drohte. „Es ist gar nicht so toll mit meinem guten Herzen!... Aber eins möchte ich noch — um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen — bemerken: Ich verlange durchaus nicht, daß du nun etwa auf alles verzichten sollst, was dir Freude gemacht hat. Selbst bei strengster Pflichterfüllung findet man immer einige Muße zu allerhand kleinen Schnörkeln, die man an seiner Lebenslinie anbringen kann. Und nichts schöner, als wenn man dafür, wie du, über hübsche Talente verfügt. Damit kann man sich selbst und anderen viel Freude bereiten. Und unter den Häusern, die du im Kreise Heinrichsburg aufsuchen wirst, empfehle ich dir ganz besonders das meines Korpsbruders Hakenberg. Alte Familie, bodenständig noch von der Ordenszeit her, und — wenigstens was den weiblichen Teil anbetrifft — mit sehr nettem künstlerischem Einschlag. Der Vater ist nur Landwirt und Jäger. Ich glaube also, du wirst dich in Ottenwalde — so heißt nämlich das Hakenbergsche Gut — wohlfühlen. Mit ihm, dem Alten, komme ich alle Frühjahr in Karlsbad zusammen, er muß ebenso wie ich seine Leber mit Mühlbrunnen begießen. Und beim letzten Mal brachte er Frau und Töchter mit... ein paar ganz scharmante junge Damen!“

Viktor von Dolinga hatte nach der Erschütterung, die ihm ans innerste Herz gegangen war, seine heitere Laune wiedergefunden. Er machte ein treuherziges Gesicht und fragte, anscheinend ganz harmlos: „Welche von den beiden hast du denn für mich ausgesucht? Die Ältere oder die Jüngere?“

Und der Geheime Rat fiel arglos auf die listige Frage hinein. „Die Ältere natürlich... das heißt, das ist...“ Er brach ab und wurde rot wie ein beim Mogeln ertappter Tertianer. Sein sonst so ernstes und strenges Gesicht bekam dabei einen liebenswürdigen Zug von Verlegenheit, der es seltsam anziehend machte. Der Jüngere aber lachte.

„Na also, die Sache sah mir doch gleich sehr nach einem Kuppelpelz aus, den sich mein Herr Bruder verdienen wollte! Na, und mit dem Papa Hakenberg hast du natürlich auch schon alles bekunkelt, ich brauche bloß noch zu sagen: Da bin ich?“

Der Geheime Rat machte eine abwehrende Bewegung.

„Nicht eine Silbe haben wir darüber gesprochen! Aber ich leugne gar nicht, daß ich dich gerne und bald verheiratet sehen möchte. Mit einem netten und charakterfesten jungen Mädchen aus guter Familie. Ich verspreche mir davon sehr viel Gutes für deine weitere Entwicklung. Anfechtungen werden dir nicht erspart bleiben, trotz allen deinen guten Vorsätzen. Da ist es vielleicht ganz gut, wenn du nicht bloß an einen brummigen alten Bruder denkst, dem du im Wort bist, sondern an ein liebenswertes und zartes Geschöpfchen, für das du vor Gott und den Menschen die Verantwortung übernommen hast.“

„Na, und du? Bist du einer von den Ärzten, die immer nur Medizinen verschreiben, nie aber selbst welche einnehmen?“

Das Gesicht des Älteren wurde plötzlich wieder ganz hart.

„Ich bin schon verheiratet, mein lieber Junge, — mit einer häßlichen Erinnerung! Von der kann ich mich leider nicht scheiden lassen wie von einer Frau aus Fleisch und Bein.“

Viktor drängte sich herzlich an ihn.

„Uli, komm'!... In dieser Stunde, wo so vieles zwischen uns gefallen ist... laß mich teilnehmen! Vielleicht, daß du es leichter trägst, wenn du dich einmal aussprichst!“

Der Geheime Rat schob ihn sanft von sich.

„Geht nicht, Vikki!... Muß allein daran weiter würgen, wie schon seit vielen, vielen Jahren...“ Er schritt zum Fenster, sah eine ganze Weile lang auf den grauen Hof hinaus. Als er sich wieder umwandte, war sein Gesicht ruhig wie sonst.

„Na, und jetzt, mein Junge... es wäre gut, wenn du noch heute einige Besuche machtest. Beim Chef der Personalabteilung, beim Ministerialdirektor Ense und vielleicht auch bei Seiner Exzellenz. Ich habe ihnen allen von deiner bevorstehenden Ankunft gesprochen, du brauchst nur deine Karte 'einzuschicken. Um sechs Uhr treffen wir uns dann zum Essen, ich hab' noch ein paar Stunden zu arbeiten. Hast du für irgend ein Lokal ein besondere Vorliebe?“

„Vielleicht Esplanade, wenn es dir recht ist“, sagte Viktor rasch.

Der Ältere lächelte nachsichtig.

„Immer noch mit dem silbernen Löffel im Mund, trotz aller guten Vorsätze?... Na schön, ob die Flasche Sekt zum Abschied nun einen Taler mehr kostet oder weniger...“

„Ich meinte nur, weil ich im Esplanade auch abgestiegen bin...“

„Ist ja schon erledigt! Aber noch eins ganz schnell: Die Herren — Seine Exzellenz mit eingeschlossen — werden sich natürlich bemühen, dich mit ihren Ansichten über die für Ostpreußen im allgemeinen und deinen Kreis im besonderen so dringlich gewordene Polenfrage zu imprägnieren. Hör' dir alles respektvoll an, sag' selbst aber gar nichts. Du müßtest dich sonst aus recht Verschiedenes festlegen, von 'geduldiger Nachsicht' bis zur 'eisernen Faust'. Die allgemeinen Richtlinien werde ich dir heute abend geben, mit allem Material. Niemand hat das Studium all dieser Fragen so zu seiner Lebensaufgabe gemacht wie ich. Das Allerrichtigste aber lernst du an Ort und Stelle, wenn du unbefangen und mit offenen Augen an deine Aufgabe 'rangehst! Na und jetzt: Gott befohlen!“

 

2.

 

Viktor war nach herzlichem Abschied gegangen, der Geheime Rat setzte sich an seinen Schreibtisch. Aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis er die unterbrochene Arbeit wieder aufnahm. Die Aussprache mit dem jüngeren Bruder hatte Erinnerungen in ihm aufgewühlt, die nur schwer wieder zur Ruhe kamen... Erinnerungen an die schwärzesten und unglückseligsten Stunden seines Lebens...

Er schloß eine Schublade seines Schreibtisches auf, entnahm einer kleinen stählernen Kassette ein mit rotem Juchten überzogenes Etui. Darin lag in schmalem, goldenem Rahmen ein nach Art der alten Miniaturen kunstvoll aus Elfenbein gemaltes Bild. Es zeigte in lebhaften Farben eine brünette junge Frau von etwas mehr als zwanzig Jahren, das reiche Haar tiefdunkel, die großen Augen unter den feingezeichneten Brauen kornblumenblau. Um den ein wenig zu vollen und sinnlichen Mund ein Lächeln, darüber ein zierliches, schmales Näschen... ein Frauenantlitz von so unsäglichem Liebreiz, wie es dem Schöpfer nur in seinen allerglücklichsten Stunden gelingt...

Dieses Bild hatte Ulrich von Dolinga in den erkalteten Händen seines Vaters gefunden. Es hatte neben anderen Angedenken in einer schweren, verschlossenen Truhe gelegen. Der Sterbende mußte sich mühselig aus dem Bett geschleppt haben, während die Wärterin vielleicht schlief oder hinausgegangen war, um es in seiner letzten Stunde bei sich zu haben. Das Bild der Frau, die ihn unglücklich gemacht, sein ganzes Leben zerstört hatte... Denn hinter dem liebreizenden und so holdseligen Antlitz wohnte eine verderbte und eigensüchtige Seele...

Und Ulrich von Dolinga entsann sich des Tages, an dem ihm sein Vater die neue junge Stiefmutter vorgestellt hatte... Er war noch Student im vierten Semester, als er plötzlich ein Telegramm erhielt: „Komm sofort nach Wiesbaden, Nassauischer Hof, habe dringend mit Dir zu sprechen, Papa.“ Er wunderte sich zwar ein wenig, daß der Vater, der selbst „Alter Herr“ der Sachsenpreußen war, ihn nicht in Heidelberg aufsuchte, um dort mit ihm wieder einmal ein paar fröhliche Tage zu verleben, aber er nahm Urlaub von seinem Korps und fuhr. Vielleicht kurierte der alte Herr in Wiesbaden seine schon recht unbequem werdende Gicht aus. Vom vielen Briefschreiben war er nie ein Freund gewesen, hatte seit mehr als acht Wochen nichts von sich hören lassen...

Auf dem Bahnhofe erwartete ihn der Vater. Hätte der alte Herr ihn nicht angerufen, wäre er, ohne ihn zu erkennen, an ihm vorübergegangen. Einen hellen Sommeranzug trug er nach allermodernstem Schnitt, elegante gelbe Schuhe und das sonst recht wildbärtige Gesicht glattrasiert bis auf ein kurzgestutztes, pechschwarz gefärbtes Schnurrbärtchen.

„Nanu, Papa“, sagte er ganz erstaunt, „bist du auf deine alten Tage noch in 'ner Schneiderakademie aktiv geworden?“

Der alte Herr lachte in augenscheinlicher Verlegenheit auf: „'Schneiderakademie' ist gut! Aber dieses nun weniger, mein Sohnchen, ich mußte mich doch für die Reise fein machen!“

„Na, und dein prachtvoller großer Bart?“

Der alte Herr druckste ein wenig herum.

„Mein Bart? Hm, mein Jungchen, der fing doch schon an, recht bedenklich grau zu werden. Und wenn... Na ja, wenn man sich auf seine alten Tage eine neue junge Frau zugelegt hat...“

Er schrie mitten auf der Straße laut auf: „Was?“

„Na ja, mein Sohn, das war die 'dringende Angelegenheit', die ich mit dir zu besprechen hatte. Und um die Sache kurz zu machen: Sie ist eine geborene Komteß Napieha... Gegen die Familie wirst du wohl nichts einzuwenden haben! In Posen lernte ich sie kennen... der Deu... oder vielmehr mein guter Stern hatte mich dahin geführt, auf 'ne landwirtschaftliche Ausstellung... Von dort reiste ich ihr nach Paris nach, na, und vor vierzehn Tagen haben wir uns in London trauen lassen! 'ne riesig kosmopolitische Sache, was?“

Die Augen schwammen ihm in Tränen, er konnte nichts antworten. Die geliebte Mutter war erst seit drei Jahren tot, es erschien ihm undenkbar, daß der Vater sie so rasch schon über einer anderen vergessen haben sollte...

Der alte Herr legte ihm den Arm um die Schulter, auch ihm steckte ein Kloß in der Kehle.

„Na, nu mach' mir's nicht unnütz noch schwerer, Uli... Geschehen ist geschehen, nichts mehr daran zu ändern!... Hast vielleicht recht, ich hätte mich vorher mit dir aussprechen sollen, aber es hatte mich so wahnsinnig gepackt... wärst du dagegen gewesen, wär' ich dir an den Hals gesprungen! Und dem Andenken seiner lieben Mutter geschieht kein Abbruch. Das hier ist überhaupt was anderes... na, Schockschwerenot, ich kann mich doch vor dir hier auf der Straße nicht seelisch und moralisch bis aufs Hemd ausziehen... Komm' ins Hotel und sieh sie dir an! Da wirst du alles verstehen.“

Den Weg zu dem Prunkbau des Gasthofes legten sie schweigend zurück. Im ersten Stock klopfte der Vater an eine Tür. Eine helle Stimme, die Ulrich seltsam bekannt vorkam, rief: „Entrez!“, und er stand vor einer jungen Dame, die noch vor wenigen Monaten, im Trubel des Kölnischen Karnevals für eine flüchtige Stunde sein gewesen war...

Er stand da, als wäre ein Blitz vor ihm eingeschlagen, ganz betäubt und keines Wortes mächtig. Auch sie hatte ihn wiedererkannt, aber sie zeigte — nach einem halblauten Ausruf des Erstaunens — keine Spur von Befangenheit.

Der Vater stand dabei, rieb sich — ein wenig verlegen — die Hände.

„Na, was sagt ihr nun zueinander? Gefällt dir dein großer Sohn, liebe Leska?“

Sie lachte auf. Ein seltsam wohlklingendes Lachen. Wie eine silberne Glocke klang es...

Mais, mon Dieu, wir sind ja alte Bekannte! Vom letzten Karneval her!... Du, Franjek, ich sage dir, da hat mir der junge Herr hier in einer Art und Weise den Hof gemacht?!... Ein echter Sohn seines Papas! Aber wenn er damals geahnt hätte, daß er mit seiner zukünftigen Stiefmama tanzt?“ ... Und sie wollte sich fast ausschütten vor Lachen...

Da sagte auch der alte Herr: „Ja, riesig komisch“ und ließ sich von seiner jungen Frau erzählen, wie sie mit ihrer Mutter auf der Heimreise von Paris zwei Tage in Köln Station gemacht — gerade am Fastnachtsdienstag und Aschermittwoch — und wie sie sich auf dem großen Gürzenichballe vor Tänzern nicht habe retten können...

„Ach“, meinte der alte Herr zu seinem Sohne, „da wart ihr wohl von Heidelberg aus in corpore hinübergefahren?“

„Ja, Papa... und da habe ich eben...“ Er mußte abbrechen, denn er fühlte deutlich, blieb er noch eine Minute länger hier in diesem Zimmer, schrie er alles heraus, was ihm auf der Seele brannte. Er verneigte sich kurz, stammelte: „Verzeiht lieber Papa, aber ich kann nicht“ und eilte hinaus.

Der Vater kam ihm auf den Korridor nach, schalt aufgebracht, er hätte bei aller Ablehnung in der Sache unter allen Umständen die äußere Form zu wahren gehabt. Die junge Frau müsse ja denken, er sei ein ganz ungeschliffenes Rauhbein, in irgendeiner Köhlerbude aufgewachsen, aber nicht in einem altadeligen Hause! Er stand stumm da, ließ die Vorwürfe mit gesenktem Haupte über sich ergehen. Da schrie der Vater in hellem Zorn: „Na schön, mein Sohn, wenn du dich nicht anders benehmen kannst, dann willst du eben nicht! Daß sich dadurch natürlich auch das Verhältnis zwischen uns beiden ändern muß, wird dir wohl klar sein! Aber wir bleiben vor der Abreise nach Friedrichstein ja noch ein paar Tage hier! Wenn du in der Zeit vielleicht wieder Manieren gelernt haben solltest, kannst du mich's ja wissen lassen!“

Er schluchzte nur einmal kurz auf: „Vater“ ... wandte sich ab und stürmte die Treppe hinab. Wie ein Irrsinniger rannte er durch die Straßen, bis er aus den Anlagen in den im ersten Frühlingsgrün prangenden Wald kam. Da verkroch er sich in einer heimlichen Wiesenschlenke, preßte das Gesicht in den dichten Teppich aus Graf und blühenden Blumen, um nicht laut aufzuschreien vor Scham und Gram und Weh! Und nur einen einzigen Gedanken im Kopf: so rasch wie möglich ein Ende zu machen! Der nächste Tag durfte diese Schande nicht mehr sehen... Ihm war, als klänge die rauschende Ballmusik wieder in seinen Ohren, bei der sie seinem stürmischen Werben endlich nachgegeben hatte, die elegante Maske, der er schon seit Stunden geradezu rasend den Hof machte im Übermut des jungen, für eine Weile aus strenger Korpszucht losgelassenen Studenten. Schon in der ersten Viertelstunde hatte er ganz genau gefühlt, das war irgend etwas Ausländisches, das den Ball besuchte, um unter dem Schutze der Maske ein Abenteuer zu erleben... Und die Maske hatte sie ja auch nachher nicht abgelegt, in dem kleinen Hotelzimmer, trotz allem Bitten und Betteln; hatte nur immer in ihrem ein wenig fremdartig klingenden Deutsch und lachend gesagt: „Nein, nein, ich hab' eine so häßliche Nase... Du wirst dich ganz furchtbar erschrecken und mich abscheulich finden.“ Da hatte er ihr roh und in trunkener Tollheit die schmale schwarze Larve samt dem Florschleier vom Gesicht gerissen... Sie sprang zornbebend auf, kleidete sich in fliegender Hast an, war nicht wieder zu versöhnen, trotzdem er auf den Knien bei seiner Seele Seligkeit schwor, das Geheimnis im tiefsten Herzen zu vergraben... Sie sagte nur: „Wenn ich Sie nicht ganz verachten soll, versprechen Sie mir auf Kavaliersparole, Sie werden mir nie nachforschen, nie versuchen, meinen Namen zu erfahren!“ ... Das versprach er feierlich, war eine Minute später allein... Am nächsten Morgen fuhr er nach Heidelberg zurück, verzehrte sich in Sehnsucht nach dem süßen Gesichtchen, das er nur ein paar Augenblicke lang gesehen hatte. Wie eine Offenbarung aller irdischen Schönheit war es ihm erschienen, um gleich wieder zu entschwinden... ganz krank war er vor Sehnsucht... Die Korpsbrüder schalten und spotteten über sein plötzlich so kopfhängerisches Wesen... Ein schweres Wort band seine Zunge, er konnte ihnen den Grund nicht sagen.

Und jetzt hatte er das Gesichtchen endlich wiedergesehen — es gehörte der Frau seines Vaters! Der Frau, die die Stelle seiner verstorbenen Mutter einnahm... nicht auszudenken waren Schmach und Schande... Wie sollte er's jemals wagen, zu deren reinem Bilde emporzublicken, dem Vater ins Auge zu sehen?... Nur — der Gedanke drängte sich ihm ins schmerzende Hirn — machte er's durch sein stilles Aus-der-Welt-gehen nicht noch schlimmer?... Mußte der Vater da nicht auf die Vermutung kommen, die Begegnung auf dem Karneval sei doch nicht so harmlos verlaufen, wie die junge Frau sie geschildert hatte?... Hatte er das Recht, dem alternden Manne, der sich auf seine späten Tage ein neues Glück gesucht hatte, diesen Stachel in die Seele zu bohren?...Da gab es nur eins: Nie mehr wiedersehen und schweigen.

Vom Hotel aus schrieb er dem Vater, er könne trotz aller Mühe sich nicht an den Gedanken gewöhnen, an Stelle der geliebten Mutter eine Fremde zu sehen; bat um Verzeihung, wenn er von jetzt an für alle Zukunft das Elternhaus meiden müsse...

Noch am selben Abend fuhr er nach Heidelberg zurück zu kurzem Abschied. Vierzehn Tage später, zu Beginn des neuen Semesters, saß er in Berlin, in Arbeit und Büchern vergraben — das altbewährte Mittel für solche, die nicht grübeln durften, wollten sie nicht ihren Verstand verlieren... Ein Jahr später machte er sein Referendarsexamen, in vorschriftsmäßigem Abstande den Assessor — beides mit dem „Prädikat“ — ging für ein paar Jahre als Landrat ins Posensche und wurde als Vortragender Rat ins Ministerium berufen. Ein früh ergrauter, schweigsamer Mann, der als überaus fleißiger Arbeiter und genauer Kenner der so schwierigen Polenfrage außerordentlich geschätzt, dessen Freundschaft aber von den Kollegen nicht gesucht wurde. Jeder Annäherung war er geflissentlich aus dem Wege gegangen; da gab man ihn als unverbesserlichen Sonderling auf. Nur im Kreise seiner in Berlin ansässigen Korpsbrüder, die alle vierzehn Tage einmal zusammenkamen, erschien er ab und zu. Trank sein Glas Bier und hörte schweigend zu, wenn die anderen von vergangenen herrlichen Jugendzeiten schwärmten...

Den Vater hatte er seit jenem Tage in Wiesbaden nur zweimal wiedergesehen. Einmal nach etwa sieben Jahren und nicht lange danach auf dem Sterbebett...

Beim erstenmal hatte ihn ein kurzer Brief nach Hause gerufen:

 

„Mein Junge, kannst Du Dich denn gar nicht überwinden? Komm', wenn auch nur auf einen einzigen Tag, ich bin namenlos elend!

 

Dein alter Papa.“

 

Da hatte er sich ohne Zaudern auf die Bahn gesetzt, war nach Friedrichstein gefahren. Das Herz tat ihm weh vor Mitleid, wenn er an die zittrige Handschrift dachte. Aber weil er einer von denen war, die sich selbst unerbittlich die Wahrheit sagen, verhehlte er sich nicht, daß ihn noch etwas anderes nach Hause zog als Mitleid... Wieviel tausendmal in jenen dunklen Stunden, in denen, aller Hemmungen ledig, aus dem tiefsten Grunde der Seele frevelnde Wünsche steigen, hatte er sich in zehrender Sehnsucht nach der einen gebangt, die im Rausch einer tollen Karnevalsnacht an seinem Halse gehangen hatte... Hatte sich ausgemalt, wie alles hätte kommen können, wenn er damals das zornige Verbot, ihr nachzuspüren, mißachtet hätte... Wie er jetzt hätte im Besitz wohnen können an Stelle eines anderen... Und sein brennendes Blut zauberte ihm allerhand lockende Bilder vor, bis er, wie von Furien gehetzt, durch die Straßen rannte, um sich in einer abgelegenen Spelunke zwischen zweifelhaftem Gesindel in Trunk und Lärm zu betäuben...

Am anderen Tage schämte er sich in den Grund seiner Seele hinein, meinte immer, alle Welt müsse es ihm ansehen, welch ein grauenhaft-zwiespältiges Innenleben der äußerlich so korrekte Beamte führte. Und mehr als einmal fragte er sich, weshalb er diesem Leben nicht mit kurzem Entschluß ein Ende machte. Der Grund, der ihn damals gehindert hatte, galt doch jetzt nicht mehr?... Oft genug hatte er schon die Waffe bereitgelegt — ein dumpfes Gefühl der Spannung hielt ihn immer zurück.

Eine ungewisse Erwartung, seinem äußeren und innern Schicksal sei noch eine Vollendung bestimmt, der er sich nicht entziehen dürfe; ein Sturz in den tiefsten Abgrund oder ein Aufstieg zu reinen und lichten Höhen...

Mit Herzklopfen fuhr er die lange Strecke, verzehrte sich in Bangen und fürchtete sich zugleich vor dem Wiedersehen.

Auf der Kleinbahn, die in schier unerträglichem Schneckentempo von Lyck nach Friedrichstein führte, waren ein paar bäuerliche Gutsbesitzer in seinen Wagen gestiegen. Sie kamen in einem der Nester, bei denen der Zug jedesmal aus unerfindlicher Ursache eine kleine Ewigkeit hielt, vom Markt, waren anscheinend leicht angetrunken. Ohne auf den fremden Reisenden in der Ecke zu achten, unterhielten sie sich laut und ungeniert in ihrem breiten Dialekt. Zuerst schimpften sie über die miserablen Viehpreise, bei denen ein ordentlicher Landwirt bankerott gehen müsse, dann fiel plötzlich in der Unterhaltung das Wort „der Friedrichsteiner.“ Da horchte Ulrich von Dolinga auf. Es ging um seinen Vater...

Der eine der beiden Besitzer sagte:

„Aprapoh, weißt du auch schon das Neuste? Der Friedrichsteiner sucht wieder Gälld!“

„Aber nei! Vor 'nem halben Jahr hat er doch erst eine Viertelmillion als dritte Hypothek aufgenommen?“

„Verlaß dich drauf, ich hab's beim Kaufmann Walindy als ganz bestimmt gehört! Und weißt, wem er beauftragt hat?“

„Nei!“

„Dem prachrigen Hund, dem Agännt Katzorrek!“

„Gott erbarm' sich! Dem Kärl möcht' unsereins ja nich mal mit 'ner Feierzang' anfassen!“

„Nich wahr? Wänn er mich grießen will, seh' ich immer auf de andere Seit'! Und so was rannt nu in der Stadt rum, fährt auch nach Keenigsbärg und biet' Wächsel vom Friedrichsteiner an wie sauer Bier! Das muß man sich bloß vorställen: vom Friedrichsteiner! Wann ich noch daran dännk', wänn er frieher im Kreistag aufstand mit seiner Bullenfigur: 'Härr Landrat, das machen wir nich!' Der Landrat konnt' sich auf 'n Kopp ställen, es würd' ebent nich gemacht! Und jetzt?... Wänn er noch drei Jahrchen so weiter wirtschaft', kann er als Pracher von seinen achtdausend Morgen 'untergehen, mit 'nem weißgeschälten Weidenstock in der Hand! Fimfdausend Morgen kleefähiger Boden und dreidausend schlagbarer Wald — das muß man sich bloß vorställen, was das heißt! Und ich versteh' nich, wie man so 'was ieberhaupt kleinkriegen kann!“

Der andere steckte sich eine neue Zigarre an, sagte paffend: „Nimm dir 'ne junge Frau, wo egalwäch de Zinsen mit dem Vermeegen verwächselt, und du krichst das Kunststick auch fertig!... Wie tief er aber auch sonst 'runtergekommen is?... Ställ' dir vor, er hat neilich mit mir Bruderschaft getrunken! Mit mir!... 'nem kleinen Pinscher von dreihundert Morgen!... Wänn ich der Friedrichsteiner wär' — nich mit dem Puckel würd' ich 'nen Kärrl wie mich ansehen!“

Der erste der beiden Besitzer machte eine ärgerliche Bewegung.

„Nu lüg' du aber mit dem Deuwel um de Wätt'! Erzähl' mir doch lieber gleich, du hast e Kalb von sächs Wochen fier dausend Dahler verkauft! Das möcht' ich dir dänn noch eher glauben!“

„Warraft'gen Gott, ich schwör' dir — auf mein Ehrenwort! Und der Krugwirt Sareyka in Pokroppen is Zeige!... Vorichte Woch' komm' ich nach Pokroppen, e Marjäll mieten, geh' hernachert in' Krug, e Schnapsche trinken. Ich dännk', ich seh' nich rächt: Neben der Tombank hinter 'nem Tisch sitzt der Friedrichsteiner! Schon reichlich angeschmort. Und der Sareyka erzählt mir, er kömmt so gegen die Schimmerstund' alle Woch' e paarmal im Einspänner ohne Kutscher 'rieber, knillt fer sich solo-allein e Flasch' Kimmel aus. Wie der Friedrichsteiner mir sieht, schreit er: 'Sinnhuber, alter Kampfgenosse, hierher 'ran!'... Na, erst wollt' ich nich, hernachert begoß ich mir auch de Gurke. Und dabei tranken wir ebent Bruderschaft!“

„Is de Möglichkeit!“

„Ich schwör' dir! Na, und wie wir nu de halbe Buddel intus hatten, fing er an zu renommieren. Von seiner glänzenden Ärnte, von seinem Maststall, von seinem Jungvieh... Wer nich Bescheid wußt', konnt' glauben, er müßt' seine Kraggen nächstens mit goldene Hufeisen beschlagen. Weil er vor lauter Gälld nich mehr wußt', wohin! Und hernachert fing er von seiner Frau an. Wie schön die wär', und was fir 'ne Gnade von Gott, daß se sich zu so 'nem alten, häßlichen Kärrl herabgelassen hätt'! Und jetzt hätt' er ihr 'nen Maler aus Paris kommen lassen, se abzumalen, dreißigtausend Mark kost' der Spaß, ohne alles, was noch so drum 'rum bammelt. 'Mannsch' sag' ich, 'Baron, wär' es nich billiger, du möch'st se in de Stadt fahren zum Photographieren? Auf einen Schlag macht dir der Kärrl, der Faruhn, e Dutzend Bilder. Pikfein ähnlich, und se kosten bloß zwei Dahler!' Er sieht mir ganz verächtlich an: 'Na ja, fier so eine kimmerliche Ziege, wie deine verehrte Frau Gemahlin, is das vielleicht gut genug. Aber wänn man eine Fehnus besitzt, das schönste Weib, wo je aus Erden gelebt hat?!'... Das würd' mir dünn doch zu dammlich. Ich hau mit der Faust auf'n Tisch: 'Na, lieber 'ne alte Zieg' fier mich allein, als 'ne Fehnus fier andere!' Er schreit zurück: 'Was soll das heißen?' Und ich wieder: 'Ja, Bruderherz, Baron, verstehst du das nich? De Hörner wachsen dir ja so zum Kopp 'raus, daß du keine Mütz' mehr aufsetzen kannst! Und dieser pollaksche Graf von Komierowski — ja bild'st du dir vielleicht ein, der is zu dir auf Besuch gekommen?'... Er drillt auf: 'Verfluchter Hund von Dräckbauer,' will mir an' Schlunk, aber er fällt längelang ieber'n Tisch, bloß de Schnapsbuddel kullert 'runter. Und da kriecht er doch auf sein' Stuhl zurück und fängt mit einmal so ganz hilflos an zu weinen, so ganz still fier sich... mir würd' sälbst ganz komisch...“

Der unfreiwillige Zuhörer konnte sich nicht länger beherrschen vor Zorn. Er richtete sich auf.

„Herr, jetzt ist's aber genug mit diesen infamen Verleumdungen! Und kein Wort weiter! Es könnte Ihnen teuer zu stehen kommen!“

Der Besitzer Sinnhuber schien mehr freudig überrascht als erschreckt. Er faßte den Mitreisenden schärfer ins Auge.

„Härrjehs, nei, jetzt erkänn' ich Sie erst! Der junge Härr Baron Ulrich! Aber regen Se sich nich unnütz auf, da würd' der Härr Amtsgerichtsrat Sie ja bloß auslachen, wänn Se und Se wollten mir deswegen vielleicht wegen Beleidigung verklagen! Is ja alles wahr und noch mehr dazu. Hundert Zeigen kann ich dafier ställen!“ ... Und zu seinem Nachbar gewandt, fuhr er fort: „Wär' ja noch schöner, wänn man nich mehr von dem reden dürft', was alle Spatzen im Kreis von den Dächern pfeifen! Es is vielleicht sogar ganz gut, daß der junge Härr das alles gehört hat. Da wird er der Schweinewirtschaft auf seinem Väterlichen hoffentlich ein Ände machen...“

Der Zug hielt, ein Schaffner rief laut: „Friedrichstein, fimf Minuten“ ... Die beiden Bauerngutsbesitzer stiegen aus. Herr Sinnhuber klopfte Ulrich auf die Schulter.

„Das missen Se nich machen, junger Härr! Alte Leite, wo es gut meinen mit Ihnen, so grob anschnauzen! Und glauben Se vielleicht, unsereinem tut es nich leid, wänn so ziemlich das Stolzeste, was wir haben im Kreise, vor die Hunde geht? Schindluder mit sich spielen läßt von allerhand Leiten, fier die ein anständiger Stock eigentlich noch viel zu schad' is? Aber was red' ich mir das Maul foßlich? Es hilft ja doch nichts.“

Ulrich biß die Zähne zusammen, antwortete nicht. Er bereute bitter, daß er sich hatte hinreißen lassen. Und eigentlich hätte er auf der Stelle umkehren können. Mehr als hier konnte er in Friedrichstein nicht erfahren. Auch sein Dazwischentreten kam wohl zu spät. Wie hatte der behäbige Bauerngutsbesitzer eben gesagt: „Es hilft ja doch nichts...“

Ein unsäglich vornehm aussehender Diener in hellblauer Livree trat auf ihn zu, lüftete den mit rot-weißer Rosette geschmückten Zylinder.

„Pan Baron Dolinga?“

„Kerl, wieso sprichst du nicht Deutsch?“ fuhr es Ulrich zornig heraus.

Der blaue Diener sah ihn verwundert an.

„Daitsch? Ich kann, ein bißchen. Aber panni zakasala, verboten...“

Der feiste Kutscher auf dem Bock der eleganten Equipage schien noch vornehmer als sein hellblauer Kollege. Während er mit der Rechten an den Rand des Zylinders faßte, reckte er die stumpfe Nase hoch in die Luft, als wäre seine Weste aus nicht gerade wohlriechendem Stoffe gefertigt. Wie die des Bauernjungen, die ehemals ein Hosenboden des Vaters gewesen war... Ulrich mußte ingrimmig auflachen. Seine liebe alte Mutter hatte sich vor jenen Zeiten mit einem bescheidenen Landauer begnügt, ohne mitfahrenden Diener; der Kutscher hatte eine dunkle Livree getragen, bei der es weniger auf Eleganz als auf Dauerhaftigkeit ankam. Wenn er diese kostspielige Aufmachung hier ansah, die wohl einen Schluß aufs Ganze zuließ, brauchte er sich nicht zu wundern, daß Friedrichstein mit Schulden überlastet war und der Vater durch einen übelbeleumundeten Agenten auf Wechsel neues Geld suchte...

Die vier Trakehner Füchse vor dem Wagen gingen einen schlanken, weitausgreifenden Trab, waren prachtvoll eingefahren. Wald, Felder und Wiesen flogen vorüber. Die Felder standen gelb schimmernd in der beginnenden Reife, der zweite Schnitt auf den Wiesen prangte dunkelgrün. Überall aber Zeichen des Verfalls. Auf einem der Vorwerke, über dessen Hof sie fuhren, waren die Dächer schadhaft, die Insthäuser schmutzig und verfallen. In der Fachwerkwand einer der Scheunen klaffte ein großes Loch. Zerlumpte Weiber und Kinder standen vor den Türen, starrten dem vorbeisausenden Viererzug nach.

Dem aber, der als Gast auf seine Vatererde zurückkehrte, zog sich das Herz zusammen. Wie lange noch, und das alles hier, das ihm nach Fug und Recht als Erbe zukam, geriet unter den Hammer? Da schwor er sich einen heiligen Eid, die polnische Wirtschaft, außen hui und innen pfui, mußte ein Ende nehmen! So niedergebrochen der Vater auch sein mochte, er hatte doch einen Augenblick gehabt, in dem er sich auf sich selbst besann, den Sohn zu Hilfe rief. Um welche Hilfe aber konnte es sich handeln, als gegen die Frau, die ihn zugrundegerichtet hatte?...

Auf der Freitreppe des Schlosses, auf der er den Vater, seiner Ankunft harrend, zu sehen gehofft hatte, empfing ihn ein glattrasierter Kerl in Frack und Eskarpins, ein Gesicht, wie vom Galgen geschnitten; der Herr Haushofmeister Kolodczeiowski. Auch er versuchte ihn polnisch zu begrüßen, Ulrich aber fuhr ihn heftig an.

„Sie, das verbitte ich mir! Seit wann wird denn in Friedrichstein nur Polnisch gesprochen?“

Der Haushofmeister verneigte sich lächelnd und nicht im geringsten gekränkt. Sprach geläufig Deutsch ohne den geringsten fremden Anflug. Es kam daher, weil er vor noch nicht allzu langer Zeit auf den Namen Rademacher gehört hatte. Ein strebsamer Mann, der vorwärtskommen wollte, mußte sich eben auch äußerlich der Umgebung anpassen, in der er sein Brot verdiente.

„O schon seit einigen Jahren“, sagte er. „Ich kenne es hier überhaupt nicht anders. Und darf ich Herrn Baron jetzt auf sein Zimmer führen?“

„Nicht nötig, den Weg finde ich allein. Melden Sie mich meinem Vater — ich bitte darum, ihn sofort sprechen zu dürfen!“

Der Haushofmeister verneigte sich noch um einen Grad tiefer.

„Das wird zu meinem Bedauern nicht möglich sein, Herr Baron. Die Herrschaften sind alle ausgefahren, kommen erst zum Diner zurück.“

„Mein Vater auch?“

„Sehr wohl, Herr Baron. Herr Professor Durand aus Paris — er ist extra herübergekommen, die Frau Baronin zu malen — will eine Skizze im Jagdkostüm machen. Da sind die Herrschaften alle nach dem kleinen See gefahren. Der Förster hat für die Skizze einen Rehbock schießen müssen.“

„Danke, auf nähere Einzelheiten lege ich keinen Wert.“

Bis zu dem „Diner“ — früher hatte man es Abendbrot genannt — waren noch zwei Stunden Zeit. Er hatte gute Verwendung dafür: einen Besuch bei dem Grabe der lieben Mutter. Als er kam, stand zu seiner Verwunderung an Stelle der einfachen Grabkapelle aus roten Ziegeln eine stattliche Kirche da; massive Sandsteinfassade in romanischem Stil. Erst glaubte er, er habe sich verlaufen, dann sah er, es stimmte... Es war noch die alte Kapellenlichtung im Park, nur die grünen Tannen, die sie in weitem Kreise umgaben, waren ein Ende in die Höhe geschossen. Ein breiter Weg führte zum Dorfe hinab, und zur Seite der Kirche war eine neue Begräbnisstätte angelegt worden. Ein einzelnes Grab darauf... Er trat näher... „Eva Freifrau von Dolinga-Dolinowski, geborene Bensinck“ stand auf dem schlichten Stein zu lesen.

Es wurde ihm dunkel vor den Augen, so stark empfand er den Schimpf, daß man die Mutter von ihrer letzten Ruhestätte vertrieben hatte; von dem Plätzchen unter dem Altar der kleinen Kapelle, das sie selbst sich ausgesucht hatte... Und ein Schauder flog ihm über den Nacken: wie groß mußte die Macht sein, unter die der Vater sich beugte, daß er diesem schmählichen Ansinnen sich nicht widersetzt hatte?...

Er saß lange neben dem schmalen, von Efeu dürftig begrünten Hügel. Haß und Groll wuchsen riesengroß in seiner Brust, verdrängten alles, was sich früher darin geregt hatte. Und er verschwor sich heftig, in dem verschimpfierten Vaterhause mit eisernem Besen auszukehren. Selbst vor dem öffentlichen Skandal schwor er nicht zurückzuschrecken, den Vater — wenn es nicht anders ging — unter Vormundschaft stellen zu lassen! Dann flog die ganze polnische Sippschaft, die Frau Stiefmutter an der Spitze, hier zum Tempel hinaus...

Ein hutzliges, altes Männchen, der Gärtner Rymarski, rief ihn scheltend an.

„He, Sie, was machen Sie dänn da?“

Er wandte sich um: „Nanu, Rymi, alte Seele, kennst du mich denn nicht mehr?“

Der Alte stand da mit zitterndem Munde, seine rotgeränderten Augen füllten sich mit Tränen.

„Härrjehs, nei, daß ich das noch erleb'... der junge Härr Baron!“ ... Er humpelte näher, wollte dem Heimgekehrten Rock und Hände küssen.

Ulrich wehrte ab. „Ist diese ekelhafte polnische Mode bei uns jetzt auch eingeführt?... Und, sag', seit wann steht hier die neue Kirche?“

Der alte Gärtner dachte nach. „Ja, ganz genau weiß ich das nich mehr. Das war wohl in dem Jahr, wie der gnädige Härr Baron kathol'sch geworden is.“

Er schrie fast auf: „Was?... Was ist er geworden?“

„Ja, ja, junger Härr, katholisch! Und noch mancher andere dazu. Wie der pol'sche Härr Pfarrer gekommen is, hat's angefangen. Die, wo sich wehrten, die Instleute, kriegten gekündigt. Ich auch. Da sag' ich: Liebes evangelisches Gottchen, du wirst nich bees' sein, wänn ich dir eißerlich abschwör'! Innerlich bleib' ich dir trei... Und du weißt ja Bescheid: Wo soll ich hin mit meine molschen alten Knochen? Was fang' ich an, wänn ich hier wech muß? Infalidengälld reicht nich, und wer nimmt so einen alten Sebbrack wie mich in Brot und Lohn?“

Ulrich lachte bitter auf.

„Das ist eine sehr einfache Manier! Und wie heißt denn dieser tüchtige Herr Pfarrer?“

„Kaplan Swiderski, gnädiger junger Härr!... Ein sehr eifriger Härr — wänn er an Sonntag predigt, geht man so zerknirscht aus der Kirch 'raus, daß man dännkt, kein Hund nimmt nie 'n Stick Brot mehr von einem! Auch in de Dörfer ringsherum geht er. Immer, wänn die Männer nich zu Haus, auf Arbeit sind. Manche von die haben 'm nehmlich gedroht, se schlagen ihm alle Knochen entzwei. Aber er läßt sich nich anföchten, und de Weiber hören sehr auf ihm... Er sagt, ohne die heilige Jungfrau Maria gibt's keine Selichkeit nich, wänn man gestorben is. Sie muß bitten vorm lieben Härrgottchen, und wänn se nich bittet, is verspielt. Da muß man 'runter in de Höll'! Aber se versteht bloß Pol'sch und Katholisch. Wänn man auf deitsch und evangelisch betet, versteht se nich. Das heißt, verstehn versteht se schon, bloß se will nich! Weil se auf dem Luther 'nen Haß hat. Der hat von ihr gesagt, se wär' bloß e gewöhnlicher Männsch gewesen wie wir alle. Das hat se ihm iebelgenommen. Und wänn man schon mit einem Fuß in der tiefen Kaue steht wie ich, macht man sich so seine Gedanken. Wie is, wänn nu der pol'sche Kaplan rächt hat, und du Erdenwurm bist verblänndet und verstockt geblieben?... Also da möcht' ich Sie nu fragen, gnädiger junger Härr: Was is richtig?“

Ulrich legte dem Alten die Hand aus die Schulter.

„Richtig ist, daß man hier unten ein ordentlicher Mensch ist, seine Pflicht tut. Da fragt der liebe Gott nicht viel danach, in welchem Bekenntnis man zu ihm gebetet hat.“

„Ja, gnädiger junger Härr, dänn möcht' es doch auch egal sein, ob unsereins nu in de Kirch' geht oder nich? Und wieso streiten sich dänn hier de Härren Pfarrers um jede arme Seel' wie de Habichte um'e geschlagenes Huhn? Da möcht' man doch“ ... Er brach plötzlich ab, zog die Mütze und humpelte eilig davon...

Ulrich sah ihm verwundert nach, neben ihm erklang eine salbungsvolle Stimme: „Niech pochwalony naz Pan Jezus Chrystus.

Er wandte sich um, ein untersetzter junger Mann stand da, ohne daß er sein Kommen gehört hätte. Hinter breiten Backenknochen ein Paar kleine hellblaue Augen, die zur Fülle neigende Gestalt in langer schwarzer Soutane. In der Linken hielt er ein Brevier, die Rechte wie zum Segen gehoben. Ulrich mußte ingrimmig auflachen, der junge Herr kam ihm in seiner Stimmung gerade recht!...

„Entschuldigen, Hochwürden, ich habe nicht verstanden. Wie meinten Sie eben?“

Der andere erwiderte freundlich in etwas hart klingendem Deutsch: „Sie verstehen kein Polnisch?“

„Leider nein.“

„Nun denn: 'Gelobt sei unser Herr Jesus', habe ich gesagt.“

„Ein Wunsch, dem man sich nur anschließen kann! Und darf man fragen: Das Geschäft geht gut?“

„Welches Geschäft, ich bitte?“

„Nun, der Seelenfang bei den armen masurischen Tagelöhnerweiblein? Mit der Furcht vor ewiger Verdammnis als Köder?“

Der Herr Kaplan schickte einen raschen Blick nach der Richtung, in der der Gärtner Rymarski eben zwischen den Parkbäumen verschwand.

„Ach so, daher! Aber, ehe wir weitersprechen — mit wem habe ich die Ehre?“

„Mit dem Sohn der Frau, die unter Ihrer gütigen Mitwirkung von ihrer letzten Ruhestätte vertrieben worden ist!“

Der Herr Kaplan schüttelte milde den runden Kopf.

„O, o, 'vertrieben', das ist ein böses Wort! Ist das hier nicht auch ein sehr würdiger Platz? Unter Gottes freiem Himmel? Und Sie werden mir zugeben: Nachdem sich Ihr Herr Vater entschlossen hatte, an dieser Stelle eine katholische Kirche zu erbauen, war da für eine Evangelische unter dem Altar vielleicht Raum?“

„Glauben Sie, der liebe Gott hätte Anstoß daran genommen?“

„Auf eine so frivole Frage zu antworten, ist unter meiner Würde!“

„Auch am bequemsten“, warf Ulrich ein.

„Ah nein, mein Herr! Wer sich der Kirche mit Respekt und in Demut naht, dem löst sie die Zweifel. Auch das Wort 'Seelenfang', das Sie vorhin gebrauchten, muß ich als ungehörig zurückweisen!“

Jetzt brauste Ulrich auf.

„Na, Herr, wie nennen Sie's denn sonst, wenn Sie in eine friedliche, bisher rein evangelische Gegend die religiöse Verhetzung tragen? Den armseligen Weiblein, deren Horizont nicht weiter reicht als ihre Nase, mit allen Höllenstrafen einheizen, wenn sie von ihrem angestammten Glauben nicht abgehen wollen?“

Der untersetzte kleine Priester sah zum Himmel empor, in seinen tiefliegenden Augen brannte ein ekstatisches Licht.

„Ich folge dem Ruf, der an mich ergangen ist!“

„Und Sie glauben selbst an das, was Sie den Leuten einreden? Die Mutter Gottes, ohne deren Beihilfe und Fürsprache es keine Seligkeit gibt, versteht nur Polnisch?“

„Es ist die Sprache der Menschen, die am allerinbrünstigsten zu ihr beten!“ Er hob die Hand, ging gemessenen Schrittes die Lindenallee entlang, die zum Schlosse führte. Ulrich aber sah ihm in Verblüffung über die geschickte Wendung, mit der er sich der unbequemen Frage entzogen hatte, nach. Und in jenem Augenblicke dämmerte ihm zum ersten Male eine Ahnung von der furchtbaren Gefahr, die dem deutschen Vaterlande hier im Osten heranwuchs... Wie in einer Vision sah er ein Bild vor sich, das ihm als einem auf dem Lande Geborenen geläufig war... Einer jener klaren flachen Seen, die gleich blauen Augen überall zwischen den Hügeln und Wäldern Masurens den Himmel widerspiegelten... Irgendwoher, vom Winde getragen, kam ein Weidenreis geflogen, verfing sich zwischen Mummeln und dünnen Binsen... Grafhalme flogen hinzu und Staub, im nächsten Sommer war es ein Busch. Nach ein paar Jahren aber war es eine kleine Insel, schickte ihre Senker in den von unten her wachsenden Schlick, breitete sich in der Runde aus... Noch viele solcher Inseln bildeten sich rings am Ufer, nach kurzen hundert Jahren waren von dem See nur noch ein paar Blanken in der Mitte übrig. „Vermooren“ nannten das die Geologen... In jenem Augenblicke aber reifte in ihm auch der Entschluß zur Abwehr, soweit sie in seinen Kräften stand. Ein kluger Wirt, dem sein Fischwasser lieb war, harkte die kleinen Inseln aufs Trockene, ehe sie sich zu fest verwurzelten. — — —

 

***

 

In der weiten und hohen Halle, deren Wände mit auserlesenen Jagdtrophäen geschmückt waren — Wisenthörner und gewaltige Elchschaufeln, von den Vorfahren erbeutet, bis hinab zu einem kapitalen Achtergehörn, das einer der von ihm erlegten Böcke getragen hatte — traf Ulrich eine ganze Gesellschaft schwarz befrackter Herren. Darunter zwei junge Damen in tief ausgeschnittenen hellen Kleidern. Wie er später erfuhr, arme Verwandte seiner Stiefmutter. Dürftige Figürchen und nichtssagende Gesichter. Zu keinem anderen Zwecke da, als der Hausherrin zur Folie zu dienen. Auch die strahlendste Schönheit wirkte nicht, wenn der Hintergrund fehlte, von dem sie sich abheben durfte.

Ein eleganter, nicht mehr ganz jugendlicher Herr, das Einglas im linken Auge, trat auf ihn zu, stellte sich vor. Er sprach in seltsam abgehackten Sätzen.

„Komierowski!... Meine Kusine Leska freute sich ganz furchtbar, daß Sie endlich... Wollte auch persönlich an Bahn, aber Professor! Auf der Rückreise von Petersburg... allerhöchste Herrschaften mit unsterblichem Pinsel... ja, sonst nämlich nicht so billig... also er hatte den Einfall, unsere Gnädigste als moderne Diane chasseresse... nur eine Skizze, aber Widerspruch unmöglich...“

Ulrich hatte sich gemessen verneigt.

„Ich habe davon gehört, Herr Graf.“

Der elegante Herr mit dem Einglas faßte ihn jovial unter den Arm.

„Aber, aber! Unter Verwandten 'Herr Graf'? Ich bitte ganz einfach 'Onkel Sascha'! Nur aus dem Vornamen keine Schlüsse auf russophile Gesinnung! Erklärung: Der auf Newski-Prospekt Ermordete mein Taufpate... Aber ich wollte doch... Ach so! Also“ ... Er machte eine vorstellende Bewegung: „Unsere reizenden Kusinen Wanda und Elvira Gawronski... Ein deutscher Dichter treffendes Wort: 'Himmlische Rosen in langweiligem Leben'... Dann da Kusin Razumowski... tanzt Mazur wie der berühmte... Name vergessen... Wiener Hofoper... Dann hier Kusin Graf Plater... trifft Coeur-As aus dreißig Schritt... Kusin Brudzinski, unbesieglicher Matador in Ekarts... Kusin Oleśnicki, nichts weiter, gar keine Talente... Und hier endlich... nicht letzter, nur hinter dickem Plater ganz versteckt... freundlicher Seelsorger, Kaplan Swiderski. Überschrift: Sünder, keine Angst, der liebe Gott kein böser Mann.“

Ulrich hatte die Vorstellung mit einer allgemeinen Verbeugung erwidert.

„Darf ich fragen: Die Herrschaften sind hier zu einer Art Familientag versammelt?“

Graf Komierowski lachte auf, als hätte er einen guten Witz gehört.

„Familientag? Großartig! Wegen Kusins? Mon cher, polnische Verwandtschaft! In Hochadel alles Kusins!“

Die beiden Schwestern Gawronski kamen auf ihn zugehüpft, begrüßten ihn in schnatterndem Französisch. Soviel er verstand, freuten sie sich, ihn endlich kennenzulernen; freuten sich, daß er viel netter aussähe, als der vorausgegangene Ruf ihn geschildert hätte. Zu seinem Bedauern konnte er das Kompliment nicht zurückgeben; wie seine neuen „Tanten“ früher ausgesehen haben mochten, war ihm unbekannt.

Der Haushofmeister, der am Fuße einer breiten, nach der Galerie führenden Treppe stand, räusperte sich, die in der Halle Versammelten blickten nach oben. Von der eichengeschnitzten Galerie kam die Hausherrin langsam die Stufen herab. In der Mitte des reichen dunklen Haars ein funkelnder Solitär, die gegen früher etwas voller gewordene, königliche Gestalt in einem tief ausgeschnittenen weißen Seidenkleid, dessen lange Schleppe die Treppenstufen fegte. Das Gesicht schien ihm noch genau so hinreißend schön wie vor jenen sieben Jahren...

Ulrich hatte mit bangem Herzklopfen auf den Augenblick des Wiedersehens gewartet, er wurde plötzlich nüchtern. Er sah genau, die Herren in der Runde, den feisten Kaplan eingeschlossen, blähten alle die Nüstern, hatten alle einen Ausdruck in den Augen, der nur eine einzige Deutung zuließ. Ekel und Scham schnürten ihm den Hals zusammen: auf der Treppe da oben war vor Jahren eine andere gegangen... eine herbe Frau, aber so gut und rein, daß der Staub des Teppichs sich nicht an den Saum ihres Kleides getraute...

Neben der Hausherrin tänzelte ein beweglicher kleiner Herr die Treppe hinab. Im gelben Gesicht eine Hakennase und ein schwarz gewichster Schnurrbart, im Knopfloch des Frackes die Rosette der Ehrenlegion... Dahinter aber eine bemitleidenswerte Gestalt... ein hochgewachsener alter Mann in schlotterndem Frack, der — die Hand am Geländer — langsam und mit Mühe die Stufen hinabstieg. Jeder Tritt schien ihm Schmerzen zu verursachen. Das früher so volle und wohlgenährte Gesicht schien nur noch wie eine gute Männerfaust so groß, der kurz gestutzte und schwarz gefärbte Schnurrbart wirkte wie ein Fleck auf einer vertrockneten Zitrone. Ulrich fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Mit aller Gewalt mußte er sich dagegen wehren...

Die Stiefmutter begrüßte ihn zuerst. Sie reichte ihm die ringgeschmückte, parfümierte Hand zum Kusse, lächelte ihn holdselig an. „Willkommen, lieber Ulrich, im Vaterhause! Hast du eine gute Reise gehabt?“

Er stotterte mühsam: „Danke sehr, es ging an... bis auf das letzte Ende und jetzt...“

Sie schlug ihn leicht mit dem Fächer auf den Arm. „Soll das heißen, hier zu Hause? Pfui, wie ungalant gegen deine kleine Mama!“ Und zu dem Professor an ihrer Seite gewandt, fügte sie auf französisch hinzu: „Ein junger Bär, mein Stiefsohn! Aber er meint es nicht so schlimm...“

Der Herr Professor tat einen seiner lapidaren Aussprüche, wegen derer er ebenso berühmt war wie wegen seiner eleganten Frauenbildnisse.

„Ich liebe diese Bären“, sagte er, „sie sind die robusten Antipoden einer am Schlusse sich selbst negierenden Kultur.“

„Bravo“, rief Fräulein Elvira Gawronska, ohne verstanden zu haben. Der Professor lächelte geschmeichelt, wandte sich ihr zu.

Der Vater kam, mühsam auf einen Stock gestützt, näher. Als er den Sohn erblickte, glitt über sein eingeschrumpftes, kleines Gesicht ein freudiger Schimmer.

„Sieh da, Ulrich! Das ist wirklich lieb von dir, daß du endlich gekommen bist!“

„Aber, liebster Papa, auf deinen Brief hin war das doch selbstverständlich!“

Die junge Frau sah ihren Gatten erstaunt an.

„Ach, du hast ihm einen Brief geschrieben? Mir hast du doch gesagt, Ulrich wär' ganz aus freien Stücken gekommen? Um endlich einen Zustand aus der Welt zu schaffen, den ich mir in der Tat nicht länger gefallen lassen konnte?“

Der alte Herr bekam vor Verlegenheit einen roten Kopf.

„Selbstverständlich, liebe Leska, das ist die Hauptsache! Und ganz natürlich, daß ich mit Ulrich darüber korrespondierte! Aber ich erkläre dir das alles später.“ Und er humpelte eilig davon, zu der Gruppe von Herren hinüber, die zur Seite getreten waren, um die Begrüßung der Familie nicht zu stören.

Frau Valeska trat dicht auf ihren Stiefsohn zu. Sie lächelte, aber in ihren blauen Augen funkelte ein böses Licht.

„Sieh mal an, solche Heimlichkeiten habt ihr miteinander? Da würde es mich doch recht interessieren, den Brief mal zu lesen!“

„Wenn Papa seine Einwilligung gibt?“

„Er gibt sie, verlaß dich drauf! Aber jetzt, lieber Ulrich, mal ganz unter uns beiden: Es handelt sich um mehr als um — na sagen wir — deine nachträgliche Zustimmung zu meiner Existenz! Die Verhältnisse haben sich hier so bedauerlich zugespitzt, daß nach irgendeiner Seite eine Entscheidung fallen muß! So oder so.“

Draußen, hinter der zum Speisesaal führenden Tür, erhob sich lautes Geschrei einer Kinderstimme, Fußtritte polterten gegen die Füllung. Der Haushofmeister sprang eilig hinzu und öffnete. Ein etwa sechsjähriger bildhübscher kleiner Bursch in kokettem Sammetanzug wurde von einer Bonne hereingetragen, strampelte ungebärdig mit den Beinen und schrie: „Ja niechce... ich will nicht... will nicht.“

Die Mutter trat zu ihm, sprach zärtlich auf ihn ein: „Ale Viktorku! Mlody szlachcic taky brzydky? So unartig ein junger Edelmann? Da, dein großer Bruder ist gekommen! Geh', gib einen Kuß und sag' Guten Tag!“

Der Kleine strampelte sich aus den Armen der Bonne, die ihm erst die zerzausten Locken ordnen wollte, pflanzte sich vor dem, den die Mutter ihm wies, keck auf.

„Wieso du mein Bruder?“

Ulrich fühlte es warm im Herzen aufsteigen. Er nahm den Kleinen auf den Arm.

„Ja, mein Kerlchen, es ist wie im Märchen: Auf einmal hast du einen großen Bruder! Na, und wie ist's nun: Wollen wir beide uns ganz dick liebhaben?“

Der Kleine sah ihn an, schlang plötzlich die Ärmchen um seinen Hals.

„Sehr, sehr... Ich dich liebe sehr.“

In diesem Augenblicke tat Ulrich ein heißes Gelübde: Wenn es zu der großen Auseinandersetzung kam, den, den er hier in seinen Armen hielt, gab er nicht mehr her! Deutsch sollte der Junge und mal etwas anderes werden als einer jener „Kavaliere“ da, deren Ehrgeiz darin bestand, mit der Pistole die Mitte eines Kartenblattes zu treffen oder die Meisterschaft in irgendeinem Tanz zu erreichen...

Die Mutter stand dabei, ein seltsames Lächeln um die schöngeschwungenen Lippen.

„Du mußt dich nicht wundern, lieber Ulrich, daß er so ungezogen und verwöhnt ist. Der kleine Kerl war sehr neugierig... sprang viel zu früh in diese uninteressante Welt... Weil ich fürchtete, ich würde ihn nicht behalten, hab' ich ihm jeden Willen gelassen.“

Er sah sie ganz entgeistert an, ließ den Kleinen unsanft zu Boden gleiten.

„Wie, was?... Das wäre ja entsetzlich...“

Sie zuckte die Achseln. „Könnten wir etwas dafür? Aber es ist natürlich Unsinn! Ich wollte dich nur daran erinnern, daß ich nicht ganz wehrlos bin. Falls du mit Papa vielleicht irgendwelche Entschlüsse fassen wolltest, die — na, sagen wir einmal — mit meinen Plänen nicht ganz übereinstimmen sollten!“

Die Flügeltür zum Speisesaal wurde von einem Diener geöffnet, der Haushofmeister trat einen Schritt vor.

Madame la baronne est servie.“

Der kleine französische Professor kam eilig herbei, bot der Hausherrin galant den Arm. Sie nickte ihrem Stiefsohn freundlich zu. So gelassen, als hätten sie eben über die gleichgültigsten Dinge der Welt gesprochen.

„Du führst meine Kusine Elvira“, sagte sie. „Sei, bitte, recht nett zu ihr! Sie ist ein ganz reizendes junges Mädchen...“

Fräulein Elvira Gawronska lächelte ihm kokett entgegen.

„Choffentlich nachher keine Enttäuschung! Abber wie wir uns sollen unterhalten? Du niecht Französisch, niecht Polnisch, iech nur eine kleine bießchen Deutsch...“

Er war noch von dem Auftritt eben so benommen, daß er sich mühsam zu einer Antwort aufraffen mußte.

„Ich finde, Sie sprechen es ausgezeichnet, meine Gnädigste.“

Sie rief laut der vorangehenden Kusine zu: „Du, Leska, er saggt zu seine jungge Tante 'Sie'!“

Frau Valeska lachte.

„Er hat noch zu viel Respekt. Aber du wirst's ihm schon abgewöhnen! Und ihr könnt ja nachher Bruderschaft trinken.“

„Gut, trienken wir Bruderschaft! Iech freu mir ja auch so, daß du... Sie... wieder nach Chaus gekommen biest... Wir werden siech viel zu erzellen chabben.“

Ulrich begnügte sich mit einer stummen Verneigung. Die Herrschaften hier schienen alle überzeugt zu sein, er sei reumütig heimgekehrt, um mit seiner Stiefmutter Frieden zu schließen. Weshalb sollte er jetzt schon ihnen den Glauben nehmen? Die Auseinandersetzung morgen früh brachte ja Klarheit...

An der mit schwerem Silber und Blumen geschmückten Tafel herrschte von der ersten Viertelstunde an eine recht laute Stimmung. Der reichliche Sekt, den es schon zur Suppe gegeben hatte, löste die Zungen. Die Unterhaltung wurde französisch geführt. Man konnte sich gehen lassen, die aus lauter Polen bestehende Dienerschaft verstand kein Wort. Auch Herr Haushofmeister Kolodczeiowski kannte nur die paar Brocken, die zu seinem Dienst gehörten.

Ulrich konnte ungestört seinen Gedanken nachhängen. Seine Tischnachbarin hatte schon nach kurzer Zeit den Versuch, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln, aufgegeben. Als er's auch nicht zu bemerken schien, daß ihr heller Seidenschuh ein paarmal dicht neben seinen Fuß rückte, wandte sie sich zu ihrem Nachbar zur Rechten, dem „Kusin ohne alle Talente“, Herrn Kasimir Oleśnicki. Mit dem schien sie, wie ihr neckisches Kichern zeigte, sich besser zu unterhalten.

Ulrich sah zu seinem Vater hinüber. Der alte Herr saß zusammengesunken in seinem Stuhl. Die Speisen berührte er kaum, nur von Zeit zu Zeit griff die zitternde Hand nach dem Glase; er leerte es jedesmal, gierig, auf einen Zug. Erschrecklich war es, was die letzten Jahre aus dem riesenhaften Körper gemacht hatten... Und bange Zweifel schlichen ihm ins Herz, ob es überhaupt lohnen würde, mit diesem Bundesgenossen den Kampf gegen die rücksichtslose und in allen Listen erfahrene Frau aufzunehmen. Er konnte sich nicht helfen, er fand keinen anderen Vergleich: Der alte Herr machte den Eindruck eines verprügelten edlen Hundes. Mit unbeschreiblich demütigem Ausdruck hingen seine Augen an dem Gesicht der schönen Frau am Kopfende der Tafel. Wenn sie ab und zu einmal zerstreut nach ihm hinüberblickte, straffte er die eingesunkene Gestalt, trank ihr, glückselig lächelnd, zu. Trostlos war das, und dem zuschauenden Sohne tat vor Scham das Herz weh...

Frau Valeska saß zwischen dem Grafen Komierowski und dem Professor Durand. Der kleine Maler sprach, lebhaft gestikulierend, auf sie ein, schien ihr den Hof zu machen, mit dem Grafen tauschte sie verliebte Blicke. Und einmal — Ulrich sah es ganz genau — nahm sie das Glas, das der Graf eben aus der Hand gestellt hatte, suchte die Stelle, an der er's mit seinen Lippen berührt hatte, und trank ihm mit brennenden Augen zu... Das Blut stieg ihm zu Kopfe, er ballte unwillkürlich die Hand. Aber nur Geduld! Keine vierundzwanzig Stunden mehr dauerte dieses schamlose Treiben, dann wurde hier ausgekehrt... Und kam es zum Äußersten, gab die Frau das unselige Geheimnis preis, mußte auch das ertragen werden! Der einzige Vorwurf, den er sich zu machen hatte, war, daß er nicht schon damals, vor sieben Jahren, geschrien hatte: „Es geht nicht an, daß du eine Dirne in das Haus meiner Mutter führst.“

Seine Nachbarin, Fräulein Elvira Gawronska, wandte sich wieder zu ihm. Der Kusin Kasimir erzählte so eindeutige Witze, daß ein anständiges junges Mädchen unmöglich länger zuhören konnte. Und sie fragte, ob er immer so einsilbig wäre, gar nichts Lustiges wüßte.

„O ja, meine Gnädigste“, erwiderte er, „eine ganze Masse! Aber meine lustigen Geschichten haben alle den Fehler, daß sie mit einer höchst betrüblichen Katastrophe ausgehen.“

„Dann lieber niecht, iech heute gar niecht für Trauriges! Abber sagg, wierst du jetzt auch an Berattungen teilnehmen?“ Daß er sich an die feierlich mit einem Glase Sekt besiegelte „Bruderschaft“ nicht kehrte, störte sie nicht.

Ulrich horchte auf. Eine gewisse Vorsicht ließ ihn eine unbestimmte Antwort geben. Er wisse nicht recht, ob das für ihn geraten sei. Da redete ihm seine Nachbarin aufs eindringlichste zu. Gerade er als unbeargwöhnter preußischer Beamter könne der „Sache“ von außerordentlichem Nutzen sein. Er rückte sich unwillkürlich auf seinem Stuhle zurecht. Was war das?... Damit konnte doch nichts anderes gemeint sein als irgendeine neue polnische Zettelei... Und er meinte bedächtig: „Hm, für mich sehr gefährlich! Wenn man dabei erwischt wird, geht's an den Kragen!“

Da wurde das dumme kleine Tierchen an seiner Rechten eifrig. „Abber niecht in geriengsten gefährlich! Kein Mensch chat doch Verdacht! Odder meinst, irgendeine Spionn chat Ahnung, daß die Komierowski, Plater, Brudzinski, Oleśnicki hier niecht bloß zu Fergniegen sind?“

„Allerdings!“

„Na siehst? Plater von Warschau, Komierowski aus Krakau, Brudzinski aus Schweiz, Oleśnicki aus Paris. Irgendwas geht forr in Welt, daß wir können neue Choffnungen chaben, abber die Cherren siend so gemein, sie saggen niecht, was! Also weißt du vielleicht?“

„Selbstverständlich! Aber ich darf beim besten Willen nicht...“

Sie lächelte ihn verheißungsvoll an.

„Wir bleiben ja noch ein paar Tagge chier — kleines Ziepfelchen von Geheimnis wierst schonn lieften!“ Und während sie sich tiefer vorbeugte, denn sie hatte eine sehr hübsche Nackenlinie, fragte sie von unten heraus kokett: „Iech denke so, weggen Tronnwechsel in Rußland?“

„Möglich…“

„O pfui“, sagte sie, schlug ihm auf die Hand. „Siend wir Frauen niecht ebbensogutt Patriotten?“ ... Und stolz fügte sie hinzu: „Iech war in Warschau verwieckelt in Attentat auf Gouverneur... ein Wunder, daß iech niecht kämm nach Sibirien!... Chast du gelessen Dostojewski 'Aus eine Tottenhause'?“

„Bedaure, leider nein.“

„Dann du mußt lessen, und du wierst Ahnung chabben, das iest kein Kienderspiel: nach Sibirien!“

„Sicherlich! Aber es ist auch kein Kinderspiel, mit 'ner Bombe nach einem Manne zu schmeißen, der in seiner Art seine Pflicht tut!“

„Gewieß! Abber diese Pflicht fier Pollen niecht gutt! Und man braucht ja niecht selbst, man muß einen ferfiehren, daß er schmeißt...“

„Das ist Ihnen natürlich nicht schwer gefallen, meine Gnädigste!“

„Gar niecht schwer, und er chatte geschworren! Aber nachher er chatte Angst, rieß aus nach Schweiz...“

„Dann war der Lohn ihm wohl nicht verlockend genug?“

Fräulein Elvira schlug die Augen nieder.

„Iech ihm leider chatte schonn forrher belonnt! Abber — pour changer le thème — iech fiende serr gutt Plann von Kaplan Swiderski. Pollen in Posen und Westpreußen geht zu gutt unter preußische Regierung. Man muß — jak to szie mowji po niemiecku? — iech weiß schonn: man muß kienstlich unzufrieden machen!“

„Ein ausgezeichneter Gedanke! Zufriedene Leute sind schlechte Revolutionäre!“

„Niecht warr? Pfarrer muß zu Muter gehn: deine Kiend, wenn in deutsch betten lernt, wie soll cheilige Jungfrau verstehhen? Frau von polnische Bauer ja so dumm, sie glaubt!“

„Und was die Frau glaubt, glaubt auch der Mann...“

Naturalnie! Und dann saggt Pan Swiderski: Pollen zu Pollen! Wirtschaftlich sie miessen zusamenchalten, kein Polle darf kaufen in eine deutsche Ladden...“

„Ein sehr tüchtiger Mann, der Herr Kaplan“, sagte er heuchlerisch. „Ich brenne darauf, seine nähere Bekanntschaft zu machen!“

„Du wierst große Freude chabben, er iest serr klug! Und er saggt iemer: Forrbereitung iest alles! Dann kommt Freiheit von selbst. Fällt von Hiemel, wie Apfel, wenn iest reif, von Baum. Dume Szlachta saggt iemer: Revolution! Heute giebt niecht mehr Revolution! Zeitunggen man muß machen und Vereine, serr viel Vereine, abber wo iest Geld?... Dein lieber Vatter chat gegebben, andere chabben gegebben, abber niecht genug. Also iech biette, du wierst auch gebben? Iech chabbe gehörrt, du biest ja so reich! Also wie wär' miet zenntausend Mark?... Pan Swiderski saggt, miet zenntausend Mark er kann schonn machen eine serr schönne Zeitung in Cheinrichsburg. Du ferstehst, um masurische Bruddervolk klarzumachen, daß es muß wieder zurück zu polnische Muter?“ Und sie sah ihn mit einem Blicke an, der ihm für die zehntausend Mark alles verhieß, was sie mit ihrem dürftigen Persönchen zu geben hatte...

Er wußte nicht, sollte er lachen oder heulen. Sein Vaterhaus der Mittelpunkt einer richtigen polnischen Verschwörung! Auch Geld hatte der alte Herr geopfert für deutschfeindliche Agitation... Zugleich aber flog ihn eine Art von Respekt an vor diesen Frauen. Lüsternheit war dabei und hysterische Verstiegenheit, aber diese Frauen verschenkten sich im Dienst einer Idee!...

Fräulein Elvira wurde dringlicher. Sie rückte näher und schmiegte sich an ihn: „Also, liebe, liebe Freund, wie iest mit zenntausend Mark? Du brauchst niecht auf einmal zallen, nur versprechen...“

Am Kopfende der Tafel hatte sich ein lauter Wortwechsel erhoben. In einer plötzlich eintretenden Stille hörte man deutlich das Wort: „Lâche menteur!

Graf Komierowski schrie zurück: „Vous revoquerez immédiament!

Alles sprang von den Sitzen, Herr Oleśnicki brüllte den Haushofmeister an: „Kolodczeiowski, na dwor, 'raus!...“

Der Haushofmeister verschwand mit dem Halbdutzend hellblau livrierter Diener mit einer Geschwindigkeit, die auf Übung schließen ließ. Die beiden Streitenden, Graf Komierowski und Herr von Brudzinski, gerieten in einen neuen, noch heftigeren Wortwechsel, der dicke Graf Plater gab sich vergeblich Mühe, sie auseinanderzubringen.

Ulrich fühlte die Zornader auf seiner Stirn schwellen. Er rief laut: „Papa, ist denn das hier kein deutsches Haus mehr, in dem Zucht und Sitte herrscht? Wenn diese Herren nicht wissen, wie sie sich zu benehmen haben, müssen sie nachdrücklich durch einen Lakaien belehrt werden!“

Der alte Herr war in seinem Stuhl zusammengesunken, machte eine hilflose Handbewegung. Ulrich schrie auf: „Na, dann muß ich...“ Seine Tischnachbarin warf sich ihm in den Weg.

Boże kochani, wozu? Sie sich schonn werden wieder vertraggen!“ Aber die Prophezeiung traf diesmal nicht zu, die beiden Streitenden wurden plötzlich handgemein. Graf Komierowski schlug seinem Gegner ins Gesicht. In dem großen Saale wurde es mit einem Male still. Herr von Brudzinski zog sein Taschentuch, drückte es gegen die blutende Lippe.

„Sie haben alle gesehen, meine Herrschaften, es ist gut... Blut gegen Blut... morgen früh... du, lieber Plater, ich bitte, alles Nötige vorzubereiten...“

Frau Valeska schrie gellend auf: „Nie pozwalam, ich erlaube nicht“, schrie immer dieselben Worte, bis sie in eine Art von hysterischem Krampf geriet, gemischt aus Lachen und Weinen...

Irgend jemand hatte nach ihrer Kammerfrau geklingelt, sie wurde hinausgetragen. Der alte Herr, der sich mühsam erhoben hatte, humpelte, auf seinen Stock gestützt, hinterdrein. Fräulein Elvira schluchzte auf: „Iech ihr chabbe iemer gesaggt, liebe Leska, Brudzinski iest eifersüchtig, fersteht keine Spaß. Sie chat bloß gelacht, jetzt iest Unglieck da…“ Und Herr Professor Durand kam auf Ulrich zu, versicherte, er habe in der russischen Aristokratie ja auch manches erlebt, was den Westeuropäer seltsam berühre, aber einen so leidenschaftlichen Ausbruch nie. Und da es bei ihm ohne „mot“ nicht abging, formulierte er seine Ansicht in dem Satze: Die teutonische Rasse sei noch wilder als die russische. Diese betränke sich in Gegenwart von Damen zwar auch, aber sie ginge zum Prügeln vor die Tür.

Ulrich erwiderte ingrimmig, die Verwechslung von Polen und Teutonen stände ungefähr auf derselben Höhe wie seine Bemerkung über die sich selbst auffressende Kultur, und er langte sich den Grafen Plater. Ersuchte ihn, den Herren von Brudzinski und Graf Komierowski eine Forderung zu überbringen wegen unverschämter Nichtachtung des Tones, der in seinem väterlichen Hause bisher üblich gewesen sei. Er ging in die große Halle hinüber, die Gesellschaft im Speisesaal stand noch eine Weile in aufgeregter Unterhaltung beisammen, zerstreute sich allmählich auf die Gastzimmer. Nach einer Viertelstunde erschien Graf Plater mit der Erklärung, die Herren Komierowski und Brudzinski bedauerten lebhaft, daß sie im Verlauf einer politischen Debatte sich so weit vergessen hätten, wären zu jeder nicht allzu harten Entschuldigung bereit. Er behielt sich seine Entschließung vor, Graf Plater schien noch etwas sagen zu wollen, zog sich aber nach einer Verlegenheitspause mit förmlichem Gruße zurück. Ein paar Minuten später steckte Fräulein Elvira den wuschligen Blondkopf zur Tür hinein.

„Störr' ich, liebe Freund?“

Er zuckte unhöflich die Achseln. „Ich muß allerdings gestehen, mein gnädiges Fräulein...“

Sie kam rasch näher, seufzte vorwurfsvoll: „Du vergießt iemer noch, wier chabben doch getrunken Bruderschaft? Abber iech niecht böse, nur iech weiß, wenn man siech fiehlt ungliecklich — um Chiemels wielen bloß niecht allein...“

Ihm schoß ein Gedanke durch den Kopf. Wenn irgendwo, konnte er sich hier Gewißheit holen! Alles, was er in diesen letzten Stunden gehört und gesehen hatte, war schließlich noch immer kein unanfechtbarer Beweis.

„Verzeiht, liebe Elvira“, sagte er, „der furchtbare Auftritt eben...“

Oh la la“, unterbrach sie ihn, „nous autres Polonais... ach so, iech fergess iemer, du lieber Deutsch… also wier Pollen wie Champagner! Wenn du eingießt in Glas, läuft iebber. Nach eine Weilchen schonn wieder ganz ruhig.“

„Aber zwischen den beiden ist doch eine tätliche Beleidigung gefallen?“

Sie verwechselte „tätlich“ mit „tödlich“, sah ihn verwundert an.

„Wieso töttlich? Sie werden siech gar niecht tötten, sondern sie schießen jedder Piestolle ab in Luft, i wzistko rowno, ales wieder gutt. Abber wier wollen doch jetzt lieber sprechen von unsere Sache? Was iech chatte versprochen für die zenntausend Mark...“ Und sie schmiegte sich an ihn, blickte zärtlich zu ihm auf.

„Sofort, mein Herz, ich versteh' nur nicht, wieso gerade Herr von Brudzinski einen solchen Eifersuchtsanfall haben konnte?“

„Ach só, du meinst, eher Kusin Severin Plater?“

„Natürlich...“

„Abber serr einfach: Kusin Severin verniemftige Mensch! Er weiß genau, was bei eine Frau ist aus Langweile, und was aus Liebe! Abber Brudzinski ein Duhmkopf, chat gemeint, was serr hiebsch war fier drei Tagge, mießt' auch hiebsch sein fier drei Wochen. Konnt' niecht begreifen, daß, wie Stanislaw kämm, fier ihn war ales vorbei...“

„Du meinst, Graf Komierowski?“

„Natürlich, Stanislaw Komierowski! Schonn nach erste halbe Stunde sie saggte zu mir...“

„Wer, sie? Valeska?“

„Du, liebe Freund, auch ein bießchen langsam miet Begreifen! Natürlich Valeska! Also sie saggte: 'Je suis si follement éprise'… Sie brach plötzlich ab, sah ihn mißtrauisch an. „Abber iech glaube, du mier horchst aus?“

„I bewahre...“

Sie traute ihm jedoch nicht mehr. Mit einem gemachten Auflachen sagte sie: „Wier verfalen in Feller von Kusin Brudzinski, wier machen zu viel von eine kleine Flirt wie ale Tagge in Gesellschaft: Cherr schenkt eine Blumme, verspriecht ein cadeau, Damme macht sieße Augen, c'est tout.“

Aus der Galerie oben erklangen Schritte, Fräulein Elvira huschte erschreckt davon. An der Tür zum Speisesaal warf sie ihm eine Kußhand zu, flüsterte hinüber: A bientôt, mon cher, und niecht vergessen weggen die zenntausend Mark.“

Er mußte in aller Bedrängnis auflachen. Das kleine Frauenzimmer war wie ein Blutegel, ließ nicht locker. Und Gott wußte allein, wieviel sie schon für die „Sache“ zusammengebettelt haben mochte, falls sie nicht — was ja auch manchmal vorkam — „teilte“ ...

Die Treppe herab kam der Vater, gefolgt von dem Haushofmeister.

„Also, Kolodczeiowski, da unten im Gewehrschrank steht der Pistolenkasten. Bringen Sie den dem Herrn Grafen Plater, die Herren wollen morgen früh ein bißchen nach der Scheibe schießen. Und mir hierher eine Flasche Burgunder und den alten Kognak... ich kann doch noch nicht schlafen gehen.“

„Sehr wohl, Herr Baron.“

Ulrich wartete, bis der Haushofmeister sich entfernt hatte, trat vor. „Das ist mir sehr lieb, Papa! Da können wir endlich in Ruhe besprechen...“

Dem alten Herrn schien das Zusammentreffen wenig angenehm. Er ließ sich schwer in einen der breiten Ledersessel vor dem Kamin nieder, in dem, der abendlichen Kühle wegen, ein Feuer brannte.

„Die verdammte Gicht“, stöhnte er, „keinen Augenblick ohne Schmerzen.“

„Na ja, lieber Papa, verzeih'... Sekt, Burgunder und alter Kognak scheinen mir nicht gerade Heilmittel zu sein.“

„Mein Jungchen, für die paar Jahre, die ich noch hier unten zu krabbeln hab', is ja doch alles egal! Wenn's zu doll wird mit den Schmerzen, schluck' ich so 'n Gift, was der Dokter mir verschrieben hat! Aber es wird dich doch gewiß auch freuen: der lieben Mama geht's wieder gut. Sie ließ mir durch ihre Kammerfrau sagen, ich brauchte mich nicht zu beunruhigen.“

Ulrich biß einen Augenblick lang die Zähne aufeinander, das Thema kam später!

„Sehr erfreulich! Möchtest du mir aber jetzt nicht sagen, weshalb du mich hergerufen hast?“

„Wollen wir das nicht lieber noch ein paar Tage lassen, mein Jungchen? Bis du zu Hause wieder warm geworden bist? Es ist eine eklige Geschichte, und ich müßte auch erst von dem Verwalter eine genaue Rentabilitätsberechnung machen lassen.“

„Wozu denn bloß?“

Der alte Herr lachte gezwungen auf.

„Zu komisch, wenn der arme Vater den reichen Herrn Sohn anpumpen muß! Es ist selbstverständlich nur eine vorübergehende Verlegenheit... Wenn ich meinen Weizen zu dem Preis verkaufen wollte, den der Jud' in Heinrichsburg mir bietet, wär' ich in zwei Tagen wieder flott.“

Ulrich fühlte, wie das Herz ihm vor Mitleid schwer wurde wie ein Stein. Er warf sich vor dem Stuhl nieder, umschlang den alten Herrn.

„Papa, lieber, guter, alter Papa, weshalb sagst du mir nicht die Wahrheit? Unterwegs, von wildfremden Leuten, hab' ich gehört, es geht dir so schlecht, daß du ein ganz übles Subjekt beauftragt hast, mit Wechseln hausieren zu gehen.“

Der Vater wehrte ab. „Das ist natürlich übertrieben... Ich hab' in den nächsten Tagen größere Zahlungen zu leisten, das kann jedem 'mal passieren...“ Plötzlich aber brach es in ihm aus: „Nein, hast recht, Junge, weshalb soll ich dich belügen? Ich bin wie ein gehetzter Hirsch, den jeden Augenblick die Hunde stellen können... Mißernten die letzten Jahre, und der Haushalt hier ein bißchen höher aufgezogen, als die alte Klitsche eigentlich aushält...“

Ulrich spürte, wie er innerlich wieder kalt wurde. Das war eben keine Wahrheit gewesen... Und mit Gefühlsergüssen war hier kein reiner Tisch zu machen.

„Das langt wohl nicht, Papa! Was ich in den paar Stunden hier gesehen habe, ist ein wahnwitziges Hausen in den Tag hinein, bei dem ein Fürstentum kaputtgehen müßte! Wollte ich dafür mein bißchen Vermögen hergeben, würde es knapp für ein Jahr reichen...“ Und er wollte aufstehen.

Der alte Herr schlang ihm die Hände um den Nacken, zog ihn näher an sich.

„Uli, ich schwör' dir, von morgen an wird hier sparsamer gewirtschaftet werden, bloß laß mich nicht im Stich! Sie geht von mir, läßt mich allein, wenn ich ihr nicht mehr das bieten kann, worauf sie gerechten Anspruch hat...“

Er machte sich unwillig los.

„Seit wann denn, lieber Papa? Woher, diese tollen Prätensionen? Sie hatte doch so wenig, daß du — ich hab's 'mal zufällig gehört — für sie und ihre Mutter einen ganzen Haufen Schulden bezahlen mußtest?“

„Aber sie konnte die glänzendsten Partien machen, die glänzendsten Partien der Welt! Einen Fürsten Uchtomski zum Beispiel. Daß sie mich alten Krippensetzer vorzog, dafür mußte ich ihr doch ein gewisses Äquivalent bieten?!“

Ulrich stöhnte auf.

„Lieber Papa, es ist mir entsetzlich, daß wir beide uns so gegenüberstehen müssen! Es ist nicht auszudenken, daß es so weit kommen konnte! Aber du sollst mich nicht umsonst gerufen haben! Nur ich habe natürlich Bedingungen. Die ganze polnische Gesellschaft ist morgen früh nicht mehr hier?“

„Na nicht so wörtlich und gewaltsam, mein Junge! In ein paar Tagen reisen sie sowieso ab.“

„Gut! Zum zweiten: du trennst dich von der Frau, die hier...“

Der alte Herr stand mit einem Male lotrecht auf seinen gichtigen Füßen. Und er unterbrach ihn grollend: „Holla, mein Sohnchen, langsam! Dafür müßte ich denn doch erst einen triftigen Grund haben! Die persönliche Abneigung von dir, danach geht's nicht! Mir ist sie mehr als das bißchen Luft zum Atmen. Die Frau hat mich in meinen späten Jahren so unsäglich glücklich gemacht, noch heute ginge ich für ein Lächeln von ihr... doch das zwischen Vater und Sohn — du wirst mir's zugeben — ist nicht zu erörtern. Begnüg' dich damit: solange ich auf Friedrichstein sitze, bleibt die Frau hier! Die Herren Kronprinzen können schimpfen, so viel sie wollen, ist ihr gutes Recht. Aber der König, solange er lebt, regiert er!“

Ulrich hob die Hände.

„Lieber Papa, mißversteht mich nicht! Zehn Vermögen würde ich ohne Besinnen opfern, wärst du auf andere Weise in Not geraten als durch die wahnwitzige Verschwendungssucht einer Frau, die, die...“

„Na, nur 'raus mit dem Wort! Die mich hintergeht, betrügt, mir Hörner aufsetzt...“

„Was ich nie auszusprechen gewagt hätte, sagst du selbst, Papa! Und wenn ich daran denke, wie rein die Frau war, die früher in diesem Haus gewaltet hat...“

Der alte Herr brauste auf.

„Schweig', das ist eine Sache für sich! Vielleicht lag es gerade an dieser fürchterlichen Reinheit und Selbstgerechtigkeit, daß ich... gut ist's, keine Silbe mehr! Aber wenn du dich erfrechst, gegen ihre Nachfolgerin auch nur ein Wort weiter...“

Ulrich stand da, biß sich auf die Lippen.

„Du bist der Hüter deiner Ehre... kein Mensch kann dir dreinreden, am allerwenigsten ich. Aber weshalb hast du mir da geschrieben: 'Ich bin namenlos elend'?“

„Das war nur so eine augenblickliche Stimmung.“

„Gut, lieber Papa, aber noch ein einziges Wort! Möchtest du nicht untersuchen, weshalb diese beiden Polen sich in so schimpflicher Weise in die Haare geraten sind?“

„Das hat sich aufgeklärt. Komierowski ist Nationalsozialist, Brudzinski fanatischer Verfechter des Anschlusses an Rußland. Da kriegten sie wieder mal, wie so oft schon, das Ramschen.“

„Und weshalb nahm da deine Frau in so maßlos leidenschaftlicher Weise für den Grafen Komierowski Partei?“

„Politisch, mein Sohnchen, politisch nahm sie Partei! Sie ist fanatische Vorkämpferin für die völlige Unabhängigkeit und Freiheit Polens!“ Er richtete sich auf: „Aber, mein Sohn, das wollen wir doch nicht einführen, daß du dich vor deinem Vater als 'ne Art von Untersuchungsrichter aufspielst! Wie hast du vorhin, sehr richtig, gesagt? Ich allein bin noch immer der Hüter meiner Ehre!“

Ulrich bemühte sich, ruhig zu bleiben.

„Gewiß, Papa! Aber du wirst mir zugeben, daß ich die Fragen eben nicht in frivolem Leichtsinn gestellt habe. Wenn ich nicht die Überzeugung hätte...“

„Halt! Und wo sind deine Beweise?“

„Nun, ich meine, was wir eben erlebt haben, war für jeden, der sehen will, Beweis genug.“

Dem alten Herrn flackerten die Augen vor Zorn.

„'n Dreck ist's, aber kein Beweis! Bildst du dir vielleicht ein, ich bin ein Hanswurst? Hab' keine Augen mehr im Kopf? Ah nein, mein Jungchen, da bist du auf dem Holzweg! Und wenn du deine Hilfe an so schimpfliche und unverschämte Bedingungen knüpfst, pfeift ich drauf! Bin noch lange nicht Matthäi am letzten, und hast dich doch hoffentlich noch satt gegessen heut' abend?“

„Allerdings...“

„Na, siehst du? So wird's hier noch eine ganze Weile lang gehen, selbst wenn meine Frau sich tagaus, tagein 'n ganzes Schock Gäste einladen sollte! Wenn du mir also nichts weiter zu sagen hast, darf ich dich wohl fragen, wann du den Wagen zur Bahn befiehlst?“

Er schrie auf.

„Vater, du wirfst mich hinaus?“

„Wie du's auffassen willst! Und ich wundere mich bloß, daß du's für möglich hältst, mit einer Frau unter einem Dache zu bleiben, gegen die du so ziemlich die infamste Anschuldigung der Welt erhoben hast?“ Er wollte nach einer auf dem Tische stehenden Schelle langen, der Haushofmeister erschien mit einem flaschenbesetzten Tablett in der vom Speisesaal führenden Tür.

„Herr Baron waren im Begriff, zu befehlen?“

„Einen Wagen! In einer Viertelstunde hier auf der Freitreppe!“

„Sehr wohl, Herr Baron.“

Ulrich bezwang sich, trat einen Schritt näher.

„Lieber Papa, wir beide sind harte Köpfe. Aber ich möchte doch zuerst, wie sich's gehört... ich kann so nicht fort! Glaub' mir, mich treibt nur die Sorge um dich! Also komm', laß uns in Ruhe überlegen...“

„Hier ist nichts zu überlegen, sondern nur abzubitten! Bist du dazu bereit?“

„Lieber Papa, wir wollen doch nicht...“

„Keine Unklarheiten, bitte! Ja oder nein?“

Da schluchzte Ulrich aus, küßte dem Vater die Hand.

„Leb' wohl, Papa...!“

Er ging in sein Zimmer hinauf, sich für die Reise umzuziehen. Beleidigter Stolz und Mitleid stritten in seiner Brust. Auch die Erwägung kam ihm, daß mit dem Gute ein großer Teil seines mütterlichen Vermögens verlorenging, wenn er hier den Kampf aufgab... Es ging nicht, er konnte nicht wieder umkehren. Als er, eine halbe Stunde später, auf der Freitreppe durch die Glasscheiben der zur großen Halle führenden Flügeltür blickte, sah er den Vater, wie er lachend mit dem Kaplan und Herrn von Oleśnicki die Gläser zusammenklingen ließ. Der Haushofmeister stand im Hintergrunde, auf dem konfiszierten Spitzbubengesicht ein Grinsen... Da verstockte er sich. Wer weiß, wie es gekommen wäre, wenn der Vater noch allein dagesessen hätte... so hilflos und kläglich wie vorhin bei Tisch.

Der Wagen fuhr vor, niemand kam, ihn zurückzuhalten. Also gut... er hatte seine Pflicht getan, war aller Verantwortung ledig.

Der dicke Kutscher auf dem Bocke, den die späte Fahrt aus der Ruhe gestört hatte, hob die beleidigte Nase noch höher als sonst. Ulrich stieg ein, die vier Trakehner Füchse zogen an, er fuhr zum letztenmal aus Friedrichstein hinaus. Unter dem hohen Parktor hindurch, das zu beiden Seiten das in Stein gemeißelte Wappen der Herren von Dolinga trug: eine Sturmleiter in silbernem Schilde. Weil der erste urkundlich nachweisbare Vorfahr auf solcher Leiter als Eroberer über die Mauer der aufsässigen Stadt Grodno gestiegen war... Wie lange noch, und die Pfeiler hier trugen ein anderes Wappen?... Er konnte es nicht hindern. Das letzte, womit er dem verblendeten alten Herrn hätte die Augen öffnen können, mußte in seiner Brust begraben bleiben...

 

***

 

Ein halbes Jahr später war Friedrichstein verkauft, an einen aus dem Posenschen gekommenen Grafen Zembricki. Die Nachricht ging durch alle Blätter: der erste ostpreußische Edelsitz seit undenklichen Zeiten, der in polnische Hand geriet...

Ein paar Tage danach kam ein Brief mit dem Poststempel Posen. Eine Frau Pacholke schrieb, sie wisse nicht mehr aus noch ein. Der Herr Baron sei plötzlich nach Krakau gereist, wohl in der Scheidungsangelegenheit, der Kleine müsse in der Schule angemeldet werden, und Geld habe der Herr Baron nicht dagelassen. Da müsse sie doch auch endlich wissen, woran sie sei; so wie bisher die Auslagen ohne jede Sicherheit, das ginge nicht weiter.

Noch am selben Abend saß er auf der Bahn. Ein Gelübde war ihm plötzlich wieder eingefallen, das er sich selbst abgelegt hatte, als ein braunlockiger kleiner Bursch ihm die schwachen Ärmchen um den Hals schlang...

Es ging alles leichter, als er sich vorgestellt hatte. Es war niemand da, der Einspruch erhob. Die Wirtschafterin, eine hagere alte Person mit hungrigen Augen, schien froh zu sein, daß sie das anspruchsvolle und ungebärdige junge Herrchen, das alle fünf Minuten eine neue Abwechslung verlangte, loswurde. Nur ihrer sittlichen Entrüstung mußte sie freien Lauf lassen. Daß eine Mutter sich so mir nichts, dir nichts von ihrem einzigen Kind trennen konnte, um ihrem Zukünftigen, dem Herrn Grafen Komierowski, nachzulaufen, und daß ein würdiger alter Herr sich zu der schimpflichen Komödie erniedrigte, die der Frau es ermöglichte, ihn als schuldigen Teil erklären zu lassen... ganz Posen habe sich darüber aufgeregt! Er ließ sie schwatzen, nahm den kleinen Bruder und fuhr mit ihm geradeswegs in eine Erziehungsanstalt im Thüringischen... Redete ihm ein, die Bonne Tinka und der Pony Pollo, nach denen er stürmisch verlangte, würden ihn bald besuchen. Erst eine Weile später, als er mit ihm an einem Totenbette stand, erklärte er ihm, so gut es in sein Köpfchen hineinging, Vater und Mutter seien geschieden. Aber ob die Mutter noch am Leben sei, und wo sie weilen mochte, konnte er ihm nicht sagen. Er hatte geflissentlich nicht nachgeforscht, um endlich vor sich selbst Ruhe zu finden.

Und der Knabe wuchs auf, wurde ein flotter Student, der die Examina spielend erledigte... fabelhaft begabt, aber keine Stetigkeit, kein Ernst in ihn hineinzubringen, trotz aller Bitten und Ermahnungen... Ihn mit eiserner Strenge anzufassen, gewann er nicht über sich... eine Art von Schuldbewußtsein fiel ihm immer in den Arm... Und eine Frage, über die einer verrückt werden konnte: Der, den du erziehst, ist's dein Bruder oder dein Sohn? Die eine, die ihm hätte Gewißheit geben können, war in abenteuerlichem Leben wohl schon längst untergegangen... Nur in dem leichtsinnigen Blut lebte sie fort, das ihr Sohn geerbt hatte.

Heute, die strengste Verpflichtung, die einem ehrliebenden Menschen auferlegt werden konnte, war das letzte Erziehungsmittel gewesen. Schlug es fehl, waren die beiden einzigen aus altem Hause erledigt. Er, weil er die Verantwortung übernommen hatte, der Jüngere, weil ein Wortbrüchiger nicht länger leben konnte. Nur, wie sollte einer erprobt werden, wenn man ihn nicht vor schwere Aufgaben stellte? Wie einen Welpen aus edler Zucht, den man ins Wasser warf: Schwimm', oder du gehst unter!... Aber der Junge kam ja in gute Obhut, wenn er den freundlichen Wink nach der Familie Hakenberg hin befolgte. Die Älteste, Ilse, war ein Mädel nach dem Herzen Gottes. So recht geschaffen, einen Mann glücklich zu machen, ihm Stütze und Halt zu sein... Auch in den Jahren paßten die beiden zueinander... Viktor achtundzwanzig, sie drei oder vier Jahre jünger... Und der Geheime Rat von Dolinga sann darüber, weshalb ein so prachtvolles Mädel so lange unverheiratet geblieben sein mochte. War sie zu wählerisch gewesen, oder hatte sie irgendeine Enttäuschung zu überwinden? Das letzte konnte nicht stimmen. In den kurzen Karlsbader Wochen war sie immer aufgeräumt und lustig gewesen; häufig sogar recht übermütig... wie ein Edelfüllen, das einen Überschuß an Kraft in den schlanken Gliedern spürte... Auf den weiten Spaziergängen, bei denen die anderen stöhnten und klagten, hatte sie bloß gelacht: „Na, Onkel Doli? Wollen wir mal einen ordentlichen Spurt einlegen, damit die Schneckengesellschaft hinten endlich ein rascheres Tempo kriegt?“ ... Hübsch war sie, schlank und hoch gewachsen... wenn er sich recht entsann, blond und blauäugig... Vermögen war auch vorhanden, also weshalb hatte das Mädel nicht schon längst geheiratet?

 

 

3.

 

Viktor von Dolinga hatte die Besuche bei den hohen Vorgesetzten hinter sich. Der Bruder hatte recht gehabt, die Herren waren in der Polenfrage recht verschiedener Ansicht gewesen. Der eine hatte die Angst, die Ostmarken könnten in nicht allzulanger Zeit dem Deutschtum ganz und gar verlorengehen, übertrieben gefunden; der andere, der mehrere Jahre in der Posener Verwaltung gearbeitet hatte, war der unumstößlichen Meinung gewesen, die Gefahr sei dringend, nur eine ums Mehrfache gesteigerte Tätigkeit der Ansiedelungskommission könne die immer mehr Boden gewinnende Polonisierung aufhalten. In einem aber waren die alten Herren alle einig gewesen: Sie hatten ihn zu der Versetzung nach Heinrichsburg in einer Weise beglückwünscht, als wollten sie sagen, diese hohe Auszeichnung müsse er sich erst verdienen! Den Teufel auch: wenn's nach ihm gegangen wäre, hätte er sich was anderes ausgesucht als den öden Osten... wäre am liebsten in dem schönen Düsseldorf geblieben, in dem er sich von der steifleinenen preußischen Amtsgesellschaft im Kreise lebenslustiger Menschen erholen konnte... Künstler, Theater... sogar die großen Industriekapitäne, in deren Kreisen er verkehrte, hatten einen weniger würdigen Habitus als anderswo... Rheinisches Blut, das auch strenger Arbeit und emsigem Geldverdienen einen gewissen fröhlichen Schimmer zu geben wußte. Daß man schaffen mußte wie ein Bär, war doch kein Grund, griesgrämig zu sein?

Aber der alte Uli hatte auch darin recht: es war Zeit, an die Zukunft zu denken! Die künstlerischen Pläne — wenn er sich's recht überlegte — waren doch nie viel mehr als eine Ausflucht gewesen, noch länger in Düsseldorf zu bleiben... Wäre es ihm wirklich Ernst mit dem Vorsatz zum Berufswechsel gewesen, hätte es ihm nichts ausmachen dürfen, ob sich Widerspruch erhob, ob er mit leidlichem Auskommen in seinen neuen Beruf ging, oder ob er sich hätte durchhungern müssen... Aber ein Grauen kroch ihm über den Rücken, wenn er sich vorstellte, er hätte für lange Jahre auf alles verzichten müssen, was ihm durch Gewohnheit von klein auf zum unabweislichen Bedürfnis geworden war... Der eine trug seinen Rock, bis er verschmiert und an den Ellenbogen durchgescheuert war, den anderen störte schon ein winziger Fleck... Der eine aß sein Mittagbrot frei aus der Faust, der andere konnte keinen Bissen genießen, wenn er nicht an weißgedecktem Tische saß mit sauberem Geschirr...

Er entsann sich, er hatte mal einen Meisterschüler des Professors Hilbrich besucht, um sein Urteil über eine Skizze zu erbitten. Einen jungen Mann, dessen Name in Künstlerkreisen schon mit viel Achtung genannt wurde. Der Herr stand in ausgetretenen Pantoffeln und in einem Wollhemd ohne Kragen vor einem Spirituskocher, rührte mit abgebrochenem Pinselstiel in einer Pfanne ein seltsam aussehendes Gericht zusammen.

„Was machen Sie denn da?“ hatte er gefragt.

„Mein Mittagessen! Aber es ist noch nicht recht 'raus, ob's wirklich Rührei mit Schinken wird. Vorläufig hat's noch 'ne gewisse Ähnlichkeit mit der neuesten Landschaft meines verehrten Meisters. Ohne Unterschrift weiß man nicht recht, was es ist. 'Sonnenuntergang' oder 'Am Horizont vertrocknender Kürbis'... Die Herrschaften im Vordergrunde ein Fraß für die Kunstgelehrten des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts. Streitfrage für die Doktorarbeit: Müllern die Kerle, oder fangen sie Spatzen aus der Luft?“

„Entschuldigen Sie“, hatte er gefragt, „wenn Sie Ihren Meister so vernichtend kritisieren, weshalb lernen Sie da bei ihm?“

„Na, erstens mal: Haben Sie schon einen Schüler getroffen, der nicht auf seinen Lehrer schimpft? Zweitens: Geht's in Ihrer Laufbahn ohne Empfehlung und Protektion ab? Und drittens: Können Sie sich nicht vorstellen, daß man zuweilen auch lernen will, wie man's nicht machen soll?“

Bei der Auseinandersetzung war das seltsame Gemenge in der Pfanne angebrannt, brenzliger Gestank füllte die mit ein paar Skizzen und alten Teppichen zum „Atelier“ frisierte Bodenkammer.

„Um Himmels willen, das können Sie jetzt doch nicht mehr essen?“

„Wieso nicht? Ist ein Himmel vielleicht schlecht, wenn er ein bißchen zuviel Preußischblau gekriegt hat? Man sagt eben auf das Bild dann nicht mehr 'Sommertag', sondern 'Gewitterstimmung'... Aber glauben Sie, Herr Regierungsassessor, ich würde das da schlucken, wenn die 'Lustigen Blätter' nicht abgelehnt hätten? Statt der erhofften Silberflotte für eine humoristische Zeichnung einen schnöden Absagebrief geschickt hätten? Pech und Schwefel über sie!... Na, und nun öffnen Sie mal die Falten Ihrer Toga! Sie haben doch sicherlich eine Skizze mitgebracht, die ich bewundern soll?“

„Nicht bewundern, sondern ernsthaft kritisieren!“ Und er holte das Blatt, das ihm besonders gelungen schien, hervor.

Der Meisterschüler kniff ein Auge ein.

„Hm... aber eine Frage vorher: Laden Sie mich in Anbetracht des Rühreis, das mir ohne Ihr Dazwischentreten glänzend geraten wäre, zum Mittagessen ein oder nicht?“

„Wieso?“

„Weil sich danach mein Urteil richtet. In Erwartung von Kaviar, Soupe á la Reine, Schinken in Burgunder et cetera würde ich sagen: 'Ausgezeichnet! Fahren Sie so fort, junger Mann, Sie werden die höchsten Zinnen der Künstlerschaft erklimmen!' Andernfalls aber: 'Regierungsrat ist sicherer! Man kann jahrelang, ohne geschwenkt zu werden, den größten Mist fabrizieren!'“

„Und wenn ich nun entschlossen wäre, umzusatteln, mich ganz der Kunst zu widmen?“

Der zynische Meisterschüler wurde plötzlich ernst.

„Sie haben zu leben, brauchen sich um die dreckige Frage: Was werd' ich heute essen, nicht zu kümmern?“

„Ich glaube, ja.“

„Auch dann nicht! Es ist eine verdammt ernsthafte Sache um die Kunst. Ganz egal, ob man ein selbstzufriedener Esel oder ein heißhungriger Streber ist. Immer sind da welche, die hoch im Zenit, aus unerreichbarem Gipfel stehen. Als Tropf sagt man, die Kerle haben unverdientes Glück gehabt, als ernsthafter Streber: die können mehr als du, dahin kommst du nie!... Fazit: Unzufriedenheit, jeder Pinselstrich eine verärgerte Sache! Oder man müßte so ein gottbegnadeter kleiner Hausknecht sein, wie der 'Zaunkönig' in Paul Heyses 'Kindern der Welt'.“

„Kenne ich leider nicht.“

„Lesen Sie's! Wundervoll, bis auf die Glaubensskrupel, die wir 'modernen' Menschen uns natürlich schon längst an den Stiefelsohlen abgelaufen haben... Wir streiten uns dafür um andere Dogmen. Ex- oder impressionistisch... Realistisch oder romantisch... Alles eine Zacke, Phrasen statt Leistungen. Nichts weiter als geschwollene Entschuldigungszettel, daß die Kerle nicht ordentlich malen oder dichten gelernt haben... Oder auch die Komponisten. Ein Musikstück, ein Bild, eine Dichtung, denen ich eine Erklärung, einen Kommentar auf den Weg mitgeben muß, das ist doch Kaff?... Entweder das niederträchtige Aas von Publikum kriegt den ehrfürchtigen Schauder ins Gebein, oder es sagt: 'Ach so, vastehste, is das zu vastehn? Wenn ich nu aber die Erklärung nich gelesen hätte, was dann?'... Zum Speien ist das!“

Da hatte er den galligen Meisterschüler zum Mittagessen eingeladen, ihn mit einer Flasche Sekt regaliert. Zum Dank hatte er die Belehrung gekriegt, „Mäzen“ wäre auch ein schöner Beruf! Man brauchte sich nicht selbst anzustrengen, nur klug zu schnacken und für billiges Geld gute Bilder zu kaufen. Wenn das dumme Luder von Maler weiter schuftete und berühmt wurde, verdiente man an der beklecksten Leinwand tausend Prozent.

Der Professor Hilbrich hatte über die so nichtachtend kritisierte Skizze anders geurteilt. Fast überschwenglich. Aber von der begeisterten Anerkennung war einiges abzuziehen. Der „geniale junge Künstler“ war anscheinend recht wohlhabend und hatte mit der immer noch unverheirateten Tochter des Herrn Professors auf dem letzten Malkastenfest recht ausgiebig getanzt. Da spann sich vielleicht etwas an, dem mit freundlicher Anerkennung nachzuhelfen war...

So also sah bei ganz nüchterner Betrachtung der Plan aus, in späten Jahren noch umzusatteln, Künstler zu werden. Auch darin hatte der treue Mentor, der ältere Bruder, recht gehabt. Man brauchte es ja nicht ihm, sondern nur sich selbst einzugestehen, damit er nicht noch unfehlbarer, noch selbstgerechter wurde... Etwas Schulmeisterliches, Väterlich-Strenges hatte er an sich, man wurde in seiner Gesellschaft nie recht warm. Aber schließlich, er hatte ohne allzu grobe Vorwürfe — sie waren nie so scharf gewesen, daß man sie nicht hätte tragen können — für den leichtsinnigen jungen Stiefbruder ein Vermögen geopfert. Wenn man mal nachrechnete, ging's in die Hunderttausende. Und weshalb? Nur um aus dem Bruder einen ganz besonders tüchtigen Menschen zu machen! Die Wohltat hatte er immer als eine Selbstverständlichkeit angenommen, sie kam ja aus einem unerschöpflichen Born. Heute hatte er zum ersten Male gesehen, daß der Gebende selbst sich einschränken mußte, um die Spende nicht kleiner werden zu lassen. Da hätte man doch das leichtfertigste Subjekt der Welt sein müssen, wenn so viel Edelmut und Güte einen nicht im innersten Herzen gerührt hätten...

Und was verlangte er dafür, der liebe alte Uli? Nicht mehr, als was jeder leisten und halten mußte, der in seinem Beruf vorwärtskommen wollte... Wenn's nur nicht in dem trostlosen Ostpreußen gewesen wäre! Im Sommer, hatte er sich sagen lassen, wurde man dort vor Hitze gebraten, im Winter fror man Nase und Ohren an. Nichts verband ihn mit diesem Lande als eine dunkle Erinnerung... Die Erinnerung an ein großes Schloß mit weitem Park, in dem er auf einem Pony reiten durfte, und an eine schöne junge Frau, die er aber nicht alle Tage sah... Nur wenn er besonders artig gewesen war... Aber auch dann schalt sie fast immer; er merkte genau, sie hatte ihn nicht so lieb wie die Bonne Tinka, die immer mit ihm spielte. Bloß wenn fremde Menschen da waren, ließ sie ihn für ein paar Minuten holen, herzte und küßte ihn. Er mußte es sich gefallen lassen. Wenn er sich wehrte, durfte er nicht mit seinem Pony spielen. Und mit einem Male war er nicht mehr in dem großen Schloß, fuhr mit dem alten Manne in eine Stadt... nichts als Häuser und Häuser... der alte Mann weinte immer und wollte ihn küssen, aber er roch so fürchterlich scharf nach dem Schnaps, den die Diener tranken... Und einmal röchelte er so schrecklich... Der Große, der immer sagte, er wär' sein Bruder, führte ihn an das Bett: „Der Vater stirbt!“ „Was ist das: stirbt?“ hatte er gefragt... Und dann war ein großer schwarzer Kasten gekommen, der Vater wurde hineingelegt, und der große Bruder stand lange daneben, weinte und weinte...

Er aber konnte nicht weinen, wunderte sich bloß immer, daß der Bruder einen Rock mit blanken Knöpfen anhatte und in der Hand einen blitzenden Helm... Und schließlich war er wieder in das Haus mit den vielen lustigen Jungen gekommen, aber der versprochene Pony war immer noch nicht da. Da hatte er auch geweint, denn den Pollo hatte er sehr lieb gehabt...

Erst viel später hatte der große Bruder ihm zu diesen dürftigen Erinnerungen die Erklärung gegeben. Vater und Mutter seien geschieden, das große Schloß mit vielen Tausend Morgen Land und Wald verkauft, weil die Mutter in maßloser Verschwendungssucht in einem kurzen Monat vertan habe, was für ein ganzes Jahr hätte reichen sollen... Deshalb habe der Vater sich endlich von ihr getrennt. Aber es sei zu spät gewesen. Und die Mutter lebe wohl nicht mehr, sonst hätte sie sich doch in all diesen Jahren ein einziges Mal wenigstens um ihr Kind kümmern müssen...

Ein älterer Mitschüler, der Obersekundaner Fritz Padöffke, wegen Faulheit und schlechter Streiche vom Lycker Gymnasium — da irgendwo weit hinten in Ostpreußen — geschaßt, hatte ihm zu diesen Erklärungen des Bruders eine höchst interessante Erläuterung gegeben. Friedrichstein lag im Nachbarkreise Heinrichsburg, der Padöffke kannte die Verhältnisse ganz genau. Und weil er erster Chargierter in der heimlichen Schülerverbindung „Cheruskia“ war, die er sofort nach seiner Ankunft gegründet hatte, zwei Glas Bier „funditus“ auf einmal austrinken konnte, ohne sich sogleich danach zu erbrechen — „gerben“ nannte man es in der Kommentsprache —, gewannen seine Mitteilungen sehr an Glaubwürdigkeit. Danach habe die Schuld an dem alten Friedrichsteiner gelegen. Steine habe der — wie man in Ostpreußen sagte — aus der Erde gesoffen. Da sei ihm die junge Frau natürlich durchgebrannt. Mit einem Grafen Komierowski. Dem sei sie aber nachher auch ausgerückt, um den russischen Gouverneur in Warschau zu heiraten, einen Petersburger Großfürsten. Andere wiederum behaupteten, der Großfürst habe sie geraubt. Sie sei nämlich so kolossal schön gewesen, daß man sich in sie sofort habe „verknallen“ müssen, wenn man sie sah. Padöffkes Vater besann sich noch ganz genau auf sie, wenn sie mit ihren vier Trakehner Füchsen in die Stadt gefahren kam, weil Heinrichsburg nur Kleinbahn hatte, und sie wollte zu Einkäufen in Königsberg den Schnellzug benutzen... Und er, Viktor von Dolinga, sei eigentlich katholisch, der ältere Bruder habe ihn umtaufen lassen. Habe beim Tod des alten Friedrichsteiners mit dem Gegenvormund eine Schiebung gemacht, so daß ein Einspruch unmöglich gewesen sei...

Das letzte hatte ihn nicht interessiert. Er war damals — als Sekundaner — in dem Alter gewesen, in dem man auf den Unterschied der religiösen Bekenntnisse mit schnöder Verachtung blickte. Wer ein bißchen was auf sich hielt, war Atheist, sah die verschiedenen Bekenntnisformen als höchst überflüssige Dinge an, lediglich dazu bestimmt, mit Lernstoff ohnedies geplagten Schülern das Leben zu erschweren. Wie er sich später sagte, der notwendige Erfolg einer Unterrichtsmethode, die von halbwüchsigen Jungen die Gedankenarbeit gereifter Männer verlangte. Und dazu ein falsches System... Man gab den Jungen mit einer gewissen Unparteilichkeit alle Grundlagen zu freiem Urteil, verlangte aber von ihnen, daß sie in verba magistri schworen, ihre Überzeugung in die Lehre zwängten, die sie als die einzig richtige anzusehen hatten... Das erschien ihm falsch. Man konnte nicht zugleich unparteiischer Richter und begeisterter Adept sein... Und noch eins kam für einen denkenden Jungen hinzu: Gelehrte Männer und Laien hatten sich um diese Fragen gestritten, ohne eine andere Lösung zu finden, als daß sie für ihre Überzeugung ihr Leben einsetzten. Von beiden Seiten war das geschehen. Wie sollte da ein kleines Sekundanerlein sagen: Du hast recht und du unrecht?...

Viel mehr als alles andere interessierte ihn damals der Plan, den Aufenthaltsort der Mutter ausfindig zu machen, ihr abenteuerliches Leben kennenzulernen, womöglich gar zu teilen.

In einem wunderbar spannenden, in Zehnpfennigheften erscheinenden Roman hatte er gelesen, die Fürsten Napieha — sprich Napjécha — seien vorzeiten polnische Könige gewesen. Und wenn seine Mutter auch nur eine geborene Gräfin Napieha war, sicherlich stammte sie aus demselben glorreichen Geschlecht.

„Die moskowitischen Bluthunde oder Wladislaus, der edle polnische Revolutionär“ hieß der Roman, schilderte die zahllosen Abenteuer eines jungen Helden, gegen den der Karl Maysche „Old Shatterhand“ ein Waisenknabe war. In jedem Hefte überlistete er die dummen Russen, daß einem das Herz im Leibe lachte, tötete ihrer unzählige, um schließlich mit seiner geliebten Wanda, einem tugendhaften und schönen Polenmädchen aus vornehmem Geschlecht, jenseits des Ozeans, im Lande der wahren Freiheit, Amerika, sein Glück zu finden... Herrlich mußte es sein, ein solches Leben zu führen, denn Fritz Padöffke hatte versichert, noch heute sei jeder Pole ein Verschwörer, jeden Augenblick könne die Revolution wieder losgehen. Da heckten sie den Plan aus, in einer Warschauer Zeitung einen Aufruf zu erlassen: Valeska, geborene Gräfin Napieha, möge sich ihres Sohnes Viktor erinnern, der vor Sehnsucht brenne, sie wiederzusehen. Antwort unter V. v. D. postlagernd Eisenach in Deutschland erbeten. Für zwanzig Mark, meinte Fritz Padöffke, müsse die Sache zu machen sein, und er übernahm die Besorgung. Da war Viktor sechs Wochen lang Tag für Tag zum Postamt gepilgert, bis der gutmütige Schalterbeamte ihn zu trösten versuchte. Er solle sich die Liebesgedanken aus dem Kopf schlagen, die junge Dame sei ihm wahrscheinlich untreu geworden. Und es wäre besser, sich auf solche Scherze erst wieder einzulassen, wenn ihm der Schnurrbart gewachsen sei...

Er hatte entrüstet erwidert, es handele sich um etwas Erhabeneres als eine „Poussage“, aber es half nichts, der so sehnlich erwartete Brief blieb aus. Sei es, daß die Mutter den Ruf ihres Sohnes nicht vernommen, oder — was auch nicht unwahrscheinlich war — daß Fritz Padöffke die zwanzig Mark vertrunken hatte. Er war in dieser Zeit an den Kneipabenden der „Cheruskia“ immer geradezu unheimlich „bei Kasse“ gewesen. Da gab Viktor die Gänge zum Postschalter auf. Und später sagte er sich, die Mutter hätte sich auch ohne Ausruf um ihn kümmern müssen! Er lernte sie mit den Augen des Bruders sehen, als eine kalte und herzlose Frau, die nur an sich selbst dachte; die den willensschwachen Gatten in kurzen sieben Jahren so zugrundegerichtet, daß er als Bettler von einem stolzen Besitztum hatte gehen müssen... Aber zuweilen sagte er sich, vielleicht lebte sie in der Tat längst nicht mehr, war daher bis zu einem gewissen Grad nicht zu verdammen...

Ulrich freilich, wenn er — selten genug — ihren Namen erwähnte, sprach nur mit herben Worten von ihr. Es war begreiflich; denn ohne diese sieben Jahre „polnischer Wirtschaft“ hätte er längst als angesehener Grundherr auf Friedrichstein sitzen können. Aber — Viktor konnte sich nicht helfen — man hätte auch die Mutter hören müssen, wie sie von ihrem Standpunkt aus diese sieben Jahre darstellte... So mit „gut und böse“ oder „schwarz und weiß“ war kein gerechtes Urteil zu fällen. Der Vater war gegen sechzig, die Mutter zwanzig Jahre alt gewesen, als sie heirateten. Hatte sie den um so viel älteren Mann geliebt, oder war sie ihm aus Berechnung gefolgt? Hatte sie sich vielleicht geopfert, um von ihrer Familie ein Unheil abzuwenden?...

In jedem Fall lag da ein Rätsel, das den aus dieser unglücklichen Ehe entsprossenen Sohn oft genug quälte. Nicht daß es ihm allzusehr den Schlaf gestört hätte; dazu lagen ihm Geschehnisse und Persönlichkeiten zu fern. Ohne die Bilder hätte er nie gewußt, wie Vater und Mutter ausgesehen haben mochten. Aber jeder Mann hatte doch den Wunsch, zu wissen, was die beiden Menschen, denen er sein Leben verdankte, zusammengeführt haben mochte. Heiße Liebe oder kühle Berechnung?...

Auch zu dem fanatischen Polenhaß, der den Bruder beseelte, hatte er sich bisher nicht aufschwingen können. Wenn man seine ganze Jugend im Westen Deutschlands verbracht hatte, verstand man nicht recht, daß sich im Osten die Gemüter aufregten, ob ein paar hundert Hektar Boden in der Hand von polnischen oder deutschen Siedlern war...

Für ein treues Halten der Polen zu Preußen entscheidend waren allein die wirtschaftlichen Vorteile, die die ehemals polnischen Landesteile unter den Fittichen des schwarzen Adlers genossen. Die preußischen Polen — so hatte er sich einmal von einem Kenner des Ostens, einem aus Bromberg stammenden Rechtsanwalt, sagen lassen — brauchten nur auf der Chaussee über die Grenze zu fahren, um von allen ausschweifenden Wünschen nach Veränderung geheilt zu sein! Gleichgültig, ob nach Rußland oder Galizien. Wenn's zu stuckern anfing und am Rad die Speichen brachen, hörte Preußen auf. Und man sollte nur mal eine Abstimmung vornehmen, den Polen die Wahl der Staatsangehörigkeit freigeben!

Ein kleines Häuflein „Unversöhnlicher“ gab es überall in neu erworbenen Gebieten. In Schleswig-Holstein, in Elsaß-Lothringen, in Hannover; sogar in der ehemals freien Reichsstadt Frankfurt, die doch seit Achtzehnhundertsechsundsechzig über nichts zu klagen hatte, gab es eingefleischte Anhänger der „guten alten Zeit“, denen die preußische Herrschaft noch immer ein Greuel war... Als dort das Gebäude der Reichsbank errichtet wurde, — so erzählte man sich — sah ein alter Senator das wachsende Haus kopfschüttelnd an: „Se baue richtig aus Stoin! Als wenn se ewig dableibe wollte, de Preuße!“ ... Solche Käuze fanden sich gewiß auch im Osten. Aber das waren einflußlose Schwätzer. Im Ernstfalle hätte sich die Mehrzahl der ehemals polnischen Untertanen mit Händen und Füßen gesträubt, aus der segensreichen preußischen Herrschaft zu kommen. Wohin denn etwa? Unter die russische Knute oder in galizische Schlamperei?... Und eine Wiederaufrichtung des ehemaligen Königreiches? Da hätten die Polen ihre eigene Geschichte nicht kennen müssen, wenn sie danach Sehnsucht getragen hätten... Keine hundert Tage, und die Herrlichkeit stürzte im Parteihader wieder zusammen. Ein aus dem Posenschen an die Düsseldorfer Regierung versetzter Kollege hatte einmal gesagt, jeder Pole bilde eine Partei für sich, deren Vorsitzender und einziges Mitglied er sei. Punkt eins des Programms: „Tod allen Deutschen!“ Punkt zwei: „Aber, verflucht noch mal, wie soll ich ohne die Deutschen leben?“ ... Das war nur ein übertreibender Witz, aber er erhellte die Lage besser als lange Abhandlungen...

Und einmal, als sie von der Heimat sprachen, hatte Viktor dem älteren Bruder das Scherzwort erzählt. Der hatte nicht gelacht, sondern erzürnt den Kopf geschüttelt.

„Eine verdammt leichtfertige Manier, sich mit einer Frage abzufinden, von deren Beantwortung das Schicksal Preußens und Deutschlands abhängt! Ihr im Westen, euch brennte nicht auf der Haut. Und Gott bewahr' uns vor dem Unglück, das auch euch die Augen öffnet!... Der Pole von heute ist ein anderer als der im vergangenen Jahrhundert, zur Zeit der unbesonnenen Aufstände. Damals war er ein lodernder Jüngling: mit einem jähen Sprung gegen die Ketten an wie ein gefesseltes, edles Tier, das gegen das würgende Halsband stürmt... Heute? Heute ein gereifter Mann, der kühl auf seine günstige Gelegenheit wartet und in der Stille seine Waffen schmiedet... Doch es ist noch nicht an der Zeit, mit dir darüber zu reden.“

Aus dem Wort ging — wenn man sich's genau überlegte — hervor, daß Ulrich schon vor Jahren die Absicht hegte, ihn nach dem Osten zu schicken. Hatte er vielleicht geglaubt, in ihm nach den traurigen Erfahrungen mit der polnischen Mutter einen besonders eifrigen Vorkämpfer gegen das Polentum zu gewinnen? Für den Streit, der ihm selbst Lebensaufgabe zu sein schien?... Das war eine irrige Voraussetzung. Dazu stand er selbst auf zu hoher Warte. Er ließ sich überzeugen, gewiß, aber die Jugenderlebnisse lagen ihm doch zu fern, als daß er ihnen verstattet hätte, ihm das unparteiische Urteil zu trüben. Eine polnische Mutter, die in frivoler Selbstsucht sich um das eigene Kind nicht kümmerte, war doch kein typisches Bild der Gesamtheit? Und daß diese Frau in kurzen sieben Jahren einen preußischen Großgrundbesitzer an den Bettelstab gebracht hatte, war doch kein Beweis, daß sie sich von großpolnischen und umstürzlerischen Bestrebungen leiten ließ?... Verwunderlich bei dem allen war eigentlich nur, daß ihn der Bruder in den Kreis schickte, in dem der Verkauf der väterlichen Herrschaft Friedrichstein in polnische Hand noch in frischem Gedächtnis war. Das mußte doch zu Unzuträglichkeiten führen! Den Polen erschien er von vornherein parteiisch, er selbst aber geriet bei all den deutschen Besitzern, die in hartem Kampfe standen, in eine schiefe Lage.

Mit einem Male aber mußte er herzlich auflachen. Die Lösung des Rätsels, über der er sich schon so lange den Kopf zerbrochen hatte, war sehr einfach, hieß Fräulein von Hakenberg aus Ottenwalde! Eine junge Dame, der der liebe alte Uli offenbar die Fähigkeit zutraute, einen leichtlebigen Regierungsassessor zu einem ehrsamen Familienvater und Muster eines preußischen Beamten zu erziehen.

Rührend war es von dem Alten, ihm neben allen anderen Sorgen auch die um eine passende Frau abzunehmen; zugleich aber auch reichlich verletzend. Als wenn er für sich allein nicht stark genug gewesen wäre, die ehrenwörtlich bekräftigten Versprechungen zu halten!... Das war recht überflüssig gewesen. Und ungeschickt obendrein. Besser sicherlich, man hätte ihn dem jungen Mädchen ganz unbefangen gegenübergestellt... So wurde man argwöhnisch. Was einem angeboten wurde, hatte doch nie den Wert, als wenn man selbst suchte und sich einbildete, endlich gefunden zu haben.

Und er konnte sich ungefähr denken, wie dieses Fräulein von Hakenberg aussah! Er war mal vor Jahren in Berlin gewesen, zur gleichen Zeit, als dort der Bund der Landwirte tagte. Alle Theater und öffentlichen Vergnügungsstätten waren von dieser selbstbewußten Gesellschaft überflutet. Die Herren laut und breitspurig, die Damen so unsäglich gesund und robust, daß man sie sich nicht anders vorstellen konnte als an der Spitze eines zahlreichen Gesindes bei recht nützlichen, aber nicht gerade poetischen Verrichtungen. Kälberstall, Milchwirtschaft, Hühnerhof und Leuteküche mit großen, dampfenden Kesseln, in denen Sauerkraut mit Schweinebauch und Kartoffeln kochte. Und in den Kinderzimmern eine ganze Schar von pausbäckigen Buben und Mädchen, die sich immerfort vermehrte, bis die Eltern Schwierigkeiten hatten, sich die vielen Vornamen zu merken...

Von gleichem Schlage war wohl dieses Fräulein von Hakenberg. Nicht umsonst hatte sie das Wohlgefallen des altmodischen Herrn Bruders erregt. Dessen Geschmack glaubte er zu kennen. Künstlerische Eigenschaften? Ein Brennapparat, mit dessen Hilfe sie herrliche weiße Lindenbretter mit häßlichen schwarzen Klecksen versah.

Schrecklich war eine solche „künstlerische Tätigkeit“! Außerdem sang das Fräulein natürlich „für den Hausgebrauch“, spielte ohne allzu unangenehme Fehler Webers „Aufforderung zum Tanz“ und war im übrigen von jener flanellenen Engherzigkeit, der alles, was ein bißchen nach leichter Eleganz schmeckte, als Gipfel der Unmoral erschien.

Ah nein, lieber Uli, das war nicht darzustellen! Dazu hatte er ein viel zu schönheitsdurstiges Auge, um sich eine solche Lebensgefährtin zu wählen. Und dann: seit vorgestern pirschte er auf der Spur eines anderen Wildes...

Früher hatte er immer lachen müssen, wenn er von Leutchen sagen hörte, sie hätten sich angeblich auf den ersten Blick verliebt. Diese ganz große Leidenschaft, von der die Dichter sangen, sie überkäme den Mann wie ein schmerzlich-süßer Rausch, war nichts weiter als eine gefällige Fabel; eins jener Märchen, die sich die Menschen erzählten, um alltäglichen Dingen ein poetisches Mäntelchen umzuhängen. Dazu hatten die Frauen es ihm immer zu leicht gemacht, als daß er in ihnen etwas Besonderes hätte sehen sollen. Und es war durchaus keine Übertreibung gewesen, als er sich vor dem Bruder vermessen hatte, er könne von den millionenreichen Erbinnen des Industriegebiets jede heiraten, die ihm beliebte. Seine leichten Abenteuer aber zählten nach Dutzenden; kein einziges davon hatte ihm seine kühle Gelassenheit geraubt. Was spielerischer Zeitvertreib sein sollte, durfte nicht zur Leidenschaft werden...

Und jetzt war er in der Lage derer, über die er so oft gespottet: er hatte sich in der ersten Minute verliebt! Hatte sich so unsinnig verliebt, daß er all jene bittersüßen Qualen empfand, über die er früher immer gelacht hatte... Ein geradezu verzehrendes Bangen und Sehnen, eine beklemmende Angst, die erste zufällige Begegnung könne auch die letzte gewesen sein.

Wie eine Art von Schlag hatte er's empfunden, als er sie in dem von Paris kommenden Eilzug in einem Nichtraucherabteil erster Klasse erblickte. Sie war durchaus nicht das, was man im landläufigen Sinne als „schön“ bezeichnete. Starke dunkle Brauen, die an der Nasenwurzel zusammengewachsen waren... ein etwas zu breiter Abstand zwischen dem zierlichen Näschen und der schön geschwungenen Oberlippe... nach strengen Begriffen auch um ein weniges zu starke Backenknochen, aber ein paar wundervolle braune Augen mit langen Wimpern, und das ganze, so unregelmäßige Gesichtchen von unsäglich pikantem Reiz... Ein natürliches Schönheitspflästerchen unterhalb des linken Mundwinkels... Die Figur knabenhaft schlank und geschmeidig, aber von der Gestrafftheit, die leidenschaftlich betriebener Sport verlieh...

Als sie den gegenüberliegenden Platz freimachen mußte, hatte er ihr behilflich sein wollen, einen umfangreichen Lederkoffer vom Sitz in das Gepäcknetz zu stellen. Sie hatte abgewehrt: „O danke! Ich hätte ja meinen Diener rufen können, aber es geht auch so…“ Und sie hob, anscheinend mühelos, den schweren Koffer hoch über ihren von einer kleidsamen Reisemütze bedeckten Kopf. Und als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, vertiefte sie sich in eines jener dickleibigen Hefte mit buntem Deckel, die zur Ausrüstung reisender Engländerinnen zu gehören pflegen. Nach ihrer Aussprache des Deutschen aber schien sie eine Polin oder Russin zu sein. Das „so“ am Schlüsse ihrer Antwort ließ darauf schließen, mit dem ganz kurzen und harten „o“ ...

Bei ihrem Anblick war's wirklich wie eine Art Rausch über ihn gekommen, er brannte darauf, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln. Eine bekannte Düsseldorfer Familie aber — Herr Kommerzienrat Schmitz mit Gattin — war leider mit ihm zugleich eingestiegen, hatte ihn geräuschvoll und freudig als Reisegenossen begrüßt. Da hatte er zu seinem Ärger die günstige Gelegenheit, von der angebotenen kleinen Hilfeleistung den Übergang zu einem Gespräch zu gewinnen, verpassen müssen. Und nachher war die junge Dame so in ihre Lektüre vertieft, daß er ohne grobe Aufdringlichkeit nicht wagen durfte, sie anzusprechen. Nur als der Kommerzienrat Schmitz ihn fragte, in welchen ostpreußischen Kreis er als stellvertretender Landrat versetzt sei, und er kurz antwortete, nach Heinrichsburg, schien es ihm, als wenn sie interessiert aufhorchte. Aber es konnte auch eine Täuschung gewesen sein. Gleich danach verschwand ihr Gesicht wieder hinter dem dickleibigen Heft. „Harper's Weekly“ stand auf dem Umschlag zu lesen...

Und er fing an sich zu ärgern, daß sie ihm so gar keine Beachtung schenkte. Das war er nicht gewöhnt... Er wußte genau, wie seine Persönlichkeit sonst zu wirken pflegte, obwohl er alles andere, nur kein eingebildeter Laffe war. Wie oft war ihm von Frauen versichert worden, er sei so unwiderstehlich gefährlich, weil seine Schönheit nicht den allen normal empfindenden Mädchen so widerwärtigen weibischen Anstrich habe... Damit die unbekannte junge Dame sich aber nicht einbilde, er sei aus dem Geschlechte jener Tenorsänger, denen der liebe Gott zu aller Leibesschönheit eine Kehle voll Gold, aber einen Kopf voll Stroh mitzugeben pflegte, fing er mit der Frau Kommerzienrätin eine interessante Unterhaltung an. Sprach von London und Paris, von englischem, französischem und deutschem Theater, plauderte so witzig und amüsant, daß die korpulente Dame unter Lachtränen mehr als einmal versicherte, es sei doch zu schade, daß er das schöne Düsseldorf habe verlassen müssen!... Was dieses Bedauern bedeutete, wußte er. Die Frau Kommerzienrätin hatte eine Tochter, der er mal acht Tage lang den Hof gemacht hatte. Als er die Frau Mama noch nicht kannte. Ein ganz nettes, blondes Mädel, aber als er die Mutter gesehen hatte, bog er im rechten Winkel ab. In zehn Jahren hatte das blonde Fräulein Klara genau die gleichen verschwommenen Züge, dieselbe „auseinandergegangene“ Figur wie die Frau Mama... Schrecklicher Gedanke, an eine solche Fülle sein ganzes Leben lang gebunden zu sein! Trotz der Millionen, die der Papa Kommerzienrat mit Draht von allen Sorten und Stärken verdient hatte.

Eine nett aussehende Zofe erschien in der Wagentür, fragte in geläufigem Französisch, ob ihre Herrin Wünsche habe. „Ja“, erwiderte sie. „Josephe soll sich noch einmal erkundigen, ob im Schlafwagen nicht doch noch ein Damenabteil frei geworden ist. Er hat es versäumt, sich in Paris rechtzeitig darum zu kümmern, jetzt soll er zusehen, ob noch eine Möglichkeit vorhanden ist, daß ich die Nacht nicht sitzend verbringen muß, mit drei fremden Menschen im selben Kupee.“

Die Zofe entfernte sich. Frau Schmitz bemerkte anzüglich in recht gutem Französisch, so ginge es auch noch anderen Leuten, die an solche Unbequemlichkeiten ebenfalls nicht gewöhnt seien! Aber die Schlafwagenplätze seien schon vor drei Tagen ausverkauft gewesen. Und keine Möglichkeit, auf dem Wege des Abstandes ein Bett zu bekommen. Hundert Mark hätte sie mit Vergnügen bezahlt, um nicht vom langen Sitzen halb gerädert und übernächtig in Berlin anzukommen.

Die junge Dame erwiderte nichts, vertiefte sich von neuem in ihr buntes Heft. Nach einem Weilchen kam der Diener. Ein glattrasierter Mensch von etwa dreißig Jahren und unverkennbar slawischem Typus. In schwarzer Livree eine wahre Athletenfigur. Schlank und hoch gewachsen, aber unverhältnismäßig breite Schultern unter einem muskulösen Nacken. Er sprach in unterwürfiger Haltung, den Zylinder in der Hand. Irgendein slawisches Idiom war es, Polnisch oder Russisch. Sie antwortete in ungehaltenem Tone, schließlich stand sie auf und folgte ihm in der Richtung des Schlafwagens.

Nach einer Weile kam der Diener wieder, holte das Gepäck. Die Frau Kommerzienrätin konnte sich nicht enthalten, gallig zu bemerken, nächstens würde sie auch als interessante Ausländerin verkleidet reisen. Nur um das Vergnügen zu genießen, auf deutschen Eisenbahnen mit dem nötigen Entgegenkommen behandelt zu werden...

Das Heft, in dem die junge Dame gelesen hatte, war von dem Diener vergessen worden. Viktor nahm es an sich, blätterte darin. Auf einmal stutzte er... Da, auf einem freien Raum am Schluß eines Artikels über spanische Stiergefechte, stand er selbst! Eine Karikatur, mit ein paar Bleistiftstrichen flüchtig hingeworfen, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar. Wie zum Hohn war der Kopf auf die winzige Figur eines Torero gesetzt, die — den Degen in der Rechten — in Ausfallstellung unter dem Artikel stand. Er biß sich ärgerlich auf die Lippen, denn der spöttische Hieb hatte gesessen. Die junge Dame hatte ihn verstohlen in der halben Stunde gezeichnet, in der er versucht hatte, ihr durch die geistvolle Unterhaltung mit der Frau Kommerzienrat Schmitz zu imponieren... Er trat auf den Gang hinaus, um sich das Blatt heimlich anzueignen. Riß es aus und steckte es in die Brusttasche.

Die Nacht mit dem schnarchenden und schnaufenden Ehepaar war fürchterlich gewesen. Die Herrschaften hatten sich vom Schaffner die beiden unteren Polster zum Lager herrichten lassen, er mußte auf der herausgeklappten Rücklehne liegen. Als einzige Zerstreuung im Dunkeln die seltsamen Geräusche, die das kommerzienrätliche Ehepaar von sich gab. Bald schnarchte die korpulente Dame wie ein Kutscher, bald „blies sie Suppe“ oder knirschte mit den Zähnen, indessen der Gatte ein solides, regelmäßig arbeitendes Sägewerk betrieb. Nur wenn er an einen Ast kam, ging das Schnarchen in ein ärgerliches Grunzen über... Er aber empfand neben allem begreiflichen Ärger eine Art von Genugtuung, daß er bei dem leichten Flirt mit Fräulein Klara durch seinen sicheren Instinkt gewarnt worden war. Die junge Dame hatte von ihrer Mutter neben allem übrigen sicherlich auch das Schnarchen geerbt... ein entsetzlicher Gedanke...

Und weil er kein Auge schließen konnte, hatte er Muße genug, sich mit der interessanten Unbekannten zu beschäftigen. Mit der geradezu bedenklichen Tatsache, daß er den Morgen kaum erwarten konnte, um ihre Spur weiter zu verfolgen... Ihr pikantes Gesicht versuchte er sich vors innere Auge zu rufen, hörte im Geräusch der Räder ihre wohllautende Stimme, bis ihm zum Bewußtsein kam, daß er ohne Sinn und Verstand und unrettbar verliebt war...

Er schalt sich energisch aus, aber es half nichts. Wie einem törichten Primaner war ihm zumut, nicht wie einem vernünftig rechnenden Regierungsassessor, der fest gesonnen gewesen war, ledig zu bleiben, wenn er nicht die Frau fand, auf die er Anspruch erheben konnte. Unermeßlich reich und so anmutig, daß sie ihm jeden Tag aufs neue gefiel...

Der Vorsatz, die Spur der Unbekannten nicht zu verlieren, war verhältnismäßig leicht auszuführen gewesen. An der Gepäckabfertigung des Potsdamer Bahnhofes erwischte er die Zofe. Als er ihr ein Zehnmarkstück in die Hand drückte, gab sie bereitwillig Auskunft. Im Hotel Esplanade gedachte ihre Herrin abzusteigen. Als er aber nach dem Namen fragte, schwieg sie ängstlich.

Der Diener war hinzugetreten, schalt mit ihr in seinem rauhen slawischen Idiom...

Also Esplanade! Das war vorläufig mal die Hauptsache. Den Namen erfuhr er eine halbe Stunde später vom Portier. Aber er empfand dabei eine gewisse Enttäuschung. „Fräulein Helene Ostermann nebst Bedienung aus Paris...“ Das konnte nicht stimmen, war sicherlich ein Pseudonym... Für irgendeine hochgestellte Persönlichkeit, die den Wunsch hatte, in ganz schlichtem Inkognito zu reisen. Vielleicht eine Dame aus polnischem oder russischem Fürstengeschlecht oder vielleicht gar noch höher hinauf... Das wäre ihm sehr leid gewesen. Dann hätte er sich all der verwegenen Wünsche und Hoffnungen entschlagen müssen, die ihn in immer wechselnden, lockenden Bildern die ganze Nacht wachgehalten hatten... Gegen Mittag erfuhr er, „Fräulein Ostermann“ habe sich einen Logenplatz zur Oper bestellt. Da bat er den gefälligen Portier, ihm, koste es was es wolle, einen Sitz in derselben Loge zu besorgen. Als er ihn in Händen hatte, ging er schlafen; todmüde vor Abspannung. Den Bruder Ulrich, der ihn eigentlich erwartete, gedachte er morgen zu besuchen. Es wäre unmöglich gewesen, sich von ihm loszumachen, und für den Abend in der Oper mußte er frei sein. Selbst wenn er seine Seligkeit darum hätte verkaufen müssen...

Es gab eine trostlose Enttäuschung. Statt der erwarteten Herrin kam das Zöfchen. Aber die Kleine war verängstigt und unzugänglich. Er drückte ihr ein blankes Zwanzigmarkstück in die Hand; sie steckte es ein, aber entschuldigte sich, es sei ihr aufs strengste verboten, irgendeine Auskunft zu geben. Nur so viel war aus ihr herauszubringen, ihre Herrin — sie nannte sie „Madame“ — sei unpäßlich, speise mit einigen Gästen auf ihrem Zimmer. Da ging er ärgerlich fort. In dieser Stimmung die „Walküre“ zu hören mit dem endlos langweiligen zweiten Akt, bekam er nicht fertig. Er trieb sich zwecklos in einigen Kneipen herum, bis er sich so müde fühlte, daß er hoffte schlafen zu können. Die Orte, an denen er Bekannte hätte treffen können, vermied er.

Beim Heimkommen erzählte ihm der Portier, was er schon wußte. Das gnädige Fräulein sei leicht erkältet, habe sich im letzten Augenblick entschlossen, zu Hause zu bleiben. Ob er die Gäste kenne, die sie besuchten, hatte er gefragt. Nein, die Herrschaften seien zum erstenmal dagewesen. Aber allem Anschein nach Polen, auch ein geistlicher Herr darunter. Und für den nächsten Abend habe das Fräulein einen Tisch für acht Personen im Hotelrestaurant bestellt, pünktlich auf sechs Uhr. Er bat den gefälligen Mann, ihm unter allen Umständen den Nebentisch frei zu halten, und plötzlich — er wußte selbst nicht, wie er darauf verfallen war — schoß ihm eine Frage durch den Kopf.

„Sagen Sie mal, mit Fräulein Ostermann ist doch auch ein Diener hier abgestiegen?“

„Ein Diener? Nein, sonst müßte ich's wissen...“

„Ein großer, breitschulteriger Kerl in schwarzer Livree? Ich habe ihn selbst im Zuge mit ihr gesehen!“

Der Portier zuckte lächelnd die Achseln.

„Aus einer früheren Stellung weiß ich, die polnischen Herrschaften haben so viel Heimlichkeiten — da braucht man sich über die merkwürdigsten Sachen nicht zu wundern.“

Viktor ging in sein Zimmer hinauf. Eine tolle Eifersucht hatte ihn mit einemmal überfallen. Und er glaubte sich zu erinnern, daß der Kerl trotz aller äußerlichen Unterwürfigkeit der Haltung etwas Vertrauliches in seinem Wesen gehabt hatte. Als er seine Herrin zum Schlafwagen vorangehen ließ, hatte er ihre schlanke Gestalt mit einem Blicke angesehen: „mit den Augen ausziehen“ nannte man das.

Aber — wenn er bei aller begreiflichen Verliebtheit einen Augenblick mal die gesunde Vernunft sprechen ließ — war er nicht ein ausgemachter Narr? Und er verschwor sich heftig, mit diesen Torheiten endgültigen Schluß zu machen.

Unwürdig erschien es ihm geradezu, wie er sich benahm! Rannte einer Unbekannten nach wie ein vor Brunst toll gewordener Hirsch einem Schmaltier aus fremdem Revier... Irgendeiner Abenteurerin... vielleicht sogar internationalen Hochstaplerin... Dieser plötzlich verschwundene Athlet, der in der Maske eines Dieners sich in Paris aus dem Staube gemacht hatte, war doch im höchsten Grade verdächtig?...

Diese Schwüre und Erwägungen hinderten ihn nicht, sich am Morgen nach einer recht unruhig verbrachten Nacht in der Hotelhalle herumzudrücken. In der unbestimmten Hoffnung, das „Fräulein Ostermann“ wenigstens ein paar Augenblicke wiederzusehen... Es war eine Charakterlosigkeit, gewiß, aber vor sich selbst beschönigte er sie, vielleicht würde er im klaren Tageslicht eine ernüchternde Enttäuschung erleben. Bisher hatte er die junge Dame doch nur bei der ungewissen Beleuchtung eines Eisenbahnwagens gesehen.

Und sein hartnäckiges Warten — ihm wollte fast scheinen, der Portier lächelte schon über ihn — wurde belohnt. Gegen halb Zwölf kam Fräulein Helene in Begleitung ihrer Zofe die Treppe herunter; von Frische strahlend wie ein junger Frühlingsmorgen, und noch viel, viel reizvoller und schöner, als sie ihm gestern erschienen war. Ein violettes Samtkostüm trug sie, mit braunem Pelz besetzt, eine kleidsame Mütze aus gleichem Stoff und an goldener, um den Hals geschlungener Kette einen kostbaren Zobelmuff. Und heute sah er zum erstenmal, was für entzückende kleine Füße sie hatte. Lächerlich kleine und schmale Füße in eleganten braunen Knopfstiefelchen... die hohen Absätze, die den Gang der Frauen sonst so leicht unschön machten, störten sie nicht. Frei schritt sie dahin und federnd vor verhaltener Kraft... toll konnte man werden bei dem Gedanken, dieses einzigartige Frauenbild mal im Arm halten und küssen zu dürfen...

Er barg sein Gesicht hinter einer Zeitung, aber sie hatte ihn wohl schon bemerkt, wie er in die Höhe starrte, als sie die Treppe hinabkam. Beim Vorbeigehen flog um ihre Lippen ein leichtes — wie ihm scheinen wollte — belustigtes Lächeln. Die Zofe hatte wohl geplaudert, daß sie ihn gestern in der Loge getroffen hatte, und Fräulein Helene amüsierte sich anscheinend über den hartnäckigen Anbeter, der ihr auch hier auflauerte... Was lag daran? Er traute sich zu, in ihrem Gesicht bald einen anderen Ausdruck zu sehen. Nur ein paar Tage Zeit mußte er haben und die Gelegenheit, sie endlich sprechen zu dürfen.

Die Zofe hatte die Zimmerschlüssel abgegeben, der Portier erzählte ihm unaufgefordert, das Fräulein sei zu Einkäufen in ein bekanntes Modemagazin gefahren. Er zeigte sich mit einem Fünfmarkstück erkenntlich, überlegte einen Augenblick lang, ob er nachfahren sollte, und ging endlich frühstücken. Es hätte doch wohl zu lächerlich ausgesehen, wenn er plötzlich in dem Laden aufgetaucht wäre, in dem sie Wäsche oder Kleider kaufte. Und trotz aller blöden Verliebtheit — er verspürte einen gewaltigen Hunger!... Nachher aber mußte er unter allen Umständen den Bruder aufsuchen. Für einen Tag konnte er sich vor dem Leichtgläubigen wohl ausreden, aber für zwei?... Das durfte er doch nicht wagen, denn von dem großen alten Bruder hing er ab... Und um sechs Uhr sah er sie wieder. Was nachher wurde, wußten die Götter allein. Aber er hatte ja bisher immer — außer am Spieltische — Glück gehabt! Weshalb sollte es ihn jetzt, wo es anscheinend ums Schicksal ging, im Stich lassen?

 

4.

 

Zehn Minuten vor Sechs saß er an dem vom Portier freigehaltenen Tische. In einer Stimmung, die zwischen Selbstverachtung und Trostlosigkeit schwankte. Nebenan war das Damasttuch mit Blumen geschmückt wie zu einer Festtafel.

Ulrich kam in recht altmodischem, schwarzem Gehrock, fand an dem Platze allerhand auszusetzen, und ob die nahe Musik sie nicht zu sehr stören würde? Er widersprach. Nach vieler Mühe sei es ihm gelungen, diesen Tisch zu ergattern, alles übrige sei schon vorher besetzt gewesen. Er hatte sich vorgenommen, unter allen Umständen festzustellen, wie sich Helene diesem Menschen gegenüber benahm.

Gleich nach der Suppe fing der gute Ulrich wieder an zu predigen. Daß er lange mit sich gerungen habe, ehe er ihn in einen so „gefährlichen“ Kreis schickte. Aber er vertraue darauf, die Eröffnungen, die er ihm zu machen habe, würden ihn zum Einsatz seiner äußersten Kraft anspornen. Zum scharfen Aufmerken, ob wiederum ein neues Besitztum in Gefahr sei, in polnische Hand zu geraten. Dann müsse er mit den leider sehr beschränkten Mitteln, die ihm zur Verfügung ständen, versuchen, es dem Deutschtum zu erhalten. Moralische Einwirkung auf den Besitzer, Benehmen mit der Ostpreußischen Landbank — als allerletztes Mittel ein Appell ans Ministerium! Von dem unvergeßlichen Podbielski her sei noch immer der — freilich stark zusammengeschmolzene — Rest eines Fonds da, mit dem man im äußersten Notfalle eingreifen könne. Um das bedrohte Land als königliche Domäne oder für die preußische Forstverwaltung zu erwerben.

Der Tisch drüben hatte sich allmählich gefüllt. Schwarzbefrackte Herren saßen da, ein Priester dazwischen in langem, am Hals geschlossenem Rocke. Auch eine Dame war gekommen. Eine Erscheinung, die in den eleganten Rahmen nicht recht hineinpaßte... die Haare im Nacken kurz geschnitten... eine Art von Reformkleid um die hageren Glieder... im gelblichen Gesicht ein Paar brennende Augen. Die Herren hatten sie mit Respekt und ganz besonderer Herzlichkeit begrüßt.

Und Ulrich sprach weiter. Entwickelte ein Bild der Polenbewegung, das auch den mit seinen Gedanken an den Tisch drüben gefesselten Bruder hoch aufmerken ließ. Alles, was er sagte, schien klar und begründet zu sein.

Schon seit dem Balkankrieg war nach unanfechtbaren Berichten eine seltsame Unruhe in die ganze slawische Welt gekommen. Der Feldzug der Bulgaren, Serben, Montenegriner und Griechen gegen das ehemalige Unterdrückervolk der Türken weckte alle im Verborgenen schlummernden Hoffnungen auf Wiedergewinn der staatlichen und nationalen Selbständigkeit. Aber noch etwas anderes mußte hinzugekommen sein, um diese Unruhe zu erklären.

Der schnürende Ring um Deutschland und das verbündete Österreich-Ungarn zog sich enger und enger. Noch ein paar Jahre und Rußland hatte das Netz strategischer Eisenbahnen im Westen, das ihm einen jähen Überfall in breiter Front gestatten sollte, mit französischen Milliarden ausgebaut. Wie eine Sintflut brach es dann in deutsches Land! Von der anderen Seite her aber kamen die Franzosen... möglich sogar, daß die Engländer, die einen festländischen Brei sonst wohl anrührten, selbst aber sich nicht gerne daran die Finger verbrannten, ein Hilfskorps schickten.

„Und die Polen?“ fragte er interessiert.

„Na, denen sind natürlich recht weitgehende Versprechungen gemacht worden. Um für den bevorstehenden Kampf — sagen wir mal — ihre Sympathien zu gewinnen. Posen, Oberschlesien, Westpreußen — mit Danzig selbstredend! Die Weichsel, die in Polen entspringt, wo dürfte sie wohl anders münden als in ein polnisches Meer?“

„Ein bißchen reichlich! Aber was hat Ostpreußen mit diesem Plan zu tun?“

Der große Bruder lächelte nachsichtig.

„Liebes Kerlchen, Ostpreußen ist doch Enklave! Ein Einsprengsel in rein polnischem Land! Oder — damit sich auch hier die neue Lehre vom Selbstbestimmungsrecht der kleinen Nationen glänzend bewahrheitet — vor jenen Zeiten altpolnisches Land. Nur durch den Orden und nachher die Reformation von dem Herzen der polnischen Mutter abgesprengt. Aber, weil diese Behauptung auf recht schwächlichen historischen Beinchen steht, liegt den Herrschaften in Krakau, Paris und Rapperswyl daran, den Beweis zu erbringen, soundso viel masurischen Bodens ist heute in rein polnischer Hand! Nach unanfechtbarem, realem Besitztitel. Die übrigen Prozente aber, soweit es bäuerliche Ansiedler oder Landarbeiter sind, neigen auch zum überwiegenden Teil zu Polen. Daher die massenhaft anschwellende Invasion, die Verbreitung polnischer Zeitungen und der Versuch, unter den Masuren Ableger der Sokol- und Strazvereine zu gründen, mit den harmlosen Vorläufern rein wirtschaftlicher Genossenschaften. Und die Folge? Das liebe ostpreußische Ländchen schwimmt eines schlimmen Tags in der großpolnischen Welle mit wie ein Grafkampen, den ein Flutstoß von allmählich gelockertem Grund gerissen.“

„Erlaube mal“, erwiderte Viktor, „diese trübe Zukunftsmusik — das sind doch russische Erweiterungspläne! Wie sollen da die Polen ihre Rechnung finden?“

Der Geheime Rat zuckte die Achseln.

„Mein liebes Jungchen, ich war leider nicht dabei, als die französischen und englischen Minister im Verein mit dem Zaren die zukünftige Karte Europas entwarfen. Aber, ich schätze, nach der blutig unterdrückten Revolution von 1905 haben die Russen sich entschließen müssen, ihre Polen mit neuen Augen anzusehen. Und da haben sie in den sauren Apfel beißen müssen, ihnen eine recht weitgehende staatliche Selbständigkeit zu versprechen. Unter russischer Oberhoheit, in Form einer losen Personalunion. Nicht gerne natürlich. Aber bei dem Kriege gegen Deutschland und Österreich-Ungarn im Rücken und vor sich eine feindliche Bevölkerung zu haben, ist eine recht unbequeme Sache.“

Viktor fuhr, ehrlich empört, auf.

„Solche Vereinbarungen — bei unseren und den österreichischen Polen wäre das doch glatter Landesverrat?“

Der ältere Bruder lächelte nachsichtig.

„Ganz recht, aber was du Verrat nennst, nennt der Pole Treue! Treue zum angestammten alten Vaterland. Daß dieses Vaterland ein abgestorbenes und verrottetes Gebilde war; daß die damaligen Polen sich keinen anderen Rat wußten, als es — sozusagen — auf Abbruch zu verkaufen, ficht ihn nicht an. Er hält sich für stark genug, es zu neuem Leben zu wecken, und ist felsenfest entschlossen, alle auf diesem Wege liegenden Hindernisse mit List oder Gewalt zu nehmen.“

„Und der geschworene Untertaneneid?“

„Ja, mein lieber Viktor, stehst du noch auf dem Standpunkte, daß die politische Moral sich nach der bürgerlichen zu richten hätte? Das gab es früher einmal; freilich auch nur in den Vorträgen gewisser Staatsrechtslehrer. Vor Gericht ein Eid? Ich glaube, ein polnischer so gut wie ein deutscher. Obwohl ich von Posener Richtern mir habe sagen lassen, es käme doch sehr darauf an, ob der Pole gegen einen Volksgenossen zu schwören habe oder gegen einen Deutschen. Aber das, was du eben den Untertaneneid nanntest? Nimm dem gefangenen Wolf einen Schwur ab, er soll fein still in seinem Käfig bleiben! Wenn du ihm den Rücken zeigst, springt er dir in den Nacken!“

„Ich kann mir nicht helfen“, sagte Viktor, „ich habe die Empfindung, ihr seht alle durch eine zu schwarze Brille! Ihr schiebt den Polen Pläne unter, die sie selbst vielleicht gar nicht hegen! In Preußen geht's ihnen gut, in Österreich sind sie sozusagen Regierungspartei... Weshalb sollte es sie da gelüsten, selbst um den Preis der Wiedervereinigung unter russische Herrschaft zu geraten?“

„Weil sie der unumstößlichen Überzeugung sind, diese Herrschaft kann nicht lange dauern! Sie glauben weiter zu sehen als wir. Sie sehen in dem kommenden Weltkrieg den Zusammenbruch von Deutschland und Österreich-Ungarn, aber sie sehen auch einen auf unzuverlässige Bajonette gestützten Selbstherrscher aus steiler Höhe stürzen. Es gärt in Rußland, der Muschik ist aufgewacht. Nicht nur seit heute und gestern, und bei der Überspitzung des Nationalitätsgedankens, die wir seit einem halben Menschenalter erleben, zerfällt auch Rußland in seine so vielfältigen Bestandteile, wenn die harte Erobererfaust gelähmt ist, die sie bisher zusammengehalten hat. Dann aber ist der hundertjährige Traum Polens erfüllt, es ist endlich wieder frei...“

Den letzten Worten hatte Viktor nur noch mit halbem Ohre zugehört, die sehnlich Erwartete war endlich in den Saal getreten! In tiefausgeschnittenem lichtem Kleid ohne allen Schmuck, nur eine dunkelrote Rose im braunen Haar. Er hatte die Empfindung, sie hätte in einem härenen Sack kommen können, immer wäre sie unter allen die Schönste gewesen!... Und bei allem so sicheren Auftreten ein Hauch herber Jungfräulichkeit um die schlanke Gestalt...

Hinter ihr — mit einem halben Schritt Abstand — ein breitschultriger Mensch in tadellosem Frack, eine Tuberose im Knopfloch — der Diener! Nur die groben Hände schienen nicht zu dem eleganten Anzug, den er jetzt anhatte, zu passen... Viktor fühlte, wie die törichte Eifersucht ihn wieder packte, daß er sich nur mit Mühe beherrschen konnte. Weshalb kamen die beiden da nicht einzeln? Waren sie den ganzen Nachmittag beisammen gewesen? Die Gesellschaft an dem Tische war aufgestanden, es gab eine lebhafte Begrüßung. Helene setzte sich an das offenbar für sie freigehaltene Kopfende der Tafel zwischen einen alten Herrn mit dickem weißem Schnurrbart und den Priester, ihr Begleiter nahm neben der Gelbgesichtigen im Reformkleid Platz.

Auch dem Geheimrat war die hübsche Erscheinung ausgefallen.

„Hm“, sagte er, „ein rassiges Gesicht. Aber — nimm's nicht übel — erst hast du das Paar angestarrt, als wenn du es fressen wolltest, und jetzt schwärmst du die junge Dame an, als wär's ein geradeswegs vom Himmel gefallener Engel?“

Viktor bekam vor Verlegenheit einen roten Kopf.

„Ich? Das ist dir wohl nur so vorgekommen...“

„Ah nein, ich hab's genau gesehen!“ Und halb im Scherz, halb im Ernst fügte er hinzu: „Vergaff' dich nicht, mein Junge! Es liegt mir doch sehr viel daran, daß du in das Hakenbergsche Haus ohne alle Voreingenommenheit kommst. Oder noch deutlicher gesagt: mit ganz freiem Herzen.“

',Aber ich gebe dir die Versicherung, du schiebst mir da etwas unter, woran ich selbst nicht einmal im Traum...“

„Na, dann ist's ja gut! Außerdem aber: die junge Dame da — nach der Gesellschaft zu schließen, in der sie verkehrt — ist Polin.“

Drüben an dem Tische hatte der geistliche Herr ein paar kurze Worte gesprochen. Alles sprang von den Sitzen, ließ begeistert die Gläser aneinanderklingen. Die anscheinend vorher verständigte Musik fiel mit einem Tusch ein, spielte im Anschluß daran ein Potpourri polnischer Lieder. Einer der jüngeren Herren am Tische summte halblaut mit: „In Warschau schwuren tausend auf den Knien, wir greifen nur mit Bajonetten an.“

Der Geheime Rat hob unwillig den Kopf.

„Jetzt fehlt wahrhaftig bloß noch: Jesce Polska nie zgineła! Und alles nur unsere unglaubliche Gutmütigkeit. In Petersburg würden die Herrschaften sich nicht so herausfordernd benehmen!“

„Verzeih'“ sagte Viktor. „Es hängt gar nicht mit dem hier eben zusammen; es drückt mich auch schon lange, nur du darfst mir's um Himmels willen nicht übelnehmen...“

„Na, schon 'raus damit!“

„Also, wir heißen doch selbst Dolinga-Dolinowski, stammen aus altem polnischem Geschlecht...“

Dem Geheimen Rat schwoll eine kleine blaue Ader auf der weißen Stirn.

„Und das soll bedeuten?“

„Nun, daß wir uns vielleicht in unserem Beruf nach anderer Richtung betätigen müßten! In irgendeinem Ressort, das uns nicht in einen so ausgesprochenen Gegensatz zu unseren alten Volksgenossen bringt.“

Der ältere Bruder legte dem jüngeren die Hand schwer auf den Arm.

„Das sind überflüssige Skrupel, mein Junge! Wir waren mal Polen! Aber auch das ist nicht sicher. Die drei ersten unseres Geschlechts, die in den Urkunden des Ordens zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts genannt werden, tragen die echt altpreußischen Vornamen Joduthe, Wiltote und Maneke. Die Wahrscheinlichkeit spricht also dafür, die Dolis waren von Anbeginn an Preußen. In jedem Falle haben mehr als zehn Generationen den preußischen Herrschern Treue geschworen, deutsche Mütter haben in unserem Haus gewaltet, wir sind deutsch! Und das bleiben wir, solange ich als Haupt der Familie noch etwas zu sagen habe! Aber wenn ich hätte ahnen können, daß du in dein neues Amt eine solche Laschheit der Gesinnung mitbringst...“

„Nein, ich habe, wie auch sonst in allem, nur das Bestreben, zu einem unparteiischen eigenen Urteil zu gelangen!“

„Na, das richtige Urteil wird dir kommen, wenn du in Heinrichsburg aus nächster Nähe die drohende Gefahr siehst! Und mal an unserem alten Stammsitz Friedrichstein vorüberfährst. Mit der Schamröte im Gesicht, daß auf diesem Stück deutscher Erde ein Pole sitzt. Weil der, der es hätte bewahren müssen, seinen Leib, seine Ehre und sein Deutschtum für ein Nichts verkauft hatte, für das Lächeln einer polnischen Frau!... Deshalb habe ich dich dorthin geschickt, damit einer von uns die Schande wieder wettmacht, so gut es geht! Und nimm eins mit von deinem Bruder in deinen neuen Wirkungskreis: Mögen die Aussichten in die Zukunft noch so trübe sein, wir dürfen nicht erlahmen! Jeder hat mit Einsatz seiner ganzen Kraft zu kämpfen an seinem Platze. Der eine in größeren Aufgaben, der andere in kleinen. Jeder Zoll deutschen Bodens muß verteidigt werden, damit er nicht in polnische Hand fällt, denn mit dem Boden geht's um die deutsche Kultur! Alles, was unseren Vätern köstlicher Besitz war, steht in höchster Gefahr. Und verflucht die gleichgültigen und lauen Burschen, die da sagen: 'Ob meine Kinder nun Deutsch oder Polnisch sprechen, wenn sie nur ihr Brot verdienen!' Aber ich rege mich unnütz auf. Diese Anwandlungen von Unparteilichkeit werden dir da draußen im Kampf schon vergehen.“

Er mußte abbrechen. Ein Herr war an den Tisch getreten mit der höflichen Bitte, ob er für ein Viertelstündchen Platz nehmen dürfe. Ein schlanker Mann in mittleren Jahren, im Knopfloch des gutsitzenden Frackes eine kleine orange-weiße Rosette, im blondbärtigen Gesicht ein paar kluge blaue Augen.

Der Geheime Rat schien nicht gerade erfreut, aber er konnte die Bitte nicht abschlagen. Und er stellte vor: „Herr Kommissar von Pleßkow von der politischen Polizei — mein jüngerer Bruder Viktor.“

Herr von Pleßkow setzte sich, bestellte bei dem Kellner eine halbe Flasche Mosel. Er entschuldigte sich noch einmal wegen seiner Aufdringlichkeit, aber er hätte in dem überfüllten Saale beim besten Willen keinen anderen Platz finden können. Und es läge ihm sehr daran, festzustellen, mit welchen Herrschaften eine ganz bestimmte, ihn sehr interessierende Persönlichkeit sich hier ein Stelldichein gegeben habe.

Ulrich sah unwillkürlich zu dem anderen Tische hinüber.

„Vielleicht mein alter Busenfeind Propst Pastrczyniak?“

„Nein, Herr Geheimrat. Aber ich weiß nicht, ob ich...?“

„Vor meinem Bruder können Sie ruhig sprechen. Er ist im Begriff, sein neues Amt als kommissarischer Landrat im Kreise Heinrichsburg anzutreten.“

Herr von Pleßkow verneigte sich leicht.

„Gratuliere! Alles andere, nur kein Ruhepöstchen. Also dann — aber bitte, Herr Geheimrat, sehen Sie erst eine Weile später hinüber — der große, breitschultrige Kerl mit der Tuberose im Knopfloch, das ist der berüchtigte polnische Revolutionär Josef Pytlasinski!“

„Der Tausend! Aber ich denke, der sitzt fest in irgendeiner Strafanstalt in Sibirien? Wenigstens entsinne ich mich, vor einem halben Jahr ungefähr in einem Geheimbericht so etwas Ähnliches gelesen zu haben?“

„Ganz recht, die russische Polizei hatte ihn endlich gefaßt. Er war allmählich zu dreist geworden, hatte in einer Verkleidung von Lemberg aus seine Gesinnungsgenossen in Warschau besucht. Die Freude meiner russischen Herren Kollegen hat aber nicht lange gedauert. Vor drei Monaten ist er in Sibirien entwischt, heute nach wahrscheinlich sehr abenteuerlicher Flucht hier in Berlin aufgetaucht. Einer meiner Agenten hat ihn zufällig auf der Straße erkannt und sich unauffällig an seine Fersen geheftet. Ich freue mich, daß der tüchtige Mann recht gehabt hat. Daß Herr Pytlasinski ausgerückt sei, war uns von Petersburg aus natürlich schon längst mitgeteilt worden.“

„Und Sie beabsichtigen, ihn zu verhaften?“ fragte Viktor.

Der Polizeikommissar lachte.

„Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, wie gerne! Der Kerl ist für uns zum mindesten ebenso gefährlich wie für Rußland. Aber es geht leider nicht, österreichischer Untertan und politischer Verbrecher — selbst die Russen hätten kein Recht, seine Auslieferung zu verlangen!“

„Aber sie hatten ihn doch nach Sibirien deportiert?“

„Sogar lebenslänglich. Weil sie das Glück gehabt hatten, ihn auf russischem Boden zu erwischen! Da kehren sie sich den Teufel an internationale Abmachungen: 'rin ins Palochum! Aber ich? Der gewaltige Herr Propst da drüben — sehen Sie ihn sich mal an mit dem feisten Gesicht, dem Stiernacken und den groben Bauernhänden — also der Herr würde an den zuständigen Stellen ein so gewaltiges Geschrei erheben, daß ich als gänzlich unfähiger, unheilbar idiotischer kleiner Beamter sofort in den wohlverdienten Ruhestand fliegen würde! Mit siebzehneinhalb Silbergroschen täglicher Pension.“

Das Gespräch fing an, Viktor brennend zu interessieren. Aber es erschien ihm geraten, was er zu erfahren wünschte, nicht so geradeswegs anzugehen.

„Entschuldigen Sie, Herr von Pleßkow, ich habe mich mit diesen politischen Spezialfragen bisher natürlich nur wenig beschäftigen können: Weshalb also ist dieser Herr Propst ein so einflußreicher Mann?“

Die beiden Herren lächelten unwillkürlich. Ulrich übernahm die Antwort.

„Man sollte es mit gefunden Sinnen nicht für möglich halten, aber der dicke Herr ist so einflußreich, weil er's verstanden hat, aus dem — sagen wir mal — bisher politisch indifferenten Oberschlesien ein rein polnisches Land zu machen! In erstaunlich kurzer Zeit... die reine Hexerei! Wir rackern uns im Posenschen in umgekehrter Richtung schon hundert Jahre ab — mit negativem Erfolg! Der Herr Propst hat nur ein halbes Dutzend Zeitungen geschaffen, in denen er alles, was deutsch ist, täglich in der gehässigsten Weise bespeit, ferner ein halbes hundert Vereine, in denen die gleiche Tätigkeit erfolgreich geübt wird, und nebenbei ist er preußischer Landtagsabgeordneter. Ich lege mit Absicht den Nachdruck auf das Wörtchen 'preußisch', weil eins solche schätzenswerte Persönlichkeit und noch viele andere ejusdem farinae eben nur in dem bis zur Selbstvernichtung gerechten Preußen möglich sind!“

„Sehr richtig, Herr Geheimrat! Und wie sagt der immer noch mit Recht so beliebte Dichter Goethe? 'Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage'... na prosit, in dem Sinne, aufs ganz besondere Wohlsein!“

Ulrich leerte ingrimmig sein Glas.

„Ja: 'Weh dir, daß du ein Enkel bist!' Was die Herren Vorfahren verbaselt haben, ist nur schwer wieder zurechtzuschieben! Dazu sind wir zu liberal und zu sentimental, zu sehr an gutgemeinte alte Gesetze gebunden, die weniger uns als unseren ausgesprochenen Feinden zugute kommen. Neue werden glatt abgelehnt, als wäre die Staatsleitung eine Gesellschaft kleiner Jungen, der man um Himmels willen die Streichholzschachtel nicht in die Hand geben darf! Sie hätten natürlich nichts Eiligeres zu tun, als das ganze Haus anzustecken, und die früher mal ein bißchen unbequemen, aber jetzt schon recht braven Mietsparteien müßten mitverbrennen! Wenn ich mal humoristisch aufgelegt bin — was freilich nicht oft vorkommt —, muß ich lachen. Unsere leitenden Herrschaften, Regierung sowohl wie Volksvertretung, sehen das Geschwür am Leibe des Vaterlandes, aber um Himmels willen, nur nicht auskratzen! Da könnten einige durch Alter — beileibe nicht durch Vernunft — geheiligte Paragraphen mit kaputtgehen! Und das 'Prinzip', der dreimal heilige Gral aller Parlamentarier, könnte darunter leiden. Also entschließt man sich zu einer milden Kompromißkur... hier ein Pflästerchen und da ein Pflästerchen, bis der ganze Organismus glücklich so durchseucht ist, daß Rettung unmöglich ist.“

„Großartig, Herr Geheimrat!“ pflichtete ihm Herr von Pleßkow bei. „Und ich wundere mich bloß, daß unsere leitenden Herrschaften nicht sehen oder sehen wollen, daß alle polnischen Vereinsgründungen einen mittelbar oder unmittelbar revolutionären Zweck verfolgen. Allein die Tatsache, daß der Strazverein im Jahre 1905 geschaffen wurde, spricht doch Bände!“

„Entschuldigen Sie, weshalb?“ fragte Viktor.

„Weil genau in dem gleichen Jahre drüben in Russisch-Polen die revolutionäre Erhebung einsetzte! Nach dem unglücklichen Japanischen Krieg. Er war nicht nur für Rußland ein Unglück. Er unterbrach in der Polenpolitik drüben eine Entwicklung, die in einem Menschenalter die sogenannte polnische Frage für Rußland für alle Zeiten erledigt hätte. Und damit natürlich auch für uns. So aber sind die Hoffnungen auch unserer Polen bei der sanguinischen Art dieser Herrschaften ins Ungemessene gestiegen.“

Das Gespräch nahm eine Wendung, von der Viktor fürchtete, sie könne von seinem eigentlichen Ziele abbiegen. Er fragte kurz: „Verzeihung, Herr von Pleßkow, die junge Dame da an der Spitze der Tafel — im ausgeschnittenen Kleid und der Rose im Haar — ist die auch politisch verdächtig?“

Der Kommissar blickte mit monokelbewehrtem Auge unauffällig hinüber.

„Ein verteufelt hübsches Persönchen! Donnerwetter! Aber bedaure, keine Auskunft geben zu können. Kommt zum erstenmal in meinen amtlichen Gesichtskreis.“

„Nun denn, ich kann Sie bis zu einem gewissen Grade aufklären! Diese junge Dame ist mit mir vorgestern — Pardon! ich wollte natürlich sagen, gestern — in dem von Paris kommenden Zuge gefahren. Mit ihr Herr Pytlasinski!“

„Der Tausend! Wirklich von Paris?“

„Es gibt gar keinen Zweifel. Sie machte ihm Vorwürfe, er habe es versäumt, dort beim Bureau des wagon-lits rechtzeitig Schlafwagenplätze zu bestellen. Er reiste in Dienerlivree, aber ich habe ihn ganz genau wiedererkannt. Deshalb, lieber Ulrich, hab' ich das Pärchen vorhin so erstaunt angesehen! Aber — wenn ich fragen darf, Herr von Pleßkow — weshalb halten Sie meine Mitteilung für unglaubwürdig?“

„Ich bitte sehr um Entschuldigung, falls es auch nur einen Augenblick so ausgesehen haben sollte! Ich wunderte mich bloß, daß der Kerl es riskiert haben sollte, gerade über Paris zu kommen! Das ist für Herren seines Schlages ein verdammt gefährliches Pflaster. Sein Signalement ist natürlich schon längst dort gewesen, beim russischen Geheimdienst wahrscheinlich auch einige Leute, die ihn recht gut von Ansehen kennen. Und die französischen Behörden versäumen keine Gelegenheit, ihren heißgeliebten Bundesgenossen gefällig zu sein. In der Verfassung dieser Republik stehen die herrlichsten Paragraphen. Unbedingte Freiheit des politischen Glaubensbekenntnisses, vive la liberté, Tusch, Tsching bum trarara! In Wirklichkeit herrscht dort mein russischer Oberkollege, der Petersburger Polizeimeister, fast so unumschränkt wie bei sich zu Hause. Aber da an Ihren Beobachtungen nicht zu zweifeln ist, schätze ich, Herr Pytlasinski hatte mit dem Comité national in Paris so dringende Besprechungen zu führen, daß er selbst die Gefahr einer neuen Verschickung nach Sibirien als kleineres Übel ansah. Für jeden aber, der sehen will, ein neuer Beweis, daß die Herren Polen mehr wissen als wir! Daß sie einen europäischen Zusammenbrach ahnen, fühlen oder voraussehen, bei dem sie ihre Pläne endlich zu verwirklichen hoffen.“

„Und die junge Dame, mit der er fuhr — entschuldigen Sie die in Ihren Augen vielleicht recht törichte Frage —, ist das seine Braut, seine Frau oder seine Geliebte?“

Herr von Pleßkow tat einen nachdenklichen Zug aus seiner Zigarette.

„Ich glaube, keins von dreien. Sonst wäre sie der Petersburger und natürlich auch der Pariser Polizei zum mindesten im Bilde bekannt gewesen!“

„Aus welchem Grunde aber mag sie sich denn in die doch sicherlich nicht unbeträchtliche Gefahr begeben haben, diesen Menschen aus Paris zu schmuggeln?“

Herr von Pleßkow zuckte die Achseln.

„Schwer zu sagen! Vielleicht schlägt's in ein Gebiet, mit dem ich mich schon lange beschäftige... auch schriftstellerisch. Also da habe ich aus meiner ziemlich umfangreichen Praxis versucht, verschiedene Typen der revolutionären Frau darzustellen. Ich bin der Ansicht, diese Frauen sind alle bis zu einem gewissen Grade hysterisch. Die Selbstaufopferung für das glühend verfolgte Ziel erregt in ihnen keine Angst, sondern die auserlesensten Lustgefühle. Eine Mischung von intellektuellen, mystischen und sexuellen Sensationen, die für diese Damen anscheinend das Sublimste ist!“

„Entschuldigen Sie, Herr von Pleßkow, das ist mir ein bißchen zu hoch.“

„Na, da drüben am Tische sitzt ein lebendes Beispiel. Die berühmte Bronislava Fußgänger, eine getaufte polnische Jüdin.“

„Die in dem Reformkleid?“

„Ganz recht! Zehntausend Rubel würde die Petersburger Polizei mit Wonne zahlen, wenn sie ihrer noch einmal habhaft werden könnte. So ziemlich die gefährlichste Anarchistin, die es gegeben hat in russischen Landen, aber von uns aus ist ihr nichts Positives, das ihre Auslieferung rechtfertigen könnte, nachzuweisen. Bei dem Attentat von Borki soll sie beteiligt gewesen sein, als die Hintere Hälfte vom Hofzug des jetzigen Zaren in die Luft flog — er saß zu seinem Glück im vorderen Ende, aber seine arme Frau wurde danach tiefsinnig — den Minister Plehwe soll sie auf dem Gewissen haben und noch einiges andere... Sie war als 'Lebenslängliche' nach Sibirien deportiert, aber es gelang ihr zu entfliehen... na also, ich hatte sie mal dienstlich zu vernehmen. Wir wurden ganz kordial und gemütlich. Ich fragte: 'Meine Gnädigste, das muß doch entsetzlich sein mit Ketten am Leib nach Sibirien? Unterwegs all der Schmutz und das Ungeziefer?'... 'Bloß das?' sagte sie und fing an ihre Bluse auszuziehen. Ich wollte entsetzt protestieren, aber sie hatte sie schon 'runter: 'Da, bitte, sehen Sie hierher!' Und ich kriegte geradezu einen Schauder: Hals, Brust, Rücken — alles eine einzige Narbe von Peitschenhieben. 'Um Gottes willen, wie haben Sie das bloß ausgehalten?' sagte ich. 'Ausgehalten? Gejauchzt hab' ich unter jedem Hieb und immer geschrien: Mein polnischer Heiland küßt mich, o Wonne, himmlische Wonne!'...“

„Verrückt!“

„Nicht wahr? Für normale Menschen unbegreiflich. Aber wenn Sie's interessiert: Morgen muß ich sowieso Herrn Pytlasinski antreten lassen, um ihm freundschaftlich zu winken, er möge sich mit größter Beschleunigung zu seinen galizischen Penaten verfügen. Da kann ich der schönen Unbekannten ja auch ein bißchen auf den Zahn fühlen. Verlassen Sie sich drauf, in einer halben Stunde hab' ich 'raus, wer sie ist, und in welchem Verhältnis sie zu Herrn Pytlasinski steht!“

Viktor wehrte ab.

„Um Gottes willen, ich nehme an den beiden nur ein ganz oberflächliches Interesse! Und wo es sich allem Anschein nach um eine Dame der guten Gesellschaft handelt, wäre es mir doch sehr peinlich... Aber die Herren entschuldigen mich, bitte, einen Augenblick.“

Der Portier war in den Eingang des Saales getreten, hatte sich suchend nach ihm umgesehen. Da folgte er ihm in den Vorraum.

„Na, was gibt's?“

„Eine Mitteilung, die Herrn Baron sicherlich sehr interessieren wird...“

„Ich verstehe. Wieviel?“

„Aber ich bitte Herrn Baron, es macht mir ja Vergnügen, ist vielmehr eine hohe Ehre, Herrn Baron gefällig sein zu dürfen.“ Und er hielt diskret die Hand hin. Als er darin mit untrüglichem Gefühl ein Zwanzigmarkstück spürte, dämpfte er seine Stimme zu geheimnisvollem Flüstern.

„Also zunächst: Fräulein Ostermann heißt nicht Ostermann...“

„Sondern?“

„Komteß Helena Zembricka!“

„Donnerwetter! Wie haben Sie das 'rausgekriegt?“

„Verzeihen, Herr Baron, Geschäftsgeheimnis! Aber was Herrn Baron vielleicht noch mehr interessieren wird: Komteß fahren morgen acht Uhr zwanzig ab Bahnhof Friedrichstraße. Billett erster Klasse bis Allenstein!“

„Hm, in der Tat... bin Ihnen sehr verbunden. Also sorgen Sie dafür, daß ich morgen Punkt halb Acht Frühstück auf meinem Zimmer habe und die Rechnung.“

„Befehl, Herr Baron.“

Viktor ging recht nachdenklich in den großen Speisesaal zurück. Alles, was vernünftige Überlegung hieß, warnte ihn, sich weiter auf das Abenteuer einzulassen. Wenn er ganz streng mit sich ins Gericht ging, war es schon jetzt ein Verstoß gegen das dem Bruder gegebene Wort. Die junge Dame war Polin, über ihre deutschfeindliche Gesinnung gab es wohl kaum einen Zweifel. Aber in ihm brannte etwas von der verzehrenden Unrast, die ihn früher überfallen hatte, sobald in einer Gesellschaft der Spieltisch ausgestellt wurde. Viele böse Stunden, schwere Selbstvorwürfe und Reue hätte er sich sparen können, wäre er gegen die lockende Stimme immer so fest geblieben, wie er's von nun sein mußte... Aber das hier war doch etwas anderes... Von seiner akuten Verliebtheit glaubte er geheilt zu sein. Verächtlich hätte er sich ja vorkommen müssen, wenn er sein Herz noch länger einer anbot, die es verschmähte, weil sie unlöslich einem anderen gehörte. Einem dunklen politischen Abenteurer, der auf solche hysterischen kleinen Frauenzimmer natürlich einen stärkeren Reiz ausübte als ein korrekter preußischer Beamter... Wenn er sich ganz nüchtern prüfte, lag es ihm nur noch daran, diese Abart im revolutionären Dienst tätiger Frauen, mit denen er von jetzt an wohl öfter zu tun hatte, in einem besonders ausgeprägten Exemplar kennenzulernen... Den Namen Zembricki glaubte er schon einmal gehört zu haben, nur er entsann sich nicht mehr, wann und wo... Aber wenn er wirklich morgen früh schon reisen wollte, wie brachte er das dem guten Ulrich bei? Der hatte doch sicherlich darauf gerechnet, ihn noch ein paar Tage hier zu haben. Und er beschloß, sich jeder eigenen Entscheidung zu enthalten. Verfügte der Bruder, er habe noch zu bleiben, blieb er. Wenn nicht, fuhr er morgen früh ab. Zugleich mit dieser Komtesse Jelena Zembricka...

Als er an den Tisch zurückkehrte, erzählte Herr von Pleßkow noch immer von seinen vielfältigen Erfahrungen im Dienste der politischen Polizei. Und besonders viel sprach er von dem verwegenen Menschen da drüben, der eben sein Glas hob, seiner schönen Beschützerin und Reisegefährtin zutrank. Ein ganzer Sagenkreis habe sich um sein kurzgeschorenes Haupt gewoben… kurzgeschoren, weil die in der Strafanstalt glattrasierte eine Hälfte wahrscheinlich noch nicht recht nachgewachsen sei... Ein Mann von ganz erstaunlicher Willenskraft, der selbst nicht in verzweifelter Lage den Mut verlor. Ein halb dutzendmal von den Russen gefangen, immer wieder entflohen, unter den schwierigsten Umständen... ein fabelhafter Organisator, dessen unermüdlicher Tätigkeit es in erster Linie zuzuschreiben sei, wenn die von ihm ins Leben gerufenen unterirdischen Vereinigungen eine Macht darstellten, mit der man auch anderswo als nur in Russisch-Polen zu rechnen habe. Und nicht zuletzt ein „ladykiller“ in des Wortes verwegenster Bedeutung. Erstaunlich die Erfolge, die er selbst bei den Damen der besten polnischen Gesellschaft zu verzeichnen habe. Als er im Boudoir einer polnischen Fürstin in Warschau verhaftet worden sei, soll er gesagt haben, wenn er wolle, könne er jede Nacht einen anderen Starosten betrügen. Dabei ein Subjekt von höchst zweifelhafter Herkunft und Vergangenheit. Sohn eines Stadtpolizisten in dem kleinen litauisch-polnischen Neste Mariampol. Durchgebrannter Klosterschüler, später Kellner, Kommis, Zirkusathlet, Schauspieler, zuletzt Redakteur an einem Lemberger Sozialistenblättchen. Vom Jahre 1905 an plötzlich die leidenschaftlich geliebte Hoffnung all der Polen, die das Heil von einem gewaltsamen Umsturz erwarteten. Auch der in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund gedrängten Hocharistokraten. Vielleicht daß sie hofften, auf seinen breiten Schultern ihr schmächtiges Kandidätlein in den polnischen Königsthron voltigieren zu lassen...

Die Herrschaften drüben am Tische brachen auf, auch Herr von Pleßkow empfahl sich. Sein Zweck sei erreicht, er wolle nicht länger stören. Die beiden Brüder blieben allein. Der Geheimrat hob die leere Sektflasche aus dem Kübel.

„Na, noch eine, Viktor?“

„Wenn ich ehrlich sein soll, lieber nicht! Ich habe die letzten Nächte verdammt wenig geschlafen, und morgen ist ja auch noch ein Tag.“

„Gedenkst du morgen noch hierzubleiben?“

„Wenn du befiehlst, selbstverständlich!“ Viktor fühlte sein Herz bis in den Hals schlagen. Die Antwort brachte in gewissem Sinne die Entscheidung.

„Hm“, sagte der Geheimrat, „aber du nimmst mir's nicht übel?“

„Bewahre, nicht im geringsten.“

„Nun denn, ich könnte mich dir doch nicht so widmen, wie ich gern möchte. Ich bin schon seit einigen Tagen nicht recht auf Deck, fast, als wenn es 'was Ernstliches werden sollte, sitze dabei bis über beide Ohren in Arbeit! Wie ich leider fürchte, in nutzloser Arbeit, aber das kommt bei uns ja öfter vor. Ich schick' dir, wenn sie fertig ist, einen Abzug — sie wird dir für deine amtliche Tätigkeit von Nutzen sein. Außerdem habe ich dir einiges zusammengepackt über die Polenfrage — gute Reiselektüre! Unnötig zu sagen, daß das meiste davon sekreter Natur ist. Na, und da wir uns über die Hauptsachen ja ausgesprochen haben — aber schilt mich um Himmels willen nicht lieblos — um acht Uhr zwanzig geht ein brillanter Zug! Du kannst um zehn Uhr des Abends schon in Heinrichsburg sein; Wohnung Hotel de Russie, falls das alte Möbel noch existiert.“

Viktor atmete auf und kam sich recht falsch vor.

„Ich wäre natürlich gern noch einen Tag bei dir geblieben, aber schließlich drängt es mich doch auch, so rasch wie möglich an den Schauplatz meiner zukünftigen Missetaten zu kommen.“

„Brav, mein Jungchen, brav...“

 

***

 

Unter dem glasüberdeckten Portal des Hotels nahmen sie Abschied. Der Geheime Rat schloß den jüngeren Bruder mit mühsam unterdrückter Rührung in die Arme.

„Na denn, mit Gott, mein lieber, lieber Junge! Alles Gute für deine Arbeit... Ich weiß, ich werd' mit dir Ehre einlegen. Grüß' mir Hakenbergs — insbesondere Fräulein Else — und wenn du irgendwie in Zweifeln sein solltest, schreib' mir! Zuschuß wie bisher, nur natürlich ohne Extravaganzen...“

Viktor fühlte es heiß in der Kehle aufsteigen.

„Kein Wort mehr! Und, Uli, lieber, guter alter Uli, wie soll ich dir das alles mal vergelten?“

„Darüber haben wir uns ja schon ausgesprochen, Vikki: Pflicht und Arbeit! Aber, um Himmels willen, bloß keinen gerührten Abschied! Nach meiner Karlsbader Kur laß' ich mich vielleicht von Heino Hakenberg auf einen Bock einladen... Also auf Wiedersehen in längstens einem Vierteljahr.“

„Auf Wiedersehen.“

Viktor sah der hohen Gestalt des Bruders nach, bis sie hinter der Biegung des eisernen Straßengitters verschwand. Er kehrte langsam ins Hotel zurück, tausend gute Vorsätze im Herzen. Ein Hundsfott wäre er ja gewesen, wenn er dieses brunnentiefe Vertrauen enttäuscht hätte! Aber jetzt schon schlafen gehen? Unmöglich! Dazu jagte ihm das Blut zu heiß durch die Adern. Irgendwohin unter lärmende Menschen... Musik... einen festen Schlaftrunk noch, damit er das verdammte Grübeln loswurde.

Er war wohl eine Stunde lang durch die trotz später Nachtzeit noch immer von Menschen wimmelnden Straßen gewandert — ein toller Betrieb herrschte in diesem großen Ungetüm Berlin! In einer Seitenstraße der Friedrichstraße hörte er hinter verhängten Fenstern Musik. Da trat er ein.

Dicker Qualm, Lärm, Herren im Frack, geputzte Mädel, ein Schrammelnorchester: zwei Geigen, eine Ziehharmonika, Zimbal, Gitarre. Und da — er glaubte zuerst, er sähe nicht recht — an einem Tisch zwischen einem halben Dutzend geschminkter Weiber Herr Pytlasinski! Massenbetrieb! Eine Batterie Sektflaschen auf dem Tisch, der Primgeiger spielte ihm aus der polnischen Oper „Halka“ das schwermütige Liebeslied ins Ohr. Wie jenen Kavalieren aus der Wiener Vorstadt, wenn sie in der Stimmung waren: „Verkauft's mei G'wand, i fahr' in Himmel.“ Und er grölte, anscheinend schon leicht angetrunken, mit.

Da setzte sich Viktor lächelnd in eine Ecke, bestellte sich zum Schlaftrunk eine halbe Sekt mit Porter. Komisch schient ihm, daß er auf so etwas eifersüchtig gewesen war. Der „sagenumwobene polnische Revolutionär“ büßte ein gut Teil von seinem gefährlichen Nimbus ein. Wenn er andere Gunst genossen hätte, brauchte er doch keine käufliche zu suchen! — — —

 

5.

 

Der Zug fuhr schon weit hinter Frankfurt an der Oder, als Viktor von Dolinga sich endlich damit abfand, daß er ohne die erhoffte Begleitung reisen mußte. Die Komteß Zembricka war ausgeblieben! Vom Schlesischen Bahnhof an hatte er den Seitengang wohl drei- oder viermal durchschritten — immer in der Hoffnung, sie doch noch in einem der Abteile erster Klasse zu entdecken. Gleichgültige Gesichter sah er genug, sie war nicht darunter. Und er zerbrach sich den Kopf, was sie zurückgehalten haben mochte. Hatte sie den Zug versäumt oder ihren Entschluß zur Abreise vielleicht im letzten Augenblick geändert?

Bis ihm plötzlich die beschämende Erkenntnis kam, er sei nach allen Regeln der Kunst „versetzt“ worden, auf einen falschen Strang geschoben! Unter freundlicher Mitwirkung des Herrn Portiers. Dafür hatte er dem Kerl noch zwanzig Mark gegeben! Wenn's nicht so dumm und ärgerlich gewesen wäre, hätte man herzhaft darüber lachen können. So wie die Komteß jetzt wahrscheinlich lachte, daß ihr lästiger Verehrer allein auf der Eisenbahn saß... Das war so deutlich, daß man sich wohl oder übel damit abfinden mußte. Eine kleine Episode, bei der man keine gerade glänzende Rolle gespielt hatte... Und er begann unwillkürlich zu grübeln, woran es wohl gelegen haben mochte, daß er sich so Hals über Kopf verliebt hatte. Hundert junge Damen vielleicht, die selbst nach kritischen Begriffen zum mindesten ebenso schön waren wie diese Polin, hatte er schon mit kühlem Auge gemustert. Weshalb hatte sich bei denen nichts in seinem Blute geregt? War es immer das Gefühl gewesen: Du, der schöne, angehimmelte Viktor von Dolinga, brauchst nur ernstlich zu wollen, und die junge Dame haucht beglückt: „Sprechen Sie, bitte, mit meiner Mama!“ War es bei dem Zusammentreffen mit der Komteß Jelena nur der Ärger gewesen, daß sie dem Verwöhnten so gar keine Beachtung geschenkt hatte? Oder gab es wirklich jenes geheimnisvolle „Od“, von dem er einmal gelesen hatte, daß es vom Menschen zum Menschen flog, den einen unwiderstehlich in den Bann des anderen zwang? Oder floß in seinen Adern, als Erbteil von der polnischen Mutter her, ein Blut, das nur auf verwandte Reize ansprang?... Nutzlos war es, darüber zu grübeln. Die Episode war abgeschlossen! Und — so sehr er sich dagegen zu wehren versuchte, er wurde der Stimmung nicht Herr — eine tiefe Traurigkeit senkte sich ihm ins Herz. Trostlos schien es ihm, nie mehr wiedersehen zu dürfen, was ihm für ein paar — ach nur zu kurze — Stunden Augenweide gewesen war! Den schön geschwungenen Mund, das pikante, etwas eigenwillige Näschen und den kleinen dunklen Fleck links am Kinn, bei dem man immer das vermessene Begehren hatte, ihn zu küssen... Aus und vorbei für alle Zeiten! Nur, weshalb führte ihm das Schicksal ein solches Menschenkind in den Weg? Bloß, um ihn nach kurzem Traum grausam zu äffen?

Das Wetter war umgeschlagen, der schöne Frühlingstag hatte sich in Sturm und Regen gewandelt, vermischt mit Hagelschauern. Zuweilen prasselte es auf dem Wagendache, als wenn aus einer Tenne Erbsen ausgeschüttet wurden.

Der Zug fuhr durch flaches Land. Ab und zu sah man durch die angelaufenen Fensterscheiben hinter kahlen Bäumen ein paar rote Ziegeldächer, oder ein Häuflein strohgedeckter Katen drängte sich zusammen wie eine Kette verregneter Rebhühner... Hier und da einmal im flachen Lande weit am Horizont ein schlanker Kirchturm... Und dann meilenweit Wald, so daß es im Wagen ganz finster wurde. Graurote, zum Himmel ragende Kiefern mit grünem Tannenunterholz, hier und da der weiße Stamm einer Birke, die ersten grünen Spritzerchen an den hängenden Zweigen... Es ging nach dem Osten! Man merkte es auch an den Menschen, die in dem Zuge fuhren.

Die Mehrzahl sprach einen harten Dialekt mit seltsam breiten Umlauten... An den Bewegungen eine gewisse verhaltene Bedächtigkeit. Kein lustiges Schwatzen und Krakeelen wie im geliebten Rheinland... In einem Wagen dritter Klasse wohl an fünfzig polnische Juden, Männer, Weiber, Kinder mit unsäglichen Mengen ärmlichen Gepäcks. Wie ihm der Schaffner auf Befragen erklärte, Auswanderer, denen in Amerika nach den neuerdings erlassenen strengen Bestimmungen die Erlaubnis zum Landen versagt worden war. Jetzt kehrten sie als Bettler in die Heimat zurück, das letzte bißchen Habe war für die nutzlose Reise draufgegangen. Irgendeine wohltätige Vereinigung in Amerika sorgte dafür, daß dieses Häuflein Menschenkehricht wieder in die Gegend zurückgefegt wurde, aus der es gekommen war. Obwohl es eigentlich gleichgültig war, wo es verhungerte, in der Heimat oder in der Fremde... Und eine Ahnung dämmerte ihm, daß hier im Osten Probleme zu lösen waren, von denen man im Westen Deutschlands nichts wußte.

Er öffnete das sorgfältig verschnürte Paket, das Ulrich ihm als „Reiselektüre“ mitgegeben hatte. Broschüren, Werbeschriften des „Ostmarkenvereins“, amtliche Veröffentlichungen, eine kleine polnische Grammatik. Er schlug eins der mit rotem Umschlag versehenen Hefte auf, das den mit violettem Stempel gedruckten Vermerk „Vertraulich“ auf dem Deckel trug. Eine amtlich-nüchterne Zusammenstellung der Erfolge, die die Polen trotz aller Gegenwehr in den letzten zwei Jahrzehnten in den Provinzen Posen, Westpreußen, Oberschlesien und Ostpreußen errungen hatten. Mit unanfechtbaren Zahlen war da belegt, daß das Polentum überall in unaufhaltsamem Fortschreiten war. Aber nicht nur dort, sondern auch in Landesteilen, die man gewöhnt war, als rein deutsch anzusehen; im Industriegebiet von Rheinland und Westfalen zählten sie nach Hunderttausenden. Eigene Zeitungen hatten sie dort und zahlreiche Vereine, stellten zum Reichstag und Abgeordnetenhaus eigene Kandidaten auf. Mitten im Herzen Preußens gab es ganze Städte und volkreiche Dörfer, auf deren Straßen kein Wort Deutsch zu hören war! Polnisch die Schilder an den Läden, polnisch die Sprache der Einwohner und Haß gegen alles Deutsche ihre Gesinnung. Schier unübersehbar aber erschien die Liste der polnischen Vereine in den Ostprovinzen; als wenn das ganze Polentum, von einem übermächtigen Zwange getrieben, keine andere Aufgabe mehr gekannt hätte, als sich so eng wie möglich zusammenzuschließen. Zu Bünden, Vereinen, Genossenschaften, die alle ein einziges Ziel auf ihr Banner geschrieben hatten: die dereinstige Befreiung des Vaterlandes von „fremder Knechtschaft“, die Wiedererrichtung des alten Königreichs in den Grenzen seiner höchsten Macht! Dieses Banner aber wurde nur in vertraulicher Runde enthüllt, wenn kein feindliches Späherauge in der Nähe war. Nach außen hin zeigten sich all diese Verbände unter harmloser Flagge. Als Turn-, Gesang- und Volksbildungsvereine, als wirtschaftliche Organisationen jeder nur denkbaren Berufsart, dazu bestimmt, den Polen zu stützen, ihn unabhängig von deutschem Kredit und deutscher Ware zu machen. Nach Millionen zählte die Gesamtheit der Mitglieder all dieser Vereine, nach Millionen ihr Vermögen und nach Hunderten von Millionen das Kapital der rein polnischen Banken, die den wirtschaftlichen Kampf gegen das Deutschtum im großen führten. Bewundernswert konnte diese neu erwachte Kraft eines Volkstums erscheinen, das sich aus mehr als hundertjährigem Dunkel wieder ans Licht hob, wenn die letzte Auswirkung dieser Kraft nicht die Zerstörung Preußens, die Gefährdung Deutschlands bedeutet hätte.

Und hinter all diesen Vereinen standen die polnischen Zeitungen! Hetzten und schürten, predigten und beschworen: Polen, laßt nicht nach in der Hoffnung, laßt nicht nach in eurem Haß! Ein Hundsfott, der bei einem Deutschen kauft, denn jeden Pfennig, den ihr in einen deutschen Laden tragt, entzieht ihr dem „Vaterlande“! Jeder Groschen, den ihr in einer deutschen Bank anlegt, wird zu einem Kampfmittel eurer „Feinde“ ... Und mit den Kindern muß es anfangen! Verbietet euren Kindern, mit den deutschen Kindern in der Schule und auf der Straße zu sprechen und zu spielen, verbietet ihnen, deutsche Lieder zu singen und deutsche Gebete zu lernen!

Solcher polnischen Zeitungen, die unter dem Schutze der preußischen und für preußische Blätter geschaffenen Preßfreiheit so maßlos hetzten, gab es in Preußen wohlgezählte einhundertfünfunddreißig! Etliche von ihnen hatten eine Auflage, die an die Hunderttausend ging. Ein einfaches Exempel lehrte, in wieviel einzelnen Blättern Tag für Tag der giftige Same des Hasses ausgestreut wurde. Und wäre es nicht denkbar gewesen, daß diese so gewaltige Macht sich einem anderen Werke gewidmet hätte, dem Werke der Versöhnung? Zuweilen, an den hohen polnischen Gedenktagen, dem dritten Mai zur Feier der Einführung der Konstitution oder am Jahrestag des glorreichen Sieges von Grunwald — die Deutschen nannten ihre Niederlage nach dem Orte Tannenberg — enthüllten die polnischen Zeitungen in vorsichtigen und doch so deutlichen Worten das letzte Ziel ihrer Arbeit. Wie, weit drüben im Westen, die französischen Generale und Staatsmänner, wenn sie die Wiedereroberung Elsaß-Lothringens meinten und auf das tranken, wovon man niemals laut sprach, das man nur immer still im Herzen trug...

Kein flammender Aufruf des Deutschen Ostmarkenvereins hätte wirksamer sein können als diese amtliche Zusammenstellung nüchterner Zahlen mit den knappen Zitaten aus der polnischen Presse. Und als das resignierte Eingeständnis zum Schluß, daß unter der bisherigen Gesetzgebung alle Mittel im Kampf gegen das Polentum versagt hätten. Ebenso aber auch alle ernstgemeinten Versuche zur Versöhnung.

Eine der anderen, ebenfalls als „vertraulich“ bezeichneten Schriften behandelte das Eindringen der Polen in Ermland und Masuren, den in der südöstlichen Ausbuchtung Ostpreußens gelegenen Landschaften. Es wurde in der Einleitung als besonders frivol bezeichnet, weil den Polen hier selbst der heuchlerische Entschuldigungsgrund fehlte, den sie in den ehemals polnischen Provinzen für ihre Kampforganisationen bereithielten: sie seien nichts als gerechte Abwehr gegen deutsche Unterdrückung. Weder das evangelische Masuren noch das angrenzende katholische Ermland waren je polnisch gewesen. Die Bevölkerung, eine Mischung aus den ureingesessenen Pruzzen, Masoviern und den vom Orden eingeführten Deutschen, war nur eine Zeitlang durch ein loses Lehnsverhältnis mit Polen verbunden gewesen, das der Große Kurfürst im Frieden von Oliva mit starker Hand zerrissen hatte. Und später waren Bestandteile hinzugekommen, die alles andere waren, nur nicht polnisch: die Salzburger Flüchtlinge aus dem Österreichischen und die aus Frankreich von der großen Revolution vertriebenen Geschlechter.

Die Masuren, die sich stets durch besondere Königstreue und Anhänglichkeit an Preußen ausgezeichnet hatten, verhielten sich im großen und ganzen ablehnend gegen den Versuch, sie zu großpolnischen Anschauungen zu erziehen. Immerhin war es den Polen gelungen, allein im Regierungsbezirke Allenstein mehr als fünf Quadratmeilen Boden in ihren Besitz zu bringen. In Heinrichsburg gaben sie eine masurisch geschriebene Zeitung heraus, die in geschickter Weise, nach der Art des Wolfes im Schafpelze, die Bauern und Tagelöhner bearbeitete, wo sie ihr eigentliches Vaterland zu suchen hätten. Das Ziel dieser Arbeit lag noch in weiter Ferne, aber wie hieß es in einem polnischen Sprichwort? „Treib' deine Kuh früh aus die Weide, sonst wird sie bis Abend nicht satt“ ... Und im „Dziennik Poznanski“ hatte einmal gestanden, nicht nur Danzig, sondern auch Königsberg sei eine polnische Stadt gewesen...

Die Bewegung hatte eingesetzt, als 1891 im Kreise Heinrichsburg das Rittergut Friedrichstein an einen Polen verkauft worden war. Der Vorbesitzer — trotz seines polnisch klingenden Namens ein guter preußischer Patriot, Landtagsabgeordneter und Rittmeister der Gardelandwehr — war sich wohl der Tragweite dieses Verkaufes nicht mehr bewußt gewesen...

Eine Blutwelle schoß Viktor ins Gesicht: der Verkäufer dieses Rittergutes war sein verstorbener Vater... Und er las mit brennenden Augen weiter:

„In seinen letzten Lebensjahren hatte es den Anschein, als sei mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch auch ein Verfall seiner Geisteskräfte eingetreten. Anders ist es wohl nicht zu erklären, daß er unter dem Einflusse seiner zweiten Frau, einer fanatischen Polin und Katholikin, nicht nur selbst katholisch wurde, sondern auch dem berüchtigten Propst Swiderski Gelegenheit gab, die meisten Insassen des Gutes dem evangelischen Glauben abwendig zu machen oder durch aus dem Posenschen geholte Arbeiterfamilien zu ersetzen. Seither ist das Rittergut Friedrichstein der Herd und der Mittelpunkt der großpolnischen Werbearbeit in Masuren. Wie ein Geschwür an einstmals gesundem Leibe, das seine eiternden Senker langsam durch den ganzen Körper schiebt.“

Viktor ließ das Heft sinken. Die Frau, von der da gesprochen wurde, war seine Mutter gewesen! War es denkbar, daß ein aufrechter Mann sich durch ein Weib so von dem Wege abdrängen ließ, den ihm Herkunft, Erziehung, Pflicht und Gewissen vorschrieben?

Ein Frösteln flog ihm über den Nacken: er hatte kein Recht, sich über den verstorbenen Vater pharisäisch zu entrüsten! Er selbst hatte in diesen Tagen verdammt wenig daran gedacht, wohin es führen sollte, wenn er noch länger ein paar schönen Augen nachlief, die aus dem verführerischen Gesicht einer Polin blickten. Aber wie hieß es in dem alten Spruch? „Selbsterkenntnis ist der Anfang aller Besserung“ ... Und zum ersten Male fing er an über dem Worte „Selbsterziehung“ zu grübeln, das er so oft von dem treuen alten Ekkehard seiner Jugend gehört hatte... Das Wort hieß, sich an jedem Abend Rechenschaft abzulegen, ob die Handlungen und Gedanken des Tages vor einem höheren Richter als dem in der eigenen Brust bestehen könnten. Wenn er unter diesem Augenwinkel seine Vergangenheit durchmusterte, nahm sie sich recht kläglich aus. Bodenloser Leichtsinn, der ohne Überlegung jeder Lockung folgte, sich hinterher nur zuweilen klarmachte, er sei wieder einmal von einer Art Schutzengel vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt worden... Sinnlose Nächte am Spieltisch, deren jede den Untergang hätte bringen können; allerhand lockere Abenteuer, von denen so manches ihm Kopf und Kragen hätte kosten können, wenn die vor Verliebtheit närrischen Frauen und Mädel nicht im letzten Augenblick noch Vernunft angenommen hätten... Dienst und Amt aber? Vollkommene Gleichgültigkeit, die sich in dem täglichen Einerlei zuweilen zum Ekel steigerte; und nur ab und zu ein jähes Anspannen der ganzen Kraft, wenn es galt, an besonderer Aufgabe zu zeigen, daß man mehr konnte als die anderen. In einer seiner Konduiten, in die er durch einen günstigen Zufall einen Blick hatte tun dürfen, stand von der Hand des Regierungspräsidenten zu lesen: „Nervöses Vollblut, zu augenblicklichen Höchstleistungen befähigt, aber zu ausdauernder Arbeit, wie sie von einem preußischen Verwaltungsbeamten verlangt werden muß, ungeeignet.“

Ein Wunder war es geradezu, daß es dem lieben alten Uli gelungen war, ihn trotz dieses Zeugnisses in eine Stellung zu bringen, die der Anfang einer glänzenden Laufbahn werden konnte. Der Beweis eines Vertrauens war es, wie es tiefer nicht gedacht werden konnte! Und es hätte — weiß Gott — nicht erst des feierlich abverlangten Ehrenwortes bedurft, ihn zu binden und zu verpflichten, daß er in jeder Stunde seiner zukünftigen Laufbahn dieses Vertrauen rechtfertigte! Aber er hatte es ja nur gut gemeint in seiner Sorge, der immer Getreue, und ein heißer Strahl dankbarer Liebe flog zu der nüchternen Stube in grauem Haus, in der der alte Uli über seiner Arbeit saß. Solche Tage wie die beiden letzten, in denen er vor seinem einzigen und besten Freund sich mit Heimlichkeiten und schlechtem Gewissen trug, durften nie mehr vorkommen...

Und Viktor begann sich in seinem zukünftigen Leben als Landrat des Kreises Heinrichsburg innerlich einzurichten. Wenn man die Pflichten, die auf einen warteten, näher ansah, war es eins der schönsten Ämter, die der Staat zu vergeben hatte. Vertrauensmann der Regierung und Beirat aller derer, die mit ihren Sorgen, Anliegen und Beschwerden sich an ihn als Mittelsmann wandten. Das Vertrauen all dieser Leute galt es zu erobern durch Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft; denn jeden, den er für sich selbst gewann, gewann er dem Deutschtum und dem Staat...

Unter den Schriften, die Ulrich ihm vorsorglich mitgegeben hatte, befand sich auch ein schmales Heftchen. Es trug den Titel: „Geschichte des Kreises Heinrichsburg in Ostpreußen von Gottlieb Grandjean, Pastor emer.

Viktor schlug es auf, und als er die ersten Zeilen gelesen hatte, legte er's nicht so bald wieder aus der Hand. In schlichter und doch seltsam fesselnder Art wurde darin erzählt, wie die Stadt Heinrichsburg gegründet worden war. Als ein Stützpunkt der „Brüder vom deutschen Hause“, die der Herzog Konrad von Masovien im Jahre 1227 gegen die räuberischen Pruzzen zu Hilfe gerufen hatte, die in immer neuen Einfällen sein Land verwüsteten. Mitten im wilden Urwald und am Ufer eines großen Sees war das feste Ordenshaus erbaut worden, mit Wall und Graben versehen und nach dem Mönche Heinrich genannt, der hier unter den Äxten der Heiden den Märtyrertod gefunden hatte. Und allmählich wuchs um die Burg eine Stadt, Wall und Graben mußten weiter gespannt werden. Der Orden verfiel, es kam die segensreiche Herrschaft der Kurfürsten von Brandenburg und Könige von Preußen, das Städtchen blieb, was es gewesen wär, eine Pflanzstätte deutscher Bildung und ein Hort deutscher Kultur im Osten des großen Vaterlandes. Trotz allen heimlichen und offenen Anstrengungen in neuerer Zeit, es mit dem umliegenden Land in den Bereich polnischer Gesittung zu ziehen. Einer „Gesittung“, die man im Vergleich zur deutschen nur in Anführungsstrichelchen schreiben dürfe.

Und nach diesem kleinen Ausfalle verzeichnete der Herr Pastor mit Genugtuung, daß man auch „draußen im Reich“ begonnen habe, den Naturschönheiten Masurens, in denen Heinrichsburg mit seinen Wäldern und Seen als kostbarstes Juwel säße, Beachtung zu schenken. Zum Teil vielleicht dank den Bemühungen eines aus Masuren stammenden Schriftstellers, der schon vor fast dreißig Jahren begonnen habe, in so ziemlich jedem seiner Bücher die herben und lieblichen Reize seiner Heimat zu schildern. Jeder neue Sommer brachte Vergnügungsreisende in immer wachsender Zahl, die von Heinrichsburg aus Ausflüge unternahmen und sich geradezu begeistert über die gesehenen Herrlichkeiten aussprachen. Zu Nutz und Frommen dieser Reisenden hatte der Herr Pastor eine Anzahl von Ausflügen zusammengestellt und genau beschrieben, die von Heinrichsburg in einem bequemen Tage zu unternehmen waren. Einer dieser Ausflüge hieß „Schloß Friedrichstein“.

Man fuhr vormittags neun Uhr dreißig Minuten mit der Bahn bis Station Friedrichstein, verfolgte eine halbe Stunde lang die Chaussee, um dann hinter dem Dorfe Pokroppen — im Wirtshause des Krugbesitzers Sareyka gab es ein kräftiges ländliches Frühstück zu billigem Preise — einen rechts abbiegenden Feldweg einzuschlagen, der zum Spirdingsee führte, einem Gewässer, von dessen Großartigkeit sich die aus dem Westen kommenden Touristen nur schwer einen Begriff machen konnten. Ein gewaltiger Binnensee, dessen jenseitiges Ufer selbst bei klarem Wetter nicht mit scharfem Glase zu erkennen war, und der zu jeder Stunde durch seine Schönheit wirkte; sei es, daß er im Sonnenglanz wie ein ungeheurer Spiegel gleißte oder unter dem drängenden Fittich des Sturmes mannshohe Wellen gegen das Gestade wälzte.

Am Ufer dieses Sees führte ein vielfach gekrümmter Weg in zwei Stunden zum Schlosse Friedrichstein. Der Weg war zuweilen beschwerlich, aber der wundervolle Hochwald gab Schatten, und an jeder Biegung eröffnete sich ein neuer reizvoller Ausblick auf den See oder ein Einblick in das unberührte Walten und Weben der Natur. Sei es, daß man in stiller Bucht dem putzigen Gehaben der Taucher und Wildenten zuschauen konnte, oder auf verschwiegener Waldwiese die Rehe belauschen, die dort ihre Äsung suchten. Schloß Friedrichstein endlich, ein aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammender Bau, lag inmitten eines herrlichen Parks auf sanft ansteigendem Hügel. Wundervoll war die Aussicht von der großen Schloßterrasse über See und Wald und Land, aber ein strenges Verbot des polnischen Besitzers sperrte den Zutritt. Die Ausflügler mußten sich mit einem Blick begnügen, den sie von den Insthäusern des Gutes aus genießen konnten. Auch war es ratsam, das Mittagessen in dem benachbarten deutschen Dorf Gonczorowen einzunehmen. Der Wirt, Herr Zwalinna, war in der Ferienzeit auf den Besuch von Gästen eingerichtet. Und besonders lobend zu erwähnen die frischen Hechte und Barsche, die Frau Zwalinna in unübertrefflicher Schmackhaftigkeit zuzubereiten wußte.

Viktor ließ das Heft sinken. Wie ein Schleier fiel es von seiner Erinnerung... Auf dieser Terrasse hatte er als Knabe oft gestanden. Und Worte fielen ihm ein, die er gesprochen hatte. „Du, Tinka, ist da hinter dem Wasser alles zu Ende, oder sind da auch Menschen und Pferde und Hunde und Häuser und Wald?“ Einen Stich gab es ihm im Herzen, wenn er daran dachte, daß er — statt wurzellos in der Fremde aufzuwachsen — auf diesem großen und schönen Besitz neben dem unvermählten Bruder als Erbe hätte stehen dürfen, wenn... ja wenn einer nicht Leib, Ehre und Deutschtum verkauft hätte für das Lächeln einer polnischen Frau. Und in einem plötzlichen Gedankensprunge grübelte er darüber, aus welchem Grunde wohl sein Bruder Ulrich unverheiratet geblieben sein mochte. Die seltsame Erklärung, die er aus seinem Munde gehört hatte, ließ den Schluß zu, daß der so still und gefestigt scheinende Ältere diese äußere Ruhe erst nach schweren inneren Kämpfen gefunden haben mochte. Nach Kämpfen, die vielleicht auch irgendwie mit seinem Schicksal zusammenhängen mochten. Ein Geheimnis lag da im tiefsten Grunde einer Menschenbrust, das am besten wohl für alle Zeiten begraben blieb...

Das Büchlein des Herrn Pastor emeritus Grandjean — nach eigener Angabe eines Abkömmlings aus französischer Refugisfamilie — enthielt neben dem Reiseführer auch eine Karte des Kreises Heinrichsburg nebst einem Verzeichnis der dazugehörigen Marktflecken, Dörfer und Güter. Zwei Stunden energischen Lernens, und Viktor hatte sie sich nach Namen, Größe und Einwohnerzahl genau eingeprägt. Auch die „Ausflüge“ ging er an der Hand der Karte und Beschreibung noch einmal durch. Als er fertig war, wußte er in seinem Kreise so gut Bescheid wie nur irgendein Eingeborener. Eine achttägige Bereifung — er fügte zu diesem theoretischen Wissen die praktische Anschauung! Und er mußte unwillkürlich lächeln. Ähnliche Kunststücke hatte er schon früher manchmal gemacht, wenn es sich darum gehandelt hatte, in drei Tagen eine Arbeit zu bewältigen, für die er vier Wochen Zeit gehabt hatte. Diesmal aber galt es nicht, einem Vorgesetzten Sand in die Augen zu streuen, es ging um ein höheres Ziel. Um die notwendigen Grundlagen für ein Wirken, das wohl für eine Reihe von Jahren seine Lebensarbeit darstellte.

Und mit gleichem Eifer warf er sich auf das Studium der die Polenbewegung behandelnden Bücher und Hefte. Seine Kreisinsassen sollten von ihm nicht sagen dürfen, er wisse in dieser sie so hart angehenden Frage nicht Bescheid. Der Tag verging im Fluge. Namen, Zahlen und Vorgänge ordneten sich in seinem leichtbeweglichen Geiste zu einem Besitz, der von diesen Stunden an — er wußte es genau — unverlierbar war...

Bei dem emsigen Arbeiten hatte Viktor kaum darauf geachtet, an welchen Städten der immer weiter nach Osten eilende Zug vorüberfuhr. In einer Korschen genannten Station mußte er umsteigen; es ging in wesentlich verlangsamter Fahrt nach dem Süden, der russischen Grenze zu. Unaufhörlich erklang vorn auf der Lokomotive das Läutewerk, das Mensch und Vieh vor dem Betreten des Bahnkörpers warnen sollte, und Viktor mußte lächeln. Ein Vers fiel ihm ein, den er mal vor Jahren von einem aus dem Osten stammenden Kollegen gehört hatte: „Wo sich aufhört das Kultur, sich anfängt der Masur.“ Das Büchlein des Herrn Pastors Grandjean aber war ihm ein gewisser Trost. Wenn man seine Ansprüche nicht zu hoch schraubte, würde sich's schon leben lassen. Hätte er freilich auf einen Mitreisenden gehört, der ihm von Korschen an gewaltsam seine Unterhaltung aufdrängte, wäre es am geratensten gewesen, sofort umzukehren. Aber der Herr urteilte — Gott sei Dank — vom Standpunkt eines Berliner Reisenden in Wollwaren, der, wie er sich ausdrückte, „zum zweitenmal diese Tour abklapperte.“ Etwas von den Worten dieses Schwätzers war aber in Viktor hängen geblieben. In Düsseldorf hatte er vor abendlichen Zerstreuungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen oft nicht gewußt, woher die Zeit für eine dringende Arbeit nehmen. In Heinrichsburg sah er mit einem gewissen Schauder den Honoratiorenstammtisch vor sich oder lange, einsame Abende. Es blieb nur die Arbeit und das bißchen Kunstübung, von der Ulrich gesagt hatte, es sei sehr nett, sie an seiner Lebensführung als verzierenden Schnörkel anzubringen. Als letzte Rettung kam — die Frau!... Und er fing an zu begreifen, weshalb all die Kollegen, die aus kleinen Nestern an die Düsseldorfer Regierung kamen, verheiratet waren. Die Furcht vor dem Stumpfsinn hatte sie in die Ehe getrieben. Aber vielleicht war dieses Fräulein Ilse von Hakenberg, auf das ihn der gute Uli mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit angesetzt hatte, gar nicht so garstig, wie er sich einbildete? Und am Ende: Wonach man sich in der großen Welt draußen kaum umgesehen hätte, das wirkte hier in der Enge vielleicht als eine Art von Glück?... In jedem Falle nahm er sich vor, so bald wie nur möglich in — wie hieß doch gleich das Gut? — ja, richtig, in Ottenwalde seinen Besuch zu machen. Ansehen verpflichtete ja zu nichts. Und der leise Schmerz, den er bei dem Vorsatze in der Brust spürte, war nichts weiter als das letzte Nachwehen einer leider noch nicht ganz überwundenen Enttäuschung.

Was sie wohl jetzt treiben mochte, die Komteß Jelena, mußte er denken. Ob sie wieder in dem lichtschimmernden, von Menschen überfüllten Saale saß, strahlend vor Schönheit? Rechts den feisten Propst, links den vornehmen alten Herrn mit weißem Schnurrbart, die ihr, jeder in seiner Art, den Hof machten, indessen der Breitschultrige mit dem Stiernacken ihr grüßend zutrank? Aber er hatte genau gesehen, in dem Gruße hatte nichts von unziemlicher Vertraulichkeit gelegen. Und weiter mußte er denken, wie seltsam es war, daß Menschen sich trafen, ein kleines Weilchen in — wenn auch noch so loser — Verbindung standen, um sich auf Nimmerwiedersehen zu trennen. Jeder zog einen anderen Weg, den ihn sein Schicksal führte...

Und er entsann sich: In der Silvesternacht in der Dienerstube von Friedrichstein hatte er im Arm der geliebten Tinka einem merkwürdigen Brauch zugesehen. Zwei Walnußschalen mit winzigen Lichtlein wurden in eine große Wasserschüssel gesetzt. Die Person, die das Schicksal befragen wollte, rührte mit dem Ringfinger in der Mitte der Schüssel einen Kreis. Kamen die beiden Schalen auf ihrer Fahrt zusammen, gab es noch im selben Jahre Hochzeit. Zuweilen aber kippte eins der kleinen Fahrzeuge um, das Lichtlein ging aus. Und die Mädel kreischten laut auf. Das erloschene Licht bedeutete der Fragenden den Tod...

Der Zug hielt vor einem großen Stationsgebäude in rotem Ziegelstein, der Schaffner rief: „Lyck, zehn Minuten! Nach Heinrichsburg, Ortelsburg, Allenstein umsteigen! Zweiter Bahnsteig.“ Vor dem großen Hause im grellen Licht der elektrischen Bogenlampen stand eine seltsame Menge. Herren und Damen in großstädtischer Kleidung, etliche darunter von einer Eleganz, die man ebenso in Berlin hätte sehen können. Dazwischen Bauern in langen grauen Röcken, Juden in Kaftan und verbeulten Zylindern, russische Offiziere in voller Uniform. Mit Paketen beladen, stiegen sie in den zur Grenze fahrenden Zug. Er wunderte sich, daß die Herren so ungehindert und zwanglos auf deutschem Boden verkehren durften.

In dem Abteil zweiter Klasse des nach Heinrichsburg fahrenden Zuges saß eine gewichtige Dame, ein nicht minder umfangreicher Herr hatte sich zum Fenster hinausgelehnt, unterhielt sich laut mit einer ganzen Gesellschaft, die ihn anscheinend zur Bahn geleitet hatte. Die dicke Dame hielt ihn ängstlich am Zipfel seines Pelzes, warnte eindringlich: „Bieg' dich bloß nicht zu weit 'raus, Augustche! Hernachert ruckst der Zug an, und du fällst auf'm Perrong!“ Aber es kam umgekehrt. Die Lokomotive setzte sich plötzlich in Bewegung, die Draußenstehenden riefen: „Glückliche Rutsch“, und der dicke Herr setzte sich der Dame auf den Schoß. Er sagte gemütlich: „Na, jedenfalls bässer wie auf 'nen spitzen Stein“, und Viktor mußte hell auflachen. Die Dame bemerkte entschuldigend: „Se missen das nich fir übel nehmen! Er hat nehmlich bei seinem Schwager, dem Bäcker Tomuschat, Geburtstag gefeiert. Und ich bin bloß froh, daß ich ihn rechtzeitig zum Zug losgeeist hab'. Wänn's nach ihm gegangen wär', würd' er noch dasitzen!“

Der dicke alte Herr steckte sich eine Zigarre an. Das aufflammende Streichholz beleuchtete ein gesund gerötetes, volles Gesicht in einem Kranz weißer Haare. Und er sagte, gemütlich paffend:

„Is nich so schlimm, liebes Härrchen! Meine Alte übertreibt gärn e bißche. Nehmlich Sinnhuber is mein Name, und ich fahr' bis Friedrichstein. Fahren Sie, liebes Härrchen, vielleicht weiter?“

„O ja, noch ein ganzes Ende!“

Die dicke alte Dame zupfte ihren Gatten am Ärmel.

„Sinnhuber, du weißt ja noch gar nich, ob der Härr sich ieberhaupt mit dir unterhalten will.“

Viktor verneigte sich leicht.

„Weshalb denn nicht, gnädige Frau?“

Der alte Herr schüttelte ihm kräftig die Hand.

„Herzlichen Dank! Das vergißt se Ihnen ihr Lebtag nich, daß Se Gnädige Frau zu ihr gesagt haben! Und wänn Se uns mal in Friedrichstein die Ehre schännken... nich im Schloß, Gott bewahr' uns, sondern an der Bahnstation das große Haus, August Sinnhuber, Getreide und Futtermittel angroh und ang detall...“

„Danke, werde unter Umständen nicht verfehlen.“

„Wieso? Gedännken Se dänn, sich hier länger aufzuhalten?“

„Vielleicht! Aber eine Frage, Herr Sinnhuber. Ich komme zum ersten Male hier in die Gegend. Da habe ich mich doch sehr gewundert, daß russische Offiziere in voller Uniform so ungeniert in einer preußischen Stadt verkehren.“

„Weil wir Deitschen dammlich geboren sind, liebes Härrchen, und dammlich bleiben bis an unser sel'ges Ännde! Und bloß ungeniert? Sagen Se doch lieber fräch! Die Kärrle spijonieren ja am hällichten Tage! Neilich haben se einen erwischt unter der Brick in Lyck, wo zum Gefängnis fiehrt. Er hat da allerhand Zeichnungen gemacht, aber zum Stadtpolizisten sagt' er, er hätt' da mal bloß — also Se verstehn schon — fier e Momänntche verschwinden missen. Der Hornochs ließ 'n laufen. Und ich komm' in meinem Geschäft heifig ieber de Grännz'. Da frag' ich mich manchmal: Wollen die Härrschaften in Berlin das nich sehen, oder dirfen se nich — jedes kleine Näst vollgeproppt voll Soldaten! Und jedesmal, wänn ich wiederkomm' neie Regimännter dazu! Da frägt man sich als dännkender Männsch doch, wozu? Wänn ich mit meinem Nachbar in Frieden leben will, steh' ich doch nich egalwäch mit 'ner geladenen Flint an seinem Gartenzaun?“

„Ja, um Himmels willen“, sagte Viktor erregt, „haben Sie denn diese Beobachtungen nicht an zuständiger Stelle mitgeteilt?“

„Na und ob! Ich bin doch e guter Patriot. Die Härren auf'm Bezirkskommando sagten auch: Scheen Dank, aber es wär' nichts zu machen. Wir würden ja auch nich schlafen, und vorichten Härrbst hät's die Militärverwaltung gezeigt. Haust du meinen Juden, hau' ich deinen; machst du 'Probemobilmachung', kann ich ja so was Ähnliches fabrizieren, und zu Angst is kein Grund. Ich aber sag' mir: Sinnhuber, Vorsicht is de Mutter vom Porzellanladen! Es riecht mir zu sehr nach Pulver, ich zieh' zum ersten Juni von hier wech nach Keenigsbärg! Fiers Geschäft hab' ich 'nen Dammlichen gefunden, wo am Krieg nich glaubt, und ich sitz' mit meinem lieben Malchen im trockenen, wänn hier de Kosaken sängen und brännen.“

„Sie glauben wirklich?“

„Aber, liebes Härrchen, das lärrnen bei uns ja schon de Kinder in der Fibel: Bis zu den großen Seen, wo de Russen nich so leicht 'rieber können, wird alles aufgegeben! Wegen dem Krieg nach zwei Fronten. In sächs Wochen erled'gen wir erst de Franzosen, und dann reden wir 'ne ganze Weile lang mit die Rußkis 'nen krefft'gen Ton Deitsch! Aber alles im Osten von Lötzen is sozusagen Fästungsglacis, wird rasiert. Scheen, sag' ich, und sehr intressant, aber ich bin nich so prässiert, ich seh' das alles nachher ebenso gärrn im Kientopp! Oder les' es beim Taßchen Kaffee in der Zeitung.“

„Ein Standpunkt! Und Sie glauben wirklich, der Krieg ist unvermeidlich?“

„Liebes Härrchen, er steht vor der Tür, kann morgen losgehen! Und haben Se's noch niemals erlebt, daß auf einmal de Krähen sich um Ihr Gehöft sammeln?“

„Bedauere, ich bin nicht Landwirt.“

„Schade, das muß eigentlich einer sein, wänn er wissen will, wo uns in Preißen der Schuh drickt! Na aber also: Se haben auf Ihrem Acker nich mehr als de Krähen, wo immer da sind; zwanzig, dreißig, und se gehen Ihnen bei's Pfliegen dicht hinter de Hacken wegen de Wirmer. Auf einmal sind hundert da! Se wundern sich — zwei Stunden drauf fällt Ihnen e Stick Vieh! Das haben de Bestjen gerochen. Und ebentso is mit den Pollakken! Meinen Se, die kommen umsonst in hüllen Haufen zu uns in den Kreis?“

„Mag sein, lieber Herr, ich frage nur, wozu? Die polnischen Besitzer werden von einem Einbruch der Russen doch ebenso schlimm betroffen wie die deutschen?“

Herr Sinnhuber zuckte die fettgepolsterten Schultern.

„Mein trautstes Härrchen, wo Sie so gar keine Ahnung haben, is fier unsereinen schwer reden! De Polen sind doch 'Kulöhr', und se wissen genau, ihre Gehöffte werden nich brännen. Und se sind vielleicht noch viel pfiffiger als de Russen. Se sagen: Verbränn' du der man de Poten und laß der zur Ader lassen! Wänn du nich mehr japsen kannst, komm' ich!“

Viktor mußte unwillkürlich lächeln.

„Das klingt ja fast wie ein Aufruf des Ostmarkenvereins, in populäres Ostpreußisch übersetzt?“

Herr Sinnhuber machte eine geringschätzige Handbewegung.

„Ostmarkenverein? Ich kriegt de Drucksachen, aber meinen Se, ich hab' Zeit zum Lesen? Und unsereins weiß ja auch so Bescheid. Auf mich haben de Polen keinen Verdacht, weil ich ihnen lojajal ihre Produkte abkauf. Da reden se frei von der Leber wäch! Unheimlich is es einem manchmal, was so e geweehnlicher poll'scher Bauer in der Geschichte von seinem Vaterland Bescheid weiß! Mist hat der Kärrl an de Stiebel und Läus' unter der Mitz', aber er beweist Ihnen haarscharf, daß all das Land hier frieher mal polnisch war. Das wollen se wiederhaben. Und unsereins muß wegen mangelnde Gegenbeweise das Maul halten. Kann bloß sagen: Männsch, sträng' dir nich an, du kriechst es ja doch nich.“

„Ja, mein lieber Herr Sinnhuber, da wundere ich mich bloß, daß die preußischen Besitzer und Bauern dieses Wort nicht durch die Tat beherzigen! Nicht sagen: Lieber verreck' ich, als daß ich meinen Grund und Boden 'nem Polen verkauf?“

Herr Sinnhuber sog heftig an seiner Zigarre, machte ein verlegenes Gesicht.

„Liebes Härrchen, Se reden so, wie Se's verstehen! Das mit dem Patrotismus is so'ne Sache.“

„Na“, fragte Viktor humoristisch, „Sie zieren sich ja so mit der Antwort! Haben Sie vielleicht selbst an einen Polen verkauft?“

„Scheen, Se sollen rächt haben, ich hab' verkauft, aber das war damals 'ne andere Sache!“

„Weshalb, wenn ich fragen darf?“

„Weil... na also, das war vor zwanzig Jahren! Kein Aas dacht' hier im Kreis daran, daß wir de Polen mal ang Mass' hier herkriegen würden! Und ich hatt' dreihundert Morgen, grännzend an Friedrichstein. Ganz leichter Boden, ich mußt' mich rackern von frieh bis spät. Sozusagen nur fier de Zinsen, und daß ich nich allzudoll hungern mußte nebenbei. Kömmt eines schönen Tags der Agännt Leppien aus Lyck auf meinen Hof gefahren! Erst so das iebliche Schnapschen, und dänn sagt er auf eins: 'Na, Sinnhuber, wie is? Möchst vielleicht verkaufen?' 'Warum nich, Bruderhärrz', sag' ich, 'wänn ich 'e anständigen Preis krieg'?' 'Vierhundert Mark fier'n Morgen', sagt' er, 'und den ganzen Krämpel bar auf'n Tisch!' Ich dännk', er will e Spaßchen machen, und lach': 'Vierhundert Mark fier'n Morgen Streisand? Dein Auftraggeber is wohl ebent aus der Irrenanstalt Tapiau ausgebrochen?' 'Is das deine Sorge?' frägt er. 'Wänn er nu de Sandbix durchaus haben will?' 'Aha,' sag' ich, 'Nachtigall, ich hör' dir trappsen! Vielleicht der neie, pollaksche Härr aus Friedrichstein?' Und der Leppien daraus: 'Wänn du Sächsundsächzig spielst, zeigte da dem anderen deine Karten?' 'Nei,' sag“ ich, 'aber wänn de Sach“ so liegt, verkauf' ich natierlich nich unter vierhundertzwanzig!' 'Ein Mann, ein Wort?' 'Allemal,' sag' ich, 'sogar Wort und Handschlag! Aber von mir krichste nich einen Fännig Provision!' Was soll ich lang' erzählen? Zwei Tage drauf war Auflassung. Und ich platzt' fast, der Leppien hatte, warraftigen Gott, fier den Friedrichsteiner gekauft! Ich hätt'm noch viel mehr abzwacken können. Aber der Männsch soll auch nich zu unzufrieden sein. Ich baut' mir am Bahnhof e schönes Haus mit Speicher, fung 'e Getreidehandel an. Gottes Segen war bei dem Geschäft, ich brauch' auf meine alten Tage nich zu hungern.“

„Gut, Herr Sinnhuber, Sie sind bis zu einem gewissen Grade zu entschuldigen! Aber die anderen bäuerlichen Besitzer, die später verkauften. Ließen die sich auch durch einen ähnlich hohen Preis verleiten?“

„Manche ja und manche nei! Aber mehr ja wie nei! Sehen Se, der Pollak handelt nich viel. Gälld is da wie Heu! Von wem?... Ich weiß nich, mein Name is Haase! Aber vielleicht weiß der Härr Propst Swiderski da Bescheid!“

„Ja, hat sich Ihr damaliger Landrat denn um diese Verkäufe nicht gekümmert?“

„Gewiß, mein liebes Härrchen! Aber damals kam von oben noch nich so 'n scharfer Wind, und er war ein zu gutmiet'ger Männsch! Einmal fuhr er zu so 'nem Bauer, wo auf der polnischen Kipp' stand, hin. Hernachert, wänn der Kärrl nich Vernunft annahm, sagt' er: 'Der Mann kann sich wirtschaftlich verbässern, weshalb soll ich ihm 'e Stein in Weg schmeißen?' Und unser neier Landrat?... Ställen Se sich vor, de hohe Regierung schickt uns 'e jungen Harrn aus'm Wüßten! 'Erbarm' sich', sag' ich zum Kreissekretär Wichotta, 'die Harren haben wohl den Drehwurm im Kopp?'"

„Erlauben Sie mal“, erwiderte Viktor, weniger ärgerlich als belustigt, „es kann doch ein ganz tüchtiger Mensch sein?“

„Streit' ich auch gar nich, fier nuscht und wieder nuscht wird einer in Preißen nich Landrat! Aber kännt er unsere Verhältnsse hier?“

„Er wird sich einarbeiten!“

„Schön, und wänn er sich eingearbeit' hat, kömmt er wech! Und kann er Masur'sch?“

„Er wird es lernen!“

„Auch ganz schön, aber da is noch 'was bei, was sich nich lärrnen läßt, das is de richtige Art, mit de Leite umzugehen. Da muß einer doch hier geboren sein oder auf unserem Sand e paar Dutzend Stiebelsohlen zerrissen haben!“

„Augustche“, sagte die Gattin warnend, „du red'st all wieder zu viel! Hernachert is der Härr e guter Bekannter von dem neien Landrat und sagt's 'm wieder!“

Viktor verneigte sich lächelnd.

„Sie dürfen versichert sein, gnädige Frau, ich bin der diskreteste Mensch der Welt! Außerdem halte ich nur sehr selten Monologe.“

„Na siehste“, versetzte Herr Sinnhuber triumphierend, „ich hab' 'e Blick fier vertrauliche Männschen! Und wissen Se, liebes Härrchen, was fier 'nen Landrat wir hier haben mißten? So einen von der Sort', wie der verstorbene Friedrichsteiner gewesen is! Das heißt, wie er in seine guten Jahre gewesen is! Nich wie er durch diese polnische Madam' untern Schlitten gekommen war.“

„Sie haben meinen“ — er verbesserte sich — „den Herrn von Dolinga gekannt?“

„Na und ob ich'm gekannt hab'! Ich hab' mich mit'm sogar geduzt! Aber bloß ein einziges Mal, wie er schwer besoffen war. Ich sag' Ihnen, in seine guten Zeiten — das war e Härr! Respäckt hat man vor ihm gehabt und sich doch immer gefreut, wänn man ihn gesehen hat. Uns Bauern haut' er auf de Schulter, daß man so knallt, mit de Weiber macht' er sein Spaßchen, daß se rot wurden und kreischten, und fier jeden hatt' er Zeit. Half auch, wo er hällfen konnt'! Und es lag bloß an ihm, daß aus unserm Kreis nich so viel Bänngels nach Westfalen in de Industrie gingen wie sonst aus Masuren. Er hatt' das mächtig auf'n Schwung gebracht! Die Pasters mußten pred'gen, die Gutsbesitzer bässern Lohn zahlen und mehr Ausgedinge geben. Und wo Not war, fuhr er persehnlich hin, hielt im Krug 'e Versammlung und red't den Bänngels so gut zu, daß se windelweich wurden und sich schämten, die Heimat im Stich zu lassen. Wänn er aber mal im Kreistag aufstand, war jedes Wort wie mit'm Hammer auf'n Nagelkopp. Das war 'n Mann! Und daß so 'was in seine letzte Jahre vor de Hunde gehn mußte, bloß wegen 'm Stickchen hübsches Weiberfleisch?... Ich kann mir nich hällfen, er muß de lätzten Jahre nich mehr ganz richtig im Kopp gewesen sein!“ ... Herr Sinnhuber sog ein paar Augenblicke nachdenklich an seiner Zigarre.

„Wissen Se, liebes Härrchen, schön war se ja, das muß ihr der Neid lassen. Se is auch heite noch 'e schöne Frau, wänn se sich das Lederzeich richtig angestrichen hat, und dabei kann man ihr doch nachrächnen, daß se schon an Fuffzig sein muß.“

Viktor war heftig zusammengefahren.

„Ja... ja, lebt denn die Dame überhaupt noch?“

Herr Sinnhuber lachte.

„Leben? Quietschvergniegt is se! Und se is wieder hier, schon seit 'e paar Monate. Zu Besuch beim Grafen Zembricki auf'm Schloß, und ich seh' se fast alle Tage.“

„Wie, sagten Sie, heißt der neue Besitzer von Friedrichstein?“

„Graf Zembricki! Aber neu?... Mein liebes Härrchen, er sitzt jetzt all mehr als zwanzig Jahre drauf. Und alles, was rächt is, das Gut is im Schwung. Frieher hat man immer gesagt: Polnische Wirtschaft! Ja, prost Mahlzeit, die Zeiten sind vorbei. Wir könnten uns jetzt an ihnen 'e Beispiel nehmen. Auch de Bauern. Lauter modärrne Maschinen, kinstlichen Dünger und — de Hauptsache — die Kärrle saufen nich!“

Viktor fühlte sein Herz bis in den Hals hinaus schlagen. Den Namen Zembricki gab es im Polnischen doch sicherlich nicht nur ein einziges Mal? Aber er konnte sich ja leicht Gewißheit schaffen.

„Hm, sagen Sie mal, Herr Sinnhuber, dieser Graf Zembricki, hat der eigentlich Kinder?“

„Bloß eins! Eine einzige Tochter. Ein sehr schönes Freilein! Ich frei' mich immer, wänn ich se seh'. Ein ganz niederträchtiges weibliches Wesen! Immer nätt und freindlich... so gar nich hochnäsig, wie manche andere junge Damen, und se hätten so unmännschlich viel Gälld! Se is augenblicklich verreist, aber se kömmt bald wieder. Eigentlich sollt' se schon heit' wieder da sein, mit demselben Zug wie wir, hat' mir der Inspäckter gesagt. Vielleicht is ihr in Berlin 'was in de Quer' gekommen.“

Viktor hatte Mühe, ein gleichgültiges Gesicht zu zeigen. Es stimmte, sie war es! Das ist ja 'ne schöne Bescherung, mußte er denken. Er war wie vor den Kopf geschlagen, dachte nichts weiter als immer dieselben blöden Worte...

Herr Sinnhuber hatte sich umständlich seine ausgegangene Zigarre angesteckt, begann wieder zu sprechen.

„Also mit den Polen — es wird immer doller! Ich möcht' sagen, im ganzen Kreis gibt's kein einziges Dorf mehr, wo nich polnische Bauern sitzen. Und einer zieht immer den anderen nach. Der Friedrichsteiner Graf aber, der kauft bloß egalwäch zu! Halb Pokroppen hat er schon in der Tasch', weil's doch mit ihm grännzt, und in Gonczorowen hat er auch schon vier deutsche Besitzer aufgekauft. Zwischen Friedrichstein aber und Gonczorowen liegt das Rittergut Amalienau. Besitzer... ich will seinen Namen nich nännen. Er wirtschaft' 'e bißche zu flott, fährt zu oft nach Keenigsbärg, und das kost' Gälld. Da geht der Graf 'rum wie der Wolf um den Schafstall. Irgendwo wird schon 'e Loch sein, wo er 'reinkann. Und richtig, der Besitzer, wo ich seinen Namen nich nännen will, braucht 'ne dritte Hypothek! Schwer zu kriegen, dänn se war oberfaul. Wer hat se aber doch gegeben? 'ne polnische Bank in Posen! Nu brauch' er bloß de Zinsen nich zahlen zu können, und er wird nich können, dänn er fährt immer noch nach Keenigsbärg... ja also, da kann der Härr Graf sich ausrächnen, wänn er ihn an dieser Hypothek von Amalienau 'runterführen wird. Wie der Fleischer das Kalb, und er hat ihm den Strick um 'n Hals gelegt. Dänn nehmlich die dritte Hypothek hat der Graf doch natierlich schon längst in der Tasch“.

Der Zug hielt, der Schaffner rief: „Friedrichstein, vier Minuten.“ Herr Sinnhuber stand auf, griff nach einer mit leuchtendem Blumenmuster bestickten Reisetasche.

„Schad“, hier muß ich aussteigen! Ich hätt' mich gärn' mit Ihnen noch 'was erzählt. Na, vielleicht auf 'e ander' Mal! Atchehs, liebes Härrchen.“ Er schüttelte ihm kräftig die Hand. Und Frau Sinnhuber tat desgleichen. „Se missen dem Alten das nich iebelnehmen“, sagte sie halblaut, „er is heite 'e bißche im Schwung. Sonst schabbert er nich so viel dammliches Zeich.“

Der Zug setzte sich in Bewegung, Viktor hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Immer verfolgte ihn das blöde Wort: „Das ist ja eine schöne Bescherung!“ ... Und, schockschwerenot, das war's auch! Er hatte angefangen, sich langsam wieder zurechtzufinden nach zwei reichlich steuerlosen Tagen. Jetzt kam ihm das hier auf den Hals, warf alles übern Haufen. Und die innere Unruhe war wieder da mit aller Ratlosigkeit; vielleicht noch ärger als zuvor, seit er wußte, er würde das Mädel wiedersehen. Das Schlimmste aber war das plötzliche Auftauchen der Mutter. Wie sollte er sich zu ihr verhalten, wenn er ihr einmal begegnete? Mutter war Mutter! Sollte er an ihr vorübergehen wie an einer Fremden? Und wenn sie ihn aussuchte, wie sollte er sie empfangen? Sollte er ihr die Tür weisen, wenn sie vielleicht mit der Bitte kam, sich vor ihm rechtfertigen zu dürfen?... Kämpfe warteten auf ihn, denen auch ein Stärkerer vielleicht nicht gewachsen war. Aber es gab einen Ausweg: auf der Stelle umkehren und dem Bruder sagen: „Was du von mir verlangst, kann ich nicht leisten!...“ Jeder Richter hatte doch das Recht, den Spruch zu weigern, wenn er sich in einer Sache befangen fühlte. Nur er konnte sich jetzt schon denken, was der harte Bruder ihm antworten würde. „Ein preußischer Beamter hat nichts zu kennen als seine Pflicht! In diesen paar Worten ist alles eingeschlossen, woran du dich zu halten hast...“ Das letzte aber mußte er dem Bruder verschweigen. Sollte er etwa sagen: „Sieh, Uli, da ist ein Mädel... wie verhext geh' ich 'rum, seit ich sie zum erstenmal gesehen habe. Ihr Vater ist der Mann, der in meinem Kreise die schärfste polnische Agitation treibt... jeder Tag kann mir den feindseligen Zusammenstoß bringen...“ Und der Bruder darauf: „Bist du mit der jungen Dame etwa verlobt?...“ „Nein, ich habe kaum ein Wort mit ihr gesprochen, und ich muß sagen, sie hat mir nicht die geringste Beachtung geschenkt...“ „Na also“, sagte der Bruder, „und mit solchen Lappalien behelligst du mich? Du hast diese junge Dame ganz einfach zu vergessen! Und wenn du sie zufällig mal wiedersiehst, kennst du sie nicht mehr... “

Der Zug fuhr weiter in die mondhelle Nacht, dem einsamen Reisenden wälzte sich die Furcht vor der Zukunft auf die Brust wie ein zentnerschwerer, schwarzer Stein — —

 

***

 

Ein rumpelnder und klappernder Omnibus führte Viktor auf holperigem Pflaster zum Hotel. „Haus zum Schwarzen Adler“ hieß es seit einigen Jahren. Der alte Name „Hotel de Russie“ war nach dem Aufhören der russischen Freundschaft vielen Reisenden ein Stein des Anstoßes gewesen.

Vom Städtchen war durch die blinden Fensterscheiben des Wagens wenig zu sehen. Ein weiter Marktplatz und die Silhouette eines schlanken Kirchturms, der schwarz gegen den hellen Himmel stand.

In dem von Tabaksrauch gelbbraun gebeizten Gastzimmer des Hotels saß um einen runden Tisch mehr als ein halb Dutzend Herren. Sie hatten wie allabendlich abgewartet, ob der von Lyck kommende letzte Zug nicht irgend was Neues brächte, um dann, wie es ordentlichen Bürgern zukam, um Zehn herum nach Hause zu gehen. Viktor hatte sich an einen Tisch in der Ecke gesetzt, sein Zimmer mußte erst in Ordnung gebracht werden. Und immer noch überlegte er, ob's nicht am geratensten sei, wieder umzukehren. Angemeldet hatte er sich nicht, kein Mensch kannte ihn hier. Während er bei dem Oberkellner ein Glas Bier bestellte, erklang am Stammtische drüben plötzlich eine Art von Jodler: „Talahiti“ ... Ein Herr, so dick und rund wie ein Bierfaß, im verschwommenen Gesicht eine Andeutung von Nase, stand auf, kam schnaufend näher.

„Ja, Doli, geliebtes Kärrlchen, bist du's wirklich? Wir hatten dich eigentlich erst nächste Woch' erwartet, aber schön. Hauptsache, daß du da bist! Also härrzlich willkommen in der geliebten alten Heimat!“

Viktor war aufgestanden.

„Verzeihen Sie, ich weiß im Augenblick wirklich nicht...“

„Geh', Mensch, verställ' dich nich! Wirst deinen alten Busenfreind Paddi nich wiedererkännen? Paddi! Gewesener dreimal Erster der sel'gen Cheruskia, auch 'Spundloch' geheißen. Im hundsgemeinen Philisterium Fritz Padöffke, Bau- und Allesunternehmer. Wie im schönen Berlin der selige Schirp: Macht alles! Nur hier is nicht bloß die Gelegenheit beschränkt, auch sonst noch manches andere.“

„Ach so“, sagte Viktor, „jetzt erinnere ich mich natürlich. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie nicht gleich wiedererkannte, Herr Padöffke. Sie haben sich gegen früher etwas verändert.“

„Was“, schnaufte der Dicke, „Sie und Härr Padöffke? Wo wir so unzertrännliche Freunde waren wie Kastor und Pollux oder Haasenstein und Vogler? Na und nu komm', daß ich dich ins neue Leben einführ'. Hier am runden Tisch sitzt nämlich alles, was ein bißchen 'was is in Heinrichsburg.“

Viktor mußte wohl oder übel folgen. Eine Weigerung hätte ihm — mit Recht — verdacht werden können. Und ein Zurück gab's nicht mehr, mit diesen Menschen hier mußte er sich einrichten... Herr Padöffke stellte feierlich vor: „Herr Regierungsassessor Viktor Freiherr von Dolinga-Dolinowski — Herr Bürgermeister Wendtland — Herr unbesoldeter Stadtrat Schweiger — Herr Amtsrichter Plenio — Herr Kreisphysikus Doktor Petitpierre — Herr Brauereibesitzer Mohr — Herr Stadtverordnetenvorsteher Wilutzki — Herr Kaufmann Bienko — Herr Kunstgärtner Mertinat.“

Die Herren hatten sich erhoben, begrüßten ihren neuen Landrat höflich, aber — wie ihm scheinen wollte — mit merklicher Zurückhaltung. Es waren zum Teil gewichtige Gestalten, von jener ruhigen und selbstbewußten Sicherheit, wie sie Männer besitzen, die fest in ihrem Beruf und, vom Vertrauen ihrer Mitbürger getragen, im Dienst des Gemeinwohls stehen. Die Mehrzahl der Herren war schon beim Aufbrechen gewesen. Jetzt wurde der „Stift“ Franz beauftragt, mit möglichster Beschleunigung „die Runde zu gehen.“ Herr Padöffke, der der Spaßmacher des Stammtisches zu sein schien, erklärte lachend, er habe es Gott sei Dank nicht nötig, sich vor der Gattin, ach, der teuren, zu entschuldigen, wenn er gestimmt sei, mal „über den Zapfen zu streichen.“ Aber die anderen Herren — na, er wolle keinen direkt ansehen — aber ein Pereat allen Pantoffelhelden! Und er trank Viktor „einen kräftigen Kuhschluck“ vor, gelobte, mit ihm das Banner der Freiheit unentwegt hochzuhalten.

Viktor bemerkte lächelnd, seiner bescheidenen Auffassung nach bestände die Freiheit nicht gerade darin, daß man sich der eigenen Gattin gegenüber rücksichtslos benähme, und kam nach. Er merkte, mit der Antwort hatte er sich Freunde gemacht. Mehrere Herren sagten: „Sehr richtig!“ und der junge Amtsrichter — das Gesicht voll von Schmissen — trank auf sein besonderes Wohlsein „mit verbetener Löffelung“.

Der Herr Bürgermeister schloß sich an und fragte: „Na, Herr Regierungsassessor, was haben Sie uns nun aus Berlin mitgebracht? Gibt's schon in diesem Frühjahr Krieg, oder dauert's noch ein Weilchen?“

„Sie sehen mich geradezu bestürzt“, erwiderte Viktor. „Schon auf der Reise hatte ich ein Gespräch, aus dem ich entnehmen mußte, man hält hier in Ostpreußen den Krieg nicht nur für unvermeidlich, sondern für nahe bevorstehend. Ich gebe Ihnen die Versicherung, meine Herren, im Westen denkt kein Mensch daran! In Berlin aber habe ich auch nichts Beunruhigendes gehört. Auch nicht die geringste Andeutung, die Gefahr eines Krieges sei näher oder größer als in den letzten, ja nicht gerade unbewölkten Jahren.“

Am Tische erhob sich ein erregtes Durcheinander. Der Herr Kreisphysikus rief: „Sehr richtig!“, der Brauereibesitzer Mohr schrie ein ganz unparlamentarisches: „Blödsinn“, die anderen Herren sprachen gleichzeitig und erregt auf Viktor ein. „Na ja, die Herrschaften im Westen“, unterschied er, und „der alte Blöff mit den strategischen Eisenbahnen.“

Herr Bürgermeister Wendtland bat energisch um Ruhe.

„Sie sehen aus der allgemeinen Aufregung, Herr Regierungsassessor, wie sehr uns die Frage auf der Haut brennt. Sehr begreiflich, denn sie geht uns am allernächsten an! Wir haben keine Angst, weiß Gott nicht, aber wir fühlen uns unsicher. Das drückt nicht nur aus die Stimmung, sondern muß auf die Dauer auch zu einer wirtschaftlichen Katastrophe führen. Wir sehen nur zu genau, was drüben in Rußland vorgeht. Im sicheren Westen und in Berlin sagt man immer: Die Russen müssen erst ihr Netz strategischer Bahnen an unserer Grenze ausgebaut haben, eher greifen sie nicht an! Das dauert noch mindestens drei Jahre, und wer weiß, wie sich die europäische Lage inzwischen gestaltet, ob aus Feinden nicht verträgliche Nachbarn werden. Daran können wir nicht glauben. Wir hier in Ostpreußen sehen, die Russen haben in ihrer berüchtigten 'Probemobilmachung' ein Mittel gefunden, so viel Truppen an unserer Grenze zu sammeln, daß sie in der Lage sind, uns jeden Augenblick und gleich im ersten Vorstoß zu überrennen! Ohne das noch nicht genügend ausgebaute Eisenbahnnetz. Da wissen wir ganz genau, was uns bevorsteht, wenn diese Horden hier einbrechen. Not und Gewalttat, Mord, Verwüstung und Jammer. Das sogenannte Völkerrecht, aber in russischer Auffassung? Ungefähr dasselbe, als wollte man vor einem Kartoffelacker eine Verordnungstafel für Wildschweine aufstellen! Sie hätten sich manierlich zu benehmen, dürften jedes nur drei Metzen voll fressen und — beileibe — nichts zertrampeln!“

Die Tischgenossen stimmten mit ernsten Gesichtern zu, nur Fritz Padöffke rief laut: „Härrschaft, gibt's denn schon gar kein anderes Thema als den ewigen Krieg? Nu fehlt bloß noch, daß Härr Mohr auf seinen Polenhängst klättert und ihn uns, in Freiheit drässiert, vorreitet!“

Der Angeredete richtete sich kampflustig auf. „Na was denn? Sollen wir uns vielleicht über Theater unterhalten? Oder den Herrn Regierungsassessor fragen, ob die Damen in Berlin noch immer so zum Platzen enge Röcke tragen, daß se nicht auf die Elektrische steigen können?“ Und der Kaufmann Bienko pflichtete bei: „Ja, da brennen wir doch schon die ganze Zeit darauf, wie der Herr Assessor sich zu der Polenfrage stellt? Ist ihm unser Ostmarkenverein auch bloß so eine Art von unvermeidlichem Übel, oder beabsichtigt er, ihm jede nur denkbare Unterstützung angedeihen zu lassen?“

Viktor sah den Sprecher befremdet an.

„Wie soll ich das auffassen, Herr...?“

„Bienko ist mein Name“, fiel der andere ein.

„Ich bitte um Entschuldigung, ich hatte ihn vorhin nicht verstanden. Also wünschen Sie von mir hier an der Kneiptafel eine offizielle Erklärung? Ich gestatte mir zu bemerken, dazu dürfte sich vielleicht in der nächsten Kreistagssitzung eine passendere Gelegenheit bieten!“

Herr Bienko schickte sich zu einer erregten Antwort an, der Bürgermeister hob die Hand.

„Einen Augenblick, verehrter Freund! Ich hoffe, Sie werden einsehen, es ist hier wirklich nicht der passende Ort, diese Frage zu behandeln. Sie aber, Herr Regierungsassessor, werden die erregte Stimmung des Herrn Beigeordneten begreifen, wenn ich Ihnen sage, er wird seit mehr als zwei Monaten von den Polen boykottiert. Er besitzt ein früher sehr gut gehendes Warenhaus. Von dem Augenblick an, wo die Polen ihn in Acht und Bann erklärten, ist sein Geschäft sehr zurückgegangen.“

„Bloß zurückgegangen?“ schrie Herr Bienko. „Kaputt bin ich, wenn das so weiter geht! Da, meine ich, hab' ich wohl einen Anspruch zu wissen, wie der Herr Regierungsvertreter denkt! Sollen die Polen uns Deutschen hier auf der Nas' 'rumtanzen dürfen, oder beabsichtigt man endlich energische Maßregeln zu ergreifen?“

In der Tischrunde gab es nachdrückliche Zustimmung. Herr Brauereibesitzer Mohr in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Heinrichsburger Ortsgruppe im Ostmarkenverein bemerkte mit einem anzüglichen Blick auf Viktor, die neuesten Maßnahmen der Regierung ließen nicht gerade auf das Anschlagen einer schärferen Tonart schließen. Eher wäre sogar das Gegenteil anzunehmen!

Viktor zwang sich zur Ruhe. Das ging auf ihn. Und da war es wohl am besten, das Geschwür auf der Stelle aufzustechen. Er sagte fest: „Ich glaube Sie zu verstehen, Herr Mohr. Aber es liegt nicht in meiner Art, mit versteckten Andeutungen zu arbeiten. Ich bitte Sie daher, mir klipp und klar zu sagen: Zweifeln Sie daran, daß ich hier die Landratsgeschäfte mit der unparteilichen Gerechtigkeit führen werde, die mir meine Beamtenpflicht vorschreibt?“

Herr Mohr erwiderte scharf: „Mit Unparteilichkeit ist uns nicht gedient, Herr Regierungsassessor! Stellung müssen Sie nehmen, und zwar Stellung für uns!“

„Soweit das im Rahmen der Gesetze und meiner amtlichen Befugnisse möglich ist, wird das geschehen, Herr Mohr!“

„Sehr schön, aber Gesetze und Befugnisse kann man bekanntlich immer auf zweierlei Arten auslegen! Lauwarm oder scharf!“

„Ich kenne nur eine Art der Auslegung: die pflichtmäßige! Ich bitte Sie daher ebenso dringend wie höflich, mit Ihrer Kritik meiner zukünftigen Amtsführung zurückzuhalten, bis Sie begründeten Anlaß zu Tadel zu haben glauben!“ Und er wollte aufstehen Der Herr Bürgermeister legte ihm die Hand auf den Arm.

„Verzeihung, Herr Regierungsassessor, wenn ich wieder als Mittelsmann auftrete, aber vielleicht liegt es im beiderseitigen Interesse, daß die Aussprache nicht an diesem Punkt abgebrochen wird. Und es nützt anscheinend nichts, um den Kern der Frage herumzugehen, wie die Katze um den heißen Brei... Also, Ihre Frau Mutter, die verwitwete Gräfin Komierowska, ist wieder nach Friedrichstein gekommen!“

„Bis vor einer Stunde war mir das nicht bekannt. Und was ziehen Sie daraus für Schlußfolgerungen?“

„Nun, es steht bei uns noch im schlimmen Gedächtnis, in welcher Weise sie sich früher betätigt hat. Sie war diejenige, die den Polen hier die Tür geöffnet hat. Auch jetzt zeigt sie ihre deutschfeindliche Gesinnung durch eine sehr unerfreuliche Agitation. Wir hatten hier in den letzten Wochen eine Art von Schulstreik. In unseren deutschen Schulen weigerten sich die Kinder der eingewanderten polnischen Bauern mit einem Male, an dem deutschen Religionsunterricht teilzunehmen! Der Streik wurde im allgemeinen rasch unterdrückt, mit Hilfe des Bakels, wo es nicht anders ging. Nur in Friedrichstein und Umgegend dauert er noch an. Da hat Ihre Frau Mutter nämlich für die Kinder der Instleute und polnischen Bauern des Dorfes Pokroppen eine eigene polnische Schule errichtet. Der deutsche Lehrer kann spazierengehen.“

„Na und ihre Beteiligung beim hiesigen Basar?“ rief Herr Bienko dazwischen.

„Kommt noch, Bereitester, warten Sie's, bitte, ab! Wir beschwerten uns natürlich in der Schulangelegenheit bei der Regierung, es kam ein ausweichender Bescheid. Die Dame muß anscheinend sehr einflußreiche Verbindungen haben. Dann weiter: Schon vor mehreren Jahren ist hier mit Unterstützung des Straz-Vereins ein polnisches Blättchen gegründet worden, der 'Mazur'. Es war nicht ungefährlich, erreichte aber doch nicht die Bedeutung als Kampfmittel, die seine Begründer wohl erhofft hatten. Mit einem Male hat sich das geändert. Das Blatt erscheint in besserer Aufmachung, innerlich wie äußerlich, wird seit Monaten in Tausenden von Exemplaren umsonst verschickt. In jedes masurische Bauernhaus trägt es jetzt das Gift der Verhetzung. Die Geldmittel dazu hat Ihre Frau Mutter gegeben! Und jetzt komme ich auf das Warenhaus unseres Freundes Bienko. In jeder Nummer steht ein großes Inserat: Masuren und Polen, kauft nur in dem Masurischen Basar! Tragt Euer Geld zu Eueren Freunden! Ihr werdet reell bedient, kauft billiger und besser! Und der Überschuß, den der Basar verdient, wird unter Aufsicht der hiesigen Geistlichkeit den Armen zugewandt!' Natürlich ist diese 'Geistlichkeit' der bekannte Propst Swiderski, die 'Armen' der notleidende Fonds zur großpolnischen Propaganda. Aber der Zulauf ist ungeheuer — leider auch aus der deutschen Bevölkerung. Die Waren sind fabelhaft billig und gut, der früher ziemlich unbedeutende Laden hat sich beträchtlich vergrößern müssen. Wie gefährlich er wirkt, mögen Sie daraus ersehen: Etliche von unseren Damen sogar haben es sich nicht versagen können, in diesem billigen Laden einen sogenannten Probeeinkauf zu machen! Und das Geld auch zu diesem Betrieb rührt von Ihrer Frau Mutter her! Sie werden also begreifen, Herr Regierungsassessor...“

„Daß wir uns das nicht länger gefallen lassen können“, fiel Herr Bienko ein. „Die Dame ist außerdem Ausländerin, hat durch ihre Ehe mit dem Grafen Komierowski die preußische Staatsangehörigkeit verloren!“

„Ganz recht, Herr Bienko“, sagte der Bürgermeister, ein wenig ärgerlich, „aber ich muß doch bitten, mich nicht immerfort zu unterbrechen!“ Und zu Viktor gewandt, fuhr er fort: „Sie werden es begreifen, daß es im hiesigen Kreise einiges Befremden erregte, als es bekannt wurde, daß gerade Sie zu unserem kommissarischen Landrat ernannt sind!“

„Sagen Sie dreist 'Aufregung', Herr Bürgermeister“, riefen Herr Mohr und Bienko gleichzeitig. Und Fritz Padöffke klopfte mit seinem Bierglas auf den Tisch.

„Bloß nich ungemütlich, Härrschaften! Wie sagt der Lateiner? Fortiter in re, suaviter in modo! Heißt auf deutsch: Alles mit der nötigen Ruhe, meine Härren!“

„Lassen Sie uns doch bloß mit Ihrer 'klassischen Bildung' zufrieden!“ schrie Herr Bienko zurück. „Wir wissen ganz allein, wie wir uns zu benehmen haben! Und mit Ihrer deutschen Gesinnung ist's auch nicht weit her, wo Sie den polnischen Basar umgebaut haben.“

„Ja, möchten Sie mir vielleicht das Kunststück vormachen, wie ich ohne Bauaufträge leben soll?“

Viktor hob die Hand. Auf seiner weißen Stirn stand eine feine blaue Ader.

„Darf ich einen Augenblick um Gehör bitten, meine Herren?“

„Aber natürlich... bitte sehr... selbstverständlich...“

„Nun denn, über Ihre Sorgen und Nöte bin ich ausreichend unterrichtet. Nur, was mir über meine Frau Mutter hier mitgeteilt wurde, war mir neu. Ich stehe mit ihr außer jeder Verbindung, habe sie seit meinem siebenten Lebensjahre nicht mehr gesehen. Ich höre soeben, sie besitzt nicht mehr die preußische Staatsangehörigkeit. Ich werde den Fall genau untersuchen. Auch ihre deutschfeindliche Tätigkeit...“ Er richtete sich straff auf, seine Stimme klang hart: „Und ist das alles richtig, was Sie hier vorgebracht haben, meine Herren, dann — Sie können sich darauf verlassen — werde ich an der zuständigen Stelle beantragen, meine Frau Mutter als lästige Ausländerin des Landes zu verweisen!... Jetzt bitte ich um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen, der Tag war recht anstrengend. Empfehle mich, meine Herren!“

Er wandte sich nach kurzer Verneigung zum Gehen. Fritz Padöffke vertrat ihm den Weg.

„Großartig hast du das gesagt, Doli, wie ein alter Römer! Aber wozu jetzt auf einmal so ungemietlich? Der offizielle Teil is vorbei, nu kann die Fidelitas losgehen! Und wir müssen das Wiedersehen doch ordentlich begießen, nicht wahr?“

Der Bürgermeister Wendtland gesellte sich zu ihm. „Ja, Herr Regierungsassessor, ich möchte mich der Bitte anschließen. Es wäre doch sehr bedauerlich, wenn Sie von dem ersten Abend in unserem Kreise eine Verstimmung mitnehmen würden.“

„Das ist durchaus nicht der Fall, Herr Bürgermeister. Die Herren fühlten das Bedürfnis, sich gleich in der ersten Stunde zu vergewissern, was sie von mir zu halten hätten. Ich habe ihnen die nötigen Aufklärungen gegeben. Daß ich dabei Dinge berühren mußte, die man sonst an der Kneiptafel wohl kaum erörtert, ist eine Sache für sich. Mit Ihnen, Herr Bürgermeister, hoffe ich jedenfalls auf ein recht gedeihliches Zusammenarbeiten, aber jetzt — ich bin wirklich müde und abgespannt! Empfehle mich gehorsamst.“

Er verneigte sich und ging, ohne einen neuen Einwand abzuwarten. Der Oberkellner Louis leuchtete ihm dienstbeflissen die Treppe hinauf, entschuldigte mit einem Schwall von Worten die mangelhafte Heizung und das Versagen des elektrischen Lichts in den oberen Räumen. Aber in einer Stunde sei ein Zimmer beim besten Willen nicht warm zu kriegen, und der einzige „Installateur“ am Platze, Herr Padöffke, wenig zuverlässig. Er verspräche immer, Arbeiter zu schicken, hielte aber nie Wort. Da brauchte er sich nicht zu wundern, wenn er eines schönen Tags polnische Konkurrenz auf den Hals bekäme...

Er entließ den Redseligen. In der trostlosen Umgebung schlug seine Stimmung plötzlich um. Er holte aus dem Koffer Feder und Papier und schrieb beim kümmerlichen Licht einer Stearinkerze einen langen Brief. Schilderte dem Bruder all seine Befürchtungen und Herzensnöte, verschwieg nicht, mit welchen Heimlichkeiten er die zwei Tage in Berlin vor ihm herumgegangen sei. Zum Schluß bat er eindringlich, ihm die unausbleiblichen schweren Konflikte zu ersparen. Er sei der Aufgabe hier nicht gewachsen, und es gebe ja genug Stellungen im preußischen Verwaltungsdienst, wo er nicht genötigt sei, der eigenen Mutter feindselig gegenüberzutreten. Ganz flehentlich bat er, denn das ginge doch gegen jedes Natur- und Menschengesetz, Richter zu sein über die eigene Mutter... Und während er schrieb, drängte sich ihm immer stärker der Argwohn auf: Ulrich mußte gewußt haben, daß die Mutter wieder in der alten Heimat war! Wie hatte er's da übers Herz bringen können, ihn hierherzuschicken?... Er riß den Brief mittendurch, verbrannte die Stücke sorgfältig im Ofen. Auch aus einem anderen Grunde noch durfte er ihn nicht abschicken. Das alles hätte er schreiben können, ehe er sich vor denen da unten in der großen Gaststube festgelegt hatte, jetzt war es zu spät. Er hatte sich selbst die Hände gebunden, von dem harten Wort kam er nicht mehr frei. Morgen lief es durch alle Gassen, war nicht mehr einzuholen. Und er mußte es einlösen, wenn er nicht als ein leichtfertiger Schwätzer gelten wollte, untauglich zu jeder verantwortlichen Stellung... Aber hatte er nicht recht gehandelt? Was war ihm die Mutter denn mehr als eine fremde Frau? Als ein lästiges Anhängsel hatte sie ihn abgetan, weil er ihr bei der neuen Ehe im Wege gewesen war! Wenn's nach ihr gegangen wäre, hätte er unter fremden Menschen verkommen können wie ein hilfloses kleines Tier... Da sollte er ihr mit besonderer Rücksicht begegnen, ihr zuliebe wohl gar seine Pflicht verletzen?... Und wenn er sich auf Herz und Nieren prüfte: Hatte hinter der Sorge um die Mutter nicht noch etwas anderes gestanden? Die Angst, es mit einer zu verderben, von der er im Wachen und Träumen nicht loskam? Das mußte ein Ende nehmen...

Und er griff nach einem frischen Bogen, schrieb mit fliegender Feder:

 

„Liebster alter Uli!

 

Im Telegrammstil nur ein paar eilige Worte! Bin glücklich angekommen. Sofort nach Eintreffen am Honoratiorenstammtisch des Hotels — heißt jetzt 'Schwarzer Adler' — hochnotpeinliches Zahnfühlen über meine Stellung zur Polenfrage. Ich ganz starr, bis sich's aufklärte: Meine alte Dame ist wieder in Friedrichstein, betätigt sich in unglaublicher Aktivität als rabiate Wühlerin in großpolnischem Sinne. Anscheinend im Besitze erheblicher Geldmittel. Einer der Herren behauptete, sie sei Ausländerin durch Ehe mit — inzwischen verstorbenem — Grafen Komierowski. Ich erklärte nachdrücklichst, ich würde ohne Ansehen der Person meine Pflicht erfüllen. Aber die ganze Erörterung recht peinlich und angreifend.

Es bleibt doch die Mutter! Die Stimmung der deutschen Kreise außerordentlich gereizt, sehr begreiflicherweise. Den Krieg mit Rußland sieht man hier als unvermeidlich und unmittelbar bevorstehend an. Was ich hörte, stimmte mich auch recht bedenklich. In den nächsten Tagen mehr, bin zum Umfallen müde. Herzlichst in Dankbarkeit

 

Vikki.“

 

Den Brief versiegelte er sorgfältig, trug ihn selbst in den am Eingang des Hauses angebrachten Postkasten. Aus dem Gastzimmer kam lautes Stimmengewirr, er hatte nicht übel Lust, noch einmal einzutreten. Ihn graute vor der Einsamkeit. Es ging nicht, er mußte den nötigen Abstand wahren.

Das Feuer im Ofen war ausgegangen, das frisch bezogene Bett fühlte sich feucht an. Er nahm um den seidenen Schlafanzug einen derben Lodenmantel, legte sich fröstelnd in die Kissen. Der Empfang in der alten Heimat war recht unfreundlich gewesen. Eine schier endlose Reihe von Abenden stand vor ihm, die nicht viel anders verliefen als heute. Was blieb da übrig? Der Weg nach Ottenwalde?... Und im Einschlafen mußte er grübeln, wie sich sein Schicksal wohl gestaltet hätte, wenn er an Stelle einer pflichtvergessenen eine richtige Mutter gehabt hätte... Eine, die ihn liebhatte und nach der — vielleicht unvermeidlichen — Trennung von dem Vater mitgenommen hätte in das neue Leben... Dann hätte er heute vielleicht als Vorkämpfer auf der Seite derer gestanden, die er jetzt nach Pflicht und Gewissen befehden mußte...

 

6.

 

Herr Fritz Padöffke ging in recht verdrießlicher Stimmung über den Marktplatz. Er hatte Haarweh und Sorgen. Die Nacht war wieder einmal recht lang, wild und kostspielig gewesen. Er entsann sich dunkel, er hatte im „Hotel zum Schwarzen Adler“ Sekt auffahren lassen. Als Versöhnungstrunk nach sehr scharfen politischen Streitigkeiten und einigen Duellforderungen. Die gänzlich verphilisterten Spießer aber hatten beides dankend abgelehnt, den Sekt und die Forderungen. Da war er beleidigt gegangen, hatte mit alter Großspurigkeit erklärt, der Oberkellner Louis solle die bestellten zwei Flaschen auf sein Wohl trinken. Eine Weile später hatte er in dem verschwiegenen Hinterzimmer einer anderen Kneipe gesessen, zwischen Roßtäuschern, Grundstücksschiebern und ähnlichem Volk. Immer, wenn er einen Ordentlichen „unter der Mühe“ hatte, wurde er von seinem Teufel in diese Spelunke geführt! Er wußte genau, die Bande spielte nicht ehrlich, aber in seinem trunkenen Mut bildete er sich ein, er wär' ihr trotzdem überlegen. Und bar Geld wollten die Kerle sehen, wenn man mitspielte, oder auf drei Tage laufende Wechsel. Gott allein mochte wissen, für wie viele hundert Mark er wieder einmal unterschrieben hatte...

Früher, als die Geschäfte noch gut gingen, war das eine Bagatelle gewesen. Aber der Bürgermeister hatte nur zu sehr recht gehabt, als er meinte, die verdammte Kriegsfurcht wirke geradezu verheerend auf jeden Unternehmungsgeist. Kein Mensch in der Stadt entschloß sich zu einem Neubau, kaum die notwendigsten Ausbesserungen wurden vorgenommen. An solchem Plunderkram waren die Geschäftsspesen kaum zu verdienen! Dabei aber setzten die Herren vom Ostmarkenverein sich aufs hohe Roß, warfen ihm vor, er sei abtrünnig von der deutschen Sache, weil er den Umbau des polnischen Basars ausgeführt habe. Zahlten sie ihm vielleicht eine Pension, oder sollte er mit Frau und vier Kindern, die er in Erfüllung vaterländischer Pflicht in die Welt gesetzt hatte, verhungern?

Darüber hatte es nach dem Fortgang des Herrn von Dolinga einen erregten Streit gegeben. Und in der Hitze des Wortgefechts hatte er einige der Herren — er wußte nicht genau mehr, welche — zum Duell gefordert. Der Amtsrichter hatte von oben herab bemerkt, er solle sich doch nicht immer als alten Studenten ausspielen! Alle Welt wisse doch, daß seine lächerliche Kommentreiterei von einer „Pennälerverbindung“ stamme. Und der Brauereibesitzer Mohr hatte unter dem johlenden Beifallsgebrüll der anderen gesagt, die Forderung an sich sei ganz gut und schön. Aber wenn er sie verkaufen wolle, bekäme er keine sechs schlechten polnischen Groschen dafür.

Da hatte er, Fritz Padöffke, gewesener dreimal Erster der Cheruskia, klein beigegeben und so tun müssen, als ob er mitlachte, denn von diesen Philistern hing er leider ab. Den meisten schuldete er Geld, mit dem Brauereibesitzer aber durfte er's erst recht nicht verderben. Der plante nämlich einen umfangreichen Erweiterungsbau, hatte ihn nur unter dem Drucke der Kriegsfurcht auf ruhigere Zeiten verschoben. Schon jetzt aber traten sich die Bauunternehmer von Lyck bis Allenstein in seinem Kontor gegenseitig die Hacken ab. Und diesen Bauauftrag mußte er haben, sonst war er verloren! Ekelhaft war ein solches Dasein, vor satten Dickköpfen den Pojatz zu spielen, damit sie ihm von Zeit zu Zeit ein kleines Geschäft zuwarfen wie dem um den Tisch lungernden Hund ein Stück Brot... Am gescheitesten, man nahm einen Strick und hängte sich auf! Oder besser, man täuschte geschickt einen Unfall vor, damit das arme Weib wenigstens die paar tausend Mark Lebensversicherung behielt... Die hatte er ihr — Gott sei Dank — noch zu einer Zeit als Sicherung für ihr Eingebrachtes verschrieben, als kein Mensch auf die Vermutung kommen konnte, dieser Notariatsakt sei eine strafbare Schiebung. Ein Dutzend Arten hatte er sich schon ausgedacht gehabt, wie er die argwöhnische Versicherungsgesellschaft am besten täuschen könne — noch jedesmal vor dem Sprung ins Dunkle hatte sich ein Rückweg ins trotz aller Sorgen, ach, so schöne Leben aufgetan. Irgendein unerwartetes Geschäft, das aus seinem genialen Kopf gesprungen war wie die gepanzerte Pallas Athene aus dem Haupte ihres Vaters Zeus.

Und mit einem Male straffte sich seine Gestalt, er hob den Kopf, so weit es ging, aus den fettgepolsterten Schultern. Er, Fritz Padöffke, der an Geist und klassischer Bildung all die Banausen hier um Haupteslänge überragte, sollte sich verloren geben? Wo ihm ein gütiges Geschick den Jugendfreund in den Weg geführt hatte?... Und er ging festen Schrittes quer über den Markt ins „Hotel zum Schwarzen Adler“, fragte den Oberkellner Louis, ob Herr Regierungsassessor Freiherr von Dolinga schon zuwege sei.

„Seit mehr als zwei Stunden im Landratsamt“, lautete die kurze Antwort. Auch dieses Wurm von Kellner nahm sich schon heraus, ihn nicht mehr mit der nötigen Höflichkeit zu behandeln. Na, das sollte bald anders werden!

Er runzelte die Stirn:

„Nanu? Er wollte doch auf mich warten? Aber ich hab' mich verspätet, da ist er entschuldigt. Also verbinden Sie mich mal telephonisch!“

Aus dem Landratsamt meldete sich der Kreissekretär Wichotta.

„Moin, Wichotta, hier Padöffke! Ihr Chef zu sprechen? So... dringend beschäftigt?... Na, denn grüßen Sie den braven Dolinga von mir, in 'ner halben Stunde mochte er sich gefälligst für mich frei machen! Da komm' ich höchstpersönlich zu ihm 'raus.“

Und zu dem Oberkellner Louis bemerkte er mit der richtigen Mischung von Selbstbewußtsein und Herablassung:

„Nämlich, es handelt sich um den Neubau des Kreiskrankenhauses...“ Wenn er mit sozial tiefer Stehenden sprach, vermied er jeden Anklang an den sonst mit einer gewissen Absichtlichkeit betonten heimatlichen Dialekt.

„Ach“, sagte Herr Louis erstaunt, „soll'n wir wirklich e neies Krankenhaus kriegen?“

„Zwischen mir und Dolinga eine längst beschlossene Sache! Ich wußte doch vor vier Wochen schon, daß er unser neuer Landrat wird.“

„Entschuldigen Se, Härr Baumeister, aber gästern, wie Se ihm begrießten, hat er Se doch gar nich gekannt?“

„Dummer Kerl, weil wir uns fünfzehn Jahre nicht gesehen hatten, bloß immer schriftlich miteinander korrespondiert! Na und jetzt, lieber Louis, mit einer Geschwindigkeit von Null Komma fünf ein ordentliches Katerfrühstück! Ein Fläschchen Rauentaler und Kaviar mit dem großen Löffel.“

„Härr Baumeister“, sagte Louis, noch nicht ganz überzeugt, „mit dem Säkt von gästern krieg' ich aus den letzten vier Wochen nu all zweihundertzehn Mark! Und wegen Kaviar müßt' ich erst e neie Pfundbix aufmachen.“

„Na, denn bringen Sie das ganze Büchschen nur her! Wär' nicht das erste Pfund, das ich auf einen Sitz vertilgt hätte. Aber heiß gemachte Brötchen bitt' ich mir dazu aus! Wer den Kaviar anders ißt, verdient, daß er grüne Seife schluckt.“

Da machte der Oberkellner Louis sich an die Ausführung der Bestellung. Wenn einer den Neubau des Kreiskrankenhauses so gut wie in der Tasche hatte, blieb er einem armen Kellner die Zeche von vier Wochen nicht schuldig. Und es tat ihm leid, daß er sich beim Zusammenzählen der vielen Posten bloß um dreißig Mark zu seinen Gunsten geirrt hatte.

Herr Padöffke aber ließ sich den Kaviar gut schmecken, schlürfte behaglich den guten Rheinwein. Eine Kleinigkeit schien es ihm, den Jugendfreund zu überzeugen, der Neubau des Krankenhauses müsse ohne jede Verzögerung in Angriff genommen werden. Er brauchte ihn ja nur daran zu erinnern, wie sie miteinander gestanden hatten! Ein Herz und eine Seele waren sie gewesen. Und wenn er vertraulich bemerkte: „Lieber Doli, du weißt, ich bin ein diskreter Mensch, und wie sagt der Lateiner? Manus manum lavat“ — ja, dann war die Sache in Ordnung!... Auch andere Bauten im Kreis gab es auszuführen, die leidige Konkurrenz wurde glatt ausgeschaltet, und er bestimmte die Preise...

„Na prost, alter Paddi“, sagte er wohlgefällig zu sich selbst, „hast's mal wieder geschafft!“

Die Zukunft lag heiter und sonnig vor ihm, in seiner Seele war kein Gedanke mehr an eine der vielfältigen Arten, auf die ein Mensch sich vom Leben zum Tode bringen konnte. —

 

***

 

Viktor von Dolinga war früh aufgestanden, die hell ins Fenster scheinende Sonne hatte ihn geweckt. Er blickte hinaus... wahrhaftig, auch hier im Osten schient über Nacht Frühling geworden zu sein! Die Fliederbüsche in den kleinen Vorgärten hatten grüne Spitzen, und oben aus dem Kranz einer bronzenen Viktoria in der Mitte des Marktplatzes, die wohl das übliche Kriegerdenkmal vorstellen sollte, saß ein Starmatz; pfiff sich eins, um dann als grün schimmerndes Bündel Federn irgendwohin in die Weite zu schwirren...

Zwei saubere Mädchen mit Körben am Arm kamen aus einer Ladentür, ein baumlanger Kommis in blauer Schürze dienerte hinter ihnen her, rieb sich die roten Hände; wie große Hummerscheren nahmen sie sich aus. Die hübschen Mädel wandten sich zu ihm um, zeigten lachend die weißen Zähne. Der lange Schlaks in der Ladentür machte verliebte Augen, legte eine der großen Hummerscheren auf die Stelle, wo unter blauer Schürze wohl sein leicht entzündliches Herz schlug... Viktor mußte auflachen.

Der Frühling war da, trieb sein Wesen in jeder Kreatur. Und er beschloß, nachher vom Amt aus in Ottenwalde telephonisch anzufragen, ob's den Herrschaften recht sei, wenn er sich erlaubte, am Nachmittag die Grüße seines Bruders zu überbringen.

Er kleidete sich rasch an, frühstückte in der glasgedeckten Veranda des Hotels. Der Kaffee war ausgezeichnet, die Brötchen knusperig und der Schinken mild und zart wie ein Rosenblatt. Der Oberkellner Louis stand in achtungsvoller Entfernung, bereit, auf den leisesten Wink hin herbeizustürzen.

Auf der linken Seite des Marktplatzes erhob sich, drei Stockwerke hoch, ein roter Ziegelbau mit spiegelnden Schaufenstern. So gut man aus der Entfernung erkennen konnte, waren die einzelnen Auslagen recht geschmackvoll aufgemacht. Passend abgestimmte farbige Stoffbahnen, eine Gruppe von weiblichen Wachsfiguren in Frühjahrskostümen, eine Pyramide aus Wäschestücken, in einem anderen Fenster Porzellan und Wirtschaftsgeräte... ordentlich großstädtisch nahm sich das Ganze aus. „Mazurski Bazar“ stand in halbmannshohen Buchstaben über der Mitte der Front.

Viktor winkte sich den Oberkellner näher heran.

„Sagen Sie mal, Herr...“

„Kalinowski mein Name! Aber in diesem Haus werden die Oberkällner immer Louis gerufen.“

„Na denn also, Herr Louis, ist das Warenhaus des Herrn Bienko auch so einladend aufgemacht wie das da drüben?“

Der Oberkellner zuckte diplomatisch die Achseln.

„Schwer zu sagen, Harr Baron. Wälche meinen ja, wälche nei!“

„Und Ihre persönliche Meinung?“

„Nur sehr bescheiden, Harr Baron. Absolut nich maßgebend.“

Viktor mußte über den abhängigen armen Teufel, dem die Frage wohl recht unbequem war, lachen.

„So bescheiden sie ist, 'raus damit! Und frei von der Leber weg, ich verrat' Sie nicht. Mir liegt an dem Urteil eines vernünftigen, mit den hiesigen Verhältnissen vertrauten Menschen.“

Herr Louis fühlte sich offenbar geschmeichelt. Er sah sich vorsichtig um, dämpfte seine Stimme.

„Härr Baron glauben mir, daß ich ein guter deitscher Patriot bin?“

„Ich bin davon überzeugt!“

„Na sehen Härr Baron, und ich kauf' auch da drieben!“

„Die Möglichkeit!“

„Nich wahr? Aber mit Einschränkung. Gewissermaßen mit mildernde Umstände! Nur was ich so persehnlich brauch'. Wäsche — unsereins, wo man immer im Frack gehen muß, braucht viel Wäsche, alle drei Tage 'e frisches Oberhämmd — Schlipse dazu, Seife, Stiefel, Zahnpulver; auch den Bruch an den Gläsern, den ich hier ersätzen muß — der Lorbaß von Stift schmeißt manchen Tag mehr wie fier'n Dahler entzwei — ja, aber ich kauf' natürlich als guter Patriot bloß indirekt! Sälbst bin ich noch nich mit einem Fuß da drieben in dem — deitscherseits — verfemten Laden gewesen! Ich muß auf die Härrschaften Ricksicht nehmen, wo in unserm Haus verkehren. Wär' ich ein paar Straßen weiter im 'Weißen Adler' — man hat schon oft genug von dort aus nach mir geangelt, aber ich hab' immer mit Entristung abgelehnt — ja, da könnt' ich kaufen, wo ich Lust hätt'!“

„Ach, der 'Weiße Adler' ist wohl hier zu unserem 'Schwarzen' eine Art von polnischem Konkurrenzunternehmen?“

„Ja, aber es is vorleifig man noch 'e sehr mäßiger Betrieb! So der lätzte Knopf is dem pollakschen Besitzer noch nich aufgegangen. Ein kleiner Provinziale! Da könnt' es ihm so passen, einen Fachmann zu kriegen, wo in Großstädten konditioniert hat. In Keenigsbärg, Danzig, sogar mal vierzehn Tage in Bärrlin!“

„Sieh mal an, auch in Berlin! Aber, um auf unseren Warenhaushammel zurückzukommen: Sind die Waren in dem polnischen oder, wie er sich wohl zu Täuschungszwecken nennt, 'masurischen' Basar billiger als bei Herrn Bienko?“

Herr Louis ließ seine Stimme zu einem Flüstern sinken:

„Leider auch bässer, Härr Baron, bedeitend bässer!“

„Ja, zum Donnerwetter, dann braucht Herr Bienko sich über den Rückgang seines Geschäftes doch nicht zu wundern?“

„Verzeihung, Härr Baron, wänn ich mir gehorsamst erlaube: So einfach liegt die Sache dänn doch nich! Härr Bienko, wie er das väterliche Haus mit dem Geschäft iebernahm, mußt' drei Geschwister auszahlen, fing mit Schulden an. Und er kauft seine Waren mit drei Monaten Ziel. Der Pole da drieben aber zahlt bar und schmeißt!“

„Was tut er?“

„Also er gibt 'ne ganze Masse Waren zum Einkaufspreis ab, ohne jeden Nutzen. Das kann ich beurteilen, in Gläsern zum Beispiel. Da känn' ich die eißersten Angrohpreise ganz genau! Also da wär' man doch ein Esel, wänn man die Konjunktur nich ausnitzen würd'! Wänn der Pole die deitsche Konkurränz kaputtgemacht hat, wird er mit seinen Preisen schon wieder in die Höhe klättern!“

„Und dann kauft man als guter Patriot natürlich wieder bei dem Deutschen? Falls nämlich noch einer da ist!“

„Natürlich, Härr Baron!“

„Aber zu einem solchen Schleuderbetrieb gehört doch ein ganz beträchtliches Kapital?“

Herr Louis zuckte im speckglänzenden Frack die Achseln.

„Die Polen haben immer Gälld!“

Viktor zog ein blankes Fünfmarkstück, legte es auf das saubere Tischtuch.

„Nun kommen Sie mal noch ein bißchen näher, mein Verkehrtester!... Ich darf wohl annehmen, Sie haben die Auseinandersetzung gehört, die ich gestern abend mit den Herren am Stammtische hatte?“

„Ich würd' vorher ja nich 'rausgeschickt, Härr Baron.“

„Scharmant! Dann können Sie sich vielleicht auch denken, daß ich einiges Interesse habe, von einem mit den hiesigen Verhältnissen vertrauten Manne zu hören, ob wirklich meine... na also, die Gräfin Komierowska das Kapital zu den verschiedenen polnischen Neugründungen hergegeben haben mag?“

„In der Stadt wird's nich anders erzählt! Aber...“ Herr Louis brach ab und sah sich von neuem vorsichtig um.

„Na ja, für dieses 'Aber' liegt eben das Fünfmarkstück da auf dem Tisch! Bitte, bedienen Sie sich gefälligst!“

Herr Louis schüttelte den mit Pomade reichlich eingefetteten Kopf.

„Härr Baron werden verzeihen... Trinkgällder gehören ja zu meinem Geschäft, aber in diesem Fall... unsereins hat doch auch ein Poängdonnehr... Bloß ich möcht' betonen, ich bin wirklich ein guter deitscher Patriot.“

„Tun Sie mir den einzigen Gefallen und verkneifen Sie sich endlich mal Ihre patriotischen Beklemmungen!“

„Also dann, Härr Baron... es hat mir doch zu sehr ins Härrz geschnitten, daß Härr Baron als preißischer Beamter gegen die eigene Mutter... 'Wie auf dem Theater', sagt' ich zu unserer kalten Mamsell! Und ich möcht' ergebenst befürworten, wänn die Frau Gräfin wirklich so viel Gälld hätt', müßt' ich's wissen!“

Viktor lehnte sich erstaunt zurück.

„Nanu, sind Sie ihr Schatullenverwalter?“

„Nei, das nich! Aber ich mein', eh' daß sie fier den 'Masurschen Basar' hunderttausend Mark hergibt, gibt se doch lieber dem eigenen Härrn Sohn zehntausend!“

„Erlauben Sie mal“, sagte Viktor. Ihm war ganz wirr im Kopfe. „Mir soll meine Mutter zehntausend Mark...?“

„Aber nei doch, dem jungen Härrn Grafen Komierowski, wo auch in Friedrichstein zu Besuch ist!“

„Ach so“… Die Tatsache, daß plötzlich ein neuer Stiefbruder aus der Versenkung auftauchte, benahm ihn so, daß er das folgende nur mit halbem Ohre hörte. Jetzt konnte er sich's erklären, daß die Mutter für ihn nichts übriggehabt hatte, seit dieses Bürschlein auf der Welt gewesen war!... Herr Louis erzählte unterdessen vertraulich, er habe von dem Agenten Katzorrek — dem jungen, nicht dem gänzlich heruntergekommenen alten — gehört, der Graf Komierowski suche unterderhand zehntausend Mark auf Wechsel. Das Geschäft sei aber nicht zustandegekommen, weil es dem „Konzern von Geldgebern“ nicht sicher genug gewesen sei. Die Verlobung in Friedrichstein sei doch eine höchst unsichere Sache.

Jetzt horchte Viktor plötzlich wieder auf.

„Die Verlobung mit wem?“ fragte er.

„Na mit der jungen Komteß Zembricka! Und wänn der Katzorrek gut unterrichtet is — er hat riesig feine Beziehungen zu Friedrichstein, der Kammerdiener vom Härrn Grafen is sein Duzbruder — ja, dann kommt's ieberhaupt nich zu dieser Verlobung, sondern zu einer ganz anderen. Der jungen Komteß steht viel 'was Höheres in Aussicht!“

„Ach nee“, sagte er belustigt. „Doch nicht etwa ein Prinz?“

„Härr Baron haben's geraten, ein polnischer Prinz! Aber Seine Durchlaucht kommen erst in zirka vier Wochen.“

Ein Geschäftsreisender trat in die Glasveranda, rief laut: „Ober, mein Frühstück!“

„Sofort!“ Herr Louis wollte sich in Bewegung setzen, Viktor hielt ihn zurück.

„Halt, und Ihr Trinkgeld?“

„Bedaure, Härr Baron! Aber wänn Harr Baron — unter Diskretion natierlich — wieder mal 'was zu erfahren winschen...“

„Na denn vielleicht als Vorschuß?“

Das schien Herrn Louis einzuleuchten. Er ließ das Geldstück in der Westentasche verschwinden, empfahl sich mit einer Verneigung, die einem Tanzmeister Ehre gemacht hätte.

Viktor begab sich in seltsam aufgeräumter Stimmung auf den Gang zum Landratsamt. Woher die gute Laune stammte, mochte er sich nicht fragen. Wenn er zu grübeln anfing, verflog sie vielleicht wieder. Und sein Weg schien ihm klar vorgezeichnet. Den hatte er gestern abend unverrückbar festgelegt. In einigen Tagen lud er die Gräfin Komierowska zur verantwortlichen Vernehmung ins Landratsamt. Samt diesem Herrn Sohn aus zweiter Ehe, der sich um die Komteß Jelena bemühte. Und wenn sich's bewahrheitete, daß beide nicht die preußische Staatsangehörigkeit besaßen, stellte er unnachsichtlich den Antrag auf Landesverweisung. Bis dieser „polnische Prinz“ aber in Erscheinung trat, konnte alles mögliche passieren...

Er biß in jähem Zorn gegen sich selbst die Zähne aufeinander. Verdammt noch mal, kam er denn von dem polnischen Fräulein überhaupt nicht mehr los? Mußte alles, was er dachte, im letzten Ende auf sie fliegen wie der Eisenstaub auf einen Magneten? Da hatte er sich gestern vermessen, er werde nichts anderes kennen als seine Pflicht? Und war mit energischem Entschluß gegen eine solche — wie ihm scheinen wollte — fast schon krankhafte Gemütsverfassung denn gar nichts auszurichten?...

Ein Herr zog vor ihm den Hut, kam von der anderen Seite der Straße herüber. Viktor blickte auf, der Herr Bürgermeister!

„Na, so früh schon zuwege, Herr Regierungsassessor?“

Er zwang sich zu einer lustigen Antwort.

„Biereifer, Herr Bürgermeister! Konnte es nicht erwarten, mich in die Geschäfte zu stürzen.“

„Bei mir ist's mehr das Bedürfnis, einen ganz ungewohnten 'Höhenrauch' in der frischen Luft verfliegen zu lassen. Nach Ihrem Abgange gab es im 'Schwarzen Adler' noch eine recht lange Sitzung.“

„Mit endgültiger Lösung aller schwebenden sozialen und politischen Fragen natürlich?“

„Selbstverständlich! Nur jeder löste sie, wie üblich, für sich allein. Zum Schluß waren die verschiedenen Lösungen mal wieder nicht zusammenzubringen. Aber — mein Dienst fängt erst um Neune an — darf ich Sie auf dem Weg zum Landratsamt ein Stückchen begleiten?“

„Es ist mir eine Ehre, Herr Bürgermeister!“

Ein Weilchen gingen sie schweigend nebeneinander her, plötzlich fragte Herr Wendtland ganz unvermittelt: „Sie sind mit dem hiesigen Bauunternehmer Padöffke wohl sehr befreundet, Herr Regierungsassessor?“

„I bewahre! Seit — na sagen wir mal — fünfzehn Jahren aus meinem Gesichtskreis vollständig verschwunden.“

„Er behauptet aber, Sie hätten seit der Schulzeit immer in reger brieflicher Verbindung gestanden.“

„Muß einseitig gewesen sein, mir ist nichts davon bekannt. Aber wenn ich fragen darf, weshalb legen Sie auf diese Feststellung solchen Wert?“

„Weil ich — so unangenehm mir eine solche Aufgabe auch ist — Sie warnen muß, Herr Regierungsassessor! Er ist, gelinde gesagt, politisch unzuverlässig. Ich mag nicht alle Anschuldigungen glauben, die gegen ihn vorgebracht werden... es bleibt genug übrig, um den Antrag zu rechtfertigen, ihn aus dem Ostmarkenverein und damit natürlich aus der hiesigen deutschen Gesellschaft auszuschließen.“

Viktor blieb stehen.

„Herr Bürgermeister, als ich meine Berufung hierher erhielt, war ich ja darauf gefaßt, starke Gegensätze zu finden. Aber daß die Verbitterung so groß ist?! Und daß es gar keine Möglichkeit geben soll, diese Gegensätze zu überbrücken?“

Herr Wendtland schüttelte den grauen Kopf.

„Herr Regierungsassessor, als ich vor siebzehn Jahren hier mein Amt übernahm, trug ich mich mit ähnlichen Gedanken! Sie werden gestern abend gemerkt haben, ich bin sehr für Kompromisse. Aber es geht nicht, die Herren Polen wollen nicht! Unter dem Schutze unserer Gesetze brechen sie in unser friedliches Land, machen uns die Masuren rebellisch, es kann nur den offenen Kampf geben. Aber all unser Wehren nützt nichts, wenn uns die Staatsregierung nicht hilft! Durch ein für Ostpreußen besonders zugeschnittenes Gesetz. Kommt es aber nicht bald, haben wir hier in ein paar Menschenaltern dieselben trostlosen Verhältnisse wie in Oberschlesien! Aber vielleicht zerbrechen wir uns auch ganz unnütz den Kopf. Wer will heute sagen, was aus unserem geliebten Masurenländchen nach dem Krieg wird?“

Hinter ihnen erklang lauter Hufschlag und Wagenrollen, in der engen Straße mußten sie zur Seite treten. Zwei langmähnige Orlofftraber vor einem hochräderigen Selbstfahrer brausten windschnell vorüber. Auf dem Bocke eine elegante, nicht mehr junge Dame in hellem Mantel, die Zügel und Peitsche fest in den Händen. Neben ihr ein schmächtiger junger Mann in modischem Überzieher, der Kutscher in grüner Livree auf dem Rücksitze.

Der Bürgermeister hatte in kühler Höflichkeit den Hut gezogen, die elegante Dame neigte flüchtig die Peitsche, sah kaum hin. Viktor war blaß geworden bis in die Lippen. Das Gesicht kannte er. Es hatte sich in mehr als zwanzig Jahren nicht viel verändert. Wenn er's in Gedanken mit dem einzigen Bilde verglich, das er besaß, waren die Züge nur ein klein wenig schärfer geworden...

Das Gefährt war hinter einer Straßenbiegung verschwunden, sie setzten ihren Weg fort. Und Herr Wendtland — als wenn er die Gedanken seines Begleiters fortgesponnen hätte — sagte: „Eine der seltenen Frauen, an denen das Alter anscheinend spurlos vorübergeht. Sie fährt jetzt in den 'Weißen Adler', ein kleines Hotel, in dem sich die polnische Gesellschaft trifft; dort spannt sie aus und geht in den Basar. Sie soll für ihr Geld recht scharfe Kontrolle üben. Der junge Herr Graf aber begibt sich auf die Redaktion des 'Mazur', um dort als 'Volontär' zu arbeiten. In Wirklichkeit geht er ein Haus weiter. Zu der gefälligen Witwe Florianska. Da kommen noch mehr junge Herren hin vom selben Kaliber. Leider auch ein paar deutsche. Und es wird scharf gearbeitet, am Kartentisch. Die frühe Vormittagsstunde erklärt sich daraus, daß der junge Herr Graf zu den übrigen Tageszeiten unter strenger Kontrolle seiner Frau Mutter steht. Da richtet sich der ganze Betrieb nach ihm, denn er ist in der Regel der leidtragende Teil. Unterderhand hab' ich erfahren, er soll in wenigen Monaten ein Vermögen verloren haben. Ich könnte ja, kraft meiner Polizeigewalt, einschreiten, aber ich sage mir, was geht's mich an, wenn so ein polnisches junges Nichtstuerchen sich das Genick bricht? Und schließe ich die eine Bude, tut sich drei Tage später ein Haus weiter eine andere auf.“

Viktor konnte nichts erwidern. Es würgte ihn am Halse, er hatte Mühe, die Tränen zu verbeißen. Das war seine Mutter gewesen, die da — ohne ihn zu kennen — vorübergefahren war!... Mit einem lässigen Senken der Peitsche war sie vorübergefahren wie an einem wildfremden Menschen. Und neben ihr ein anderer, um den sie sich sorgte. Ein aus zweiter Ehe Geborener, dem sie ihre ganze Liebe zuwandte. Ihn aber hatte sie ohne ein Wimperzucken verlassen... Ein glühender Zorn stieg in ihm empor, schüttelte ihn, daß er Mühe hatte, sein Gesicht zu wahren.

Der Herr Bürgermeister blieb an einer Straßenkreuzung stehen.

„Hier muß ich abbiegen, Herr Regierungsassessor. Ehe wir aber auseinandergehen — würden Sie mir's verübeln, wenn ich mir ein offenes Wort erlaube?“

„Aber ich bitte sehr, durchaus nicht! Und wie Sie wohl bemerkt haben, ich bin in einer Lage, in der man den Zuspruch eines älteren — darf ich sagen? — Freundes gebrauchen kann.“

Herr Wendtland ergriff seine Hand.

„Das dürfen Sie, mein lieber Herr von Dolinga! Ich will keine Liebeserklärungen machen, aber Sie waren mir vom ersten Augenblick an sympathisch. Und da möchte ich sagen, Ihre Erklärung von gestern abend war gewissermaßen unverbindlich! Sie konnten unter den Anzapfungen der Herren gar nicht anders! Aber ich habe mir's reiflich durch den Kopf gehen lassen: Kein Mensch kann's Ihnen verübeln, wenn Sie Ihre vorgesetzte Behörde um schleunige Versetzung bitten. Es geht gegen die Natur, daß ein Sohn die eigene Mutter maßregeln soll. Was Ihnen qualvoller Gewissenskampf ist, bedeutet für einen Fremden so viel, als wenn er eine Feder in die Luft bläst. Ein Termin wie jeder andere, nichts weiter. Und wenn Sie gestatten, will ich zur Unterstützung Ihres Gesuches ein Memorandum aufsetzen. Ich brauche darin nichts weiter auszuführen, als daß ein großer Teil der hiesigen Bürgerschaft ein gedeihliches Wirken Ihrerseits für ausgeschlossen hält. Wegen Ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen zu gewissen Persönlichkeiten, die im Vordergrund der hiesigen Polenbewegung stehen.“

Viktor schüttelte kräftig die dargebotene Hand. Aber trotz aller Anstrengung hatte er seine Stimme noch nicht ganz in der Gewalt.

„Aus tiefstem Herzen Dank, Herr Wendtland! Ich werd's Ihnen nicht vergessen. Aber ich will nicht zurück! Ob's nun Mißgriff war oder Bestimmung, daß ich hier angesetzt wurde — ich muß meine Pflicht tun! Sie wird mir nicht ganz so schwer, wie Sie vielleicht glauben, denn... nun, denn Sie haben ja eben gesehen, wie meine Mutter an mir vorübergefahren ist! Ohne sich nach mir umzusehen. So ähnlich geht mir's schon seit mehr als zwanzig Jahren.“

„Schrecklich“, sagte der Bürgermeister. „In gewisse altmodische Begriffe will so etwas absolut nicht hinein. Na denn Gott befohlen, Herr von Dolinga! Sie werden mir's hoffentlich nicht als Unbescheidenheit auslegen, wenn ich mich Ihnen auch weiter zur Verfügung stelle! Falls Sie irgendwie Rat oder Auskunft brauchen?“

„Ich werde mich wohl bald mal einfinden“, sagte Viktor ernst. „Und ich danke Ihnen nochmals herzlich...“

Sie schieden voneinander, Viktor sah der hohen Gestalt des Bürgermeisters lange nach. Beneidenswert schien ihm ein solcher Mann, der in abgeklärter Ruhe und ohne Anfechtungen seinen Weg ging. Ihm hatte ein feindliches Schicksal Unrast und Kampf in die Wiege gelegt, Kampf gegen das eigene Blut. Und etwas anderes war es wohl, wenn man von der Mutter wie von einer Fremden sprach, als wenn man sie leibhaftig vor sich sah... Aber mit den weichherzigen Gedanken mußte endlich einmal aufgeräumt werden! Selbst wenn er an diesem Kampfe zugrundegehen sollte, er durfte keinen Zoll breit von der für Recht und Pflicht erkannten Bahn weichen.

Das Landratsamt lag auf einem leicht ansteigenden Hügel vor dem Stadttor, umgeben von einem großen, parkähnlichen Garten. Ein weiter Vorplatz schied es von der Straße, inmitten eines großen Rasenstückes war ein Gärtner dabei, ein rundes Beet umzugraben. Ein junger Herr mit kahlgeschorenem Kopf und schmissebedecktem Gesicht, die hagere Gestalt in einem hellkarrierten, modischen Anzug, rauchte seine Zigarette und sah ihm schweigsam zu. Ein possierlicher Zwergteckel jagte, laut kläffend, über den Rasenplatz hinter einigen Schmetterlingen her, die ihm offenbar als jagdbares Wild erschienen. Als er den fremden Eindringling erblickte, versperrte er ihm mit zornigem Läuten und Stürmen den Weg.

Der junge Herr, dem im narbenbedeckten Gesicht eine übermäßig große Hakennase saß, rief, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, hinüber:

„Sie wünschen?“

„Zunächst mal, daß Sie die Freundlichkeit haben, die giftige kleine Kröte hier abzupfeifen, und dann möchte ich das Landratsamt besichtigen!“

„Beides wird nicht zu machen sein, Verehrtester! Der Teckel gehorcht mir nicht, und mit dem Landratsamt ist das so 'ne Sache! Für den davon Betroffenen ist's eine sehr unangenehme Einrichtung, das weiß ich genau. Aber daß es eine Sehenswürdigkeit sein soll, davon steht nichts in den Bestimmungen.“

Viktor mußte auflachen. Der trockene lange Gesell gefiel ihm, und bei dem seltsamen Empfang war seine schwarze Laune verflogen.

„Kommt ganz darauf an, Verehrtester“, rief er zurück, „für wen diese Bestimmungen erlassen sind! Wenn man zum Beispiel die Aussicht hat, hier mehrere Jahre als Landrat zu sitzen, dürfte das Amt am ersten Tage wohl eine Art von Sehenswürdigkeit sein.“

Jetzt nahm der Lange die Zigarette aus dem Munde, versuchte, den Teckel zu beschwichtigen, und kam ohne Übereilung näher.

„Dann habe ich wohl die Ehre mit meinem neuen Chef? Herrn von Dolinga?“

„So heiße ich.“

„Sehr erfreut! Ich heiße Heidenreich. Wie ich von vornherein bemerken möchte, der Name ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Klotzig wohlhabend ist mein Vater, ich selbst bin vorläufig ein mäßig begüterter junger Assessor. Unter Ihrem Herrn Vorgänger habe ich mich bei der hiesigen Einwohnerschaft in Stadt und Land wegen der Steuereinschätzung unbeliebt gemacht. Seit seiner Versetzung geschieht dies vertretungsweise auch in den anderen Verwaltungszweigen.“

„Aber Sie scheinen dabei nicht Ihre Ruhe zu verlieren, Herr Kollege?“

„Einer meiner wenigen Grundsätze! Aufregung verkürzt das Leben. Und mit Ruhe zieht sich alles am besten zurecht. Aber ich bin sehr froh, Herr Kollege, daß Sie früher gekommen sind, als ich erwartete. Mein alter Herr telephonierte gestern nachmittag, die Schnepfen sind da. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich auf ein paar Tage ins Litauische. Der erste Schnepf ist eine Art Frühlingsfeier. Man soll ihn als gewissenhafter Mensch und Weidmann nicht auslasten.“

„Tut mir aufrichtig leid, Herr Kollege, aber ich werde Sie bitten müssen, die landrätlichen Geschäfte noch ein kleines Weilchen weiterzuführen. Ich muß mich doch erst beim Herrn Präsidenten in Allenstein melden und in mein Amt offiziell eingeführt werden.“

„Schön, dann werden dies Jahr eben ein paar Dutzend Schnepfen mehr am Leben bleiben als sonst. Ist mir auch recht! Aber es bestärkt mich in dem Vorsatz, endlich dem Ruf meines Vaters zu folgen und mich der Bewirtschaftung meiner angestammten Klitsche zu widmen. Und — wenn ich fragen darf — was beabsichtigen Sie sich nun zuerst anzusehen? Die Büros mit der Beamtenschaft, die Wohnung oder den Garten? Ich kann Sie leider nicht begleiten, ich habe in meinem Amtszimmer eine sehr dringliche Vernehmung.“

Viktor mußte lächeln.

„Ohne Ihre gefällige Mitwirkung?“

„Im gegenwärtigen Stadium würde sie nur von Abel sein. Ein polnischer Bauer hat einem masurischen — angeblich — den Grenzstein versetzt und ein Gewende Acker abgepflügt. Aus der Katasterkarte ist der Streitfall nicht zu entscheiden, da habe ich zur Vermeidung eines Lokaltermins die beiden Parteien — nach altem, bewährtem Rezept — seit einer halben Stunde in ihren dicken Schafpelzen an den überheizten Ofen gesetzt. Fenster zu öffnen habe ich verboten, damit die kostbare, mit fiskalischer Kohle erwärmte Luft nicht unnütz vergeudet wird. Ich hoffe also, die Kerle schwitzen so, daß sie sich gütlich einigen werden. Auf die Hälfte.“

„Aber dann könnte einer Seite doch unrecht geschehen?“

Herr Assessor Heidenreich zuckte die Achseln.

„Bauer ist Bauer, verehrter Herr Kollege, und der Grenzstein eine immerhin transportable Sache! Von beiden Seiten. Man kann unter seiner Beihilfe zuweilen auch die zeitraubende Arbeit des Umpflügens ersparen, wie zum Beispiel der Pole behauptet. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich mir aus meiner eingehenden Kenntnis der Bauern-Psyche, sagt man wohl in solchem Falle — ja also, daß ich mir diese kleine Ausführung erlaubte. Aber — wenn Sie gestatten — dahinein geht's in die landrätliche Privatwohnung!“ Und er deutete in dem hallenartigen Eingang nach rechts.

„Einen Augenblick noch, Herr Kollege! Aber wenn Ihre beiden Bauern sich nun nicht geeinigt haben, was dann?“

„Gibt's einen langwierigen, durch drei Instanzen gehenden Prozeß mit Lokalterminen, Zeugenvernehmungen und unsäglich viel beschriebenem Papier! Sie sehen also, Herr Kollege, wie irrtümlich die Annahme war, daß ich hier draußen im herrlichen Frühlingssonnenschein faulenze. In Wirklichkeit bemühte ich mich um die von oben her so dringend angestrebte Verminderung des Schreibwerks und die gleichermaßen erwünschte Vereinfachung des behördlichen Verwaltungsapparates! Empfehle mich gehorsamst.“

Viktor mußte unwillkürlich denken: Weshalb hatte man nicht diesen in sich gefestigten jungen Menschen an seiner Stelle hier zum Landrat gemacht? Die paar mangelnden Dienstjahre ersetzte er doch durch genaue Kenntnis von Land und Leuten und eine im besten Sinne überlegene Art, mit der eingeborenen Bevölkerung umzugehen? Er grübelte darüber, bis ihm einfiel, wie die Besetzung dieses Postens zustandegekommen war! Und er fragte sich wieder einmal, was Ulrich mit ihm wohl vorhaben mochte, daß er ihn gerade in diesen Kreis geschickt hatte? Um ihn aus dem kostspieligen Düsseldorf zu entfernen, hätte er ihn doch ebensogut in irgendein anderes Landratsamt setzen können. Das Wort, er solle die Schande des verstorbenen Vaters wieder wettmachen, erschien ihm, je länger er darüber nachdachte, kein stichhaltiger Grund. Handelte es sich aber wirklich nur um dieses Fräulein von Hakenberg, das ihn zu einem geordneten Lebenswandel erziehen sollte, hätte er die junge Dame ja auch auf eine andere Art kennenlernen können! Ohne daß er in Konflikte geriet, die um Kopf und Kragen gingen... Wenn er weiter dachte, kam er auf eine Vermutung, bei der man an allem, was Treu und Glauben hieß, irrewerden konnte. Der Bruder, der seit mehr als zwanzig Jahren jeden seiner Schritte wie ein Vater betreute, sollte ihn mit Absicht in eine Lage versetzt haben, in der er das Genick brechen mußte? Irrsinnig geradezu war solch ein Gedanke! Wenn er das wollte, hätte er in der langen Zeit ja nur ein einziges Mal die Bezahlung seiner leichtsinnigen Schulden zu weigern brauchen! Aber wozu hatte er ihn nur gerade hierher geschickt, wozu?... Er kam von dem Gedanken nicht los, Ulrich mußte gewußt haben, daß die Mutter seit Monaten hier war! Eine Frau, die man so haßte wie er, verlor man doch nicht aus den Augen?... Genau wie eine, die man mal liebgehabt hatte. Man verfolgte ihr Schicksal, so weit man sehen konnte. Und wenn man an sie dachte, gab's jedesmal einen wehen Stich im Herzen...

Viktor ging durch die Wohnung, die sein Amtsvorgänger erst vor kurzem geräumt hatte. Helle und hohe Räume waren es, von denen er kaum die Hälfte mit seinen Düsseldorfer Möbeln ausstatten konnte.

In einem der auf den Garten gehenden Zimmer lag auf der Mitte der Diele eine kleine Puppe. Vergessen oder fortgeworfen... Das Kleidchen verschlissen, die flachsene Perücke zerzaust, und aus einem der ausgeplatzten Beine quollen die Sägespäne. Er hob die Puppe aus, setzte sie behutsam auf das Fensterbrett. Sie klappte die gesenkten Lider auf, sah ihn aus himmelblauen Porzellanaugen an. Und ihm wurde ganz eigen zumute...

Er sah eine durch die Räume schreiten, die zusammengewachsene Brauen hatte über langbewimperten Augen, ein kleines schwarzes Fleckchen links unten am Kinn... Ein Bub und ein Mädel hingen ihr am Kleid.

„Verrückt“, sagte er zu sich selbst. Es war Zeit, daß er wieder gesund wurde.

Er durchmaß sorgfältig die vorderen Räume, verteilte in Gedanken seine Möbel. Für das Musikzimmer hatte er seinen wundervollen Bechsteinflügel und einen herrlichen alten Gobelin. Für das nach Norden liegende große Seitenzimmer die Ateliereinrichtung, und dann... ja, dann sah er die langen Abende hier allein! Oder er begab sich in den „Schwarzen Adler“, um mit den Herren des Stammtisches zu kannegießern. Bis er nach fünf oder sechs Glas Bier stumpfsinnig wieder nach Hause ging... Die Hakenbergerin aber, die Ulrich ihm zufreite, sollte er die mit falschem Herzen in dies Haus führen? Mit dem innerlichen Vorbehalt: Du bist nur ein Notbehelf — weil ich die andere, an der ich mit allen Sinnen hänge, nicht kriegen konnte?...

Es war höchste Zeit, sich fest in die Zügel zunehmen! So ging's nicht weiter, er verlor sich selbst. Und er mußte sich fragen, um Himmels willen, an was? An ein Phantom, das er sich selbst geschaffen hatte! Aus gekränkter Eigenliebe und einem gewissen Überschwang an Phantasie. Was wußte er denn von dieser jungen Dame, daß er sie mit einem solchen Nimbus umgab? Daß sie ihn spöttisch und verächtlich behandelt hatte und in Gesellschaft eines höchst zweifelhaften Burschen reiste! Was war also in ihn gefahren, daß er in seinen Gedanken von ihr nicht loskam? Und wo war sein goldener Leichtsinn geblieben, mit dem er früher solche Affären behandelt hatte? Da war es wirklich vielleicht am gescheitesten, eine homöopathische Kur zu versuchen, die eine Liebe durch eine andere zu vertreiben...

Er begab sich auf die andere Seite des Hauses, um von einer Amtsstube aus mit Ottenwalde zu telephonieren. Weshalb sollte es ihm nicht gelingen, sich in dieses Fräulein Ilse zu verlieben, wenn er sah, daß die begeisterte Schilderung, die Ulrich ihm gegeben hatte, stimmte? Eine kluge alte Dame in Düsseldorf hatte ihm einmal gesagt, jeder Junggeselle habe im gewissen Alter eine Zeit, wo er so reif zum Heiraten sei, daß er sich alle acht Tage in ein anderes junges Mädchen verliebe. Da brauche man nichts weiter zu tun, als ihn für die Richtige einzufangen, und die glücklichste Ehe sei fertig. Vielleicht traf das auch für ihn zu? Das plötzliche Aufflammen für die polnische junge Dame war nichts weiter als ein Zeichen, daß er sich auch in diesem kritischen Alter befand...

Vor der geöffneten Flügeltür eines der Amtszimmer verabschiedeten sich zwei Bauern in schweren Schafpelzen von dem Assessor Heidenreich. Sie erschöpften sich in Bücklingen und Danksagungen, der Schweiß rann ihnen in Strömen über die krebsroten Gesichter.

„Na, haben die Parteien sich geeinigt?“ fragte Viktor.

„Nicht ganz so, wie ich's vorausgesagt hatte. Der Pole, der wohl den dickeren Pelz hatte, gab schließlich zu, er habe aus Versehen ein paar Daumen breit über die Grenze gepflügt. Aber er meinte, wenn er wieder einmal aufs Landratsamt geladen werden sollte, würde er in Hemdsärmeln erscheinen.“

„Na, und dann?“

„Ist's hoffentlich Winter, und ich schicke die Parteien zum Versuch einer gütlichen Einigung auf den Hof.“

Viktor mußte hell auflachen. Der trockene Geselle gefiel ihm immer mehr.

„Verzeihung, Herr Kollege, würde ich Sie sehr stören, wenn ich auf Ihrem Apparat mit Herrn von Hakenberg in Ottenwalde sprechen würde?“

„Aber nicht im geringsten! Ich regiere solange mit Unterschriften. Und es trifft sich ausgezeichnet. Falls Sie sich nämlich dort ansagen wollen. Ich hatte mir vorgenommen, heute nachmittag auch hinauszufahren.“

Die Verbindung war bald hergestellt. Drüben antwortete eine Jungmädchenstimme, die Eltern würden sich über den Besuch sehr freuen.

„Hm“, sagte Franz Heidenreich, „Sie kennen die Familie Hakenberg noch nicht persönlich?“

„Nein! Nur mein älterer Bruder hat mir aufs dringlichste empfohlen, dort zu verkehren.“

„Kann ich verstehen. Das netteste Haus im ganzen Kreise. Und wenn ich mir erlauben dürfte, aus meiner genauen Kenntnis ein paar informatorische Personaltips zu geben?“

„Ich bitte sehr darum!“

„Also die Eltern ein paar famose Leutchen, bester ostpreußischer Schlag. Vater Hakenberg, ein kurzer dicker Stöpsel, rollt wie eine Kegelkugel durch seine Wirtschaft, es kracht nur immer so um ihn herum. Aber die Erfolge glänzend, erster Pferdezüchter in der ganzen Gegend. Mama Hakenberg eine einstmals gefeierte Königsberger Schönheit, bedauert noch heute, daß der Beruf ihres Vaters — er war Kommandierender General — sie hinderte, die Laufbahn einer Opernsängerin einzuschlagen. In Wirklichkeit liebt sie ihren dicken Heino zärtlich, ist froh, als Herrin auf einem sicher fundierten Edelhof zu sitzen, und hält die große Innenwirtschaft musterhaft im Schwung. Die Nachkommenschaft dieses auf den ersten Blick so ungleichen Paars: zwei Töchter und drei Söhne. Die Älteste, Ilse, eine in jeder Hinsicht vollendete junge Dame. Blond, hübsch, schlank und singt besser als die Mutter. Das heißt, das habe ich mir sagen lassen. Ich selbst bin so unmusikalisch, daß ich einen Walzer kaum von 'nem Trauermarsch unterscheiden kann. Fräulein Ilse malt außerdem sehr beachtenswert — das kann ich schon etwas besser beurteilen — und ist ein ganz famoser Kerl. Sehr verdacht wird ihr nur, daß sie immerfort Körbe austeilt, von denjenigen nämlich, die sich einen geholt haben. Hinter ihr kommen drei Brüder, von denen nichts weiter zu sagen ist, als daß sie bei verschiedenen Kavallerieregimentern stehen, dem Vater ähneln, ihren Dienst tun und mit Pferden handeln. Alle drei haben nämlich den unheimlichen Blick ihres Papas geerbt, mit dem sie im Bruchteil einer Sekunde sehen, wieviel an einem Gaul zu verdienen ist. Als Nesthaken schließlich ein gewisses Fräulein Irmgard, in der Familie 'Imi' gerufen. Achtzehn Jahre alt, furchtbar patzig und eingebildet... auch nicht besonders hübsch, mit einem Wort, eine unerquickliche junge Dame! Vielleicht wird noch mal was aus ihr. Vorläufig aber nichts weiter als ein kleiner Igel, der immer mit gespreizten Stacheln 'rumläuft. Wenn man nicht Grobheiten an den Kopf kriegen will, geht man dieser Dame am besten aus dem Wege!“

Viktor hatte belustigt zugehört.

„Verbindlichsten Dank, Herr Kollege, für die so anschauliche Schilderung! Aber — ohne indiskret sein zu wollen — wann ist Verlobung?“

Franz Heidenreich sah seinen neuen Vorgesetzten verblüfft an.

„Entschuldigen Sie, bitte, was?“

„Nun, Verlobung mit der jungen Dame, die Sie so respektlos als 'kleinen Igel' bezeichneten!“

„Aber ich verstehe wirklich nicht...“

„Wie ich das erraten habe? Ich glaube, es war nicht allzu schwer. Sie hätten das Fräulein nicht gar so schwarz malen sollen!“

Der Assessor lachte verlegen auf.

„Hab' ich das wirklich? Na denn ja, immer treibt einen die Angst, da könnte irgendein anderer... Es ist fürchterlich, wenn's einen so erwischt hat! Und nichts dagegen zu machen! Vor zwei Jahren schon sollt' ich auf Wunsch meines Vaters den Abschied nehmen — ich komm' hier nicht los! Alle vier Wochen hol' ich mir ein korbähnliches Gebilde und pass' auf wie Phylax, des Hauses treuer Hüter, daß mir kein fremder Kerl in meinen Garten steigt... Aber, entschuldigen Sie, ich weiß selbst nicht, wie ich dazu gekommen bin, so rückhaltlos... aber ich habe die Empfindung, Sie werden mir's trotz unserer kurzen Bekanntschaft nicht übel auslegen.“

Viktor schüttelte ihm herzhaft die Hand. Fast wäre ihm herausgefahren: „Mein Lieber, ich weiß, wie das ist, wenn's einen so 'erwischt' hat!“ Statt dessen sagte er: „Ich nehm's als ersten Keim einer mir sehr erwünschten Freundschaft! Na und nun — wann und wie fahren wir nach Ottenwalde?“

Franz Heidenreich hatte den Händedruck kräftig erwidert.

„Das mit der Freundschaft soll ein Wort sein! Wie und wann wir aber fahren? Mit meinem Auto, nachdem wir um zwei Uhr bei mir zu Mittag gegessen haben! Kirchstraße 19. Jetzt aber gestatte ich mir ganz gehorsamst zu bemerken, die Regierung des Königreiches Preußen ist in höchster Gefahr stillzustehen, wegen mangelnder Unterschriften im Kreise Heinrichsburg.“

Ein würdiger alter Herr betrat, ohne anzuklopfen, das Zimmer.

„Verzeihung, Herr Assessor, der Bericht in Sachen Amalienau muß noch mit dem Einuhrzug nach Allenstein.“

Franz Heidenreich wandte sich um.

„Das mahnende Amtsgewissen! Aber gestatten Sie“ — er machte eine vorstellende Handbewegung — „Herr Regierungsassessor Freiherr von Dolinga, Herr Kreissekretär Kanzleirat Wichotta! Die Säule des Heinrichsburger Landratsamtes seit mehr als vierzig Jahren, wandelndes Nachschlagebuch sämtlicher in dieser Zeit erlassenen Verfügungen, und — beim Zeus — es sind ihrer nicht wenige! Außerdem Vorstandsmitglied im hiesigen Ostmarkenverein.“

Viktor trat aus den alten Herrn zu, schüttelte ihm die Hand.

„Ich hoffe auf ein gedeihliches Zusammenarbeiten, mein lieber Herr Rat!“

Der Alte sah ihn durch ein Paar funkelnde Brillengläser fest an.

„Sollte mich sehr freuen, Herr Regierungsassessor! Von der Art dieser Zusammenarbeit wird es abhängen, ob ich schon gleich meinen Abschied nehme oder noch ein Weilchen warte. Außerdem ersucht der Erbauer des hiesigen Polenbasars, Herr Padöffke, um eine Unterredung. Unter Berufung auf eine ganz intime Jugendfreundschaft.“

Viktor hatte Mühe, sich zu beherrschen. Das Mißtrauen, mit dem man ihm hier von allen Seiten begegnete, war auf die Dauer unerträglich. „Lassen Sie, bitte, den Herrn eintreten“, sagte er kurz.

Fritz Padöffke zwängte seinen dicken Bauch durch die halbgeöffnete Flügeltür, kam mit ausgestreckten Händen auf Viktor zu. Beschwingt von einer Flasche Rauentaler, innerlich gefestigt von einem Pfund Kaviar. Und überzeugt, nach zehn Minuten aller drückenden Sorgen ledig zu sein.

„Tag, Doli“, sagte er jovial, „mußte mich doch mal nach dir umsehen, alter Kronensohn! Gut bekommen gestern abend?“

Viktor tat so, als hätte er die ausgestreckten Hände nicht bemerkt.

„Danke, ausgezeichnet! Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?“

Der Dicke schüttelte verwundert den Kopf.

„Nanu? Schon wieder 'Schmollis verwichst'? Wie soll ich das auffassen? Tusch oder Vergeßlichkeit?“

„Keins von beiden! Bitte, nehmen Sie's als bescheidenen Wunsch, die Ausdrucksformen einer sogenannten Jugendfreundschaft auf ein erträgliches Maß zurückzuführen!“

Herr Padöffke lachte, gutgelaunt, auf.

„Gut gebrüllt, Löwe! Oder wie unser alter Lateinpauker immer sagte: 'Recte dixisti, mi fili!' Also, darf ich“ — er verneigte sich übertrieben — „Herrn Regierungsassessor vielleicht ein paar Minuten unter vier Augen sprechen?“

„Ich bedaure sehr! Falls Sie irgendein Gesuch an das hiesige Landratsamt haben, bitte ich, es auf dem ordnungsmäßigen Wege schriftlich einreichen zu wollen.“

Der Dicke schnüffelte mit der Nase.

„Ich verstehe, man hat mich verleumdet! Weil ich — um nicht zu verhungern — einen kleinen Auftrag für einen polnischen Bauherrn ausführte, bin ich ein Verräter! Darf ich Sie aus diesem Anlasse erinnern, Herr von Dolinga, daß es eine Zeit gab, wo zwei Jünglinge mit Begeisterung sangen: 'Noch ist Polen nicht verloren'?“

„Gewiß, warum nicht? Der eine dieser beiden Jünglinge war ich! Wenn ich nicht irre, ganze zwölf Jahre alt.“

Herr Padöffke machte eine elegische Handbewegung.

„Wie sagt der Lateiner? 'Tempora mutantur', 'Der Mensch ändert sich im Lauf der Zeit!' Aber wie hieß der Wahlspruch unserer unvergeßlichen Cheruskia ? 'Honor, patria, amicitia!' 'Ehre, Vaterland, Freundschaft,' auf gut deutsch gesagt, Herr von Dolinga! Tut mir leid, daß Sie den wichtigsten Teil dieses Spruches vergessen haben! Da wird's Ihnen ja wohl auch gleichgültig sein, ob ich nach dem Zusammenbrach gewisser Hoffnungen...“ Er schluchzte leicht auf: „Fassung, alter Paddi! Und wie sagt der Vater Homer? 'Dulde, o Männerherz! Hündischeres hast du ja schon erduldet'...“ Er stülpte den Hut auf, verließ erhobenen Hauptes das Zimmer.

„Scheußlich“, sagte Viktor, griff sich in den Kragen. Der Assessor Heidenreich aber lachte kurz auf.

„I bewahre! Ich hatte gehofft, er würde uns zum Schluß noch die 'Alte Burschenherrlichkeit' vorsingen.“

„Wenn der Mann sich aber nun, von Nahrungssorgen getrieben, ein Leid antut?“

„Herr Padöffke? Ah nein! Aber ich schätze, er wird nach einer Reise durch sämtliche Bierlokale des Städtchens irgendwo im Rinnstein landen. Und morgen früh wird er zusehen, den Umbau des 'Weißen Adlers' zu ergattern. Aber er wird sich beeilen müssen. Es gibt noch mehr Bauunternehmer im Städtchen, deren Deutschtum bei einem so fetten Auftrag — na, sagen wir mal — ein leichtes Schönheitsfehlerchen kriegen könnte!“

„Aber das wäre doch geradezu trostlos“, sagte Viktor. „Und wohin soll das führen?“

Franz Heidenreich sah den alten Kanzleirat an.

„Na wohin, Herr Wichotta?“

„Dorthin, wo Oberschlesien schon heute ist!“

„Sehr richtig! Unaufhaltsam! Aber jetzt, verehrter Herr Kollege...“

„Verzeihung“, sagte Viktor. „Selbst auf die Gefahr hin, Sie in dringenden Amtsgeschäften aufzuhalten: Sie müssen zu einer so trostlos-pessimistischen Auffassung doch triftige Gründe haben!“

„Ganz recht, Herr Kollege! Unter anderen den: Wenn ich genug Geld hätte, würde ich mich anheischig machen, ein Drittel des gesamten Grundbesitzes im Kreise für die Polen zu kaufen. Der Patriotismus mancher Leute hört auf, wo der Verdienst anfängt. Wie aber, lieber Herr Wichotta, beschimpfen die Polen einen der ihrigen, der an einen Deutschen verkauft hat?“

Der alte Kanzleirat zog ein dickes Notizbuch, blätterte ein paar Seiten um und las vor: „Die Zeitung 'Lech' in Gnesen schreibt am 24.9.11 folgendes: 'Wenn sich der Verschacherer in der Kirche, im Gasthause, im Dorfe oder in einem Privathause zeigt, dann müssen alle von ihm weichen wie von einem Pestkranken. Will er einem die Hand reichen, dann möge sich dieser von ihm abwenden und vor ihm ausspeien wie vor dem größten Lumpen. Will er dein Haus betreten, so verschließe die Tür vor ihm! Sollte er den Fuß auf dein Besitztum setzen, so hetze ihn hinaus aus deinem Hofe! Möge der Verschacherer in der Einsamkeit leben wie Kain! Möge der Fluch des polnischen Volkes auf ihm lasten bis zum Tode. Niemand soll hinter seinem Sarge folgen, niemand für das Heil seiner Seele beten! Wer seine Nation, wer die katholische Kirche so schwer geschädigt hat, der verdient kein Erbarmen!'“

Der alte Herr hatte geendet, Franz Heidenreich schlug beim letzten Worte mit der Hand auf den Tisch.

„Sehr richtig! Wer sich am Vaterlands versündigt, verdient kein Erbarmen! Aber was geschieht mit unseren 'Verschacherern'? Sie ziehen nach dem Westen, leben vergnügt und hochgeachtet. Und wo ist die deutsche Zeitung, die unseren Landsleuten mit ähnlicher Deutlichkeit das Gewissen schärft? Und in Ermangelung solcher patriotischen Hochstimmung, wo sind die gesetzlichen Befugnisse, mit denen wir die wachsende polnische Flut eindämmen könnten? Um mit Herrn Padöffke zu reden: 'Vacat', sagt der Lateiner, sind keine da! Daß es aber möglich sein sollte, einen Deichbruch mit gütlichem Zureden zu stopfen, habe ich noch nicht erlebt!“

„Und Versöhnung?“ warf Viktor ein.

„Zwischen uns und den Polen?“ fragte der Assessor Heidenreich ganz entsetzt. Und der alte Kanzleirat warf ihm einen Blick zu, in dem deutlich zu lesen stand: „Na, hab' ich's nicht vorausgesagt, was für 'ne Art von Polenpolitik uns der neue Herr Landrat mitbringen wird?!“ Er räusperte sich vernehmlich: „Verzeihung, aber ein Teil der Unterschriften ist so dringlich...“

Viktor griff nach seinem Hute, versuchte einen Scherz:

„Die begeisterte Zustimmung, die mein Antrag gefunden hat, veranlaßt mich, ihn bis auf weiteres zurückzuziehen. Auf Wiedersehen, Herr Kollege!“

Franz Heidenreich gab ihm bis zur Tür das Geleit, wiederholte seine Einladung. Herr Wichotta hatte die Mappe mit den Unterschriften bereitgelegt, reichte seinem Vorgesetzten eine eingetunkte Feder.

„Versöhnung mit den Polen? Eher vertragen sich Feuer und Wasser! Und Verzeihung, wenn ich submissest frage: Ob unser neuer Herr Kreischef wohl die Geschichte der letzten zwanzig Jahre studiert hat? Ob er weiß, daß die Polen in der Zeit, wo die Versöhnungsära am üppigsten blühte, wo sie mit Gunstbezeigungen geradezu überhäuft wurden, mit der allerschärfsten deutschfeindlichen Agitation antworteten? Unter anderem den Straz-Verein gründeten, zur Abwehr der 'Deutschenseuche'?“

Franz Heidenreich knurrte ingrimmig.

„Mein lieber Herr Rat, mich brauchen Sie doch nicht mehr zu überzeugen! Und auch ich fange an zu glauben: Menschlich ein ganz famoser Herr. Aber politisch? Das wird sich erst beim Sektionsbefund herausstellen! Vielleicht weht oben der Wind wieder aus einer anderen Richtung? Aber ich verstehe nicht, wie Sie sich überhaupt noch wundern können! Sie haben in Ihren langen Dienstjahren die Übung 'rin und 'raus aus den Kartoffeln' hoch schon oft genug mitgemacht?“

Der alte Kanzleirat nickte.

„Mehr als genug, Herr Assessor! Und jedesmal hieß es: 'Jetzt werden wir aber bald im Osten keine Polen mehr haben, sondern nur noch Polnisch sprechende Preußen!' Sollte es jetzt also wieder heißen: 'Seid umschlungen, Millionen' da spiel' ich nicht mehr mit!“ — —

 

***

 

Viktor ging von dem Hügel des Landratsamtes langsam zum Städtchen zurück. Er hatte die Empfindung, der Assessor Heidenreich sei beim Abschied merklich kühler gewesen als vorher. Wie ihm scheinen wollte, nur weil er das Wort gesprochen hatte, zwischen Deutschen und Polen sei vielleicht eine Versöhnung möglich. Auch der Bürgermeister Wendtland, der nach seinem ganzen Verhalten doch gewiß nicht als politischer Heißsporn zu bewerten war, hatte den Gedanken schroff zurückgewiesen. Und er fragte sich, weshalb nur, weshalb? Das gegenwärtige System, bei dem man sich um jeden einzelnen Bauernhof erbittert in die Haare geriet, war doch unerträglich... Sollte es nicht möglich sein, zwischen zwei Völkern, die so auseinander angewiesen waren wie das preußische und polnische, ein gesundes Verhältnis zu schaffen? Ein Verhältnis, aus dem auf dem Boden gerechter Abgrenzung eine ordentliche Freundschaft erwuchs? Sollte es nicht gelingen, den Polen klarzumachen, daß sie sich mit der preußischen Oberhoheit für alle Zeiten abzufinden hätten? Es mußte ihnen doch einleuchten, daß es ihnen unter dem Fittich des schwarzen Adlers besser ging als unter der Tatze des russischen Bären? Und ebenso mußten sie doch von dem Traum zu heilen sein, der weiße Adler Polens könne jemals wieder seine Flügel über freiem Land spannen? Woher sollte wohl der allgemeine Zusammenbruch der „Unterdrücker-Völker“, der die notwendige Voraussetzung der Erfüllung eines solchen Traumes war, kommen?

Da mußte von beiden Seiten nachgegeben werden, wollte ihm scheinen, wie bei jedem gerechten Vergleich. Die Deutschen mußten von allen gewaltsamen Maßregeln absehen, die doch nur Erbitterung weckten, bei den Polen aber hatte eine großangelegte Werbearbeit einzusetzen. Eine Werbearbeit, die in die letzte polnische Tagelöhnerhütte ging: „Was willst du denn eigentlich? Du darfst Polnisch sprechen zu Gott, Gesinde und Kindern, kein Gesetz schränkt dich ein! Dafür brauchst du nichts weiter zu leisten, als dem Staat und König, die dir Schutz und Freiheit verbürgen, die Treue zu halten! Und sei dir doch immer der Sendung bewußt, du edles polnisches Volk, die dir vom Schicksal bestimmt ist: Schutzwall und Ausgleich zu sein zwischen Westen und Osten.“

Wer aber war zu einem solchen Werke der Aufklärung und Versöhnung wohl mehr berufen als einer, der von beiden Seiten Blut in seinen Adern führte? Einer, dem man in beiden Lagern mit Vertrauen entgegenkam?... Eine schier gigantische Arbeit war es; Berge von Vorurteilen, Mißtrauen und Haß galt es fortzuräumen. Aber wem die Titanenarbeit gelang, dessen Ruhm hob sich zum Himmel... Und weit hinten am Ziel leuchtete ein köstliches Bild, die Krönung eines Lebens voll von unsäglicher Mühe und nimmer rastender Arbeit... Gar wohlbekannte Züge trug dieses Bild...

Ein bitteres Auflachen stieg ihm in der Kehle empor. Was war er denn, daß er sich so gewaltiger Leistungen vermaß? Ein kleines Assessorlein, das zur Probe gewissermaßen in einen von Polen bedrohten Kreis geschickt worden war. Mit gebundener Marschroute. Bewährte es sich, wurde es im Amt bestätigt und fest angestellt. Bewährte es sich nicht im Sinne der vorgesetzten Behörde, wurde es abgehalftert...

Vor ihm, auf hundert Schritte Entfernung, ging der Bauunternehmer Padöffke zum Städtchen zurück. Er schlug mit dem Spazierstocke Quarten und Terzen in die Luft, schien sich eins zu singen. Der Wind trug ab und zu einen Klang der grölenden Stimme herüber. Viktor glaubte die Melodie des Polenliedes zu erkennen: „Jesce Polska nie zgineła.“

 

7.

 

Die Besuchsansage des Assessors von Dolinga hatte in Ottenwalde einige Aufregung verursacht. Der ebenso dicke wie kurze Herr von Hakenberg, der in der Hetze der Feldbestellung für ein paar Minuten zu einem eiligen Frühstück aus dem Sattel gesprungen war, spauzte wie einer jener kleinen Feuerwerkskörper, die unter Zischen und Knallen in kurzen Pausen Leuchtkugeln schießen.

„Unerhört ist das!... Wie kommt das Jöhr, die Imi, dazu, in einer so wichtigen Frage auf ihren eigenen Kopf zu handeln?... Auf ihr kleines Spatzenköpfchen hin, das von nichts 'ne Ahnung hat? Da fragt man doch vorher: 'Lieber Papa, bist du mit diesem Besuch auch einverstanden?'“

Fräulein Irmgard, die vom Vater die Kleinheit der Figur, die braunen Augen und das lebhafte Temperament geerbt hatte, warf den hübschen Lockenkopf in den Nacken.

„Entschuldige, Pappi, aber du warst doch auf dem Feld! Wie sollte ich da fragen?“

„Dann hattest du dich eben diplomatisch zu verhalten! 'Ein andermal, Herr von Dolinga!' Oder: 'Rufen Sie in 'ner halben Stunde noch mal an! Mein Vater ist jetzt nicht zu Hause'...“

Das Nesthäkchen, das vor dem lieben kleinen Papa nicht den geringsten Respekt besaß, zuckte die Achseln.

„Ich hatte bisher immer geglaubt, Diplomatie wär' so 'was Ähnliches wie Höflichkeit. Und von Karlsbad her besinn' ich mich doch, alles, was Dolinga hieß, war auf Jahrhunderte eingeladen.“

Herr von Hakenberg bekam einen roten Kopf, die Leuchtkugeln knatterten.

„Frechdachs! Naseweises Jöhr! Vielleicht deinen alten Vater kritisieren, he? Verbitt' ich mir! Könnte sonst nämlich Stubenarrest geben! Aber an 'nem Tag, wo's einer gewissen jungen Dame absolut nicht passen wird! Verstanden?“

Frau von Hakenberg, eine stattliche Blondine, die dem Gatten mit großer Sorgfalt ein Schinkenbrot zurechtgemacht hatte, bemerkte sanft: „Darf ich fragen, liebes Heinochen, weshalb dir gerade heute dieser Besuch so schlecht paßt?“

Der Hausherr biß in das appetitliche Brot, knurrte kauend: „Nicht bloß heute, sondern überhaupt nicht!“

„Aber nein! Wieso denn bloß?“

„Na, weil's mir eben nicht paßt! Das ist doch deutlich genug, nicht wahr?“

Frau von Hakenberg neigte in gelassener Ergebenheit den immer noch schönen Kopf mit der vollen Haarkrone.

„Wie du befiehlst, liebes Heinochen!“ Sie wandte sich zu der älteren Tochter, die mit einer kunstvollen Stickerei am Gartenfenster saß.

„Ach, liebe Ilse!“

Die hochgewachsene junge Dame, blond und blauäugig wie die Mutter, sprang eilfertig auf.

„Was denn, Mammi?“

„Ruf' mal, bitte, das Landratsamt in Heinrichsburg an! Vielleicht ist Herr von Dolinga noch da. Und dann sag' ihm...“

Herr von Hakenberg hob den kurzen Arm.

„Halt! Hoffentlich darf ich vorher erfahren, was du ihm sagen lassen willst?“

„Du hast's ja eben schon deutlich ausgesprochen, liebes Heinochen! Es müßte ihm natürlich ein bißchen nett beigebracht werden, damit's nicht gar zu verletzend klingt.“

„Hm... meinst du denn, daß das überhaupt jetzt noch geht?“

„Weiß nicht, Heinochen. Das mußt du entscheiden!“

Herr von Hakenberg sprang auf, durchmaß mit aufgeregten Schritten das geräumige Zimmer.

„Himmel Herrgott Sakrament... ich bitt' um Entschuldigung, aber da muß einem die Galle überlaufen!... Ja also, immer ich! Wieso soll ich denn immer entscheiden? Bin ich 'n Papst? Und weshalb strengst du dir nicht mal das Köpfchen an, liebe Klara?“

„Herzlich gerne, liebes Heinochen, aber da würd' nicht viel 'bei 'auskommen! Und irre ich mich, oder hattest du's mit dem Geheimrat in Karlsbad ausgemacht: Wenn hier der Landratsposten frei wird, schickt er seinen Bruder?“

„Stimmt und ist richtig, hatten wir ausgemacht! Aber konnte ich ahnen, daß sich inzwischen hier die gräfliche Frau Mama etablieren wird? Als... als... na als 'ne Art von polnischer Pestbeule? Um schließlich die ganze Gegend zu verseuchen?“

„Nein, Heinochen“, sagte Frau Klara mit unerschütterlicher Sanftmut, „das konntest du allerdings nicht ahnen! Aber mir ist doch so, als hättest du es schon vor längerer Zeit übernommen gehabt, den Geheimrat von dem so unliebsamen Auftreten seiner Stiefmutter in Kenntnis zu setzen?“

Herr von Hakenberg blieb stehen, schnappte nach Luft. Und nach kurzer Pause schlug er ein ironisches Gelächter auf.

„Ich lach' mich dot! Mädels, habt ihr gehört? Die Mutti wirft mir Vergeßlichkeit vor! Die Frau, deren ganze Tätigkeit darin besteht, ihren Schlüsselkorb zu suchen! Die dreimal die Würste in der Rauchkammer zählen muß, weil sie trepprunter schon wieder vergessen hat, wie viele es eigentlich gewesen sind...“

Frau Klara lächelte milde.

„Ich weiß, Heinochen, ich bin furchtbar vergeßlich! Und ich habe nicht mal einen triftigen Entschuldigungsgrund wie du, lieber Mann! Wirtschaftssorgen, daß du manchmal nicht weißt, wo dir dein armer Kopf steht.“

Herr von Hakenberg reckte sich heraus.

„Ha, nicht wahr? Da kann einem 'ne kleine Vergeßlichkeit schon mal passieren! Aber jetzt sitz' ich drin in der Patsche. Der Norkitter Graf, der Rakower Schenk, der Krupinner Haßdorf und noch vier oder fünf Nachbarn haben sich bei mir für heute nachmittag angesagt. Zu 'ner Art von Protestversammlung. Du wirst mir zugeben, liebes Klärchen, das wär' sehr peinlich. Wenn sie nämlich ausgerechnet den hier treffen sollten, gegen den sie protestieren wollen!“

Frau Klara atmete erleichtert auf.

„Was bin ich bloß froh, daß ich die beiden Puter noch nicht fortgeschickt hab', die heute nach Königsberg gehen sollten! Wenn du im Vorbeireiten dann noch dem Förster Knoop sagst, er möchte mir ein paar Dutzend schöne Forellen 'raufschicken...“

Der dicke Gatte rang verzweifelt die Hände.

„Das ist alles, was du mir zu sagen hast? Daß die Herren ordnungsmäßig satt gemacht werden, reinigt mich das vielleicht von dem Vorwurf, daß ich diesen verflixten Brief nicht geschrieben habe?“

„Nein, Heinochen! Aber wenn die Herren den Assessor auf neutralem Boden kennenlernen... Wie sein Bruder ihn geschildert hat, soll's ja ein ausnehmend netter junger Mann sein.“

„Ach, und damit — meinst du — wär' alles in schönster Ordnung? Was nutzt uns seine 'Nettigkeit', wenn er hier 'ne faule Politik treibt? Weil diese unliebsame Dame in Friedrichstein doch seine Mutter ist?“

Fräulein Irmgard hob wie ein kleines Schulmädel den Zeigefinger.

„Darf ich dazu 'was sagen, lieber Papa?“

„Wird zwar 'was Ähnliches sein wie der versöhnliche Putenbraten deiner Mutter... aber, bitte!“

„Und was krieg' ich, wenn ich dich mit einem Wort aus der Patsche zieh'?“

„Wenn's stimmt, 'nen neuen Damensattel!“

Die Kleine flog ihm an den Hals.

„Einziger, goldenster Pappusch! Also denn hör' zu! Herr von Dolinga hat nämlich gestern abend am Stammtisch im 'Schwarzen Adler' aufs bestimmteste erklärt, er läßt seine Mutter glatt ausweisen, wenn sie sich hier mit ihren Polengeschichten noch länger mausig macht!“

Herr von Hakenberg fuhr auf.

„Donnerwetter! Und das ist nicht bloß so Kleinmädchengeschwätz, sondern hat 'nen reellen Hintergrund?“

„Die Frau Amtsrichter hat's mir schon heute ganz früh telephoniert. Sie konnte gar nicht die Zeit erwarten, sagte sie. Und sie hatte es sehr eilig, weil sie damit natürlich doch überall die erste sein wollte! Es waren nämlich noch mehr Herren dabei, nicht bloß ihr Mann. Und der sagte, es wär' ihm ganz kalt über den Rücken gegangen, wie der Herr von Dolinga das so herzlos aussprach... Und sie sagte, er wär' der schönste junge Mann, den sie je gesehen hätte! Wie er frühmorgens aufs Landratsamt ging, saß sie gerade am Fenster. Und er sieht genau so aus wie die berühmte Statue des Prinzen Napieha im Dom von Krakau. Bloß sie weiß nicht genau, steht er als Apollo da oder als Achilles. Die Russen haben ihn im Jahr 1862 in einer Schneidemühle auf 'n Baum gebunden und mitten durchgesägt, die Bande! Sie hat 'ne Postkarte davon, die will sie mir schicken!“

Herr von Hakenberg schmunzelte.

„Von der Sägemühle?“

„Aber nicht doch, von dem Apollo!“

„Na, den lernst du ja bald in natura kennen! Aber diese Frau Amtsrichter scheint mir eine recht überspannte Trine zu sein! Wie kann man das herzlos nennen, wenn er sich gegen eine Mutter zur Wehr setzt, die sich nie um ihn gekümmert hat? Von meinem Korpsbruder, dem Geheimrat, her weiß ich in der ganzen trostlosen Historie Bescheid. Aber ich besinne mich aus meiner Jugend auch noch recht gut persönlich. Es war ein Skandal, wie's die Frau trieb! Die ganze Umgegend hatte natürlich den Verkehr abgebrochen, mein seliger lieber Vater war noch der einzige, der dem alten Doli ab und zu mal Vernunft predigte. Aber wenn einer Sechzig ist, und der Hafer sticht ihn noch so, daß er 'ne Zwanzigjährige...“

Frau Klara legte dem Gatten die wohlgebildete Hand auf den Arm.

„Ach, Heinochen...“

„Was denn, mein Schatz?“

„Du wolltest doch noch die Weine für heute abend bestimmen!“

„Ja, richtig! Also zu den Forellen den 1904er Schloß Johannisberger, zum Braten den 96er Cheval blanc, zur süßen Speise ein Gläschen von dem mit Recht so beliebten Pommerschen Greno!“

„So üppig, Heinochen? Alles erste Garnitur?“

„Wenn ich die Freude hab', den Bruder eines lieben alten Korpsbruders bei mir zu sehen? Übrigens du, Imi, könntest den netten Assessor Heidenreich anrufen: Wenn's ihm recht ist, soll er sich seinem Kollegen anschließen. Ein ganz famoser junger Mann! Sollte ich dir's noch nicht gesagt haben, dann nimm's ad notam: Sein Papa ist im Litauischen ungefähr dasselbe wie ich im Masurischen. Erste Kapazität im Fohlentaxieren! Aber, wie mir der Sohn sagte, er erkennt neidlos meine unbedingte Überlegenheit an! Und was wollte ich doch noch?... Hab's schon! Nicht wahr, liebe Ilse, du stehst mit dem Geheimrat seit Karlsbad doch in recht lebhaftem Briefwechsel?“

Die schlanke Blondine errötete ein wenig.

„Das ist wohl zu viel gesagt, lieber Papa! Wir schreiben uns alle Vierteljahr einmal ein paar höfliche Worte.“

„Na schön, dann kannst du ihm ja mal außer der Tour schreiben, wie sehr wir uns über den Besuch seines Bruders gefreut haben! Und er soll mal Hals geben, ob er sich nicht endlich zur Ruhe setzen will. Amalienau steht zum Verkauf. Der Besitzer wird hoffentlich nicht der Schweinehund sein, es dem Polen in Friedrichstein zu lassen! Da könnte er's sich ja mal ansehen. Hat er Lust, will ich ihm gerne mit allen näheren Angaben dienen. Verstanden?“

„Sehr wohl, Papa.“

„Scharmant“, sagte Herr von Hakenberg, faßte die Gattin, gut gelaunt, um die immer noch schlanke Taille. „Na, Klärchen, wie hab' ich das wieder mal gedeichselt?“

Frau Klara lächelte bescheiden.

„Wie man's bei dir gewöhnt ist, Heinochen, kurz, klar und präzise! Aber jetzt — so sehr ich deinen Rat noch brauchen könnte — Abmarsch, mein Dickchen! Deine bemitleidenswerte Gattin muß sich in die Arbeit stürzen.“

„Wär' auch 'was! Hast ja noch mindestens acht Stunden Zeit. Da würde ich an deiner Stelle zehn solche einfachen Abendbröte fabrizieren! Na, komm' noch ein bißchen auf die Freitreppe 'raus! Ich hab' mir heute nämlich zum erstenmal wieder die Erdtante satteln lassen.“

„Ach! Ich denke, die ist doch immer noch lahm?“

„Keine Spur mehr, dank meiner Behandlung! Wär' ich dem Kerl von Tierarzt gefolgt, hätt' ich sie ausrangieren können!“

Das nicht nur an Körperlänge so ungleiche Ehepaar ging Arm in Arm aus dem Frühstückszimmer, die beiden Schwestern blieben allein. Fräulein Irmgard warf sich in das bequeme Sofa, strampelte vor Vergnügen und Übermut mit den Beinen.

„Gottvoll, die beiden Altchen, ich lach' mich immer scheckig über sie! Das mit der Erbtante war doch Falle? Jetzt stehen sie auf der Diele, küssen sich und nehmen Abschied, als wenn der Pappusch nach Amerika reisen soll! Wie man zwei Jahre nach der Silbernen Hochzeit noch so verliebt sein kann?“

„Du, Imi“, sagte die Ältere verweisend, „das ist respektlos und häßlich von dir! Die Eltern kritisiert man nicht! Und wenn ich dich bitten dürfte, noch einen guten Rat von mir anzunehmen: Fang' endlich an, ein bißchen mehr 'junge Dame' zu sein!“

Die Kleine hob argwöhnisch den Kopf.

„Och ne! Bist du vielleicht mit einem gewissen Jemand im Komplott?“

„Wieso? Hat dir Herr Assessor Heidenreich denn so 'was Ähnliches gesagt?“

„Ja denk' dir, er hatte diese bodenlose Frechheit! Meine Antwort darauf wirst du dir vielleicht vorstellen können!“

Fräulein Ilse seufzte auf.

„Leider! Na, dieser Austausch von Liebenswürdigkeiten hat ja jetzt die längste Zeit gedauert. Herr Heidenreich kommt heute nachmittag heraus, um sich zu verabschieden.“

„Weiß ich! Er will zum Schnepfenzug acht Tage Urlaub nehmen.“

„So so, zum Schnepfenzug! Aber schließlich, daß er gerade dir den eigentlichen Grund nicht gut verraten wollte, kann ich verstehen...“

„So! Und wenn ich fragen darf, weshalb beehrt er gerade dich mit seinem besonderen Vertrauen?“

„Das ist ein Irrtum. Ich weiß es aus anderer Quelle, weshalb er in den nächsten Tagen nach Hause fährt.“

„Und du kannst mir den Grund nicht verraten?“

„Gott, warum nicht? Dir wird's ja auch ziemlich gleichgültig sein... Er hat eingesehen, daß er hierin Ottenwalde nichts mehr zu hoffen hat, und da zieht er als vernünftiger Mensch eben die nötige Folgerung daraus. Außerdem: Eine ebenso reiche wie schöne junge Dame aus seiner Verwandtschaft soll unzweideutig erklärt haben, wenn er nicht bald Ernst macht, wartet sie nicht länger.“

Die Kleine zuckte nichtachtend die Achseln.

„Hat er dir natürlich erzählt!“

„Mein Wort darauf, nein!“

„Na, wer denn?“

„Darf ich nicht sagen. Bin durch ein feierliches Versprechen gebunden!“

„Geh', du bist eklig!“

„Nein, nur diskret!“

„Wenn du mir's nicht sagst, hast du ganz glatt geflunkert!“

„Glaub', was du willst, Kleinchen, ich brech' mein Wort nicht! Aber wenn Herr Heidenreich mich fragen wollte, würde ich ihm sagen: 'Sie haben ganz recht! Meine Schwester Irmgard macht sich gar nichts aus Ihnen?“

„Oho, wer sagt dir denn das?“

„Mein gesunder Menschenverstand! Sonst würdest du dich anders benehmen! Und weiter würde ich ihm sagen: Verloben Sie sich nur ruhig mit dieser jungen Dame aus Ihrer Verwandtschaft! Die schätzt Sie wenigstens nach Ihrem wahren Werte, während man das von einer gewissen anderen jungen Dame nicht behaupten kann. Und glauben Sie mir, bei Ihnen findet sich dann die Liebe von selbst.“

Fräulein Irmgard stampfte zornig mit dem Fuß auf.

„Das nennt sich Schwesterliebe! Na schön, ich werd' mir's merken.“

Frau von Hakenberg kam von der Freitreppe zurück, schüttelte verwundert den Kopf.

„Aber, Imi, was hast du denn?“

Das Nesthäkchen flog der Mutter ungestüm an den Hals.

„Ach, die Ilse ist so garstig zu mir! Erst bläst sie mich an, weil ich sagte, du und Papa, ihr seid noch so verliebt, daß ihr jede Gelegenheit wahrnehmt, euch heimlich 'n Kuß zu geben...“

Aber Frau Klaras Gesicht flog ein Lächeln.

„Wie unangenehm! Das hast du, kleiner Schlauberger, gemerkt?“

„Na, hör' mal, Mutti, das soll man vielleicht nicht merken? Da müßte man ja auch nicht sehen, wie glänzend du's 'raus hast, den alten Papa so einzuwickeln, daß er... also, daß er keine Ahnung hat, wer eigentlich hier in Ottenwalde die Hosen anhat?“

Frau von Hakenberg sah einen Augenblick lang recht verdutzt drein, dann führte sie das Töchterchen zu dem breiten Lehnsessel am Frühstückstische, nahm es wie ein kleines Mädel auf den Schoß.

„So, mein Herzchen! Und jetzt hübsch der Reihe nach! Du findest es also komisch, daß alte Leute noch immer das Bedürfnis haben, ihrer herzlichen Liebe ab und zu einen Ausdruck zu geben?“

„Na komisch gerade nicht, aber merkwürdig!“

„Wieso, mein Kind? Hast du im Religionsunterricht nicht das Wort gelernt: 'Die Liebe höret nimmer auf'? Sollen da zwei Menschen, die sich nach siebenundzwanzig Jahren noch genau so liebhaben wie am ersten Tag, auch äußerlich gleichgültig nebeneinander hergehen?“

Die Kleine sah verlegen unter sich.

„Nein, Mutti! Aber ich kann's nicht so ausdrücken... Und sei nicht bös... ich weiß überhaupt nicht, was das mit mir ist... Seit einiger Zeit zerbrecht ich mir über allerhand Fragen den Kopf, an die ich früher nicht im Traum gedacht hab'.“

Frau von Hakenberg sah über dem gesenkten Köpfchen der Kleinen die ältere Tochter an. In dem Blick lag die Frage: Hast du mit ihr gesprochen?... Und als Ilse lächelnd nickte, fuhr sie fort: „Solche Stimmungen kann ich verstehen, meine liebe Irmgard! Und da man sich allgemach wohl daran gewöhnen muß, dich als ganz erwachsenen Menschen zu behandeln...“

„Das möchte ich mir doch auch ausgebeten haben, Mutti.“

„Pscht, still, ich bin noch lange nicht fertig! Und jetzt wollen wir mal der zweiten Frage, daß ich nämlich hier in Ottenwalde — wie du dich nicht gerade geschmackvoll ausdrückst — 'die Hosen anhaben' soll, ein bißchen nähertreten! Du meinst also, ich nehme mir heraus, mich für klüger zu halten als unseren lieben Papa?“

„Na so natürlich nicht! Aber du verstehst es so glänzend, ihm immer die Meinung beizubringen, daß er das, was du von ihm erreichen willst, aus eigenem Entschluß befohlen hat...“

Frau von Hakenberg schüttelte, anscheinend bekümmert, den Kopf.

„Mein liebes Kindchen, das betrübt mich tief! Aber da ich annehmen muß, daß du das nicht leichtfertig und ohne Grund gesagt hast, werde ich von jetzt an mein Verhalten meinem lieben Mann gegenüber von Grund auf ändern müssen!“

Irmgard sah sie erschrocken an.

„Ja, wieso denn bloß, Mama?“

„Weil ich zu meinem Bedauern sehe, eine solche Überhebung kommt mir nicht zu! Es geht nicht an, daß es auch nur von weitem so aussieht, als könnte oder wollte ich mir herausnehmen, diesen klügsten und liebenswertesten aller Männer in den Augen seiner Kinder als... das Wort will mir gar nicht über die Zunge... nun, als Pantoffelhelden hinzustellen!“

Die Kleine schluchzte auf.

„Aber Mammi, liebste Mammi, wie kannst du aus meinem törichten Geschwätz nur solche Schlüsse ziehen?“

„Ah nein, mein Kind, es ist mir ein Beweis, daß in meinem Verhalten etwas nicht in Ordnung ist! Ich will dir auch ganz offen den Grund erklären. Wenn man den lieben kleinen Papa und mich lange Person ansieht, wundert man sich vielleicht, daß ich ihn mit so ehrfürchtiger Liebe ins Herz geschlossen habe.“

„Aber, Mutti...“

„Nein, mein Kind, es ist schon so! Und da will ich dir eine ganz kurze Geschichte erzählen. Vielleicht nimmst auch du dir daraus eine Nutzanwendung. Daß man nämlich die Menschen nicht immer nach der Außenseite beurteilen darf. Daß man sich manchmal die Mühe nehmen soll, ein bißchen tiefer in sie hineinzusehen... Also da war vor jenen dreißig Jahren in Königsberg ein sehr verwöhntes junges Mädchen! Es hatte gar viele Freier, denn es war leidlich hübsch, und sein Vater hatte eine sehr einflußreiche und hohe Stellung. Unter diesen Freiern war auch einer, über den sie immer lachen mußte. Ein Leutnant von der Fußartillerie, der ihr furchtbar komisch vorkam. Einen Kopf kleiner als sie und so kurz wie dick. Als er um sie warb, hatte sie ihn mit einem Riesenkorb heimgeschickt. Ganz natürlich. Wenn sie nämlich ans Heiraten dachte, schwebte ihr immer ein Vetter von den Kürassieren vor. Sechs Fuß hoch, und in seinem weißen Koller sah er wie ein junger Kriegsgott aus. Alles, was in Königsberg lange Kleider trug, schwärmte für ihn, denn man erzählte sich von ihm die interessantesten Abenteuer... Da gab es eines Tages eine große Aufregung in dem kleinen Klüngel, der die Skandalgeschichten der Garnison aus erster Hand erfuhr. Der elegante Kürassier mußte plötzlich seinen Abschied nehmen. Wegen einer häßlichen Spielgeschichte. Nach den strengen Anschauungen seiner Kameraden hätte er sich eigentlich totschießen müssen. Und alle Welt brach über ihn den Stab. Bloß einer nicht. Der versuchte, ihn zu retten, weil er glaubte, das junge Mädchen würde sich's zu Herzen nehmen, daß ihr heimlich Verehrter so in Schimpf und Schande abfahren müsse! Er opferte viele Tausende Mark Geld, damit der Kürassier nicht infam kassiert wurde, sich so drehen und wenden konnte, daß er mit schlichtem Abschied über den großen Teich gehen durfte. Das junge Mädchen aber wartete in Seelenangst, der dicke Artillerist würde herkommen, für seine Großherzigkeit den Lohn verlangen. So heimlich nämlich er auch geholfen hatte, allmählich war es doch durchgesickert, wie edel und vornehm er gehandelt hatte. Bei dem jungen Mädchen aber war es eine leere Einbildung. Sie wartete und wartete, er kam nicht. Und sie fing an, ihn mit anderen Augen anzusehen, fand ihn gar nicht mehr lächerlich... So vergingen ein paar Monate, eines Nachmittags traf sie ihn auf Königsgarten. Es ist die beliebteste Promenade, tausend Menschen gehen da gegen Abend spazieren. Da konnte sie sich nicht helfen, hielt ihn kurz entschlossen an:

'Herr von Soundso, mein Papa fragte neulich, weshalb Sie sich bei uns gar nicht mehr sehen lassen?'

Er warf den Kopf in den Nacken zurück.

'Verzeihung, mein gnädigstes Fräulein, wenn ich, einigermaßen verwundert: Ach nee, sage! Wenn Seine Exzellenz befehlen, komme ich selbstverständlich. Aber ich verstehe nicht, wieso Exzellenz mich überhaupt vermissen! Sollte es dem hohen Herrn nicht bekannt sein, daß ich mir bei seinem Fräulein Tochter einen recht deutlichen Korb geholt habe?'

Das junge Mädchen senkte den Kopf.

'Das weiß er. Aber er meinte, dieses Fräulein hätte recht töricht gehandelt! Hätte keine Ahnung gehabt, wo sein eigentliches Glück zu suchen wär'. '

Der dicke Artillerist schnüffelte durch die Nase. Genau wie heute noch, wenn er nicht zeigen will, wie gerührt er ist.

'Glück, Glück! Was nützt mir das Glück, das der Vater meint? Da pfeif' ich drauf, wenn ich nicht weiß, wie die Tochter gesonnen ist?'

Da beugte das junge Mädchen sich rasch hinab, küßte ihm die Hand. Er prallte erschrocken zurück.

'Um Gottes willen, was machen Sie da bloß?'

'Ich bitt' eine um Verzeihung, daß ich sie einmal verschmäht hab'...“

Da schrie er laut aus, kriegte das junge Mädchen um den Hals und küßte es mitten unter allen Menschen ab. Der Adjutant des Herrn Papas kam gerade vorbei, und so geschah es, daß Seine Exzellenz nicht mehr überrascht waren, als das junge Paar eine halbe Stunde später um seinen Segen bat. Die Braut aber legte vor sich selbst ein feierliches Gelübde ab. Den liebsten aller liebenswerten Menschen stets so zu achten, wie's ihm zukam! Da täte mir's leid, mein liebes Kind, wenn du heute den Eindruck gewonnen haben solltest, das junge Mädchen von damals würde als alte Frau ihrem Herrn Eheliebsten nicht mehr mit dem nötigen Respekt begegnen. Es erschreckt mich geradezu, wenn ich denken sollte, auch er könne vielleicht das Gefühl haben, ich nehme mir heraus, ihn mit kleinen Schlauheiten zu lenken und zu beeinflussen.“

Irmgard schluchzte laut auf.

„Mutti, liebstes, goldenstes Muttchen! Ich schwör' dir bei meinem heiligsten Ehrenwort, ich werd' nie mehr solche Frechheiten sagen! Und auch ich will mich bemühen, bei allen Menschen immer den guten Kern zu suchen, statt nach komischen Äußerlichkeiten zu sehen.“

Frau von Hakenberg strich der Tochter sanft über das lockige Haar.

„Würde mich von ganzem Herzen freuen, mein Kind! Und darf ich dich um einen kleinen Gefallen bitten?“

„Soll ich einen für dich umbringen, Mutti?“

Frau Klara mußte unwillkürlich lächeln.

„Um Gottes willen! Ich wollte dir nur sagen, wenn heute Herr Heidenreich sich verabschiedet, mach' ihm zu guter Letzt das Herz nicht schwer! Er hat sich mit gewissen Unabänderlichkeiten abgefunden. Da täte mir's leid, wenn es dir in deinem launenhaften Köpfchen vielleicht einfallen sollte, ausnahmsweise mal netter zu ihm zu sein als sonst.“

„Du meinst, er wär' dann womöglich imstande, doch wieder hierzubleiben?“

„Ja, mein Herz! Und das würde ich für recht verfehlt halten. Aber jetzt: Spring' mal rasch zum alten Knoop hinüber! Wegen der Forellen. Es könnte doch sein, daß Papa im Drang seiner Wirtschaftssorgen nicht daran gedacht hätte, und sicher ist sicher.“

„Sofort, Muttchen! Aber vor 'ner halben Minute hast du noch gesagt, es wär' Zeit, mich als ganz ausgewachsenen Menschen zu behandeln?“

Frau von Hakenberg blickte verwundert auf.

„Ja, habe ich das denn nicht eben getan?“

„Na, ich danke!“ Fräulein Irmgard wurde rot, verbesserte sich: „Das heißt, so hätte ich mich früher ausgedrückt! Jetzt... also jetzt möchte ich sagen, einem erwachsenen Menschen setzt man doch auseinander, weshalb etwas geschieht? Wieso es zum Beispiel verfehlt wäre, wenn Herr Heidenreich noch länger hierbleiben würde?“

Die Mutter sah ein paar Augenblicke lang versonnen vor sich hin.

„Ja, Kindchen, da müßte ich eigentlich... Aber schließlich: du hast ein gewisses Recht zu der Frage! Nur ich möchte selbst den Schein vermeiden, als wollte ich dich irgendwie lenken oder beeinflussen... Ich bin — im Gegensatz zu Frau Heidenreich — der Ansicht, bei gewissen Entscheidungen soll man den Kindern vollkommen freie Hand lassen. Weil die Verantwortung zu groß ist.“

Fräulein Irmgard reckte sich triumphierend heraus, wandte sich zu der Schwester.

„Also das ist deine Quelle, Ilse? Frau Heidenreich? Na weißt du, darum diese Heimlichtuerei?!“

Die Ältere, die sich wieder zu ihrer Stickerei ans Fenster gesetzt hatte, hob den Kopf.

„Aber, Mutti, du hattest dir doch ganz bestimmt vorgenommen...“

Frau von Hakenberg schlug sich ärgerlich aus den Mund.

„Ja, richtig! Nachgerade wird's nicht mehr schön mit meiner Gedankenlosigkeit! Aber da das Unglück nun mal passiert ist: Ja, meine liebe kleine Imi, Frau Heidenreich hat mir vor einiger Zeit unbekannterweise geschrieben. Wie eine Mutter so der anderen schreibt, wenn ihr das Herz schwer ist von Sorgen um ein geliebtes Kind. Ob ich denn gar nichts dazu tun könne, daß eine gewisse junge Dame ihren einzigen Sohn ein bißchen liebgewinne. Trotz seiner häßlichen großen Nase...“

Fräulein Irmgard machte eine heftige Bewegung.

„Ich weiß nicht, was ihr alle habt? Ich finde die Nase gar nicht so häßlich! Gewiß, beim erstenmal fällt sie einem furchtbar auf, aber später?“

Die Mutter wiegte bedauernd den Kopf.

„Schade, daß du mir das nicht früher mal gesagt hast, Imi!... Ich schrieb Frau Heidenreich natürlich zurück, soweit ich die Situation beurteilen könne, dürfe ihr Herr Sohn sich gar keinen Hoffnungen hingeben...“

„Na aber! Das hast du wirklich geschrieben?“

„Ja, mein Kind, ich hielt's für meine Pflicht. Auf ehrliche Frage gehört ehrliche Antwort! Na, und da schrieb mir denn Frau Heidenreich vorgestern, es sei ihr endlich gelungen, auch ihren Sohn von der Aussichtslosigkeit seiner hiesigen Bemühungen zu überzeugen. Und ihm zugleich klarzumachen, daß das alte Dichterwort immer noch Geltung hat: 'Wozu in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah'“

„Ach! Damit meint sie wohl diese 'ebenso reiche wie schöne junge Dame aus der Verwandtschaft', die nicht mehr länger warten will?“

„Kann sein, mein Kind! Aber du weißt ja nun Bescheid. Du bist mein liebes, verständiges Mädel, wirst einsehen, es wär' frivol, einen so prachtvollen jungen Mann wie Herrn Heidenreich noch länger hinzuhalten.“

Fräulein Irmgard durchmaß mit aufgeregten kurzen Schritten das geräumige Zimmer. Und ebenso wie ihr Vater hielt sie die Linke auf dem Rücken, hob genau wie er von Zeit zu Zeit zur nachdrücklichen Unterstützung einzelner Worte den rechten Arm.

„Na, weißt du, Mutti?! Das nennst du: 'auf die Schicksale und Entschlüsse der Kinder keinen Einfluß nehmen'? Nimm's nicht übel, aber von diesem Briefwechsel hättest du mir doch schon längst 'was sagen müssen! Statt dessen verfügst du ganz glatt über meinen Kopf hinweg, Herr Heidenreich hat für immer adieu zu sagen! Ja weißt du denn, wie es wirklich in mir aussieht? Ob ich mich nicht zu Tode gräm', wenn dieser liebe, prächtige Mensch fortbleibt?“

Frau von Hakenberg hob erschrocken die Hände.

„Ja, Kindchen, wenn ich nur einen Schimmer von Ahnung gehabt hätte, wie du eigentlich gesonnen bist! Und was macht man da jetzt bloß?“

Fräulein Irmgard warf den Kopf in den Nacken zurück.

„Was man da macht, liebe Mama? Ich kann dir's verraten. Wenn die lieben Eltern in einem so entscheidenden Falle komplett versagen, müssen die Kinder eben ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen!“ Sprach's und ging in — wie sie glaubte — außerordentlich hoheitsvoller Haltung hinaus. Durch drei Türen konnte man hören, wie sie im Schreibzimmer des Vaters am Telephon stürmisch das Landratsamt Heinrichsburg verlangte.

Die Mutter sah ihr lächelnd nach.

„Na Gott sei Dank! Aber ich gestehe neidlos, Frau Heidenreich scheint mir an Lebensklugheit doch ein ganzes Ende über zu sein! Diese, wie ich wohl annehmen darf, frei erfundene 'junge Dame aus der Verwandtschaft' hat sich als recht wirksam erwiesen!“

Die ältere Tochter hob lächelnd den mit dicken blonden Haarflechten beschwerten Kopf.

„Ich mußte immer die Zähne aufeinanderbeißen, um dir nicht das Konzept zu verderben! Und — nimm den Vergleich nicht übel — ich mußte dabei immer an meinen Dackel Waldmann denken. Wenn der verwöhnte kleine Kerl beim Frühstück ein Stückchen trockenes Brot nicht nehmen will, braucht ich bloß zu sagen: 'Gleich kommt der Karo, frißt's dir weg.'“

Frau von Hakenberg nickte.

„Ja, mein Kind! Wir bilden uns ein, wunder wie modern und kompliziert wir sind... In Wirklichkeit lassen wir uns immer von denselben primitiven Gefühlen lenken wie vor tausend Jahren.“ ...Und mit einem leichten Seufzer fügte sie hinzu: „Aber, meine liebe Ilse, wo nehme ich für dich einen solchen Karo her? Du wirst mir zugeben, es wäre sehr erfreulich, wenn ich auch über deine Zukunft beruhigt sein könnte.“

Die Tochter ließ die Hand mit der Nadel sinken.

„Liebe Mutti, soll ich vielleicht jetzt auch nach allen Regeln mütterlicher Diplomatenkunst 'eingewickelt' werden wie unsere kleine Imi?“

Frau Klara seufzte aus.

„Wie gerne, liebe Ilsemaus, aber dazu bist du leider zu klug! Mir gab's nur eben einen leichten Stich, als ich daran dachte: Die jüngere Schwester heiratet womöglich mit Neunzehn. Die Ältere aber ist fast Sechsundzwanzig und muß ihr als Brautjungfer folgen?!“

„Ja, Mutti, was ist da zu machen? Wenn der Richtige sich eben immer noch nicht gemeldet hat?“

„Oder wenn man zu wählerisch gewesen ist! Aber laß mal sehen! Wie weit bist du denn mit deiner Stickerei?“

Ilse rückte den Spannrahmen ins rechte Licht. Auf mattseidenem Hintergrund stand in wunderbar seiner Nadelarbeit der Kopf eines Rehbockes. Sichernd hoben sich die Lauscher, über den blanken Lichtern ragte das kraftstrotzende, weitgereckte Gehörn. So sorgfältig und künstlerisch war die Stickerei, daß sie den Vergleich mit besten japanischen Vorbildern nicht zu scheuen brauchte. Die Mutter schlug bewundernd die Hände zusammen.

„Mädel, ich will dir keine Komplimente machen, aber du bist eine Künstlerin! Nur nimm's um Himmels willen nicht falsch auf: Ist's für ein einfaches Vielliebchengeschenk nicht ein bißchen zu reichlich?“

„Wieso, Mutti? Der Geheimrat von Dolinga hat ja auch mehr als ein halbes Jahr gesucht, bis er die alten böhmischen Gläser für meinen Toilettentisch beisammen hatte? Da mußte ich mich doch wenigstens einigermaßen revanchieren!“

„Da hast du recht! Ihr habt ja auch in Karlsbad immer besonders gute Kameradschaft gehalten. Und ich muß sagen, wenn der jüngere Bruder dem älteren gleicht...“

Ilse lachte hell auf.

„Na, Gott sei Dank, da wären wir ja wieder mal so weit! Mutti, Mutti, mußt du denn jeden jungen Mann gleich unter die schwiegermütterliche Lupe nehmen? Herr Assessor von Dolinga macht uns seinen Besuch, um Grüße seines Bruders zu bestellen. Ob er mit diesem Besuch noch andere Absichten verbindet, das müssen wir doch erst abwarten! Nicht wahr?“

„Ganz recht, mein Kind! Aber in diesem Falle hab' ich doch so meine besonderen Gedanken. Und ich kann gar nicht leugnen, daß ich an diesen Besuch allerhand frohe Erwartungen knüpfe. Der junge Herr scheint mir doch mehr zu sein als so der ortsübliche Durchschnitt! Fabelhaft begabt, künstlerische Neigungen, die zu den deinigen vorzüglich passen würden... Am Anfang einer glänzenden Laufbahn, die ihn sicherlich bald nach Berlin führen wird ins Ministerium... Ein bißchen kalter Streber — das beweist sein scharfes Vorgehen gegen die eigene Mutter — ja, aber das hat er mit sich allein abzumachen... Kurz und gut, ich würde mich doch sehr freuen, wenn du ihm gefallen solltest!“

Ilse neigte kühl den schönen Kopf.

„Sehr lieb von dir, Mama, daß du so um mich sorgst, aber ich glaube, so weit bin ich noch nicht! Daß ich nämlich warten soll, ob ich einem gefalle. Bisher war's, Gott sei Dank, immer noch umgekehrt!“ Sie nahm ihren Stickrahmen mit dem Korb voll vielfarbiger Seidenfäden, verließ das Zimmer. Die Mutter aber sah ihr lächelnd nach, nickte zufrieden. Auch die ältere Tochter schien nicht zu ahnen, daß ihr von kluger Hand das Schicksal gelenkt wurde. Beleidigter Stolz war die beste Sicherung gegen einen den Eltern unwillkommenen Werber. Und bitter leid wäre ihr's gewesen, wenn die heißgeliebte Älteste nach überlangem Wählen sich einem zugeneigt hätte, dessen Stellung und Charakter nur geringe Sicherheit boten... Ja, wenn es der ältere Bruder gewesen wäre! Den hätte sie willkommen geheißen trotz dem beträchtlichen Unterschied der Jahre. Aber der Jüngere? Der hatte zuviel Polenblut in den Adern. Und das war wenig verläßlich. Es entzündete sich rasch, flammte hell auf in lodernder Leidenschaft. Aber es verpuffte auch ebenso rasch wie ein kurzes Feuerwerk. Gleichgültigkeit kam hinterher und Schlimmeres, Betrug, zuletzt vielleicht Haß... Und sie mußte denken, wie gut es die Tochter hätte haben können, wenn sie nur ein wenig geneigt gewesen wäre, sich die Zukunft nach kluger Erwägung zu richten. Der Norkitter Graf Stierbach, der stattlichste und erste Edelmann des Kreises, warb um sie beharrlich schon im fünften Jahr. Ein Herr freilich von steifleinener Würde und langsamem Geist. Aber gab es nicht die besten Ehen, wenn die Frau die Behendere und Klügere war? Die Gattin mußte die geistige Überlegenheit nur sorgsam unter bescheidenem Wesen verbergen! Wie glücklich solche Ehen werden konnten, dafür gab es Beispiele...

Und Frau Klara spann an Zukunftsträumen. Sie sah die geliebte Älteste als Herrin auf dem stolzen Norkitten. Zwei Quadratmeilen Acker und Wald. Daß dieser Traum Wirklichkeit wurde, dafür gedachte sie zu sorgen. So wie jetzt eben, indem sie der Tochter einen unliebsamen Freier mit klugem Wort verleidete. Je länger aber die Verwöhnte mäkelte, desto kleiner wurde die Auswahl. Bis schließlich der Beharrlichste übrigblieb. Den nahm sie mit einem leichten Seufzer, war aber nach kurzer Zeit vielleicht schon froh, an dem Treuen eine zuverlässige Stütze gefunden zu haben...

So grübelte die Herrin von Ottenwalde, indessen sie wieder einmal mit ärgerlicher Miene nach ihrem Schlüsselkorb suchte. Bei den aufregenden Ereignissen dieses Vormittags hatte sie vergessen, wo sie ihn zum letztenmal aus der Hand gestellt hatte. Zum Verzweifeln war es, denn in dem Korbe lagen die Schlüssel zu Speisekammer und Keller. Wie ein heimtückischer Feind kam ihr dieser Korb zuweilen vor, wie ein beseeltes Wesen, das ihr bösartig das Gleichmaß und den ordnungsmäßigen Gang des wohl eingeteilten Tagewerkes störte. Früher aber als sonst entdeckte sie den sich arglistig Versteckenden auf dem Teppich neben dem breiten Stuhle am Frühstückstische. Und sie atmete erleichtert auf, denn es wäre nicht das erstemal gewesen, daß er ihr schlimme Verlegenheit bereitet hätte zur Freude des schadenfroh lachenden Gatten. In guter Laune ging sie zur Küche hinüber, mit der Mamsell die Vorbereitungen für das Abendessen zu besprechen. Und sie beschloß, nach dem Fisch noch eine leckere Pastete zu geben, von der sie wußte, daß sie das Leibgericht des Norkitter Grafen war. Eine geringfügige Aufmerksamkeit war es nur, aber sie zeigte dem Gaste, daß er im Ottenwalder Hause nach Gebühr geschätzt wurde...

Frau Klara war eine kluge Dame, aber ihre Rechnung stimmte diesmal nicht. Bei den langen Spaziergängen in Karlsbad war sie immer in der mißvergnügten Nachhut gewesen; hatte nicht gehört, worüber die beiden vorn an der Spitze sich unterhielten. Ein wie geschickter Freiwerber der Geheimrat von Dolinga für den jüngeren Bruder gewesen war. Daß der arme Bursch ohne Mutter aufgewachsen sei, immer unter fremden Menschen. Keine linde Hand, die dem wilden Jungen die Haare aus dem erhitzten Gesicht strich, keine freundliche Mahnerin, die mit gütigem Zuspruch mehr ausrichtete als alle strengen Erzieher. Mitleid aber war ein günstiger Nährboden auch für heißere Gefühle. Namentlich, wenn der zu Bedauernde ein ausnahmsweise schöner und interessanter junger Herr war...

 

8.

 

Als Viktor von Dolinga sich gegen zwei Uhr in der Wohnung des Assessors Heidenreich einfand, wurde er mit einer Herzlichkeit empfangen, die ihm nach dem kühlen Abschied auf dem Landratsamte verwunderlich erschien. Auch der giftige kleine Teckel hatte seine Gesinnung geändert. Er fuhr ihm nicht in die Beine, knurrte nur ein wenig in seinem im Winkel der Diele stehenden Körbchen. Franz Heidenreich schüttelte seinem Gaste mit freudestrahlendem Gesicht die Hand, führte ihn in die Wohnung. Viktor sah sich um und konnte sich eines leisen Neidgefühls nicht erwehren. Lauter Kostbarkeiten standen da, die das Entzücken jedes Sammlers erregt hätten. Auf der Diele zwei schwere litauische Hochzeitstruhen mit kunstvoll getriebenem Eisenbeschlag, im alteichenen Herrenzimmer prangte ein gewaltiger Schrank mit reicher Schnitzerei; meisterhaft modellierte Tierköpfe, von starken Ranken umgeben, die Kassettenarbeit der beiden Türen von wunderbar edler Profilierung. Eine Wohnstube im Biedermeierstil schloß sich daran und ein Eßzimmer in kastanienbraunem Mahagoni. Zierlich geschweifte Möbel aus längst vergangenen Tagen, als man noch Wert darauf legte, dem Raum, in dem man seine Mahlzeiten einnahm, ein lichtes und heiteres Aussehen zu geben. Und in allen Zimmern eine behagliche Stimmung, als wenn in ihnen eine jener altmodischen lieben Damen gewaltet hätte, die Lavendelkraut in den Wäscheschrank legten, Strümpfe strickten und in der Speisekammer aus weißgescheuerten Wandbrettern lange Reihen fest zugebundener Gläser bewahrten. Gläser voll leckerer Marmelade, eingekochter Kirschen und Pflaumen...

Über dem steiflehnigen Biedermeiersofa aus buntgemasertem Birkenholz hingen die gerahmten Photographien eines Paares in vorgerückten Jahren. Die Dame recht wohlbeleibt und mit unsäglich gütigen Augen im rundlichen Gesicht, der Herr dürr und hager mit martialischem Schnurrbart unter weit vorspringender Hakennase. Franz Heidenreich erklärte:

„Meine lieben Altchen! So ziemlich das komischste Paar, das man sich denken kann. Auf den Bildern sehen sie gleich groß aus, weil mein niedliches Muttchen sich ganz dicht vor den Photographenkasten gesetzt hat. Sie meinte, fremde Leute brauchten nicht zu wissen, daß sie immer auf einen Stuhl steigen muß, um ihrem Herrn Gemahl eine Gardinenpredigt zu halten. Bei dem alten Herrn hingegen darf man sich durch den grimmigen Schnurrbart nicht täuschen lassen. Er ist ebenso wie seine überlebensgroße Körperlänge eine Schutzwaffe in darwinistischem Sinne. Um dahinter eine ganz unglaubliche Weichherzigkeit zu verstecken. Eine Gutmütigkeit, die in Litauen ungefähr ebenso bekannt ist wie die Heidenreichsche Nase.“

Viktor konnte nur mit einem erzwungenen Lächeln antworten. Der zärtliche Blick, mit dem der lange Assessor bei der humoristischen Erklärung die Bilder seiner Eltern umfaßte, hatte in ihm ein bitteres Empfinden geweckt. Welch ein Bettler er gegen alle die war, denen es im Herzen licht und warm wurde bei den Worten Vater und Mutter.... Er fühlte, daß er etwas sagen mußte, nahm sich zusammen.

„Zu beneiden sind Sie, Herr Kollege! Auch um die — ich finde kein besseres Wort — stilvoll eingerichtete Wohnung. Jedes einzelne Zimmer im ausgeprägten Geschmack einer ganz bestimmten Zeit.“

Franz Heidenreich lachte.

„Purer Zufall, mein verehrter Herr von Dolinga, nicht die Bohne von Verdienst dabei! Die Heidenreiche sitzen seit fast zweihundert Jahren auf Alksnupönen. Jedes neugebackene Ehepaar in dem alten Hause hatte den Ehrgeiz, sich 'modern und der Neuzeit entsprechend' einzurichten. Auf den schnöden Mammon kam es nicht an. Die viertausend Morgen Alksnupönen liegen in dem gesegneten Ende Litauens, das der liebe Gott in besonders guter Laune geschaffen hat. Klee wächst da und Weizen, daß nach jedem dritten Hieb die Sense stumpf wird. Da wurden denn bei jeder Hochzeit die 'unmodernen' Möbel auf die Okelkammer gestaut, und dort hab' ich mir diese Einrichtungsstücke hier herausgeholt. Aufs Geratewohl, wie sie nebeneinander standen, als gänzlicher Stilbanause. Erst Fräulein Ilse von Hakenberg — sie hatte vor anderthalb Jahren mal die Güte, mit Mutter und Schwester bei mir Kaffee zu trinken — also Fräulein Ilse hat mir den nötigen Schimmer beigebracht. Da kriegte ich Augen wie die Kuh am neunten Tag und hab' das alles hier aus der unerschöpflichen Bodenkammer von Alksnupönen ins streng Stilvolle verbessert!“

„So“, sagte Viktor, „Fräulein von Hakenberg ist wirklich so kunstverständig?“

„Unheimlich! Sie ist viel gereist, hat viel gesehen. Aber sie protzt damit nicht, läßt sich sehr nötigen, bis sie einem mal was auseinandersetzt.“

Gott sei Dank, dachte Viktor und entsann sich schaudernd so mancher jungen Dame, die ihm zwischen Fisch und Braten das Kapitel aus Muthers Kunstgeschichte versetzt hatte, auf das sie sich für das bevorstehende Diner eingepaukt hatte...

Eine kleine alte Frau in schwarzem Sonntagskleid und steifgestärkter Latzenschürze trat ins Zimmer. Sie verneigte sich vor dem Gaste und sagte feierlich: „Err Hackzesser, Mittag hangerichtet!“

Franz Heidenreich faßte sie zärtlich um die rundliche Schulter, stellte vor.

„Fräulein Ennutte Kellmigkeit! Das liebste, schönste und stilvollste Einrichtungsstück, das mein Muttchen mir in die Fremde mitgegeben hat! Wie Sie die junge Dame hier sehen, hat sie mehr als vierzig Jahre in Alksnupönen das segensreiche Amt einer Mamsell bekleidet. Und sonst die Ordnung selbst, aber als geborene Stocklitauerin befleißigt sie sich im Deutschen einer etwas launenhaften Behandlung des Buchstabens 'H'.“ Und er machte lustig nach: „Wo her 'inge'ört, läßt sie hihn weg. Wo man hihn für hunmöglich 'alten sollte, setzt sie hihn 'in!“

Fräulein Ennutte wehrte gutmütig ab.

„Her himmer Hunsinn macht! Meint Haber nich bös. Schon hals kleine Kind, 'at nichts wie Faxen hin Kopf gehabt! Haber jetzt hich bitte rasch, sonst Hessen wird kalt!“

Franz reichte seinem Gaste den Arm.

„Damit meint Fräulein Ennutte nämlich nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, das Großherzogtum gleichen Namens, sondern die guten Sachen, die sie gedichtet hat. Eine Frühlingssuppe eigener Erfindung, die ich das 'Geheimnis der alten Mamsell' getauft habe, hinterher einen Alksnupöner Fasanenhahn mit heimatlichem Sauerkraut und zuletzt eine wunderbare Nudelspeise. 'Schaltenohssis' sagen die Litauer darauf, aber man muß sie gegessen haben, um zu wissen, welche Köstlichkeit sich hinter diesem unscheinbaren Wort verbirgt.“

Fräulein Ennutte schalt ärgerlich:

„Ganze Hüberraschung weg, wenn himmer vorder sagst, was gibt.“

„Ah nein, meine Teuerste! Jeder verständige Mensch muß doch vor dem Essen seinen Magen gewissenhaft in einzelne Fächer einteilen. Sonst nimmt er von den ersten Speisen zu viel und weint nachher, wenn er für die guten Sachen keinen Platz mehr hat.“

So plauderte er lustig, indessen sie sich zu Tisch setzten. Viktor mit einem seltsam wehen Gefühl im Herzen, gemischt aus Neid und Trauer. Noch niemals hatte er's so wie heute empfunden, wie gut es die hatten, denen eine sorgende Mutterhand auch in der Fremde Behaglichkeit spendete und ebenen Weg bereitete. Aus Neid und Trauer aber wuchs ihm eine Sehnsucht... Vielleicht, wenn ihm das Schicksal hold war, fand er auch sein Teil Glück. Vielleicht mußte man nur fest entschlossen sein, es zu suchen... Zu jedem Falle, wollte ihm scheinen, war er für die Fahrt nach Ottenwalde gerade in der rechten Stimmung...

Die köstliche Suppe war abgetragen, Franz schenkte ein und hob sein Glas:

„Willkommen in Heinrichsburg, verehrter Herr von Dolinga! Ich wünsche von ganzem Herzen, die Jahre Ihrer Arbeit hier mögen der Stadt, dem Kreis und Ihnen Freude bereiten, ein rechter Segen werden!“

„Haben Sie Dank“, erwiderte Viktor, „ich weiß, der Wunsch kommt aus wohlmeinendem Herzen!“ Und so sehr er sich dagegen wehren mochte, er konnte es nicht hindern, daß ihm die Augen feucht wurden. Um die Stimmung zu verbergen, fügte er nach kurzer Pause in leichtem Tone hinzu: „Aber alle Achtung! Das Weinchen hier ist doch eine 92er Auslese aus der Gegend von Rauental?“

Franz Heidenreich machte eine bedauernde Bewegung.

„Ein Jammer, daß mein alter Herr nicht hier ist! Der würde vor Freude über solche Kennerschaft aus dem Häuschen geraten! Gute Weine sind nämlich seine Leidenschaft. Wie andere Leute Bilder, so sammelt er Weine. Und über seine Litauer ringt er immer die Hände. Weil diese sonst sehr braven Leute das köstlichste Himmelsgeschenk, den Durst, in minderwertigen Flüssigkeiten ersäufen. In Grog, stumpfem Bier und tintigem Rotwein.“

Viktor hob mit leichter Verneigung sein Glas.

„Ich bitte, dem verehrten Herrn im nächsten Briefe meine dankbarsten Grüße zu bestellen! Wenn er seinen Herrn Sohn besuchen sollte, hoffe ich, mich revanchieren zu dürfen. Auch ich bringe eine kleine, aber auserwählte Sammlung aus Düsseldorf mit.“

„Na, erst mal, verehrter Herr Kollege, hoffe ich, Sie geben uns in Alksnupönen die Ehre! Am besten zur Bockzeit. Und ich darf ohne Übertreibung sagen, die Bocke meines lieben Papas geben an Qualität seinen Weinen wenig nach.“

„Herzlich gerne“, erwiderte Viktor und wunderte sich, daß der Lange ihm mit so auffälliger Herzlichkeit entgegenkam...

Nach gebührender Pause wurde der Fasan aufgetragen. Köstlich von sanft gebräuntem Speck umgeben, Kopf und Steiß im Schmuck der bunten Federn. Franz zerlegte ihn kunstgerecht, hob eine neue Flasche aus dem Kühler. Vor dem Einschenken aber zeigte er mit einem gewissen Stolz die Marke. Es war eine 1904er Geisenheimer Oberdecker Trockenbeeren-Auslese.

„Dieses nämlich ist die Sorte, auf die mein lieber alter Herr immer 'Schusterwein' sagt! Man soll ihn nur in den schönsten Stunden seines Lebens trinken. Wenn's einem so gut geht, daß man den himmlischen Vater immer bitten muß, er soll's einem nicht anrechnen, oder wenn man einen verehrten Mann zum Freund gewinnen will.“

Viktor tat Bescheid, schüttelte seinem Gastgeber herzhaft die Hand.

„Ich denke, darüber waren wir uns doch schon am Vormittag einig?“ Und lachend fügte er hinzu: „Aber wenn wir so fortfahren, kommen wir mit einem Schwips nach Ottenwalde!“

„I bewahre, auf der Autofahrt verfliegt er wieder! Aber mir könnte man's — weiß Gott nicht verdenken, wenn ich mir heute vorher einen Ordentlichen ansäuseln würde! Ich bin ja so selig, so furchtbar glücklich...“

„Ach! Hat vielleicht eine gewisse junge Dame, die noch vor wenigen Stunden 'Igel' genannt wurde, inzwischen die Stacheln ein wenig eingezogen?“

Franz Heidenreich lachte.

„Nur ein wenig? Ganz und gar! Heute nachmittag schon, hofs' ich, werd' ich diese Stacheln gegen den Strich streicheln können! Und weil Sie doch Mitwisser sind, Herr Kollege... Also eine Stunde etwa nach Ihrem Fortgang wurde ich aus Ottenwalde angerufen. Erst konnte ich mir gar nicht zusammenreimen, was eigentlich passiert war, bis mir endlich klar wurde, es hat sich ein gewaltiger Umschwung zu meinen Gunsten vollzogen. Wieso und weshalb, ist mir auch jetzt noch schleierhaft, nur so viel hab' ich 'raus, mein liebes altes Mamachen hat sich in Sorge um ihren Einzigen irgendwie diplomatisch betätigt. Na prosit, die Mütter sollen leben!“

Viktor hob sein Glas, um seine Lippen flog ein trauriges Lächeln.

„Darf ich mich darauf beschränken, aus das Wohl der verehrten Ihrigen zu trinken?“

Franz machte ein ehrlich betrübtes Gesicht.

„Entschuldigen Sie, Herr von Dolinga, ich hätte daran denken müssen, daß Ihre Frau Mutter... Es war eine ganz unverzeihliche Taktlosigkeit.“

„Ah nein, lieber Herr Heidenreich, die Taktlosigkeit lag bei mir! Man soll einen Reichen, wenn er sich seines Glückes freut, nicht daran erinnern, daß es auch Arme auf dieser Welt gibt. Nur, ich konnte mir im Augenblick nicht helfen, die Bitterkeit war zu groß.“

Die gute Stimmung war verflogen, sie unterhielten sich mühsam über gleichgültige Dinge. Franz Heidenreich hätte noch so manches auf dem Herzen gehabt, was seinem Vorgesetzten von Nutzen gewesen wäre in den neuen Verhältnissen. Der aber schien keinen Wert darauf zu legen, hatte sich ganz in sich zurückgezogen. Dem Langen tat es leid, aber sich aufdrängen war nicht seine Art. Ihm schien, er sei dem anderen weit über die Hälfte der Straße entgegengekommen. Und wenn einer glaubte, er fände seinen Weg allein, mußte man ihn gehen lassen.

 

***

 

Das Auto des Assessors Heidenreich knatterte die gerade Chaussee entlang, die von Heinrichsburg nach Osten führte. Viktor hatte Bedenken gehabt, um vier Uhr nachmittags könne man doch nicht in einer fremden Familie seinen ersten Besuch machen; der jüngere Kollege hatte ihn beruhigt. Das war auf dem Lande so üblich. Man kam um die Kaffeezeit, blieb zum Abendbrot. In der Zwischenzeit machte man einen Gang durch den Park, sah sich die Ställe an oder — wie heute in Ottenwalde — bewunderte die Fohlenkoppeln, den Stolz des Herrn von Hakenberg. Außerdem, fügte er mit glücklichem Lachen hinzu, könne man's ihm gerade heute wohl kaum verdenken, wenn er's ein bißchen eilig habe...

Hinter dem Dorfe Pokroppen überholten sie einen Einspänner. Einen flotten Traber, der vor einen hochräderigen Sandschneider gespannt war. Auf dem Bock saß Herr Padöffke, grüßte vornehm mit der Peitsche. Franz wandte sich lebhaft zu seinem Begleiter.

„Wetten, daß der Kerl nach Friedrichstein fährt, um sich für den Hotelumbau zu verkaufen? Und wetten, daß wir morgen einen 'Polen' mehr im Kreise haben?“

Viktor beschränkte sich auf ein stummes Achselzucken. Ein seltsames Gefühl, gegen das kein Wehren half, bedrückte ihm die Brust. Die Gegend kannte er. Es war die Heimat, in der er geboren war. Nur, er kehrte als ein Fremder zurück... Wie ein Schleier war es auf der Fahrt von seiner Erinnerung gefallen. Er entsann sich genau der schnurgeraden Straße mit den dürftigen Linden... sie waren in den zwanzig Jahren wenig gewachsen. Auch die hölzernen Katen in dem Dorfe Pokroppen standen noch genau so ärmlich wie damals zu beiden Seiten der staubigen Straße. In lichtem Schiefergrau der Unterbau, die Strohdächer mit grünem Moos bedeckte. Und dort, hinter jener Höhe am Horizont, breitete sich ein viele Morgen großer Park von alten Bäumen. Mitten darin stand ein weit ausladendes Schloß mit hohem Turm und ragenden Zinnen. Immer war es seine Sehnsucht gewesen, die runde Wendeltreppe mit den unzähligen Stufen in die Höhe zu steigen; die Mutter hatte es leider streng verboten. Und er entsann sich, wie er zu der Wärterin Tinka gesagt hatte: „Na wart' nur, bis ich groß bin! Dann kletter' ich den ganzen Tag 'rauf und 'runter.“ Mit der Erfüllung nicht nur so kindischer Wünsche war es für alle Zeiten vorbei...

Vorn im Motor gab es einen harten Ruck, zischender Dampf fuhr aus dem Kühler. Der Wagen lies noch ein halbes Hundert Schritte, wurde langsamer, blieb stehen.

Der Führer stieg aus, hob den Deckel ab und kratzte sich den Kopf. Motorpanne! Die Wasserpumpe hatte einen Knacks gekriegt, der mit Behelfsmitteln nicht zu heilen war; die Fahrt hatte mitten auf der Landstraße ein Ende.

Franz Heidenreich fluchte herzhaft.

„Himmelkreuzmillionenschockbombendonnerwetter, immer, wenn man's ganz besonders eilig hat, läßt einen das verdammte Beest im Stich!“ Aber Fluchen half nicht weiter, und er traf kurz die nötigen Anordnungen. Der Führer hatte seine Beine in die Hand zu nehmen und in möglichst beschleunigtem Tempo nach Pokroppen zurückzulaufen. Hatte der Gastwirt Sareyka seine Pferde zu Hause, sollte sofort angespannt werden. Wenn nicht, war nach Ottenwalde um Hilfe zu telephonieren. In jedem Falle gab es eine ärgerliche Verspätung von mehr als zwei Stunden. Aber auch der Ärger war unnütz, die Wartezeit wurde drum nicht eine Minute kürzer. Und Franz Heidenreich steckte sich in wiedergewonnenem philosophischem Gleichmut eine seiner dicken Zigarren an, nachdem sein Begleiter dankend abgelehnt hatte.

Der Wagenführer hatte sich im Trab auf den Weg gemacht. Franz nahm das Kissen vom Rücksitz, breitete es über einen Haufen kleingeschlagener Schottersteine am Grabenrand und machte eine einladende Handbewegung.

„Darf ich Euer Hochwohlgeboren bitten, sich eine Weile lang die Aussicht zu betrachten? Viel ist leider nicht da. Der Racker von Auto hat sich, wie immer, den langweiligsten Platz für die Panne ausgesucht.“

„Für mich nicht“, erwiderte Viktor. „Dort rechts — wenn mich meine Erinnerung nicht trügt — biegt ein Weg ab, den ich vor langen Jahren oft gefahren bin. Und hinter dem Berge, da, wo die zackige Turmzinne in die Luft ragt, liegt ein Haus... Meine Mutter wohnt dort, ich selbst aber hab' darin nichts mehr...“

Er mußte abbrechen, fühlte deutlich, wenn er weitersprach, hatte er seine Stimme nicht mehr in der Gewalt. Und er fragte sich unwillig, woher denn in aller Welt dieser Umschlag in seiner Stimmung? Schwerenot noch mal, er hatte sich doch lange genug ohne diese Mutter beholfen, deren lieblose Haltung er jetzt so schmerzlich beklagte? Oder versteckte sich dahinter wieder einmal jenes andere Gefühl, dessen Torheit er sich allgemach so oft bewiesen hatte, daß er damit eigentlich für alle Zeiten hätte fertig sein müssen?...

Franz rauchte schweigend seine Zigarre. Der andere tat ihm herzlich leid. Trostlos mußte es sein, zu wissen, die Mutter ist hier ganz in der Nähe und doch weiter fort, als wenn ein Meer dazwischen gelegen hätte... Und er fragte unvermittelt: „Darf ich mir herausnehmen, jetzt mal ganz offen zu sein, Herr Kollege?“

„Ich bitte darum!“

„Nun denn: Nicht nur ich habe mich gewundert, daß gerade Sie als Landrat in unseren Kreis gekommen sind!“

„Mein älterer Bruder hat ihn mir ausgesucht. Ich selbst hatte keine Ahnung, auf welche Schwierigkeiten ich hier stoßen würde.“

Franz schüttelte verwundert den Kopf.

„Hm... fast könnte man sagen, unbegreiflich! Namentlich da Herr von... nun, ein sehr angesehener Gutsbesitzer des Kreises es übernommen hatte, Ihrem Herrn Bruder zu schreiben. Ihn über die — gelinde gesagt — Mißstimmung zu unterrichten, die durch das agitatorische Auftreten der Gräfin Komierowska hier hervorgerufen worden ist... ja also, und ihn schließlich zu bitten, im Interesse der deutschen Sache von einer Berufung abzusehen, die diese Mißstimmung nur vergrößern müßte!“

Viktor blickte betroffen auf.

„Das ist allerdings... Mir hat nämlich mein Bruder von einem solchen Briefe nichts gesagt! Und habe ich eben recht verstanden: daß ich auf den Heinrichsburger Landratsposten kommen sollte, das hat man hier schon vor längerer Zeit gewußt?“

„Zu dienen! Ich erfuhr es zum Beispiel schon vor mehreren Monaten. Auch von dem Herrn, der es übernommen hatte, Ihrem Herrn Bruder über die Stimmung des Kreises zu berichten.“

„Merkwürdig“, sagte Viktor langsam. „Ich erhielt meine Berufung erst vor wenigen Tagen, und ich muß sagen, sie kam mir recht unerwartet!... So unerwartet, daß ich...“ Er konnte nicht weitersprechen, der Hals war ihm wie zugeschnürt unter dem Druck einer jäh aufsteigenden Erkenntnis. Was ihm bisher als törichter und den Bruder schmählich kränkender Verdacht erschienen war, wurde plötzlich zu fast untrüglicher Sicherheit: Ulrich hatte gewußt, was ihm bevorstand, als er ihn hierherschickte! Hatte ihn all die Jahre über arglistig getäuscht, wenn er immer sagte, er wisse nicht, was aus der Mutter geworden sei. Ob sie noch lebe oder längst schon verdorben sei und gestorben... Und wie unter dem jäh aufflammenden Lichte eines Blitzes wurden ihm allerhand Zusammenhänge klar, die bisher in wohltätigem Dunkel gelegen hatten. Ein lang aufgespartes Rachewerk war es, zu dem ihn der ältere Bruder erzogen hatte! Daher die sonst schwer erklärliche Nachsicht bei allen seinen leichtsinnigen Streichen, bei seinem verschwenderischen Leben! Und daher auch die feierliche Abnahme des Ehrenwortes, das ihn band, in seiner neuen Stellung nichts anderes zu kennen als seine von Dienst und Amt vorgeschriebene Pflicht...

Die plötzliche Erkenntnis benahm ihn so, daß er sich gewaltsam zusammennehmen mußte, um nicht laut aufzuschluchzen vor grausam bitterem Herzeleid. Gab es wohl einen auf der Welt, dem ein elenderes Los bereitet war? Von klein auf umhergestoßen unter fremden Menschen und schließlich in einen Zwiespalt gehetzt, an dem auch ein Stärkerer hätte zugrundegehen müssen! Gehetzt aber von wem? Von dem einzigen, den er geliebt, und dem er vertraut hatte wie sich selbst! Aber Greinen half nichts, er mußte zusehen, dieser entsetzlichen Lage Meister zu werden... Er hob den Kopf.

„Herr Heidenreich, Sie sind mir so außerordentlich freundschaftlich entgegengekommen...“

Franz wehrte ab.

„War nichts weiter als meine kollegialische Pflicht und Schuldigkeit! Vielleicht auch — wenn ich ganz ehrlich sein darf — ein aufrichtiges Mitgefühl. Es ist doch wohl das Härteste, was Beruf und Amt von einem Manne verlangen können: zwischen seiner beschworenen Pflicht wählen zu müssen und der Frau, der man sein Leben verdankt.“

Viktor sah starr geradeaus.

„Ja, namentlich wenn man sich sagen muß, dieser Konflikt war unnötig, hätte mir erspart werden können! Aber das ist eine Sache für sich! Im Augenblick möchte ich Sie etwas anderes fragen! Und ich bin unbescheiden genug, Sie um eine Antwort zu bitten, wie... nun, wie Sie sie einem Freunde geben würden!“

„Darauf können Sie sich verlassen, Herr von Dolinga!“

„Nun denn, Sie haben inzwischen wohl schon gehört, daß ich gestern abend im 'Schwarzen Adler' auf mein Verhältnis zu meiner Mutter, der Gräfin Komierowska, gestellt worden bin? Und was für eine Antwort ich darauf gegeben habe?“

„Es ist mir heute vormittag auf dem Landratsamt berichtet worden. Leider erst, als Sie gegangen waren. Sonst hätte ich für den Ursprung Ihrer Frage, ob zwischen Deutschen und Polen eine Versöhnung möglich sei, etwas mehr Verständnis gehabt!“

Viktor griff nach seiner Hand.

„Haben Sie Dank! Dann werden Sie mir auch nachfühlen können, daß ein Mann in meiner Lage selbst bei der strengsten Auffassung seiner Amtspflichten von Nöten und Zweifeln heimgesucht wird? Und dies gerade nach einer solchen Erklärung?“

„Zum Teufel noch mal, und wie! Mutter ist Mutter! Und schließlich ist auch ein königlich preußischer Beamter doch keine Maschine, die, einmal angeheizt, ihr Pensum an Pflicht und Arbeit mechanisch 'runterrasselt!“

„Sehr richtig! Jetzt aber kommt für mich die Hauptsache: Würden Sie es für angängig halten, daß ein preußischer Verwaltungsbeamter nach einer Erklärung, wie ich sie gestern abgegeben habe, um seine Versetzung bittet?“

Franz Heidenreich schüttelte nach reiflicher Überlegung den Kopf.

„Ich halte es für unmöglich! Wenn ich recht unterrichtet bin, haben Sie wörtlich gesagt, Sie würden Ihre Frau Mutter als lästige Ausländerin ausweisen lassen, falls sie nicht die preußische Staatsangehörigkeit besitzt und die gegen sie vorgebrachten Beschwerden sich bewahrheiten?“

„Allerdings, das habe ich gesagt.“

„Nun denn: Ihre Frau Mutter ist durch die Heirat mit dem Herrn Grafen Komierowski österreichische Untertanin geworden, und die vorgebrachten Beschwerden sind wahr! Da muß das Wort eingelöst werden! und zwar von Ihnen, Herr von Dolinga! Falls Sie nämlich Wert darauf legen, im Verwaltungsdienst zu bleiben. Es muß aber auch eingelöst werden im Interesse der deutschen Sache! Es geht nicht an, daß hie Polen sagen dürfen: 'Da seht her, unser neuer Herr Landrat! Am Biertisch hat er den großen Mund, will uns alle fressen! Wenn er aber Ernst machen soll, kriegt er's mit der Angst, läßt sich schleunigst versetzen! Oder wer weiß — vielleicht ist ihm auch von ganz oben her gewinkt worden: Herr Landrat, eine so scharfe Tonart paßt uns nicht?... Wir Polen sind ja auch nicht ganz dumm, wissen recht gut, wie man's anfangen muß, einem solchen Herrchen eins auszuwischen? So würden die Herrschaften sprechen — wie Sie mir zugeben werden, mit voller Berechtigung. Und da sie natürlich nicht versäumen würden, die Kunde von ihrem neuen 'Siege' in tausend masurische Bauernhäuser zu tragen, mit Triumphgeheul in all ihren Zeitungen zu verbreiten, wäre es für das Deutschtum im ganzen Osten ein harter Schlag. Ein Schlag, an dem es jahrelang zu tragen haben würde. Und genau so läge natürlich die Sache, falls Sie beabsichtigen sollten, Ihren Abschied zu nehmen. Der Triumph der Polen wäre der gleiche. Aber“ — so schloß Franz seine wohlabgewogenen Worte — „das ist die unmaßgebliche Meinung eines kleinen Kirchenlichts. Vielleicht, wenn Sie zur Meldung nach Allenstein fahren, daß Sie bei der Gelegenheit sich mit dem Herrn Präsidenten benehmen?“

Viktor schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf.

„Ich glaube nicht, daß ich von diesem hohen Herrn etwas anderes hören würde! Aber eins, muß ich sagen, wundert mich bei alledem: Wie ich gestern hörte, ist meine Mutter schon mehr als zwei Monate hier. Weshalb ist da mein Vorgänger nicht gegen sie eingeschritten?“

„Weil er ein gar ängstlicher Herr war, nirgends anstoßen wollte! Deshalb wünschte man ihm ja auch einen Nachfolger, der endlich unseren Polen hier die starke Hand zeigt.“

Viktor richtete sich auf, in sein Gesicht trat ein harter Zug.

„Die Herrschaften sollen nicht enttäuscht werden!... Aber jetzt — wenn's Ihnen recht ist — 'was Erfreulicheres. Das hätten wir beide heute früh uns wohl nicht träumen lassen, daß meine prophetische Frage: 'Wann ist Verlobung?' so rasch in Erfüllung gehen würde?“

Franz lachte fröhlich auf.

„Nee, weiß Gott nicht! Ich kneif' mich auch jetzt noch ab und zu in die Nase, ob ich auch wirklich wach bin. Aber“ — fügte er mit listigem Blinzeln hinzu — „ist's wirklich nur Zufall, daß Sie gerade im Hakenbergschen Hause Ihren ersten Besuch machen? Wie ich mir nämlich schon heute vormittag zu bemerken erlaubte, gibt's da noch eine Tochter!“

Viktor zögerte einen Augenblick lang. Was er jetzt antwortete, war in gewissem Sinne Bindung und Entscheidung... Und er erwiderte mit einem unmerklichen Aufatmen: „Das wußte ich wohl, mein lieber Herr Heidenreich! Schon vor Ihrer begeisterten Schilderung. Mein Bruder in Berlin hatte mir ein ähnliches Bild gemalt. Also da gebe ich gerne zu, daß die Eile, mit der ich diesen Besuch ausführe, gewisse Schlußfolgerungen zuläßt.“

„Großartig“, sagte Franz, „und von Herzen Weidmannsheil! Wer das Mädel mal heimführt, hat eine Art von Großem Los gewonnen.“ Und er begann ein wahres Loblied aus die vortrefflichen Eigenschaften seiner zukünftigen Schwägerin. Pries ihren vornehmen, geraden Charakter, ihre bei allem nötigen Ernst fröhlich gestimmte Gemütsart, die glänzende Manier, in der sie ihre künstlerischen Neigungen mit einem aufs Praktische und Wirtschaftliche gerichteten Sinn zu vereinigen wisse. Dabei von außergewöhnlicher Schönheit... eine biegsame Figur, schlank und ebenmäßig gewachsen...

Viktor hörte zu und spann dabei seine eigenen Gedanken. Eine Lösung aus aller Not wäre es gewesen, wenn er zu diesem mit so viel guten Eigenschaften ausgestatteten jungen Mädchen eine ehrliche Zuneigung hätte fassen können... Wenn er das rasche Wort bereute, das er gestern gegen die Mutter gesprochen hatte, was stand denn in Wirklichkeit hinter dieser Reue? Die Angst, sich durch die Einlösung dieses Wortes auch von der einen zu scheiden, für die sich's zu leben und zu sterben verlohnte! Das trat ihm gerade jetzt wieder in erschreckender Klarheit vor die Seele, und er schrie sich innerlich heftig an: Gab's für diese unsinnige Leidenschaft denn gar kein Heilmittel?... Eines gab es wohl. Ein kurzer Fingerdruck, und alle Not hatte ein Ende. Aber den Gefallen tat er dem nicht, der ihn in diese Wirrsal gehetzt hatte. Nur einen Entschluß mußte er endlich fassen, einen klaren und festen Entschluß. Sich weiter vom Zufall treiben lassen, ging nicht an...

Er merkte, daß der brave liebe Kerl an seiner Seite, der es offensichtlich gut mit ihm meinte, aufgehört hatte zu sprechen. Da zwang er sich zu einer scherzhaft klingenden Antwort.

„Genug, Herr Kollege, genug! Ihre Schilderung müßte ja selbst den eingefleischtesten Junggesellen bekehren! Aber Sie haben mir heute früh erzählt, die junge Dame sei sehr wählerisch, ein Bild ohne Gnade. Wer bürgt mir da, daß ich eines schönen Tages nicht auch mit so einem korbähnlichen Gebilde' nach Hause fahre?“

„Hm“, machte Franz, „darüber habe ich so meine eigenen Gedanken! Als Fräulein Ilse voriges Jahr aus Karlsbad zurückkehrte, sprach sie einige Male doch recht lebhaft von Ihnen. Ihr Herr Bruder scheint ihr viel von Ihnen erzählt zu haben.“

Viktor blickte betroffen auf. Zum Verrücktwerden war das, warf alles über den Haufen, was er sich zurechtgelegt hatte. Und ganz deutlich entsann er sich, daß dem alten Ulrich beim Abschied in Berlin die Augen naß gewesen waren... Aber auf der anderen Seite war doch der Brief, aus dem der Bruder erfahren hatte, die Mutter lebte, war zu unheilvoller Tätigkeit wieder nach Friedrichstein zurückgekehrt? Er fühlte, er mußte aüfhören zu grübeln, sonst verlor er den Verstand. Er gab sich einen Ruck.

„Noch eine Bitte, Herr Kollege! Nicht wahr, was ich Ihnen von meinen Gewissensnöten erzählte, bleibt unter uns?“

„Das dürfte wohl ziemlich selbstverständlich gewesen sein, Herr von Dolinga! Und ich will mich nicht aufdrängen. Aber ich bin gern bereit, Ihnen die Vernehmung Ihrer Frau Mutter zu ersparen. Mir macht's nichts aus, und Ihnen wäre ein solches Wiedersehen doch sicherlich recht peinlich.“

Viktor schüttelte den Kopf. Er glaubte endlich mit sich im reinen zu sein. Mit Tränen im Auge schickte man doch nicht einen, an dem man bislang wie ein Vater gehandelt hatte, ins sichere Verderben? Und er sagte hart: „Herzlichen Dank, lieber Herr Heidenreich! Ich werd's Ihnen nicht vergessen. Aber ich möchte mir die Gelegenheit, meine Frau Mama zu sprechen, nicht entgehen lassen. Vielleicht erzählt sie mir dabei, wie es in einem Mutterherzen aussieht, das sich von seinem einzigen Kinde trennt, um in eine neue Ehe zu laufen?“

Franz Heidenreich nickte. Das war wohl das Entscheidende. Und er rechnete es dem anderen hoch an, daß dieser trotz aller gerechten Verbitterung vor dem letzten Entschluß mit Zweifeln gerungen hatte...

Der Einspänner, den sie hinter dem Dorfe Pokroppen überholt hatten, kam in schlankem Trabe vorüber. Herr Padöffke zog mit übertriebener Höflichkeit den Hut und rief hoch von seinem Kutschierbocke hinab: „Wie sagt der Lateiner? 'Chi va piano, va sano!'“

„Diesmal war's ein Italiener“, schrie Franz ärgerlich zurück, paßte auf, ob das Fuhrwerk in den von der Chaussee nach rechts abbiegenden Weg lenkte. Da ballte er ingrimmig die Faust.

„Schweinehund, er fährt also wirklich nach Friedrichstein! Na schön, ist nicht viel an ihm verloren! Aber leider ist dieses kleine Lümplein in gewissem Sinne typisch. Deutschtum und Vaterland wird für diese Sorte klein, Geldverdienen hingegen groß geschrieben! Und was riskiert der Kerl im schlimmsten Falls? Einen feierlichen Rausschmiß aus dem Ostmarkenverein. Da pfeift er drauf. Gesellschaftlich ist er sowieso unten durch. Aber geschäftlich? Beim nächsten Neubau in Stadt oder Land braucht er seine Konkurrenten bloß um ein paar Prozente zu unterbieten, und er kriegt die Ausführung.“

Viktor mußte unwillkürlich lächeln. Gott sei Dank, da waren sie wieder einmal bei der Frage, der man anscheinend hier nicht ausweichen konnte. Was man auch sprechen oder denken mochte, man kam nicht an ihr vorbei...

„Sehr bedauerlich“, sagte er. „Aber Sie werden mir zugeben, Herr Kollege: Wie soll man im Reich für die Schwere der Polengefahr Mitgefühl oder Verständnis haben, wenn diejenigen, die sie am nächsten angeht, sich so gleichgültig verhalten?“

„Das ist ja der Jammer! Wir tun leider immer noch nicht genug, die Laschen und Lauen bei uns aufzurütteln! Aber wo soll draußen im Reich das Verständnis für unsere Not herkommen, wenn gerade die gelesensten Zeitungen schreiben: Eine Polengefahr? Lächerlich! Die existiert nur in der Einbildung von ein paar hundert alldeutschverbohrten Köpfen!?“

„Ganz recht, so habe ich's oft genug gelesen. Aber wie soll man diese Zeitungen zu einer anderen Haltung bringen?“

„Denke ich mir sehr einfach! Man müßte diese Blätter nur anders behandeln als bisher. Nicht als lästige Kritiker, sondern als Mitarbeiter. Weshalb zum Beispiel stellt man ihnen nicht das ganze sekrete amtliche Material über die unterirdischen polnischen Organisationen zur Verfügung? Das Material, aus dem die Ziele dieser Verschwörer klar hervorgehen? Da müßte es den an so verantwortlicher Stelle stehenden Herren doch klar werden, wohin die Reise geht!... Daß in einigen Menschenaltern nicht mal ein paar verstümmelte Ortsnamen mehr davon Zeugnis ablegen, daß dieses Land hier mal deutsch gewesen ist.“

„Und von dieser Arbeit bei den Zeitungen würden Sie sich einen Erfolg versprechen?“

„Unbedingt! Die Herren, die darin die sogenannte öffentliche Meinung machen, schreiben doch nicht aus böser Absicht, sondern in der Überzeugung, aus ihre Art dem vaterländischen Interesse am besten zu dienen?“

Viktor schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, der einzige Erfolg dürfte sein, daß die Herren nach sorgfältigem Studium des Materials einen Triumphgesang anstimmen würden: 'Na, seht ihr nun, wohin ihr's mit eurer verfehlten Politik gebracht habt? Wärt ihr uns gefolgt, brauchtet ihr jetzt nicht zu wehklagen! Also aus, schlagt euch reumütig an die Brust und laßt ab von der Politik der 'Nadelstiche und kleinen Schikanen'! Gebt den Polen endlich die heißersehnte Freiheit wieder, und sie werden im selben Augenblick von ihren aufrührerischen und deutschfeindlichen Umtrieben ablassen! Von Umtrieben, die übrigens zum allergrößten Teil nur in der Phantasie eurer Polizeispitzel existieren!“'

„Das — glauben Sie — wäre wirklich der einzige Erfolg?“

„Ich kann mir wenigstens einen anderen nicht gut vorstellen. Ich habe in Düsseldorf mehr als ein Jahr lang im Pressedezernat gearbeitet. Aus dieser Tätigkeit habe ich eine Überzeugung gewonnen: Zwei Sorten Menschen gibt's aus der Welt, die von einer mal gefaßten Meinung nicht abzubringen sind. Der Politiker und der Journalist.“

„Ja dann“, sagte Franz mit einem tiefen Atemzug, „muß es hart auf hart gehen, dann hilft nur noch das Ausnahmegesetz! Abschaffung der Preßfreiheit für die polnischen Zeitungen, rücksichtslose Unterdrückung aller polnischen Vereine, strenge Strafe für jeden, der auch nur einen Fußbreit deutschen Bodens in polnische Hand verkauft!“

„Und Sie meinen wirklich, ein solches Gesetz hätte Aussicht, im preußischen Landtag angenommen zu werden?“

„Warum nicht? Ist die Not nicht groß genug? Und es müßte nur ein ganzer Kerl dahinterstehen, der es vertritt! Ein Mann, dem die Rede wie Feuer vom Munde weht. Der sollte es den Volksboten nicht klarmachen können, daß sie an dieses Gesetz ohne alle Voreingenommenheit 'ranzugehen hätten?“

„Gewiß, das werden die Herren auch alle ohne Ausnahme versichern! Das wird sie aber selbst nach der feurigsten Rede des Regierungsvertreters nicht hindern, das Gesetz glatt abzulehnen! 'Ein Ausnahmegesetz? Unmöglich!'“

„Aber um Himmels willen, das Gesetz könnte doch mit tausend Sicherungen umgeben werden, die eine andere Verwendung als gegen die Polen vollkommen ausschließen?... Und — um einen Vergleich aus der Landwirtschaft zu gebrauchen — wenn ich einem Gaul den Spat ausbrenne, bin ich da vielleicht so verrückt, ihm die ganze Haut abzusengen?“

Viktor zuckte mit den Achseln.

„Ein großer Teil unserer politischen Parteien traut's dem Racker von Staat jedenfalls zu! Denn wie ist's im lieben deutschen Vaterlande? Jeder Bürger gehört zu einer Partei! Und jede Partei hat ein Programm, in dem genau vorgeschrieben ist, wie der Parteigenosse sich in jeder möglichen politischen Frage zu verhalten hat. Stellt die Regierung irgendeine solche Frage zur Erörterung, ist auch schon die vom Parteiprogramm vorgeschriebene Antwort da! In unserem Falle: Ausnahmegesetz gegen die Polen? Ausnahmegesetze haben bisher immer versagt, infolgedessen sind sie a limine zu verwerfen! Ja ich glaube sogar, die radikalsten unserer Volksvertreter stehen nach der neuen Lehre vom Selbstbestimmungsrecht auch der kleinsten Völkerschaften — aus dem Standpunkt: Wenn die Dänen, Lothringer und Polen durchaus nicht in den deutschen Staatsverband wollen, laßt sie doch laufen!... Seltsamerweise sind dies meist dieselben Herren, die uns immer englische Einrichtungen und englische politische Sitten zur Nachahmung empfehlen. Ich war ziemlich häufig drüben, habe mich dabei ein bißchen umgesehen. Da glaube ich denn gefunden zu haben, die Engländer sind durch ihre uns so empfohlenen Freiheiten nicht gehindert worden, das Volk der Welteroberer zu werden, während wir nach wie vor das Volk der Weltverbesserer geblieben sind!“

„Ja dann“, sagte Franz Heidenreich mit einem Seufzer, „sind wir im Osten verratzt und aufgeschmissen! Aber wer hat wieder mal schuld? Allein und ausschließlich die Regierung!“

„Erlauben Sie mal“, erwiderte Viktor erstaunt, „wenn ein vielleicht notwendiges Gesetz im Parlament abgelehnt wird, dann — meinen Sie — wäre es Schuld der Regierung?“

„Ja, wessen Schuld denn sonst?... Weil die Regierung immer noch nach dem Schema von Anno Tobak arbeitet! Wenn sie eine Maßregel als nützlich oder notwendig erkannt hat, wird diese von ihr in die Form einer Vorlage gegossen und veröffentlicht. Von diesem Tag an bis zur Verhandlung im Parlament gehört das Feld ausschließlich den Parteien. Und die nützen diese Zeit weidlich! Bearbeiten das Volk mit Zeitungsartikeln, Versammlungen und Agitation von Haus zu Haus. Ja, Schwerenot, weshalb bedient die Regierung sich für ihre Überzeugung nicht auch dieser Kampfmittel? Weshalb schickt sie ihre Vertreter nicht in die öffentlichen Versammlungen der Parteien, läßt sie dort reden und debattieren, was Zeug und Leder hält? Wir haben doch unbesoldete und wenig beschäftigte Assessoren genug?“

„Ein geradezu grotesker Gedanke!“ warf Viktor belustigt ein.

„Verzeihen Sie gütigst, wieso? Wir haben doch nun mal die Einrichtung, daß letzten Endes das Volk sich die Gesetze gibt, unter denen es leben will! Also sollen wir uns als Angestellte dieses Volkes vielleicht zu schade dünken, in Volksversammlungen zu sprechen?“

„Es wäre ein Schritt weiter zum reinen parlamentarischen System!“

Franz Heidenreich hob die Schultern.

„Ach Gott, Herr Kollege: Wenn die Einführung dieses Systems wirklich das Allheilmittel wäre gegen unsere Leiden, wer wollte sich wohl im Ernst dagegen sträuben? Aber ich glaube, viel mehr tut uns eine Reform der Regierung not, und zwar eine Reform an Haupt und Gliedern. Weshalb versagt sie gerade in entscheidenden Fragen so häufig? Weil sie keinen Generalstab hat!“

Viktor fuhr unwillkürlich herum.

„Entschuldigen Sie, Herr Kollege: Was hat sie nicht?“

Franz nickte gleichmütig.

„Einen Generalstab! Oder eine ähnliche auf die etwas anders gelagerten Verhältnisse zugeschnittene Organisation. Und wollen Sie wissen, was mich darauf gebracht hat?... In unserer Armee laufen die gelernten Moltkes zu Hunderten herum! Wo sind bei uns oder in unserer Diplomatie die gelernten Bismarcke? Und weshalb haben wir für einen zukünftigen Krieg mehr als genug Führer, die das Handwerk der Strategie in der Vollendung beherrschen? Weil die erste Auslese zu dieser Organisation nicht nach Familie, Beziehungen und Geldbeutel geübt wird, sondern ausschließlich nach der Leistung! Anonym werden die Prüfungsarbeiten eingereicht, das Geheimnis wird so unverbrüchlich gewahrt, daß der militärische Oberbrahmine keine Ahnung haben kann, ob er einem Neffen, Vetter oder irgendeinem wildfremden Menschen die Zensur erteilt. Und die also Auserwählten werden nach der Kriegsakademie noch einmal und strenger gesiebt, ehe ihre Auslese in den Tempel des Generalstabs kommt, um dort die letzten Weihen zu erhalten. Um dort wie die Kulis zu arbeiten und an dieser Arbeit für die höchsten Aufgaben ihres Berufes erzogen zu werden. Glauben Sie nicht, Herr Kollege, daß eine ähnliche Einrichtung auch uns Herren von der Verwaltung recht nützlich wäre?“

„Sicherlich! Aber die Einführung einer solchen Organisation würde auf derartige Schwierigkeiten stoßen, eine so radikale Umwälzung des bisherigen Vorbereitungsdienstes bedeuten...“

„Nun, und was denn? Wäre eine solche Umwälzung zu teuer bezahlt, wenn wir durch sie endlich die Männer bekämen, die wir im inneren und äußeren Dienst haben müssen? Ist die Art unserer Auslese nicht wirklich recht verbesserungsbedürftig? Von mir weiß ich's genau. Mein Staatsexamen war nur gerade so lila! Ohne einen Onkel in der Regierung säße ich nicht in diesem mir besonders erwünschten und angenehm gelegenen Kreise. Sie aber, Herr Kollege?... Wir sind ja unter uns Pastorentöchtern, also Hand aufs Herz: Wären Sie je nach Heinrichsburg und damit in die Nähe von Ottenwalde gekommen ohne Ihren im Ministerium an recht entscheidender Stelle sitzenden Herrn Bruder?“

Viktor begnügte sich mit einer kühl zustimmenden Verneigung. Diese Ostpreußen waren eine merkwürdige Gesellschaft. Auf der einen Seite kamen sie einem mit einer Gastlichkeit entgegen, wie sie herzlicher und freier nicht am Rhein geübt werden konnte. Auf der anderen Seite waren sie von einer rücksichtslosen Offenheit, die fast schon an Grobheit grenzte. An diese Art sich zu gewöhnen, war eine wenig angenehme Aufgabe. Aber er hatte sich damit abzufinden wie mit manchem anderen, das schwerer zu tragen war. Und ihm wollte scheinen, noch nie in seinem Leben habe er in Entschlüssen und Handlungen so unter dem unentrinnbaren Zwange äußerer Verhältnisse gestanden wie jetzt...

Auf der Chaussee näherte sich eine Staubwolke, der Führer des Autos kam in gestrecktem Galopp mit dem Gespann des Gastwirtes Sareyka aus Pokroppen herangejagt. Die beiden Herren stiegen ein. Viktor mit einer seltsamen Spannung im Herzen. Mit einem unerklärlichen Druck auf der Brust, als sei das Maß des Unheils noch nicht voll. Als ginge er Ereignissen entgegen, die ihm statt eines klaren Wegs nur neue Wirrsal bringen müßten —

 

9.

 

Herr Padöffke hatte zwischen den Kopfweiden des nach Friedrichstein führenden Richtweges seinen hochbeinigen Gaul in Schritt fallen lassen. Die Frühschoppenstimmung, in der er von Hause losgefahren war — er hatte nach der Rückkehr vom Landratsamte auf die Flasche Rüdesheimer noch einige Glas Bier mit den dazugehörigen Nordhäusern gesetzt — begann zu verfliegen. Und er fing an, sich klarzumachen, was der Schritt, den er vorhatte, eigentlich bedeutete. Mit dürren Worten gesagt: Fahnenflucht aus dem deutschen, schmähliches Überlaufen ins polnische Lager! Bei dem Umbau des Masurischen Basars hatten die Polen ihn gesucht, er durfte den Deutschen, die ihm Vorwürfe machten, mit vollem Recht erwidern: „Ja, was wollt ihr denn? Sollte ich den Auftrag vielleicht zurückweisen? Damit für die Ausführung womöglich ein polnischer Bauunternehmer aus dem Posenschen geholt wird, und der Kerl setzt sich nachher hier fest?... Außerdem aber: Geniert ihr euch etwa, polnisches Geld zu nehmen, wenn's auf anständige Manier zu verdienen ist? Non olet, sagt ihr mit dem alten Lateiner, oder, weil ihr keine Spur von klassischer Bildung im Leibe habt: es macht in der Tasch' keine Fettflecke!“ ... Heute aber lag der Fall anders. Heute suchte er die Polen auf und wußte zudem ganz genau, welche Bedingungen ihm für den fetten Auftrag des Hotelumbaus gestellt werden würden: sich auch äußerlich und vor aller Öffentlichkeit zu ihnen zu bekennen...

Geschäftlich wär's kein allzu großer Schaden gewesen; die unter der leidigen Kriegsfurcht recht mager gewordenen deutschen Aufträge brauchte er trotzdem nur zum kleinsten Teil zu verlieren. Wenn er sich an dem Umbau des „Weißen Adlers“ erholt hatte — dreißig Mille gedachte er zum mindesten dabei herauszuschlagen — konnte er seine ganze Konkurrenz wie früher schon immer unterbieten. Und die Steifnackigen, die lieber ein paar tausend Mark drauflegten, als daß sie einem abtrünnigen Deutschen den Auftrag gaben, waren doch recht dünn gesät. Aber gesellschaftlich war er von dem Tage an verfemt, an dem sich vor dem „Weißen Adler“ die erste seiner Rüststangen hob! Seine zur lieben Gewohnheit gewordenen Skatabende mit dem Bezirksfeldwebel und dem Amtsgerichtssekretär hörten auf; alte Freunde, denen er auf der Straße begegnete, sahen zur Seite, und an dem Stammtisch im „Schwarzen Adler“ — der Hochburg des Ostmarkenvereins — durfte er sich nicht mehr blicken lassen.

Das war bitter! Doppelt bitter für einen Mann, der seine persönliche Ehre im Sinne des alten Studenten immer hochgehalten hatte. Wer ihm an den Wagen fuhr, holte sich Schrammen und Beulen! Aber — wenn er sich's recht überlegte — was für eine Rolle hatte er eigentlich an diesem Stammtische gespielt? Seit es ihm geschäftlich nicht mehr so gut ging wie früher, doch eine recht mäßige, um nicht zu sagen, klägliche! Wie oft, wenn ihm unter Demütigungen die Galle überzulaufen drohte, hatte er auf den Hippen gehabt: „Ihr Gesinnungsprotzen, ich seh' euch ja durch und durch, als wenn ihr eine Glasscheibe vor dem Bauch hättet! Du, Bienko, wärst doch politisch neutral wie 'ne Molluske, wenn auch die Herren Polen in deinem Laden kaufen würden! Und du, Herr Brauereibesitzer Mohr? Würdest du im Ostmarkenverein vielleicht die dicke Präsidentenglocke schwingen, wenn der 'Weiße Adler' statt Posener Polnischem und böhmischem Pilsner dein Bier führen würde? Eure Gesinnung kommt auch nur aus dem Geldbeutel, also weshalb hackt ihr auf mir armem Teufel herum?“

Und weiter, was war er denn anders als ein Opfer der ungünstigen Verhältnisse? Konnte er etwas für die unsinnige Kriegsfurcht, die seit Jahren schon die Geschäftstätigkeit und Unternehmungslust im ganzen Osten lähmte? Konnte er vielleicht die russischen Armeen, die sich drüben hinter der Grenze stauten, wieder nach Hause schicken? Oder konnte er in die europäischen Diplomatenkabinette mit einem dicken Knüppel steigen: Zum Teufel noch mal, macht euer Gezänk doch alleine aus? Fechtet meinetwegen eine P.P.-Suite wie die Horatier mit den Curiatiern, aber laßt friedliche Bürger ihrem Broterwerb nachgehen?...

Freilich, hätte er in den fetten Jahren sparsamer gewirtschaftet, hätte er die mageren überdauern können wie der feiste Dachs den Winter im Bau. Aber er war leider immer 'ne Art Windhund gewesen. Was er verdiente, gab er aus. Der eine kam eben als Knicker auf die Welt, der andere mit leichter Hand und vornehmem Schmiß... Und wenn ihm vor knappen zwei Jahren noch ein guter Freund gesagt hätte: „Du, Fritze, leg' von deinen vierzig Mille jährlichem Reinverdienst zehn aus die hohe Kante“, den hätte er ausgelacht! „Was, ich, Herr Fritz Padöffke, der gesuchteste Bauunternehmer im Kreise Heinrichsburg? Mensch, komm' lieber 'ne gute Pulle trinken auf den schlechten Witz!.. Heute aber? Heute war er verloren, wenn's ihm nicht gelang, von den Polen auf den Bauauftrag ein paar tausend Mark Vorschuß zu kriegen...

Und schließlich, aber — weiß Gott — nicht zuletzt: Wem verdankte er's am allermeisten, daß er heute diesen saueren Weg gehen mußte? Dem Jugendfreund, auf den er gewartet hatte wie auf den lieben Heiland! Zum Lachen war's eigentlich, wenn's nicht so trostlos gewesen wäre!

In Eisenach las es sich anders, da war die Freundschaft riesengroß gewesen. Mathematikaufgabe? „Lieber Paddi, hilf!“ Oder das Dolichen hatte irgendwas ausgefressen: „Liebster, bester Paddi, ich bin ganz furchtbar im Schwindel, kannst du dir nicht eine feine Ausrede für mich ausdenken?... „Natürlich“, hatte er gesagt, „bloß eine? Zehn, wenn du willst“, hatte immer prompt geholfen. Und wie hatte der andere sich heute revanchiert? „Herr Padöffke, ich wünsche die Ausdrucksformen einer sogenannten Jugendfreundschaft auf ein erträgliches Maß zurückzuführen!“ Der Ton war fast noch niederträchtiger gewesen als das hochmütige Wort... Und das in einer Stunde, wo er mit vollem Herzen gekommen war: „Du, Doli, jetzt bin ich zur Abwechslung mal im Druck, reicht mir die rettende Freundeshand!...“ Ein kaltes Achselzucken war die Antwort gewesen... Aber wie sagte der Lateiner? „Donec eris felix, multos numerabis amicos! Tempora si fuerint nubila, solus eris!“ Oder kürzer aus deutsch: „Freunde in der Not gehen zehn auf ein Lot...“ So versuchte Herr Padöffke mit einiger Färbung des Tatsächlichen seine Fahnenflucht vor sich selbst zu beschönigen. Aber er konnte es nicht hindern, daß ihm dabei doch recht katzenjämmerlich zumute war. So ungefähr wie heute früh, ehe er die flaue Stimmung mit zweckdienlichen Mitteln bekämpft hatte. Und wenn er an seine verstorbenen Eltern dachte, welchen Kummer er denen noch im Grabe antat, hätte er fast das Heulen gekriegt. Alte Salzburger waren das gewesen vom besten Schlag. Treudeutsch und preußisch bis auf die Knochen... Auch vor seiner ganzen im Litauischen sitzenden Verwandtschaft durfte er sich nie mehr sehen lassen. Ein Salzburger, der zu den Polen übergelaufen war? Ah pfui Deuwel, hätten sie gesagt und vor ihm ausgespien... Da wäre er fast noch in der letzten Viertelstunde wieder umgekehrt. Auch der Gaul hatte schon eine halbe Kehrtwendung gemacht. Unter der lässigen Zügelführung seines in tiefe Gedanken verlorenen Herrn war er stehengeblieben, hatte begonnen, sich an der grünen Rasenböschung des Weges zu äsen. Einem Abergläubischen wäre es ein deutlicher Fingerzeig der Vorsehung gewesen...

Und schon griff Herr Padöffke in die Zügel, um ihn vollends zur Heimkehr zu lenken; nur ihm fiel noch rechtzeitig ein: es war leider zu spät!... Ja, wenn er nicht gesehen worden wäre, als er in den Weg nach Friedrichstein bog! Aber wie er den speilzahnigen Assessor Heidenreich kannte, hatte der doch nichts Eiligeres zu tun, als ihn schadenfroh beim Vorstand des Ostmarkenvereins zu verklagen! Sollte er sich da vor den Mohr, Bienko und Wichotta vielleicht ausreden: „Ich bin bloß ein bißchen spazierengefahren?...“ Der Kreuzweg war die Entscheidung gewesen. Und wie hatte Cäsar gesagt, als er den Rubicon überschritt? „Iacta est alea“, „Der Würfel ist gefallen.“ Also vorwärts... Und auf einen Deutschen kam es schließlich nicht an. Das Zeugnis konnte er sich jedenfalls ausstellen: er hatte tapfer mit sich gerungen, ehe er der dira necessitas, der grausamen Notwendigkeit unterlag! Wurden seine Kinder von der „treudeutschen Gesinnung“ ihres Vaters vielleicht satt? Konnte sein armes Weib sich aus Patriotismus ein neues Kleid schneidern? Schützte ihn selbst aber die Mitgliedschaft des Ostmarkenvereins vor dem Bankerott?...

Er richtete sich auf, zog dem mageren Trakehner ein paar derbe Peitschenhiebe über den Rücken und schrie ihn zornig an: „Kutschierst du vielleicht oder ich? Willst du zu Haus Sägspäne fressen? Hafer schmeckt besser! Und verlaß dich drauf, im Bauch is zwischen polnischem und deutschem kein Unterschied.“

So fuhr Herr Padöffke in schlankem Trabe durch das hohe Schloßportal von Friedrichstein, hielt an der säulengetragenen Freitreppe und herrschte den faul und langsam heraustretenden Diener von oben herab an.

„Melden Sie der Frau Gräfin Komierowska den Herrn Baumeister Padöffke aus Heinrichsburg! Aber die Sache ist sehr eilig und dringlich, also dalli, bitte!“

Der grünlivrierte Lakai hob die Nase. Ein Deutscher, der ohne Kutscher und Diener im Einspänner kam, gehörte an die Verwalterwohnung oder an die Tür zur Gesindestube. Und er erwiderte abweisend auf polnisch: „Die gnädige Herrschaft ist noch beim Kaffee. Kommen Sie in einer Stunde wieder, vielleicht kann ich Sie dann melden.“

Da hob Herr Padöffke zornig die Peitsche: „Du verdammtes Stück Mist, du bist noch nicht zurück mit der Meldung? Soll ich dir vielleicht Beine machen?“

Das schien zu helfen, der Grünlivrierte verschwand in beschleunigter Gangart. Und Herr Padöffke lachte kurz auf. Ordentlich deutsch mußte man mit diesem Volk bloß reden, das zog wie ein Senfpflaster... Aber eine Viertelstunde später, als er vor der Gräfin Komierowska stand, war von dieser stolzen deutschen Haltung wenig mehr zu merken.

Er wurde nicht in der Wohnung, sondern in einem nüchternen Geschäftszimmer empfangen. Wie das Bureau eines Rechtsanwaltes sah es aus. Hohe, mit Büchern und Akten gefüllte Schränke an den Wänden, am Fenster ein breiter, mit Papieren bedeckter Schreibtisch. Davor, als einziges Luxusmöbel, ein breiter Klubsessel. Die Gräfin hatte es nicht der Mühe wert gehalten, den bequemen Schlafrock, den sie gleich vielen Polinnen auch tagsüber in der intimsten Häuslichkeit trug, mit einem ordentlichen Kleid zu vertauschen. Und Herr Padöffke empfand es wohl, daß er als Besucher zweiter Klasse behandelt wurde. Aber was war dagegen zu machen? Seinen deutschen Stolz hatte er mit der Peitsche draußen beim Wagen gelassen. Jetzt galt es, sich so teuer wie möglich zu verkaufen und vor der Frau da auf der Hut zu sein. Er kannte sie von dem Umbau des Basars her. Sie war schlauer und hinterlistiger als ein Zigeuner beim Pferdehandel.

Sie hob lässig den schönfrisierten Kopf. Ihrer Sprache war kaum anzumerken, daß sie Polin war.

„Nun, Herr Baumeister, was führt Sie zu mir? Der Diener sagte mir, eine sehr dringliche Angelegenheit?“

„Wie man's nehmen will, gnädigste Gräfin. Weil ich gerade in der Nähe zu tun hatte, wollte ich mich mal erkundigen, wie's mit dem Umbau vom 'Weißen Adler' steht.“

„Danke, noch genau so wie bisher. Ich kann mich nicht recht entschließen. Bei einer solchen Umbauerei weiß man immer, wo man anfängt, nie aber, wo man aufhört. Schließlich stellt sie sich teurer als ein neues Haus. Und Sie werden mir zugeben, die Erfahrungen, die wir mit Ihnen beim Basar gemacht haben, waren nicht gerade ermutigend!“

Er legte entrüstet die Hand aufs Herz.

„Das sagen Frau Gräfin mir, wo ich bei dem Umbau bares Geld zugesetzt habe?“

„Ba ba ba, ich hab' mir von einem Sachverständigen eine Aufstellung machen lassen! Sie haben uns ganz haarsträubend übers Ohr gehauen. Wenn das also Ihre ganze dringliche Angelegenheit war, da hätten Sie sich den Umweg über Friedrichstein sparen können!“

Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, die Angst schnürte ihm den Hals zu.

„Gnädigste Gräfin“, sagte er mühsam, „das meinen Sie doch nicht im Ernst? Billiger und reeller wie ich arbeitet doch in ganz Ostpreußen kein Mensch... Und dann bitte ich zu berücksichtigen, die Anfeindungen, die ich mir durch die Tätigkeit für Sie zugezogen habe... Nicht zuletzt meine schlecht verhehlte innerliche Sympathie für die edle Sache der Polen... Und es würde doch einen riesigen Eindruck machen, wenn einer der Hauptvertreter des hiesigen Deutschtums jetzt ganz und gar...“

Sie sah ihn aus ihren blauen Augen geringschätzig an.

„Das glaube ich nicht. Da ist von Ihrer Sorte das Angebot größer als die Nachfrage! Also, Herr Baumeister, ich bitte um Entschuldigung, aber ich bin wirklich sehr beschäftigt.“ Und sie machte eine entlassende Handbewegung.

Der dicke Bauunternehmer stand da wie vor den Kopf geschlagen. Die Enttäuschung war zu bitter. Er hatte sich eingebildet, er brauchte nur zu kommen, um mit offenen Armen aufgenommen zu werden. Also was blieb übrig? Der jämmerliche letzte Entschluß, dessen verschiedene Ausführungsmöglichkeiten er am Vormittag durchdacht hatte... Auf dem Rückweg fuhr er am Spirdingsee entlang. Da gab es ein Steilufer, die Straße war ohne Geländer. Man brauchte den Gaul nur ein Ende vorher in tollen Galopp zu peitschen, um ihn dann an der steilsten Stelle links herunterzureißen, hundert Fuß tief in den See. Alle Welt war stocksteif überzeugt, der Gaul sei, Zaumstange zwischen den Zähnen, durchgegangen...

Ein breitschultriger Herr in bequemem Hausanzug, im gebräunten Gesicht unter kühn gebogener Nase den typischen hängenden Schnurrbart der Polen, trat lebhaft ins Zimmer. In der Hand trug er eine Depesche. Ohne auf den Besucher zu achten, legte er das Blatt vor der Gräfin auf den Tisch.

„Da, bitte, lies! Von Helena aus Berlin.“

Die Gräfin hob die mit blitzenden Ringen überladene Hand.

„Einen Augenblick! Herr Baumeister, ich habe Ihnen wirklich nichts mehr zu sagen...“

„Frau Gräfin, ist das Ihr letztes Wort?“

„Aber ja doch! Oder muß man bei euch Deutschen immer erst ganz deutlich werden, nach dem Diener klingeln?“

Da schlich Fritz Padöffke hinaus wie ein geprügelter Hund. Im Abgehen hörte er, wie der Graf Zembricki auf französisch fragte: „Wer ist denn das?“ Und die Gräfin antwortete ebenso: „Das Individuum, das den Basar gebaut hat. Er hat sich jetzt für das Hotel angeboten, zugleich mit seiner sogenannten deutschen Gesinnung, aber ich unterhandle schon mit einem Architekten aus Posen…“ Die Herrschaften irrten sich, wenn sie glaubten, er verstehe kein Französisch! Auf der Schule war es das einzige Fach gewesen, das ihm Spaß machte. Und auch nachher hatte er eine gewisse Sorte von Büchern, die im Deutschen nicht in gleicher Deutlichkeit zu haben waren, eifrig studiert...

Im Vorzimmer mußte er sich auf einen Stuhl setzen, die Füße versagten ihm den Dienst. Es war wirklich zu Ende, gab keinen Ausweg mehr. Und wie er so in schwarzer Verzweiflung saß, fing er unwillkürlich an aufzumerken. Die beiden da drinnen unterhielten sich lebhaft, er verstand jedes Wort. Beim Hinausgehen hatte er wohl die Tür nicht ganz geschlossen. Sie sprachen wie vorhin Französisch.

Die Gräfin sagte: „Mein Gott, das ist ja ein ganzer Brief! Und noch dazu chiffriert? Da brauche ich zwei Stunden, um den Text zu entziffern!“ Und der Graf Zembricki erwiderte: „Also gut, hör' zu! 'Kann erst morgen abend eintreffen. Bin sehr erregt, hatte außerordentlich unangenehmes Abenteuer mit politischer Polizei, wurde verhaftet, erst nach peinlichem Verhör von zwei Stunden entlassen. Kommissar über meine Pariser Reise sehr unterrichtet, Josèphe muß in sechs Stunden abreisen nach Galizien, sonst Transport an französische Grenze, Auslieferung an Polizei. Er hat mir versprochen, so bald wie möglich herzukommen. Fürchte, wir werden große Unannehmlichkeiten haben, gute Zeiten vorbei. Wurde denunziert von Mitreisendem. Zu peinlichster Überraschung Sohn von Tante Valeska. '“

„Wer?“ schrie die Gräfin auf, und Graf Zembricki erwiderte: „Da, bitte, steht es: Sohn von Tante Valeska!“ ... Da hätte auch Herr Padöffke draußen im Vorzimmer am liebsten mit geschrien. Aber vor Freude, Jubel und Dank! Der liebe Gott im Himmel lebte noch, ließ seinen braven alten Paddi nicht im Stich, hatte ihn nur ein bißchen derb geängstigt! Und er stand auf, schlich geräuschlos an die Türspalte, von der aus er nicht nur besser hören, sondern auch das ganze Zimmer übersehen konnte...

Der Graf hatte unterdessen weiter übersetzt: „'Schon auf Reise irritierte mich Ähnlichkeit mit Tante, hörte auch, er ist als Landrat nach Heinrichsburg berufen, glaubte aber an Zufall, weil von euch immer behauptet, die Deutschen selbst haben gegen ihn protestiert. Auch über unsere Agitation Kommissar sehr informiert. Als ich mich unwissend stellte, zeigte er mir langen Bericht des Polizeikommissars von Heinrichsburg. Du entsinnst dich, ich war immer dagegen, sagte, diese Agitation muß den Argwohn unserer Feinde erregen, unser erhabenes Ziel gefährden. Auch Propst sehr niedergeschlagen, meinte, Tante hätte nicht so scharf vorgehen sollen. Noch viel interessante Neuigkeiten mündlich, tausend Küsse, Hélène. '“

Graf Zembricki ließ das umfangreiche Bündel beschriebener Blätter sinken: „Nun, Valeska, was sagst du dazu?“

„Daß es von deiner Tochter sehr unvorsichtig ist, so wichtige Nachrichten selbst unter dem Schutz einer Chiffreschrift zu depeschieren! Hätte das alles nicht Zeit gehabt bis morgen abend?“

„Ah nein, im Gegenteil! Ich bin ihr sehr dankbar für die Warnung. Ich werde sofort alles aufbieten, damit der Transport über die Grenze, der erst für nächste Woche bestimmt war, noch heute nacht abgeht. In ein paar Tagen ist's vielleicht zu spät, Haussuchung, Beschlagnahme. Aber was hab' ich dir immer gesagt? Was liegt daran, habe ich gesagt, ob wir die paar tausend masurischen Bauern ein paar Jahre früher oder später haben? Sie laufen uns nicht fort, und wenn wir erst hier die Herren sind, können wir uns die ganze Agitation sparen. Jetzt hast du den Erfolg!“

Die Gräfin Komierowska richtete sich auf. In ihr Gesicht trat ein böser Ausdruck, der es trotz aller kunstvollen Bemalung plötzlich recht alt erscheinen ließ.

„Na, und du?“ fragte sie scharf. „Meinst du die unersättliche Gier, mit der du einen Bauernhof nach dem anderen verzehrtest, hätte etwa nicht die Aufmerksamkeit unserer Feinde erregt?“

„Das ist einfach lächerlich!“ erwiderte er heftig. „Auch jeder deutsche Großgrundbesitzer kauft Bauerngüter auf, die ihm bequem an seiner Grenze liegen!“

Die Gräfin machte eine abwehrende Handbewegung.

„Wozu der Streit? Wird unsere Situation dadurch vielleicht besser? Und geradezu entsetzlich ist's mir, daß Viktor nun doch hierher kommt! Du darfst überzeugt sein, das ist eine seit langer Zeit geplante Infamie seines Bruders...“

Jetzt hielt Herr Padöffke den Augenblick des Eingreifens für gekommen. Er öffnete die Tür vollends, verneigte sich höflich.

„Gnädigste Gräfin werden verzeihen, wenn ich mir herausnehme, noch einmal kurz zu stören...“

Graf Zembricki schrie ihn zornig an: „Sie, was wollen Sie noch hier?“

Herr Padöffke lächelte freundlich.

„Meine bescheidene Offerte von vorhin noch einmal anbringen! Frau Gräfin hatten zwar geruht zu bemerken, sie unterhandelten schon mit einem Posener Architekten...“

Die Gräfin Komierowska starrte ihn vor Schreck und Erstaunen mit offenem Munde an. Endlich sagte sie mühsam: „Sie... Sie verstehen Französisch?“

Mais oui, madame la comtesse! Je le connais et le parle très bien.

Der Graf bekam einen zornroten Kopf.

„Und Sie haben die Gemeinheit begangen, hier draußen zu horchen?“

Der dicke Bauunternehmer zuckte die Achseln.

„Mein verehrter Herr Graf, ich glaub', ich war schon kein Kavalier mehr, wie ich das erstemal in dieses Zimmer trat! Aber wozu die Aufregung? In Ruhe verhandelt sich's bedeutend besser! Und ich möchte der Frau Gräfin bemerken, mein bißchen Französisch habe ich gelernt, als ich die Ehre hatte, mit ihrem Herrn Sohn aus erster Ehe, Viktor von Dolinga, die Schule zu besuchen. Seit dieser Zeit verbindet uns eine Freundschaft, wie sie herzlicher nicht gedacht werden kann. Ich war der erste, den er hier aufsuchte.“

Die Gräfin fuhr auf.

„Er ist schon hier?“

„Zu dienen, seit gestern abend! Ich holte ihn an der Bahn ab, wir feierten erst ein intimes Wiedersehen bei einer guten Flasche und verbrachten dann den Rest des Abends in angeregter Unterhaltung am Stammtisch im 'Schwarzen Adler'. Ihr Herr Sohn hatte es sehr eilig, mit den führenden Herren des hiesigen Ostmarkenvereins in nähere Berührung zu kommen.“ Er hatte leicht lügen. Der unbedachte Ausruf eben hatte ihm gezeigt, daß die Gegenpartei von den gestrigen Ereignissen keine Ahnung hatte.

Der Graf Zembricki zerdrückte etwas zwischen den Zähnen, was eine verdammte Ähnlichkeit mit „Psia ducha“ hatte, „Hundeseele“, dem ärgsten Schimpfwort der Polen. Laut aber sagte er: „Aber, mein lieber Herr Baumeister... pardon, wie war doch der geehrte Name?“

„Padöffke!“

„Also, mein lieber Herr Panoffke, bitte, nehmen Sie doch Platz! Und was rauchen Sie? Papyros oder Zigarre?“

„Wenn ich gehorsamst um eine Zigarre bitten dürfte?“ Und Herr Padöffke setzte sich breitspurig in einen Stuhl, indessen der Graf aus der Tasche seines Jacketts eine dicke Zigarrentasche holte. Die Gräfin aber war mißtrauischer. Und sie fragte lauernd: „Womit wollen Sie denn beweisen, daß Sie mit meinem Sohne Viktor so intim befreundet sind?“

„Kleinigkeit! Seine Wärterin hieß Tinka und sein kleines Reitpferd Pollo. Er wurde von Ihnen recht oft gestraft, liebte Sie schon damals nicht. Da war es seinem älteren Stiefbruder ein leichtes, ihn in einem geradezu fanatischen Haß gegen Sie zu erziehen! Um so leichter, als er ihn evangelisch hatte taufen lassen und Sie sich um das Kind nicht im geringsten kümmerten.“

Die Gräfin hob die ringegeschmückte Hand.

„Genug, genug! Aber den Umbau des Hotels wird bei gewissen Gegenleistungen von Ihrer Seite zu reden sein!“

„Verbindlichsten Dank, aber ich möchte bemerken, noch heute! Nach Abschluß des Vertrages und Zahlung eines angemessenen Vorschusses wäre ich eventuell in der Lage, Ihnen einige Mitteilungen zu machen, die für Sie — im Hinblick auf das eben vorgelesene Telegramm — bestimmt von Interesse sein dürften. Es bereiten sich recht ernste Maßnahmen vor... mein Freund Viktor machte mir gestern ein paar sehr bezeichnende Andeutungen...“

Gräfin Komierowska sah ihn liebenswürdig lächelnd an.

„Die Sie uns natürlich nicht vorenthalten werden, Herr Baumeister! Und ich verstehe nicht, weshalb Sie auf einmal einen so... nun, einen so geschäftlichen Standpunkt einnehmen? Wo Sie selbst vorhin erst erklärt haben, Sie sind fest entschlossen, sich ganz auf unsere Seite zu stellen? Aus reiner Begeisterung für die edle Sache der Polen?“

Herr Padöffke stand wieder auf, trat dicht an den Schreibtisch.

„Frau Gräfin, wollen uns doch gefälligst klar werden, es ist ein Geschäft wie jedes andere! Und Geschäfte macht man schriftlich fest, aber nicht mit ironischen Redensarten!“

„Nun gut! Also dann sagen wir, Sie bieten sich uns an, weil Sie drüben bankerott sind, auch nichts mehr zu verdienen kriegen!“

„Das ist ein Irrtum! Der Verdienst drüben ist mir bloß nicht groß genug. Aber, wenn Sie glauben, Sie können mich drücken... empfehle mich gehorsamst!“ Und er wandte sich zum Gehen.

Diesmal zerquetschte Graf Zembricki ein „Psia krew“ zwischen den Zähnen. Laut aber rief er: „Halt, Herr Baumeister! Sind wir denn Bündelkrämer, die immer in der Tür verhandeln? Mal 'raus, mal wieder 'rein? Nennen Sie uns die Summe, die Sie als Vorschuß haben wollen, vielleicht wird darüber zu reden sein!“

Herr Padöffke kehrte um. „Nicht 'vielleicht', sondern es wird bestimmt darüber zu reden sein! Fünfundzwanzigtausend Mark, bar auf den Tisch!“

„Wir denken nicht dran! Noch nicht mal die Hälfte!“

„Schön! Wollen Sie dann auch bloß die Hälfte meiner Mitteilungen?“

Die Gräfin verständigte sich mit ihrem Vetter durch einen raschen Blick.

„Sie verstehen zu handeln, Herr Baumeister! Also gut, Sie sollen die verlangte Summe haben! In einem Scheck auf die Polnische Darlehensbank in Posen.“

„Ausgezeichnet! Aber wenn ich ihn nach Posen zum Inkasso schick', kann ich da nicht vielleicht die Mitteilung kriegen, er ist inzwischen telegraphisch gesperrt?“

„Herr“, brauste Graf Zembricki auf, „was trauen Sie uns eigentlich zu?“

Der Dicke hob die Achseln.

„Nichts weiter, als daß Ihnen das Geschäft hinterher Vielleicht wieder leid tut! Das kommt doch oft genug vor im Leben, nicht wahr?“

„Das wäre in diesem Falle wohl ausgeschlossen gewesen“, sagte der Graf mit einem bösen Lächeln. „Pferde, Ochsen und — Hunde bezahlt man immer bar! Bitte, liebe Valeska, hier sind meine Schlüssel! Das Geld war eigentlich für etwas anderes bestimmt, aber gut, das hat noch ein paar Tage Zeit.“

Die Gräfin rauschte in ihrem seidenen Schlafrock davon, Herr Padöffke sah wie durch einen Nebel, der rote Stoff war mit phantastischen weißen Blumen und buntgefiederten Vögeln bestickt. Auch Tintenkleckse und Fettflecke waren darauf... Er mußte sich an dem Schreibtische festhalten, ihm war zumute, als sei er schwer betrunken. Fünfundzwanzigtausend Mark bares Geld... er war wieder mal ganz oben... Vor einer Viertelstunde noch hatte er geglaubt, er müsse am Leben verzagen. Was verschlugen dagegen die kleinen Gemeinheiten, die er in Kauf nehmen mußte?

Graf Zembricki hatte sich aus goldener Dose eine Zigarette angesteckt, herrschte ihn an.

„Da ist Feder, Tinte, Papier... schreiben Sie!“

„Entschuldigen Sie, bitte... ach so, wohl unseren Vertrag?“

„Allerdings! Haben Sie alles?“

„Sehr wohl, Herr Graf.“

„Nun denn: 'Ich, Bauunternehmer'... Vorname und Zuname...“

„Fritz Padöffke...“

„Gut! Also: 'Ich, Bauunternehmer Fritz Padöffke aus Heinrichsburg, bekenne hiermit, daß ich von Herrn Grafen Zembricki-Friedrichstein 25000, in Worten fünfundzwanzigtausend Mark, für Verrat an der deutschen Sache bekommen habe'... Haben Sie: 'Verrat an der deutschen Sache'?“

Herr Padöffke zog den Kopf tief in die Schultern, seine Stimme klang heiser.

„Sehr wohl, Herr Graf...“

„Gut, weiter!... 'Ich verpflichte mich, diese Tatsache vor jedermann streng geheimzuhalten, nach wie vor in deutschen Kreisen zu verkehren... alles, was ich dort höre, dem Herrn Grafen Zembricki oder der Frau Gräfin Komierowska zu hinterbringen'… Haben Sie das?“

„Sehr wohl, Herr Graf...“ Das konnte er ruhig schreiben. Mit dem „Verkehr in deutschen Kreisen“ war es vorbei.

„Schön! 'Ich verpflichte mich ferner, meine Freundschaft zu Herrn Viktor Dolinga nach wie vor eifrig zu pflegen, alles, was ich von ihm erfahre, ebenfalls den genannten Herrschaften zu berichten'... Haben Sie das?“

„Sehr wohl, Herr Graf...“ Auch das konnte er mit gutem Gewissen schreiben. Die Freundschaft war seit heute früh zu Ende.

„Scharmant! 'Die fünfundzwanzigtausend Mark sollen auf den Umbau des Hotels zum 'Weißen Adler' verrechnet werden'. Unterschrift — recht deutlich, bitte — Ort und Datum...“

Herr Padöffke stand auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er versuchte ein höhnisches Lächeln.

„Na, das später, Herr Graf! Wenn ich das Geld in der linken Hand hab', unterschreib' ich mit der rechten. Vertrauen gegen Vertrauen...“

Der Rest des Geschäftes wickelte sich ohne Zwischenfall ab. Die Gräfin Komierowska kehrte mit einem Päckchen brauner und blauer Scheine zurück, zählte sie sorgfältig auf der Tischplatte vor. Herr Padöffke zählte nach, nahm sie in die Linke, unterschrieb mit der Rechten. Und als er das Geld sicher in der Brusttasche verwahrt hatte, begann er zu erzählen. Wahrheit und Dichtung durcheinander. Schilderte den Assessor von Dolinga als einen Polenhasser, wie er ihm noch nie vorgekommen sei. Und er empfand eine rechte Genugtuung, als er merkte, daß sein Bericht einen starken Eindruck machte. Als er von der beschlossenen Ausweisung der Gräfin Komierowska sprach, mußte er sich eine Weile lang unterbrechen, die beiden anderen kriegten das Zanken. Polnisch und französisch durcheinander... Weshalb das Gesuch um Wiederaufnahme in den preußischen Staatsverband nicht eifriger betrieben worden sei... Und sie warfen sich gegenseitig die Minderwertigkeit ihrer „Berliner Konnexionen“ vor. Auch ein gewisser Propst Pastrzyniak wurde beschimpft, weil er's offenbar an dem nötigen Eifer hatte fehlen lassen...

Eine Viertelstunde später durfte Herr Padöffke sich empfehlen. Mit dem festen Versprechen, in spätestens drei Tagen zu vertraulichem Bericht heimlich wiederzukehren. Als er die Tür hinter sich schloß, hörte er, wie die beiden gräflichen Herrschaften in reinem Polnisch aufeinander losfuhren. In recht derbem Polnisch... Wenn's richtig aus dem Herzen kam — ob Liebe oder Zank — ging's anscheinend am besten immer in der Muttersprache... Und ihn dünkte recht unwahrscheinlich, was bisher in Heinrichsburg immer erzählt und geglaubt worden war. Daß nämlich zwischen dem längst verwitweten Grafen Zembricki und seiner Kusine Komierowska ein zartes Verhältnis bestehe. Zart erschien ihm anders. So gröblich zankte sich nicht mal ein Ehepaar...

Und Herr Padöffke bestieg seinen hochräderigen Sandschneider. Hinter dem wappengeschmückten Portal fühlte er noch einmal nach, ob er die fünfundzwanzigtausend Mark auch wirklich in der Tasche hatte. Sie waren da, steckten an sicherem Platze. Ein gewaltiges Glücksgefühl flutete ihm durchs Herz, der alte Paddi hatte es wieder mal geschafft! Einen bitteren Geschmack empfand er dabei im Munde... der kam wohl von dem hastigen Frühschoppen. Das letzte Restchen Ehre aber? Wie sagte Falstaff? „Kann man Ehre essen?“

Der Gaul wollte sich herausnehmen, am Wegrand hin und wieder ein Maulvoll Gras zu rupfen. Anscheinend war er in Friedrichstein nicht so gut gefüttert worden wie sein Herr. Da zog ihm dieser die Prügel über den Rücken, die er selbst verdient hätte. Es drängte ihn, nach Haus zu kommen. Dort wartete in Sorgen ein vergrämtes Weib. Und noch etwas anderes riß ihn. Ein runder Tisch in verräucherter Stube unter grell brennender Hängelampe. Die Karten fielen rechts und links, gierige Gesichter drängten sich zur Mitte mit vorquellenden Augen. Zwanzigtausend hatte er der Frau zur Verwahrung gegeben, mit dem Rest machte er sich aus, den Räubern von gestern abend das verlorene Geld wieder abzujagen. „Was, ihr Banditen“, schrie er, „ihr habt wohl geglaubt, der Fritz Padöffke ist pleite? Hier is der Dreck, den ihr mir gepumpt habt, und wieviel steht in der Bank?... Dreihundert?... Ein bißchen wenig, aber schön, zum erstenmal: Banco!“ ... Und er berauschte sich an Spielkombinationen, deckte mal auf mal den großen oder kleinen Schlag auf, gewann unaufhörlich...

 

10.

 

In Ottenwalde waren unterdes nach und nach die erwarteten Gäste gekommen. Der lange Graf Stierbach aus Norkitten — ein junger Mann von etwa dreißig Jahren und gewaltigen Gliedern — die Herren von Schenk und Haßdorf aus Rakowen und Krupinnen, der Gelkuhner Totenhöfer, der Baron Chrzanowski-Poseggen — trotz seines polnischen Namens ein guter Deutscher — und der Großbauer und Schulze Baginski aus dem nach seinem Geschlechte benannten Dorfe Baginsken. Ein Vollblut-Masur, der wegen des guten Einflusses auf seine Landsleute von den deutschen Grundherren des Kreises sehr geschätzt wurde. Ein stiller, alter Mann, der bei den Sitzungen des Kreistages nur selten sprach, dann aber stets mit besonderer Achtung angehört wurde. Was er sagte, hatte Hand und Fuß, traf jedesmal den Nagel auf den Kopf. In seiner Jugend hatte er eine Präparandenanstatt besucht, weil er nach dem Willen seiner Mutter Dorfschullehrer werden sollte. Aus dieser Zeit stammte seine innige Überzeugung, Deutsche und Masuren gehörten zusammen. Aus seinen sechshundert Morgen am deutschen Ufer des großen Raygrodsees saß er als ein rechter Herr, verkehrte im Kreistag und im Bund der Landwirte mit den Großgrundbesitzern des Kreises wie ein Gleichberechtigter und Gleichgestellter. Als er aber hörte, daß die Protestversammlung infolge einer durchaus befriedigenden Erklärung des neuen Landrats über seine Stellung zur Polenfrage unnötig geworden sei, lehnte er die freundliche Einladung, mit den anderen Herren zu Kaffee und Abendbrot zu bleiben, höflich ab. Er war nicht ehrgeizig genug, sich in einer Gastlichkeit zu sonnen, die er einem Zufall verdankte, und zu klug, in einer Gesellschaft zu bleiben, die sich durch seine Anwesenheit vielleicht beengt gefühlt hätte. Er verweilte sich ein Viertelstündchen bei einem Gespräch über Frühjahrsbestellung und dem — Gott sei Dank — guten Stand der Wintersaaten, meinte zum Abschied, man müsse nun abwarten, wie der neue Landrat nach seinen vielverheißenden Worten sich bei der wirklichen Arbeit anlassen würde, und fuhr den weiten Weg wieder nach Hause. In seinem leichten und einfachen „Klapperwagen“, aber zwei Halbblüter eigener Zucht davor, die ihm Herr von Hakenberg am liebsten auf dem Fleck abgekauft hätte.

Die anderen Herren hatten die Einladung als etwas Selbstverständliches angenommen. Man fuhr nicht zwei Stunden über Land, um sich mit trockenem Mund wieder in den Wagen zu setzen. Und man freute sich des Beisammenseins. Es gab Gelegenheit zu vertraulicher Aussprache, man hörte von den Damen des Hauses mal endlich wieder gute Musik, die Kartenfreunde versprachen sich ein solides Bridge.

Graf Stierbach kehrte mit dem Hausherrn von der Freitreppe in das mit Pferdebildern und Jagdtrophäen geschmückte Zimmer zurück. Und er sagte in seiner etwas langsamen Art: „Er hat wieder einmal recht, der alte Baginsker Ortsschulze! Abwarten, wie der neue Herr sich rauchen wird. Aber wenn mir je etwas unverständlich war: Wie hat sein geheimrätlicher Bruder ihn bloß hierherschicken können? Du hattest ihm doch deutlich genug geschrieben, Onkel Bombe?“

Der Hausherr kratzte sich verlegen den Kopf.

„Hm, sag' mal, Stobiger“ — so lautete der Spitzname des Grafen von seiner Gardeulanenzeit her — „hast du noch nie in deinem Leben einen wichtigen Brief vergessen?“

Graf Stierbach wiegte bedächtig den kurzgeschorenen Kopf.

„Ich möchte von mir behaupten, nein! Man kann ja nun der Ansicht sein, der Geheimrat hätte sich ja auch auf anderem Wege über die Verhältnisse in unserem Kreise informieren können...“

Der alte Herr von Schenk, als ehemaliger Gardejäger „grüne Pille“ genannt, mischte sich mit seiner krähenden Stimme ein.

„Sehr richtig! Außerdem glaube ich, unser neuer Herr Landrat faßt den bevorstehenden Ramsch mit seiner polnischen Frau Mama absolut nicht tragisch auf. Die Heinrichsburger Amtsrichtern hat bei uns heute früh auch angeklingelt. Sie schustert sich nach kurzer Cranzer Badebekanntschaft auf Familienverkehr. Da soll der junge Herr bei der famosen Erklärung doch recht kaltschnäuzig gewesen sein... Jetzt aber viel was Wichtigeres: Ich war vor drei Tagen in Berlin, hab' mich von meinem Vetter Legationsrat bei Toepfer politisch belehren lassen. Und wißt ihr, was mir da passiert ist? Ausgelacht wurd' ich, wie ich von unseren russischen Grenzbeklemmungen erzählte!“

„Hört, hört!“ warf der Baron Chrzanowski ein, dem der trotz reichlicher Jahre noch immer pechschwarze Vollbart bis dicht unter die Augen wuchs. „Die Herren lachen über unsere wohlbegründete Angst...“

„Ganz recht“, fuhr Herr von Schenk lächelnd fort, „wie ich mir soeben bereits zu bemerken gestattete. Und weshalb lachen die Herren? Weil wir masur'schen Torfbauern hier an der Grenz' dumme Ludersch sind, denn nämlich der politische Horizont ist schon seit undenklichen Zeiten nicht so heiter und rosig gewesen wie gerade in diesem Frühjahr! Der Balkan ist wieder ruhig, nachdem die serbischen und anderen Hammeldiebe sich auf Kosten Bulgariens satt gefuttert haben, und Rußland denkt an keinen Krieg. Weshalb? Weil England keinen Krieg will und uns poussiert wie ein heiratslustiger Jüngling die gute Partie! Unser Londoner Botschafter bereitet die Hochzeit vor, trinkt mit den Ministern egalweg Schmollis. Unser Herr Reichskanzler aber baut mit ihnen die Bagdadbahn, auch im Persischen Golf soll es nächstens zu einer selbstverständlich alle Teile befriedigenden Einigung kommen. Wie mir mein Vetter Legationsrat das alles verzapft hatte, sagte ich: 'Ausgezeichnet! Ich schrei' Hurra, daß wir uns da unten mit den Engländern so gut vertragen. Aber das ist mir ein bißchen weit weg. In dem mir bedeutend näher liegenden russischen Nachbarort Kolno — Luftlinie drei Kilometer — krabbelt's wie in einem Ameisenhaufen von Soldaten. Es freut mich ungemein zu hören, daß das so friedliche und harmlose Mitmenschen sind, aber ich werd' doch lieber in den nächsten Tagen mein Silber nach Königsberg schaffen und für die liebe Familie Tag und Nacht ein Gespann unter den Sielen halten!'“

„Sehr richtig“, sagte Baron Chrzanowski. „Ich finde, unser Auswärtiges Amt soll sich einbalsamieren lassen!“

Herr von Schenk wandte sich um.

„Liebes schwarzes Gemüse, ich bin's ja vom Kreistag her gewöhnt, daß du meine Reden in etwas veränderter Form immer noch einmal hältst. Nicht zum Vorteil der Sache oder des — originaliter — recht geschliffenen Stils. Also laß uns als gute Nachbarn angestrengt auf eine Abwechslung sinnen...“

Die Herren lachten herzhaft, gleich danach aber trat auf ihre Gesichter wieder der Ausdruck angespannter Sorge. Was der Herr von Schenk ausgesprochen hatte, ängstigte sie im innersten Herzen alle. Wie eine zum Einbruch bereite Flutwelle stand Rußlands Heer an der Grenze. Jeden Augenblick konnte die gestaute Woge sich vorwärts stürzen, Behagen und Wohlstand, den Fleiß von Generationen vernichten.

Die Damen erschienen zur Begrüßung, Frau von Hakenberg lud zu einem Täßchen Kaffee. Und während sie am Arm des Grafen Stierbach nach dem Parkzimmer hinüberging, sagte sie halblaut:

„Na, lieber Henner, habt ihr nun meiner lieben alten Bombe für den vergessenen Brief den Kopf abgerissen? Ich verstehe ja nichts von euerer leidigen Politik, aber ist's im Grunde nicht ziemlich egal, was für einen Assessor wir als Landrat herkriegen?“

„Aber nein, liebe Tante, und verzeih', wenn ich's wage, dir zu widersprechen, das ist leider durchaus nicht egal!“

Und er setzte ihr in seiner bedächtigen Art auseinander, wie sehr ein energischer und eifriger Mann an der Spitze des Kreises der Sache des Deutschtums nützen, wie ein lauer oder gar innerlich auf Seite der Polen stehender derselben Sache schaden könne.

Frau von Hakenberg gab sich den Anschein, als höre sie mit gespannter Aufmerksamkeit zu, hing dabei aber ihren eigenen Gedanken nach. Mit einem leichten Seufzer gestand sie sich ein, es war ihrer Ältesten kaum zu verübeln, wenn sie an diesem ehrenhaften, aber leider auch recht langweiligen jungen Manne kein Gefallen fand. Und eine Beobachtung, die sie am frühen Nachmittag gemacht hatte, ließ ihr den Erfolg ihrer mütterlichen Taktik doch recht zweifelhaft erscheinen. Ilse hatte länger als sonst vor ihren Schränken gestanden, prüfend und wählend, bis sie sich schließlich für ein eng anliegendes Prinzeßkleid aus heller Libertyseide entschieden hatte, das ihre prachtvolle Figur, ihren frischen Teint und das reiche blonde Haar aufs vorteilhafteste zur Geltung brachte. Zum Überfluß war sie nach dem Warmhause gegangen, hatte sich vom Gärtner als Gürtelschmuck ein paar voll erblühte, purpurrote Nelken geholt... Und Frau Klara fragte sich, für wen dieses so ungewöhnliche Bemühen, Eindruck zu machen und zu gefallen? Dafür gab es nur eine Erklärung. Und diese Erklärung war ihrem besorgten Mutterherzen wenig erfreulich. Aber der interessante Assessor Dolinga, dessen romantischer Konflikt mit der eigenen Mutter anscheinend die Ursache dieser plötzlichen Gefallsucht war, saß nach der Panne mit seinem Kollegen Heidenreich — Gott sei Dank — noch im Straßengraben. Zwei Stunden konnte es dauern — so hatte der Wagenführer von Pokroppen aus telephonisch gemeldet — bis die Herren mit dem Fuhrwerk des Gastwirtes Sareyka in Ottenwalde einträfen. Zwei Stunden aber waren für einen, der sie zu nützen verstand, ein langes Ende Zeit. Wenn der Große da an ihrer Seite nicht von allein darauf verfiel, mußte eine geschickte Frauenhand ihm unauffällig den Weg weisen... Und sie unterbrach ihn mitten in seiner gründlichen, aber, ach, auch so langweiligen Auseinandersetzung über die Pflichten eines ordentlichen Landrates.

„Verzeiht, lieber Henner, kennst du diesen Herrn von Dolinga persönlich?“

„Bedaure, nein, liebe Tante Klara! Aber, was ich noch abschließend bemerken möchte, um dir wenigstens ein einigermaßen zutreffendes Bild von dem zu geben, was wir gerade von unserem Landrat verlangen müssen, und weshalb ich bedaure, daß man uns wieder einmal einen Herrn schickt, der von unseren speziellen Verhältnissen doch nur eine sehr beschränkte Kenntnis...“

Frau Klara hob die Hand. Diese Gründlichkeit war fürchterlich.

„Ganz recht, lieber Henner, da kann man nur hoffen, daß er sich möglichst rasch einarbeitet. Wir Damen aber sind auf die neue Kreisspitze sehr gespannt. Der ältere Bruder hat uns in Karlsbad so viel vorgeschwärmt, daß sogar Ilse — du weißt, wie gleichgültig sie sonst gegen neue Bekanntschaften ist — also ich schließe aus gewissen kleinen Anzeichen, daß diesmal...“

Und als der Lange immer noch nicht zu verstehen schien, mußte sie, sehr gegen ihre Art einer feinen Diplomatin, deutlicher werden.

„Ja, aber wir werden unsere Neugier wohl noch ein Weilchen zügeln müssen! Vorläufig sitzt der so interessante Herr Assessor noch in der Gegend von Pokroppen im Straßengraben. Motorpanne. Es kann Abend werden, bis er hier eintrifft…“

Graf Stierbach bekam einen roten Kopf. Gott sei Dank, er schien begriffen zu haben! Aber es dauerte noch eine ganze Weile, ehe er über den runden Kaffeetisch hinweg fragte: „Apropos, liebe Ilse!“

„Was denn, lieber Vetter?“

„Ich hatte vorhin ganz vergessen, dir Grüße meiner alten Dame auszurichten. Sehr viele Grüße hat sie mir aufgetragen!“

„Herzlichen Dank! Deiner lieben Mutter geht es gut?“

„Danke, ja, gottlob! Immer noch auf dem Posten. Aber fünfundfünfzig Jahre sind fünfundfünfzig Jahre, und da fallen ihr die Pflichten der Norkitter Schloßherrin schon recht sauer. Namentlich wo sie so korpulent wird, von Tag zu Tag, möchte ich sagen, mehr. Und da setzt sie mir manchmal hart zu, ich soll endlich... na schön, darüber... also das ist eine Sache für sich... eine Sache, die...“

Er fühlte, daß er sich unrettbar verhaspelte, brach ab und trank aus Verlegenheit seine heiße Tasse Kaffee auf einen Ansatz leer. Bei schwerem Männertrunk und bedächtiger Rede stand er seinen Mann. Wenn es aber galt, den Galanteriedegen einzustecken, war er — trotz seiner dreißig Jahre — befangen wie ein Fahnenjunker, der seiner gestrengen Frau Oberst den ersten Besuch machen sollte. Und er schickte einen hilflosen Blick zu seiner schönen Base hinüber. Einen Blick, in dem deutlich zu lesen stand: „Du wirst mich doch hoffentlich verstehen, mich nicht auslachen?“

Zum Unglück saß der speilzahnige Herr von Schenk neben Ilse. Und der wäre eher gestorben, als daß er ein bissiges Scherzwort unterdrückt hätte. In der etwas verlegenen Stille, die den Worten des Grafen gefolgt war, sagte er zu seinem Nachbar Chrzanowski: „Du, schwarzes Gemüse, futter' nicht so unverschämt Streuselkuchen, sondern pass' lieber aus, wie's gemacht wird! Aus deinem frisch lackierten Vollbart schließt ich nämlich, du bist auch von Amors Pfeil getroffen...“

Weiter kam er nicht, wurde von herzlichem Lachen unterbrochen. Und Henner Stierbach sah deutlich, die eine, um die er in stillem Dienen jetzt schon fünf Jahre warb, lachte mit. Das schnürte ihm das Herz ab, so daß er's gar nicht fertigbekam, zornig aufzufahren. Aber noch gab er die Hoffnung nicht auf. Bei dem üblichen Gang durch die Fohlenkoppeln fand er wohl Gelegenheit, Ilse durch eine geschickte Wendung von den anderen zu trennen. Da wollte er sich endlich ein Herz fassen und sie wieder einmal fragen, ob sie ihn nicht wenigstens ein klein bißchen liebhaben könne...

Herr von Schenk hatte unterdessen für neuen Grund zur Heiterkeit gesorgt. Er wandte sich zu der jüngsten Haustochter, die in sich gekehrt dasaß, sich, ganz gegen ihre sonstige, kecke Art, an der Unterhaltung nicht beteiligt hatte.

„Ja, Imi, was ist das heute mit uns beiden? Meine Imi geht vorüber, meine Imi kennt mich nicht?... Letztes Mal waren wie uns unter heißen Schwüren doch einig gewesen? Ich laß' mich scheiden, die separierte Schenk, geborene Finkenberg überstimmt die sieben Jöhren, und in sechs Wochen ist Hochzeit.“

Fräulein Irmgard schob die Unterlippe vor. Eigentlich war ihr gar nicht zum Scherzen zumut, aber sie versetzte schlagfertig:

„Ich hab's mir wieder überlegt, Onkel Pille. Wärst du noch grün wie vor vierzehn Tagen, mit Wonne! Aber wo du inzwischen doch reichlich grau geworden bist?“

Herr von Schenk erwiderte, er werde sich von seinem Nachbar Chrzanowski das Rezept verschreiben lassen, wie man statt älter immer jünger würde, und die ganze Gesellschaft brach in Lachen aus. Fräulein Irmgard aber versank wieder in ihr ärgerliches Grübeln. War es nicht „zum Akazienerklettern“, daß der Assessor Heidenreich gerade heute eine Panne haben mußte? Hätte er dieses meschante Auto nicht vorher ganz genau untersuchen müssen, ehe er sich gerade zu dieser Fahrt hineinsetzte? Dafür gedachte sie ihm gründlich den Text zu lesen, ehe sie sich ihm in Gnade neigte. Hoffentlich aber kam er noch so früh, daß die entscheidende Aussprache vor dem Abendbrot stattfinden konnte. Ehe der Putenbraten auf den Tisch kam, mußte der liebe dicke Papa doch an sein Glas klopfen: „Meine verehrten Gäste, ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, die Sie gewiß auch mit freudiger Teilnahme begrüßen werden. Meine liebe jüngste Tochter Irmgard hat sich soeben mit dem Herrn Assessor Heidenreich... na, und so weiter, so weiter...“ Das schien ihr in der Vorfreude der schönste Augenblick des bedeutungsvollen Tages zu sein...

Die Herren hatten sich unterdessen, wie so oft schon, in die vertrackte Polenfrage verbissen. Sie hörte, wie der Baron von Chrzanowski sagte: „Ich kann aufs bestimmteste versichern, Amalienau ist so gut wie verkauft! An den Polen in Friedrichstein. Der Herr Oberleutnant der Reserve mit dem Sammelnamen Meier hat die Hypothekenzinsen wieder mal in Königsberg verjeut. Da schnürt ihm der Pole den Hals ab, will ihm aber aus Gnade und Barmherzigkeit über die letzte Hypothek hinaus noch zehntausend Mark für die Reise nach Amerika geben. Unsere Regierung aber, nach Schema F, will über die Taxe hinaus nichts anlegen. Da hat denn der Assessor Naso noch einmal eine ganz dringliche Eingabe...“

Fräulein Irmgard richtete sich auf. Die Gewohnheit ihrer Kreise, sich gegenseitig einen Spitznamen anzuhängen, den man nicht nur mit guter Laune ertragen, sondern als eine Art von Auszeichnung empfinden mußte, war so alt wie die Welt. Aber das Wort „Naso“ verletzte sie sehr. Weil sie mit dem triftigen Grund zu dieser Bezeichnung schwer gerungen hatte. Und sie fragte spitz: „Verzeihung, Herr von Chrzanowski, wen meinen Sie eigentlich mit Assessor Naso?“

„Na, den Assessor Heidenreich“, erwiderte er harmlos. „Ein sehr netter Mensch, muß ich sagen, aber so etwas von Riechkolben ist mir doch noch nicht vorgekommen!“

Fräulein Irmgard ballte zornig die Kaffeeserviette in der festen kleinen Hand. Respekt und Erziehung verboten ihr eine scharfe Erwiderung, aber die „grüne Pille“ kam ihr zu Hilfe.

„Pfui, schwarzes Gemüse! Wie würde es dir gefallen, wollte jemand deinen waschechten Ebenholzbart 'Fußsack' titulieren?“ ... Und mit einem vertraulichen Zwinkern fügte er hinzu: „Tröst' dich, kleine Imi, die Heidenreichschen Nasen sind zum Umklappen eingerichtet! Man stößt sich nicht daran...“

Da hielt Frau von Hakenberg es für geraten, die Kaffeetafel aufzuheben. Die Kleine wurde sonst womöglich wieder kopfscheu. Sie schlug vor, einen Spaziergang nach den Fohlenkoppeln zu unternehmen oder — je nach Belieben — vor dem Abendbrot mit der Bridgepartie zu beginnen. Und dem Grafen Stierbach bemerkte sie anscheinend beiläufig:

„Ilse hat unter den Jährlingen einen besonderen Liebling, den Notschimmel Unkas, von Erzpriester aus der Undine. Wenn sie ihn mit Namen ruft, kommt er gelaufen. Aber ihr müßt euch zur Belohnung ein paar Stücke Zucker einstecken.“

Da faßte der Lange sich ein Herz. Er nahm einen Augenblick wahr, in dem er mit Frau von Hakenberg allein stand.

„Liebe Tante Klara, ein kurzes Wort im Vertrauen.“

„Aber gern, lieber Henner.“

„Ich weiß, du bist mir wohlgesinnt...“

„Das ist doch selbstverständlich! Wo deine liebe Mutter meine Kusine ist?“

„Na ja, aber auch sonst... Und du glaubst mir hoffentlich: Nichts wünsch' ich sehnlicher, als daß die Verwandtschaft noch enger wird.“

Das wußte Frau Klara schon seit mehr als fünf Jahren. Und sie mußte unwillkürlich lächeln.

„Ja, lieber Henner, aber was nützt dir mein herzliches Einverständnis? Wäre es nicht vorteilhafter, sich mit diesem Wunsch an — na sagen wir mal — an eine andere Adresse zu wenden?“

„Verstehe, liebe Tante! Aber wenn diese andere Adresse wieder mal Nein sagt?“

Frau von Hakenberg zuckte die Achseln. Es half nichts, sie mußte wieder einmal deutlicher werden.

„Ja dann, lieber Junge?... Aber ich denke, du warst doch ein paar Jahre Attache in Bukarest? Wie machend die Herren Diplomaten, wenn so ein kleiner Staat in einer wichtigen Frage absolut nicht kapitulieren will?“

In dem ehrlichen Gesicht des Grafen Stierbach leuchtete es auf.

„Sie stellen ein Ultimatum! Und du glaubst wirklich, daß auch in unserem Falle...“

„Ich meine gar nichts, lieber Henner, ich weiß nur aus Erfahrung, ein energisches Wort wirkt manchmal Wunder! Zum Beispiel, daß die Gegenpartei sich um Himmels willen nicht einbilden soll, man sei nun bloß auf sie angewiesen! Wenn ich recht unterrichtet bin, würde deine liebe Mama ja schon zufrieden sein, wenn du ihr überhaupt nur eine Schwiegertochter zuführen wolltest! Zum Beispiel die älteste Schenk? Auch ein sehr nettes junges Mädchen... klug, gebildet, musikalisch... mich würde allerdings ja stören, daß sie für die repräsentative Stellung einer Schloßherrin von Norkitten doch ein bißchen zu dürftig geraten ist…“

Henner Stierbach drückte ihr die Hand, daß sie vor Schmerz beinahe aufgeschrien hätte.

„Liebe Tante Klara, du bist die klügste, liebste, verehrungswürdigste Frau, die mir je... also, bitte, kneift mir den Daumen!“ Und er ging mit langen Schritten davon, die vorausschreitende Gruppe Ilse, Rittergutsbesitzer Totenhöfer und Irmgard einzuholen. Das Glück war ihm günstig. Am Ausgange des großen Parkes äußerte Fräulein Imi den Wunsch, von der Zinne des alten Bergfrieds, der als einziges Überbleibsel der Hakenburg, von vielhundertjährigem Efeu umrankt, noch aufrecht stand, die Aussicht auf die von Heinrichsburg kommende Chaussee zu betrachten. Der Sonnenuntergang, von dort oben gesehen, sei besonders malerisch. Ilse wollte sich anschließen, Graf Stierbach aber gab sich einen Ruck.

„Möchten wir beide uns nicht lieber deinen Unkas ansehen, Ilse?“ Und mit einer im Augenblick glücklich erfundenen Lüge fügte er hinzu: „Deine Mama hat nämlich gemeint, das Undineblut wäre vielleicht auch für die Norkitter Zucht sehr wertvoll.“

Da neigte Ilse den schönen Kopf. Sie glaubte zu wissen, was ihr bevorstand. Sie mußte wieder einmal Nein sagen, einem in seiner Art vortrefflichen Menschen schweren Kummer bereiten. Tausend Gründe hätten dafür gesprochen, die beharrlich und in Abständen von einem halben Jahr immer von neuem wiederholte Werbung endlich zu erhören. Aber — sie konnte sich nicht helfen — es ging nicht! Heute noch weniger als früher... Das Blut lies ihr unruhig durch die Adern, als wenn sie sich etwas Besonderes erwartete; irgendein Ereignis, das in den gleichförmigen Alltag eine Abwechslung, einen Umschwung brachte. Etwas, bei dem der Herzschlag höher ging. Hatte sie darum sechs oder sieben Jahre gewählt und gemäkelt, um im geruhsamen Gleichmaß einer behäbigen Vernunftehe zu enden? Einer Ehe, in der man sich jeden Tag von neuem sagen mußte: „Sei nachsichtig... er ist nun mal, wie er ist, du wirst dich schon an ihn gewöhnen...“ Dagegen bäumte sich etwas in ihr auf. Die Vereinigung zweier Menschen konnte sie sich ohne den Trieb heißer Leidenschaft nicht denken. Da blieb sie lieber ledig, ging wieder nach München. Dort war sie schon einmal gewesen, um ihr Talent zur Malkunst ernsthaft prüfen zu lassen. Erste Meister hatten sie ermutigt, der Vater war leider dagegen gewesen. Eine geborene Hakenberg wurde nicht „Malweib“, übte die Kunst nur zu ihrem Vergnügen...

Sie gingen auf weichem Wiesengrund, gleich hinter dem Park fingen die Koppeln an. Und in jeder viele Morgen umfassenden Einzäunung graste ein anderer Jahrgang edler Pferde auf saftig sprießender Weide. Von den Saugfohlen, die noch im Schutze der Mutterstute liefen, bis zu den dreijährigen Remonten. Nicht nur für den sachverständigen Züchter ein fesselndes Bild. Kraft und Schönheit in glücklicher Paarung; ein wundervoller Anblick, wenn ein Trupp der schlanken Tiere, von plötzlichem Übermut getrieben, wie eine Wetterwolke über den grünen Rasen stob. Oder wenn einer der einzeln gefriedeten Zuchthengste mit hocherhobenem Kopfe seinen Nebenbuhlern ein zorniges Wiehern als Kampfruf hinüberschickte. Die Nüstern blähten sich, der lange Schweif peitschte die Flanke...

Die zum Untergang sich neigende Sonne warf auf den grünen Wiesenteppich goldene Lichter, ein prachtvoll gebauter, dreijähriger Fuchs stand auf dem Kamm eines leichten Hügels wie ein von flammender Lohe umrissener Bronzeguß gegen den leuchtenden Horizont. Und in den sehnsüchtigen Künstleraugen des jungen Mädchens formte sich ein Bild... ein Bild, über dem es vergaß, daß die nächsten Minuten eine Entscheidung über sein Schicksal bringen sollten.

Sie standen an den mit festen Pfählen verbundenen Langbäumen der Jährlingskoppel. Die Herde, wohl fünfzig an der Zahl, weidete in geschlossenem Trupp weit drüben am anderen Ende. Ilse schob zwei Finger der Linken zwischen die blitzendweißen Zähne, es gab einen hallenden Pfiff. Drüben in der jungen Gesellschaft hoben sich ein paar feine Köpfe, und als sie dem Pfiff den Ruf „Unkas“ nachschickte, antwortete ein helles Wiehern. In gestrecktem Galopp kam der rank gebaute junge Hengst einhergerast, die Weidegefährten folgten neugierig in vorsichtigerem Trab. Kurz vor dem Zaun parierte der Rotschimmel den rasenden Lauf, kam im Schritt heran und streckte den rassigen Kopf mit den klugen Augen und rosigen Nüstern weit vor. Ilse klopfte ihm zärtlich den schlanken Hals, hielt in der flachen Linken ein Stück Zucker. Er faßte es mit vorsichtigen Lippen, um es genießerisch zwischen den Zähnen zu zermalmen. Und sie sprach zu ihm freundlich: „Wie geht's denn meinem alten Unkas? Ist er auch immer hübsch artig gewesen, hat sich mit den anderen nicht gerauft?“

Der Jährling antwortete mit einem Schnaufen, senkte den Kopf, um sich die Stirn krauen zu lassen. Da glaubte der arme Graf Stierbach, er habe endlich den günstigen Anknüpfungspunkt erwischt, und sagte mit einem schweren Seufzer: „Dummer Kerl! Hat keine Ahnung, wie gut er's hat! Daß Menschen existieren, die ihr Blut hergeben würden, wenn ihnen auch mal so eine zarte Hand...“

Ilse warf den Kopf in den Nacken zurück. Einen Augenblick lang hatte sie gedacht, wie sehr sie doch im Leben in Gottes freier Natur wurzelte, wie fremd und feindlich ihr die Großstadt vorkommen würde, wenn sie einmal von Ottenwalde scheiden müßte. Und mit dem Gedanken hatte sich eine weichere Regung verbunden. Damit war's bei der nach schlimmstem Muster geschmacklosen Anrede vorbei... Sie strich eine widerspenstige kleine Locke, die aus der einfachen Scheitelfrisur sich immer wieder hervorstahl, aus dem Gesicht.

„Du, Henner, falls du beabsichtigen solltest, mir mal wieder einen Antrag zu machen...“

Er blickte unsicher auf, die unvermutete Zwischenfrage hatte ihm das ganze Konzept verdorben.

„Allerdings beabsichtige ich das, liebe Ilse! Wer weiß, wann ich wieder einmal eine so günstige Gelegenheit erwischt wo ich dich allein...“

Sie schüttelte den Kopf.

„Die Gelegenheit ist aber nicht günstig, verlaß dich drauf! Da möchte ich dich also herzlich bitten, dir die Frage und mir die Antwort zu ersparen!“

Er entsann sich des mütterlichen Ratschlags, nahm allen Mut zusammen.

„Ilse, so geht es nicht weiter! Fünf Jahre ziehst du mich jetzt schon herum...“

„Das stimmt nicht! Oder vielmehr, das ist ein ganz ungerechter Vorwurf! Ich hab' dir niemals auch nur die geringste Hoffnung gemacht, ich könnte meinen Sinn ändern!“

„Ilse, wenn du mich heute wieder fortschickst, bin ich zum letztenmal in Ottenwalde gewesen!“

„Das täte mir herzlich leid. Für uns und für dich. Aber wenn du glaubst, es geht nicht anders?“

Er sah starr geradeaus mit schwimmenden Augen.

„Es ist ja nicht auszudenken, daß jetzt wirklich alles zu Ende... daß ich dich nur noch mal so ab und zu von weitem... Ilse, glaub' mir doch, kein Mensch auf dieser Welt wird dich jemals so innig und ehrerbietig...“ Ein plötzliches Aufschluchzen schnitt ihm das Wort ab, er mußte den gewaltigen Körper gegen den Pfosten der Einzäunung lehnen. Aber nur einen Augenblick dauerte die beschämende Schwäche. Er richtete sich straff auf.

„Eine Frage nur noch, Ilse! Du liebst einen anderen?“

Ein unwillige Röte färbte ihr Hals und Wangen.

„Ich könnte dir mit einem Achselzucken erwidern, das ginge dich nichts an. Aber du sollst eine klare Antwort haben! Nein, ich liebe keinen anderen. Und nun laß uns aufhören.“

Seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzüge.

„Dann ist's gut! Mehr will ich im Augenblick nicht wissen. Und wenn ich noch mal fünf Jahre warten sollte, ich hab' Geduld.“

„Aber, lieber Henner“, sagte sie eindringlich, „sei doch vernünftig! Es gibt doch noch mehr junge Mädchen auf der Welt...“

Er schüttelte störrisch den Kopf.

„Für mich nicht! Für mich nur eine! Und jetzt hör' zu! Ich lass' dich auch keinem anderen. Darauf geb' ich dir mein Wort als Christ und Edelmann!“

„Ja, um Himmels willen“, erwiderte sie in heller Empörung, „du kannst mich doch nicht in einen Zaun sperren und draußen eine Tafel anbringen: Eintritt bei Todesstrafe verboten?“

„Und warum nicht? Einer meiner Vorfahren hat mir's vorgemacht vor jenen sechshundert Jahren. Aber er hat an den Zaun kein Plakat genagelt, sondern sich selbst mit seinem guten Schwert davorgestellt. Wen das adlige Jungfräulein einlassen wollte, der mußte zuvor über seine Klinge. Beim Dritten sah sie ein, es gab keinen Widerstand. Und — so heißes in unserer Chronik — da neigte sie sich ihm in Liebe.“

Sie maß ihn mit einem kühlen Blick.

„Die Zeiten haben sich geändert, lieber Henner. Heute würde sich ein so gewalttätiger Herr doch recht lächerlich machen!“ Und sie ging schweigend den Weg zurück, den sie gekommen waren. Auf der großen Diele, die das langgestreckte Haus in zwei Hälften teilte, blieb sie stehen.

„Hier muß ich dir Lebewohl sagen, Henner. Bitte, empfiehl mich deiner lieben Mutter.“

„Ja, wieso denn? Ich fahr' doch noch nicht fort?“

„So, nicht? Dann werde ich eben den Rest des Abends auf meinem Zimmer verbringen.“ Sie neigte gemessen den schönen Kopf, ging langsam hinaus.

„Ilse“, rief er noch einmal bittend, sie sah sich nicht um. Da fing er an zu begreifen, es war zu Ende. Für immer. Und er ging mit schwerem Herzen in das Spielzimmer hinüber, sich von dem Hausherrn zu verabschieden. Eine ganz kleine Hoffnung regte sich trotz alledem noch in ihm. Vielleicht, wenn die Fadenscheinigkeit seiner Entschuldigung klar wurde, daß man ihn in dringlichster Form zum Bleiben nötigte. Und wenn dann Frau Klara erst wieder aus den Wirtschaftsräumen nach oben kam, fand sie wohl auch einen gangbaren Ausweg...

Zum Unglück saß Herr von Hakenberg in schweren Nöten mit drei von der Gegenseite doublierten Trick in Sans-Atout, zu denen ihn sein leichtsinnig bietender Partner Schenk getrieben hatte. Wenn Haßdorf als Vorhand das Reizen seines eigenen Partners aufmerksam verfolgt hatte und dessen starke Farbe Treff ausspielte, war der Rubber mit ungezählten Punkten verloren... Als Graf Stierbach an den Tisch trat: „Lieber Onkel Bombe, ich hab' soeben eine wichtige Nachricht bekommen, muß zu meinem lebhaftesten Bedauern sofort nach Hause fahren“, hob der Hausherr nur zerstreut den Kopf. „Tut mir leid, lieber Stobiger! Na denn auf baldiges Wiedersehen und grüß' recht schön...“

„Besten Dank, werde nicht verfehlen.“

Er stand noch ein paar Minuten als Zuschauer. Haßdorf spielte richtig Treffsechs aus, Schenk als Strohmann deckte als ganzen Besitz die Sieben, Acht und Neun aus, die anderen Treffs hatte der Baron Chrzanowksi in der Hand, dem vor verhaltener Schadenfreude der lange schwarze Vollbart wackelte.

„Endlich 'ne fette Speicherratze erwischt“, sagte er lachend, „und jetzt kommt mal 'ne ganze Weile lang nichts wie Himmel und Treff, liebe Bombe.“

Da wandte Henner sich nach einer allgemeinen Verneigung zur Tür. Im Hinausgehen hörte er den Hausherrn zornig versichern, er werde nächstens eher Pferde stehlen gehen, als sich mit der „grünen Pille“ noch einmal an den Bridgetisch setzen, und ihm wurde klar, er hatte weder hier noch an der Jährlingskoppel den günstigen Augenblick getroffen... Von der Freitreppe aus erspähte er seinen Kutscher, rief ihm „Anspannen“ zu. Und eine Viertelstunde später saß er im Wagen, ohne daß jemand den Versuch gemacht hätte, ihn aufzuhalten. Da wurde ihm das Herz dick wie eine geballte Faust vor Zorn und Gram und Scham. Das hatte er nun von dem Ratschlag der klugen Tante Klara! Früher hatte er doch immer noch die Hoffnung auf die Zukunft gehabt! Damit war's jetzt auch vorbei. Er hätte kein Fünkchen von Stolz mehr im Leibe haben müssen, wenn er nach dem verletzenden Abschied noch einmal wiederkam...

Ilse aber hatte in ihrem hellen Mädchenzimmer, hinter dem Fenstervorhang verborgen, mit Befriedigung gesehen, daß der so hartnäckige Werber davongefahren war. Über seine plumpe Drohung lachte sie. Der war auf falschem Wege, der sich einbildete, sie sei mit Gewalt zu gewinnen! Frei schenkte sie sich dem, für den einmal nach langem Wählen ihr Herz sprach. Ein Ebenbürtiger mußte es sein, ein Ebenbürtiger an Wissen, Geschmack und Geist, keiner, auf den sie mitleidig hinabsah. Und sie trat vor den hohen Spiegel, musterte prüfend ihre königliche Gestalt. Noch hatte sie Zeit, konnte warten, bis der eine kam, vor dem sie willig den stolzen Nacken bog. —

 

***

 

Der dicke Gutsbesitzer Totenhöfer war unterdessen mit Fräulein Irmgard zu der Ruine der alten Hakenburg gepilgert. Viel lieber hätte er sich auch die Fohlenkoppeln angesehen, die ihn als Pferdezüchter mehr interessierten als der schönste Sonnenuntergang. Aber der Stobige hatte deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er mit Fräulein Ilse allein zu gehen wünschte. Wahrscheinlich wollte er mal wieder Sturm laufen, der dumme Kerl... Wenn sie endlich kapitulierte — so mußte Herr Totenhöfer denken — was hatte er schon? Sechs Wochen Rausch und hinterher jahrelang Katzenjammer! Er selbst hatte es zweimal ausprobiert, wie bitter so eine junge Dame sich in der Ehe entwickelte, die im Brautstand süß wie Honig gewesen war. Beide Male hatte er das Glück gehabt, die sogenannte Lebensgefährtin nach kurzem, aber vollkommen genügendem Beisammensein wieder zu verlieren. Aber die Menschen lernten bekanntlich nur aus eigener Erfahrung, wenn sie sich nämlich selbst den Kopf an harter Mauer stießen. Da hätte es wenig genützt, den langen Grafen zu warnen: „Lieber Stobiger, glauben Sie einem zweimal Gebrannten, es ist immer dieselbe Geschichte! Wie sagt Schiller? 'Mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei. Der stolze Knab' möcht' wieder los, nur mit der Freiheit ist's vorbei'“

Und noch ein anderer, so schien es Herrn Totenhöfer, war im Begriff, sich an der Leimrute festzufliegen, die fängisch gestellt war, solange Menschen von zweierlei Art auf der Erde wandelten... Einer, der aus der Heinrichsburger Chaussee kommen mußte, die sich vom hohen Söller aus angeblich besonders malerisch präsentierte. Mußte er sich das ansehen? Er erfuhr es früh genug, wenn nachher beim Abendbrot der Hausherr ans Glas klingelte. Da blieb er kurz vor dem alten Gemäuer, dem aus Fugen und Sprüngen zwischen rankendem Efeu junge Birkenbüsche wuchsen, stehen. Hundert Fuß war es reichlich hoch, und es erschien ihm überflüssig, an die Ersteigung Kraft und Atem zu setzen.

„Fräulein Irmgard“, sagte er, „wie ich in meinen Stiefeln stehe, wieg' ich zweihundertsieben Pfund. Ich hab' Angst, die hält das alte Steinwerk nicht mehr aus, wenn ich damit nach oben kletter'! Und auch Sie, mein' ich, sehen ebensogut von unten, ob auf der Chaussee endlich ein gewisser Jemand kommt.“

Sie wurde rot, stotterte verlegen: „Wer... wer sagt Ihnen denn, daß... daß ich deswegen...?“

„Mein gesunder Menschenverstand, Fräulein Irmgard! An einer Landstraße ist immer bloß interessant, ob einer auf ihr gefahren kommt. Bäume, Gräben und Meilensteine sind überall auf der Welt über einen Leisten. Na denn alles Gute, ich geh' in die Fohlenkoppeln! Von hinten 'rum, da werd' ich hoffentlich auch da nicht stören.“

Und er stapfte mit seiner schweren Figur davon. Fräulein Imi aber sah weit hinten auf der Chaussee eine leichte Staubwolke näher kommen. Da schenkte auch sie sich die Turmbesteigung, eilte schnellfüßig den Burghügel hinab. Erst auf der breiten Landstraße ging sie wieder langsam, denn die Begegnung mußte natürlich wie eine ganz zufällige aussehen. Der Assessor Heidenreich aber erkannte mit seinen scharfen Augen schon von weitem die hellgekleidete, liebe Gestalt. Da nahm er dem auf dem Bocke sitzenden Masurenjungen Peitsche und Leine aus der Hand, trieb die beiden kleinen „Kunter“ in Galopp. Und kurz vor der anscheinend spazierengehenden jungen Dame warf er dem Kutscher Peitsche und Zügel zurück, rief fröhlich dem Herrn von Dolinga zu: „Weiter müssen Sie schon gefälligst allein fahren, Herr Kollege“, und sprang, ohne anzuhalten, mit geschicktem Schwunge ab.

Irmgard schrie erschreckt auf.

„Um Gottes willen, wenn Sie sich nun 'was gebrochen hätten!“

„Wär' großartig gewesen“, gab er lachend zurück, „dann hätten Sie mich sechs Wochen lang pflegen müssen! Na und jetzt komm' her, Mädel, hast mich lange genug zappeln lassen.“

„Erlauben Sie mal“, wollte sie entrüstet sagen, aber sie kam nicht mehr dazu. Er hatte sie schon in den starken Arm genommen, mitten auf den Mund geküßt. Ohne vorausgegangene Bitte oder Liebeserklärung. Da ging sie ein Weilchen schmollend neben ihm her, ihre Verlobung hatte sie sich bedeutend feierlicher, poetischer gedacht. Und sie bemerkte mit erhobenem Näschen:

„Eine Manier ist das, einen so mir nichts, dir nichts... Und wenn Sie sich vielleicht einbilden, ich hätte hier gewartet?... Zufall ist das, der reine Zufall!“

„Ach nee“, sagte er lustig. „Aber ist egal, auch Zufälle muß man wahrnehmen.“ Und er zog sie ohne viel Federlesen von neuem an sich, küßte sie lange und heiß. Zwischenein aber sprach er, durch erklärliche Pausen unterbrochen: „Imi... kleine süße Imi... wenn du 'ne Ahnung hättest, wie glücklich ich bin!... So übermenschlich und unsäglich glücklich... so... so... na also, heulen muß ich vor Glück... und lach' mich nicht aus... ich kann wirklich nicht anders...“

Die Stimme schlug ihm um, er mußte aufhören. Da wurden auch ihr die Augen naß, sie schmiegte sich fester an seine Brust und küßte ihn wieder. Freiwillig und von Herzen. Seltsamerweise aber nicht auf den Mund, sondern mitten auf die große Nase. Das erschien ihm verwunderlich, er schob es auf die noch mangelnde Übung. Erst lange Zeit später, als seine Schwiegermutter gelegentlich einmal die Geschichte ihrer Verlobung erzählte, bekam er die Erklärung. Eine Art von Abbitte war es gewesen.

Sie bogen Hand in Hand von der Chaussee in den Park. In den verschwiegenen Gängen plauderte es sich besser, wenn man sich Dinge zu sagen hatte, die kein dritter zu hören brauchte.

 

***

 

Viktor von Dolinga war in dem leichten Bauernwägelchen weitergefahren, mußte den Assessor Heidenreich wieder einmal herzhaft beneiden. Mit dem hatte das Glück nur eine Zeitlang Verstecken gespielt. Jetzt hatte er's gefangen, ging mit ihm auf ebener Straße in eine lichte Zukunft. In einem Vierteljahr quittierte er den königlichen Dienst, übernahm das väterliche Gut und saß mit seiner jungen Frau als freier Herr auf eigener Erde... Er aber ging mit unsicherem Fuß auf schwankendem Grund, nirgends einen festen Halt und kein Licht in der eigenen Brust, das ihm aus Bedrängnis und Zweifel den klaren Weg gewiesen hätte.

Da blickte er wie ein an der eigenen Kraft verzagender Schwimmer zum rettenden Ufer nach dem gastlichen Dache hinüber, das sich hinter dem ersten knospenden Grün der alten Linden erhob. Und er legte vor sich selbst eine Art von Gelübde ab: Wenn dieses Fräulein von Hakenberg auch nur im entferntesten dem Bilde glich, das man ihm gezeichnet hatte, warb er um sie! Dann gab's kein „Wenn“ mehr und kein „Vielleicht“, er wußte endlich, wo er hingehörte...

Der Weg hatte an langgestreckten Scheunen und einem weiten Wirtschaftshofe vorübergeführt, der Kutscher lenkte das abgetriebene Gespann durch ein hohes Steintor vor ein breitausladendes Haus mit mächtigem, von Ruß und Alter geschwärztem Ziegeldache. Eine niedrige Freitreppe stand davor zwischen zwei gewaltigen Linden, ein hübsches Stubenmädel in schwarzem Kleid und weißer Latzenschürze kam die Stufen hinab, half beim Ablegen und führte ihn auf die schon im Dämmerlicht liegende Diele.

Da stand er, seinen korrekten Besuchszylinder in der Hand, sah sich um. Elchschaufeln und Hirschgeweihe hingen an den Wänden zwischen alten Waffen, auf der einen Seite hob sich ein mächtiger Kamin, in dem zum Schutz gegen die Abendkühle aus knallenden Tannenscheiten ein lustiges Feuer brannte. An der gegenüberliegenden Seite hing ein großes Bild in dunklem Eichenrahmen. Eine Wiesenlandschaft mit weidender Fohlenherde. So weit er bei der unsicheren Beleuchtung urteilen konnte, eine beachtenswerte Arbeit. Schmiß lag darin und Bewegung...

Die schwere elektrische Krone an der Decke flammte auf, hinter ihm erklang das Rauschen eines Frauengewandes, er wandte sich um. Und er hatte Mühe, den halblauten Ruf der Überraschung, der sich ihm unwillkürlich auf die Lippen drängen wollte, zu unterdrücken. Was war die Schilderung, die ihm der Kollege Heidenreich gegeben hatte, gegen die Wirklichkeit! Eine geradezu klassisch zu nennende Schönheit war es, die da vor ihm stand. Wundervoll gewachsen und mit auserlesenem Geschmack gekleidet. Das sah er mit geschultem Blick im Bruchteil einer Sekunde, und ihm wollte scheinen, er habe von seinem großstädtischen Dünkel ein gutes Teil aufzugeben. Aber auch Ilse Hakenberg hatte einen Augenblick lang mit einer leichten Befangenheit zu kämpfen. Der Geheime Rat von Dolinga hatte von seinem Stiefbruder immer nur als von einem „recht gut aussehenden jungen Herrn“ gesprochen. Der da vor ihr stand, war der schönste Mann, den sie in Bild und Wirklichkeit je erlebt hatte. Auf hoher und ebenmäßiger Gestalt ein frei sich hebender Kopf von edelster Linienführung, ein Mannesantlitz von so bezwingend starker Schönheit, daß ein Künstlerauge wohl zu entschuldigen war, wenn es ein wenig länger als schicklich im Anblick verweilte. Nur um die Lippen lag ein etwas weichlicher Zug. Eine Linie, aus der man bei schärferer Betrachtung vielleicht hätte schließen können, daß hinter dieser erlesenen Mannesschönheit kein ebenbürtig starker Charakter stand...

Viktor zog die schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte, an die Lippen. Er hatte es wohl gemerkt, welchen Eindruck er gleich im ersten Augenblick gemacht hatte. Einen anderen jedenfalls als bei jener jungen Dame, die von ihm mit respektlosem Stift eine schnöde Karikatur gezeichnet hatte. Das war ihm Genugtuung und — seltsamerweise — Enttäuschung zugleich. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf: War er denn eine so feminine Natur, daß er schlecht behandelt werden mußte, um sich zu verlieren?

Ilse hatte ihre leichte Verlegenheit überwunden, sagte herzlich: „Willkommen in Ottenwalde, Herr von Dolinga!

Und ich darf wohl auch hinzufügen, willkommen in der alten Heimat...“

„Wenn's nach dem Geburtsort geht“, erwiderte er herb, „gewiß! Aber ich darf wohl sagen, es liegt nicht an mir, wenn ich die bei einer Heimkehr sonst vielleicht üblichen Gefühle nicht empfunden habe. Dies eben war der erste freundliche Gruß. Sonst überall Kälte oder unverhohlenes Mißtrauen.“

Sie sah ihn mit aufrichtigem Mitgefühl an. Es erschien ihr gar nicht verwunderlich, daß sie gleich in der ersten Minute der Bekanntschaft von dem sprachen, was ihm das Herz bewegte. Der ältere Bruder war ihr in kurzen Wochen ein guter Freund geworden, da kam der jüngere fast wie ein Verwandter ins Haus. Und sie sagte:

„Das tut mir herzlich leid! Aber ich trage auch ein Teil Schuld. Ich hätte daran denken müssen, daß mein kleiner alter Papa gewohnheitsmäßig Briefe vergißt, die sich nicht gerade auf seinen engsten Interessenkreis — Wirtschaft, Jagd und Pferde — beziehen...“

Viktor blickte auf.

„Ach, Ihr Herr Vater war es also, der meinem Bruder...“

„Ja, aber ich bitte herzlich, tragen Sie's ihm nicht nach! Ich hätte die Pflicht gehabt, dem lieben Geheimrat zu schreiben: 'Schicken Sie, bitte, Ihren Herrn Bruder nicht her!' Er hätte es mir wohl nicht übelgenommen. Ich weiß allerdings nicht, ob er Ihnen erzählt, daß wir im vergangenen Frühjahr in Karlsbad gute Freundschaft geschlossen haben?“

Er umfaßte ihre Gestalt mit einem huldigenden Blicke.

„Er hat mir so viel erzählt, daß ich die Zeit nicht erwarten konnte, die herzlichen Grüße auszurichten, die er mir aufgetragen hat! Und wenn ich hoffen könnte, hier ein Plätzchen zu finden, zu dem ich in Nöten und Sorgen pilgern dürfte wie zu einem tröstlichen Altar...“ Es erschien ihm geraten, das allzu draufgängerische Werben durch eine scherzhafte Wendung abzuschwächen, er fügte lächelnd hinzu: „Auch ein königlich preußischer Landrat hat Stunden, in denen ihm an der eigenen Unfehlbarkeit Zweifel aufsteigen.“

Eine feine Röte hatte ihr die Wangen gefärbt, der huldigende Blick war ihr nicht entgangen. Sie nahm sich zusammen, erwiderte schlicht:

„Herr von Dolinga, ein Willkommen im Hause Hakenberg ist kein leeres Wort, wir halten zu unseren Freunden! Und ich kann's Ihnen nachfühlen, daß Sie ein Bedürfnis nach Anlehnung haben. Das Schicksal hat Sie vor Pflichten gestellt, die mehr als schwer sind.“

„Das Schicksal?“ warf er mit bitterem Auflachen ein. „Wollen wir nicht lieber dafür 'blöder und heimtückischer Zufall' setzen?“

„Ah nein“, sagte sie lebhaft, „es ist meine innerste Überzeugung: Alles auf dieser Welt ist Fügung! Wir glauben zu gehen, und wir werden geführt. Sie werden vielleicht darüber lächeln. Ich habe ein so grenzenloses Vertrauen, unsere Schicksale werden von einer göttlichen und gütigen Macht zu unserem Besten gelenkt, daß ich glaube, auch die Vergeßlichkeit meines lieben Papas stand in dem Plane einer höheren Vorsehung! Einer Vorsehung, mit der wir kurzsichtigen Menschen hadern, weil wir ihr letztes Ziel nicht gleich erkennen können.“

In den einfachen Worten lag etwas, das ihm seltsam ans Herz rührte. Und es war keine leere Redensart, als er erwiderte:

„Weshalb sollte ich mir wohl herausnehmen, über ein so glückliches Vertrauen zu lächeln? Ich gäbe viel darum, dürfte ich aus innerster Überzeugung ebenso sprechen! Aber wo sollte das bei mir wohl herkommen? Von klein auf unter fremden Menschen, das Wort Elternhaus ein leerer Begriff. Meinen Bruder sah ich nur ab und zu einmal ein paar Tage in den Ferien. Offen gestanden — ich war auch immer froh, wenn die Tage herum waren! Der große Altersunterschied, und er predigte den ganzen Tag. Sein gütiges Herz habe ich eigentlich so recht erst jetzt erkannt. Ja also, da habe ich mit meinem Schicksal oft genug gehadert. Der liebe Gott, zu dem ich beten sollte, kam mir immer als ein böser und grausamer alter Mann vor, der sich für mich lauter Gemeinheiten ausdachte. Als ich klein war, nahm er mir das einzige, woran mein Herz hing, meine polnische Wärterin und meinen heißgeliebten Pony Pollo, und als ich größer wurde, merkte ich, daß er mir noch viel, viel mehr genommen hatte. Alles, was meine Kameraden im Überfluß besaßen. Und ich fragte mich, warum gerade mir so?... Können Sie sich vorstellen, wie einem halbwüchsigen Jungen zumute ist, wenn die anderen alle mit heißen Gesichtern und leuchtenden Augen zu Ferienbeginn nach Hause fahren? Er allein aber hat kein 'Zuhause'! Wissen Sie, was in solchen Stunden in so einem Jungenherz alles verkümmert, und was an seiner Stelle dafür ins Kraut schießt? Wenn ich daran zurückdenke, wundere ich mich immer, daß aus mir noch so etwas wie ein leidlich anständiger Mensch…“ Er brach ab, sah mit schwimmenden Augen ins Leere. Und es war keine Theaterspielerei dabei, keine Absicht, durch die Schilderung seiner trostlosen Jugend auf das schöne junge Mädchen einen besonderen Eindruck zu machen. Bedürfnis und Wohltat war es ihm, sich einmal auszusprechen. Und er empfand es fast als frohe Gewißheit, er war auf dem Wege, von der törichten Leidenschaft, die ihm in allen diesen Tagen den Sinn verwirrt hatte, zu genesen. Die ihm gegenübersaß, schien eine jener seltenen Frauen zu sein, die dem Manne ihrer Wahl leidenschaftliche Geliebte und kluge Gefährtin wurden... Kein besseres Schicksal konnte er sich wünschen, als sie zu gewinnen.

Ilse aber hatte mit innigem Mitgefühl zugehört. Sie sagte schlicht:

„Da kann sich unsereins nur schwer hineinversetzen! Aber jetzt verstehe ich noch besser als bisher, daß Sie für eine Frau, die nur dem Namen nach Ihre Mutter ist, nichts übrighaben können! Aber ich kann auch verstehen, daß zwischen Verbitterung und der Notwendigkeit, sich gegen diese Mutter in offene Feindschaft zu stellen, ein schwerer Weg liegt. Ein Weg, besät mit Dornen und spitzen Steinen. Wenn Sie glauben, zu zweit…“ Sie wurde rot, verbesserte sich: „Also, wenn Ihnen danach zumute ist, sich wieder einmal ordentlich auszusprechen... ja, das hab' ich Ihrem Herrn Bruder versprochen. So oft Sie kommen, werden Sie in meinem Elternhause ein lieber Gast sein.“

Er fühlte deutlich, es hätte nur noch geringer Anstrengung bedurft, das vielumworbene junge Mädchen im ersten Anlauf zu gewinnen. Der Ruf, der ihm vorangegangen, ihre eigene Phantasie hatten ihm den Weg bereitet. Eine gewisse Scheu hielt ihn zurück. Als hätte er in ein sauberes Haus mit unreinen Gedanken treten wollen. Er begnügte sich damit, ihre Hand an die Lippen zu ziehen.

„Haben Sie Dank, Fräulein Ilse! Das Bewußtsein, gute Freunde zu besitzen, wird mir in den kommenden schweren Tagen über vieles hinweghelfen.“

Frau von Hakenberg kam mit erhitztem Gesicht aus der Küche. Sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, die Zubereitung einer gewissen leckeren Pastete nicht der Mamsell zu überlassen, und sah nun zu ihrem mißvergnügten Erstaunen, daß sie hier oben vielleicht nötiger gewesen wäre. An der Stelle dessen, für den die Pastete bestimmt gewesen, saß ein anderer. Da war es kein Wunder, daß sie die Vorstellung dieses jungen Herrn etwas kühl aufnahm und gleich danach verwundert fragte: „Nun, und Henner Stierbach? Ich denke, ihr war't doch zusammen nach den Fohlenkoppeln gegangen?“

„Ganz recht, liebe Mama! Er ist gleich danach abgefahren.“

„Schade, ich war in der Küche, habe es nicht gehört. Und ich hatte doch geglaubt, er würde auch zum Nachtessen bleiben?“

„Er sagte, er hätte eine wichtige Nachricht bekommen, müßte leider sofort nach Hause.“

„So, so“, meinte Frau von Hakenberg. Worin diese „wichtige Nachricht“ bestanden hatte, brauchte ihr niemand zu erklären. Und sie hatte Mühe, ihre Enttäuschung über die schmähliche Niederlage ihrer mütterlichen Diplomatenkunst zu verbergen. Der Korb schien diesmal besonders verletzend ausgefallen zu sein. Früher, in ähnlichen Fällen, war der Graf Stierbach immer dageblieben, um der Mutter der Halsstarrigen sein Leid zu klagen, sich bei ihr Trost und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu holen...

„Ihrem Herrn Bruder in Berlin geht es gut?“ fragte sie den Assessor von Dolinga zerstreut.

„Danke der gütigen Nachfrage, gnädigste Frau! Er hat mir recht herzliche Grüße und eine ganz gehorsame Empfehlung aufgetragen.“

„Vielen Dank! Und irre ich mich, oder ist Ihr Herr Kollege Heidenreich nicht mitgekommen?“

„Doch, gnädige Frau! Ich denke, er muß jeden Augenblick erscheinen. Er stieg vor dem Park aus, sagte mir, er habe irgendeinem Ihrer Angestellten eine Bestellung auszurichten.“

Da flog über Frau Klaras Gesicht ein Schimmer der Befriedigung. Diesen „Angestellten“ glaubte sie zu kennen, und der voraussichtlich erzielte Teilerfolg stimmte sie freundlicher. Sie erkundigte sich liebenswürdig, ob Viktor eine gute Reise gehabt habe, wie er mit seinem Quartier im Gasthof und dem Eindruck des Städtchens zufrieden sei. Er gab verbindliche Auskunft, mußte dabei denken, auf dem so auffällig betonten Gang zur Fohlenkoppel schien sich einer wieder mal einen Korb geholt zu haben; einer, dessen Werbung von der Mutter begünstigt wurde... Das erfüllte ihn mit aufrichtiger Befriedigung.

Und er fragte sich, wie diese stattliche Dame einmal seine Werbung aufnehmen würde...

Dröhnende Gongschläge hallten durchs Haus, riefen zum Essen. Die Herren kamen, noch heiß von der lebhaften Bridgepartie, aus dem Spielzimmer, es gab eine allgemeine Vorstellung und Begrüßung. Der Hausherr schüttelte dem Gast kräftig die Hand.

„Meinem alten Uli geht es gut?“

„Danke verbindlichst, ausgezeichnet!“

„Freut mich von Herzen! Aber eine Frage: Spielen Sie Bridge?“

„Zu dienen“, antwortete er, etwas verwundert.

„Na, denn stellen Sie sich mal, bitte, vor, ich sitze mit einem riesigen Sans-Atout da. Drei Farben, geschlossen von oben, bloß in Treff Renonce! Chrzanowski hinter mir überbietet mich mit zwei Treff, ich halte natürlich den Mund, mein Partner Schenk aber sagt forsch: 'Zwei Ohne!' Aha, denk' ich, er hat die Deckung in Treff, gehe, von Chrzanowski weiter gereizt, auf drei Ohne. Kriege natürlich ein Double, und wir werden fast Schlem! Können Sie sich vorstellen, wie die Schenksche Unterstützung in Treff aussah? Drei kleine hatte er, absolut nichts weiter, das war sein ganzer Stolz! Und was sagen Sie nun bloß dazu?“

„Hm, vielleicht wäre es möglich gewesen, sich nach dem Doublé mit vier Coeur aus der Schlinge zu ziehen?“

„Da, siehst du?“ krähte Herr von Schenk triumphierend. „Außerdem, hast du's schon mal erlebt, daß Haßdorf aufpaßt, was sein Partner bietet? Und ihm seine starke Farbe ausspielt? Konnte ich ahnen, daß gerade diesmal eine sonst so sichere Spekulation vorbeigelingen würde?“

Es folgte ein fröhliches Gelächter, der Hausherr wandte sich zu der Gattin.

„Na, Klärchen, wie ist's? Gibt's bald was zu futtern?“ Er liebte es nicht, nach dem Gongsignal noch stundenlang — wie er sich ausdrückte — auf der Diele sich die Beine in den Leib zu stehen.

„Einen Augenblick bloß noch“, sagte Frau von Hakenberg mit gewohnter Sanftmut, „wir sind noch nicht ganz vollzählig.“

Da kam wie aufs Stichwort das fehlende Pärchen zur Tür herein. Herr von Hakenberg sagte ungeduldig: „Na, denn vorwärts, los! Sie, Herr von Dolinga, haben den Vorzug, meine Gattin zu Tisch...“

Weiter kam er nicht, sah zu seinem grenzenlosen Erstaunen, wie sein geliebtes Nesthäkchen sich der Mutter mit einem lauten Aufschluchzen an die Brust warf. Der Assessor Heidenreich aber trat auf ihn zu, zerquetschte ihm fast die Hand, schwatzte allerhand törichtes Zeug von Vertrauen, das er nicht enttäuschen werde... Erst als die „grüne Pille“ ihm mit komischem Beileid den Rücken klopfte: „Fassung, Bombe, du sollst Schwiegerpapa werden“, ging ihm ein Licht auf.

„Ach so! Das muß einem Menschen doch gesagt werden! Und was meinst du denn nun dazu, liebes Klärchen?“

„Ja, liebes Heinochen“, erwiderte Frau von Hakenberg, „ich bin, genau so wie du, geradezu sprachlos! Solche Heimlichkeiten hinter dem Rücken der Eltern? Da weiß ich wirklich nicht, was man dazu...“

Herr von Hakenberg reckte sich energisch heraus.

„Sagen soll? Na, dann werd' ich dir sagen, was man dazu sagen soll! Habt ihr euch lieb, Kinder?“

„Und wie, Pappi! Ganz schrecklich!“

„Und Sie, junger Heidenreich, werden Sie mir das Mädel glücklich machen?“

„Darauf können Sie sich verlassen, Herr von Hakenberg!“

„Siehst du, Klärchen, so macht man das! Wenn zwei Kinder sich von ganzem Herzen...“ Er begann durch die Nase zu schnüffeln, weil er fühlte, daß die Rührung ihn zu übermannen drohte... „Und ja, wenn ein so famoser junger Mann... da würde ich doch meine ganze Autorität als Haupt der Familie...“

„Mensch, streng' dich nicht an“, sagte die „grüne Pille“ halblaut, „sie hat ja auch nichts dagegen“, und bekam dafür von der Hausfrau einen strafenden Blick. Laut aber sagte sie bescheiden:

„Du weißt, liebes Heinochen, in diesem Hause gibt's nur einen Willen, den deinigen! Also, Irmgard, geh' hin, küß deinem lieben Papa dankbar die Hand...“

„Ach was, Hand, Hand“, rief der Hausherr, „hier heran!“ und schloß sein liebes Mädel in den linken Arm. „Für Sie aber, junger Heidenreich, ist auf der anderen Seite Platz.“

Da umhalste der Assessor Heidenreich ihn von der rechten Seite, es tat der Feierlichkeit des Augenblickes keinen Abbruch, daß er durch übermäßige Körperlänge die Symmetrie der Gruppe empfindlich störte. Und es herrschte bei der nachfolgenden Beglückwünschung viel freudige Rührung. Nur Herr von Schenk konnte die üblichen mokanten Randglossen wieder einmal nicht unterdrücken. Dem neugebackenen Schwiegervater sprach er neidische Hochachtung aus, weil in seinem Hause nichts ohne seine ausdrückliche Genehmigung geschehen dürfe, vor der jungen Braut bezeichnete er sich als eigentlichen Stifter ihres Glücks. Ohne die befriedigende Auskunft über die Ungefährlichkeit der Heidenreichschen Nasen wäre es wohl kaum zu der Verlobung gekommen.

Bei dem kleinen Fräulein aber geriet er an die Unrechte. Sie erwiderte trocken:

„Lieber Onkel Pille, an einer Nase kann man vorbeiküssen. Aber — du wirst mir zugeben — bei einem bösen Mundwerk ist das nicht gut möglich!“

Da hatte sie die Lacher auf ihrer Seite, man ging in fröhlichster Laune zu Tisch. Nur Frau Klara hatte Mühe, ihre tiefe Verstimmung zu verbergen. Sie war felsenfest überzeugt, ohne das plötzliche Auftauchen dieses „interessanten“ Herrn von Dolinga hätte ihr lieber Heino vor dem Putenbraten heute zwei Schwiegersöhne willkommen heißen dürfen! Aber noch war nicht aller Tage Abend. Morgen vormittag fuhr sie zunächst einmal nach Norkitten hinüber zu einer Aussprache mit ihrer gräflichen Kusine, und dann mußte man weiter sorgen. In Düsseldorf hatte sie gute Freunde, und ihr wollte scheinen, ein so außergewöhnlich schöner junger Mann müsse dort einiges aus dem Kerbholz haben. Allerhand leichtfertige Liebeshändel, die geeignet sein dürften, ihn in den Augen eines rein empfindenden jungen Mädchens erheblich zu schädigen... In ihrer Hauspolitik huldigte Frau Klara dem sonst so verwerflichen Grundsatze, daß der gute Zweck auch die zu ihm führenden Mittel heilige. Und gab es wohl einen besseren Zweck, als ein geliebtes Kind vor einer Verbindung zu bewahren, die aller menschlichen Voraussicht nach unglücklich ausschlagen mußte?

Indessen aber ging das Schicksal seinen Weg, unbekümmert um mütterliche Sorgen und Pläne. Und der Hausherr selbst war es, der ihm den Anstoß gab. Er hob sein Glas.

„Willkommen im Hause Hakenberg, Herr von Dolinga! Und mir fällt eben ein, ich habe mich bei Ihnen noch nicht entschuldigt. Wegen des Briefes, den ich an den lieben alten Uli hatte schreiben sollen. Ich bitte Sie herzlich, tragen Sie mir's nicht nach!“

„Aber ich bitte sehr“, erwiderte Viktor verbindlich, „zu einer Entschuldigung liegt wirklich keine Veranlassung vor. Jemand hat mir ein kluges Wort gesagt, das in mir nachschwingt, vielleicht weil es zugleich so einfach gewesen ist: 'Alles auf dieser Welt ist Fügung'. Und von meinem lieben Bruder Ulrich habe ich gelernt, je schwerer eine Pflicht, desto williger muß man sie auf sich nehmen. Ich glaube, er hätte mich hierhergeschickt, selbst wenn er Ihren Brief erhalten hätte. Er ist der Ansicht, wir Dolingas haben hier einiges gutzumachen, was als ein Makel an unserem alten Namen sitzt.“

„Bravo“, sagte der Hausherr erleichtert. „Na, denn wollen wir mal auf Ihren Bruder Uli trinken! Ich weiß von ihm, wie sehr Ihre Erziehung ihm am Herzen lag. Also, prosit, er soll leben!“

Bei dem allgemeinen Anklingen der Gläser sah Frau von Hakenberg, daß ihre sonst so spröde Älteste mit diesem schönrednerischen Assessor einen höchst seltsamen Blick des Einverständnisses tauschte. Und sie fragte sich mit Erschrecken: War es schon so weit, daß zwischen den beiden ein leichtes Feuerlein brannte? Da mußte man schleunigst dafür sorgen, daß es aus Mangel an Nahrung rasch wieder ausging. Und sie begann schon jetzt über Kopfschmerz zu klagen, um einen triftigen Vorwand zu haben, sich gleich nach Tisch mit den beiden Töchtern zurückziehen zu dürfen. Herr von Hakenberg aber spann das einmal angeschlagene Thema unbekümmert weiter.

„Wissen Sie“, sagte er zu dem Assessor, „was schon lange mein Lieblingswunsch ist? Ihren Bruder Uli hierherzuziehen! Dazu wäre jetzt eine famose Gelegenheit. Der Besitzer von Amalienau hat abgewirtschaftet, muß verkaufen. Ich glaube, wenn man ihm ordentlich ins Gewissen redet, wird ihm klar werden, daß er den preußischen Offiziersrock, den er doch eine ganze Weile getragen hat, nicht durch einen Pakt mit unseren Feinden schänden darf. Außerdem aber bleibt's immer noch ein gutes Geschäft, selbst wenn Ihr Bruder diesen polnischen Grafen um etliche tausend Mark überbietet. Ich verbürge mich dafür, bei ordentlicher Wirtschaft ist das Gut sehr bald wieder im Flor. Ich selbst will mich darum kümmern und dem guten Uli einen Inspektor an die Seite stellen, dem er vertrauen kann wie sich selbst. Die Hauptsache aber, wir kriegen endlich einen Mann her, wie wir ihn haben müssen! Einen Führer, der uns Deutsche unter einen Hut bringt. Seien wir doch ehrlich, unser Kampf gegen das zielbewußte und fest organisierte Polentum ist doch nur ein unordentliches Gezoddel. Eine Schützengilde gegen ein kriegsmäßig einexerziertes und bewaffnetes Bataillon! Und nicht zuletzt, wir kriegen eine Persönlichkeit her, die den Herrschaften in Berlin klarmacht, daß die Ostseite unseres deutschen Hauses lichterloh brennt. Daß da nicht wie bisher mit Kaffeetätzchen gelöscht werden muß, sondern endlich mit der großen Dampfspritze! Aber bald! Noch zehn Jahre so weiter wie jetzt, und es ist zu spät!“

„Sehr richtig“, sagte Herr von Chrzanowski, „in zehn Jahren wird es heißen: Finis Borussiae!

Und Herr von Schenk bemerkte spitz: „Liebes schwarzes Gemüse, bezähm' dich, ich hab' meine Rede ja noch nicht gehalten! Aber zu dem leidigen Thema Berlin möchte ich bemerken: Als ich unlängst dort war, wurde ich von meinem Vetter Legationsrat auch über die Polengefahr belehrt. Auch sie existiert nur in unserer Einbildung, genau so wie der drohende Krieg mit Rußland! Ich sage: Mensch, Vetter, Legationsrat, komm zu uns nach Masuren, und dir werden vor dieser Gefahr die Augen übergehen! Von Posen, Westpreußen, Oberschlesien, dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet und der Ostecke Pommerns gar nicht zu reden! Das ist, wenn du die Güte haben wolltest, dir die Landkarte anzusehen, ein ganz hübsches Ende vom Königreich Preußen. Da frage ich submissest, was liegt in den Intentionen einer hohen Staatsleitung? Soll dieses Stück Preußen deutsch bleiben oder in ein paar Menschenaltern polnisch sein?' Und er darauf, so recht von oben 'runter, so überlegen lächelnd, wie's eben nur ein geborener Staatsmann fertigkriegt: 'Jetzt kommt gleich der Schrei nach dem Ausnahmegesetz! Ihr Herren im Osten scheint immer noch nicht zu begreifen, daß diese kurzsichtige politische Methode — gottlob — gründlich abgewirtschaftet hat!' Ich frage bescheiden, wie mir's zukommt: 'Wieso abgewirtschaftet, lieber Vetter? Könnte man nicht der Ansicht sein, daß sie bloß nicht lange genug ausprobiert worden ist? Ich bin ja nur ein kümmerlicher Landbewohner mit dem uns leider eigenen, ganz beschränkten Gesichtskreis. Aber sollte man es in der hohen Politik nicht ähnlich halten wie in einem verständig bewirtschafteten Garten? Hack' ich einen jungen Baum vielleicht um, weil er mir nicht gleich im ersten Herbst zwei gehäufte Scheffel Äppel bringt? Und pflanze ich eine Kiefernschonung etwa für mich oder meine Enkel? Also da meine ich, ein bißchen mehr Geduld und Nerven, ihr Herren von der Hochwohlweisen, stets infalliblen Staatsregierung! Auch die Früchte eines neu gepflanzten Gesetzes kann man nicht in ein paar Monaten ernten!... Oder ad vocem Ausnahmegesetz — wie würdest du einen mit widerspenstigen Jungen gestraften Hausvater beurteilen, der eine strenge Erziehungsmethode in die Ecke schmeißt, weil sie aus den bösartigen Rangen nicht in kurzen sechs Wochen leibhaftige Engel gemacht hat?' 'Einen Tropf würde ich ihn nennen', sagt er, 'aber solche billigen Beispiele haben doch nur eine sehr mäßige Beweiskraft!'... 'Und weshalb?' frage ich, noch immer ganz ruhig. 'Ist der Staat denn nicht aus der Familie erwachsen wie der Haselstrauch aus der Nuß? Sollte es da wirklich so verkehrt sein, die Grundsätze, nach denen ein kluges Familienoberhaupt sein Haus verwaltet, auch auf den Staat zu übertragen? Den Grundsatz zum Beispiel, daß die fügsamen Kinder in verdienter Freiheit, die widerspenstigen aber in harter und strenger Zucht gehalten werden?'... Er sieht mich mitleidig lächelnd an: 'Unverbesserlicher Ostelbier! Ich sehe dich ordentlich vor mir, wie du auf deinem Hof mit dem Stock regierst! Wer nicht Order pariert, kriegt ein paar Gehörige über das Kreuzstück gezogen…' Da wurde ich natürlich falsch: 'Ich aber sehe, lieber Vetter, du hast mit großem Erfolg eine gewisse Sorte von Zeitungen gelesen! Ich kann dir von den 'Ostelbiern' noch mehr verraten. Ihre Tagelöhner hausen in Wohnungen, für die sich ein Schwein bedanken würde, der halbverhungerte Schulmeister unterrichtet in einer zugigen Scheune ohne Dach und Wände, und der Gutsherr prügelt zum Frühstück den Inspektor, zu Mittag den Vogt, zum Abend die Hofgänger; die männlichen natürlich nur. Die weiblichen... ach so, pardon... also in moralischer Hinsicht ungefähr so was wie das 'kranke Pferd' auf der ersten Seite des Tierarzneibuches. In Wirklichkeit aber?... Ein sorgenvoller Mann, der seine Arbeiter wie rohe Eier behandelt. Weshalb und warum? Weil sie ihm sonst — der höheren Industrielöhne wegen — ausreißen, nach Rheinland und Westfalen!... Ihr Herren von der hohen Staatsleitung aber? Da muß ich dir doch — Wurst wider Wurst — sagen, wie wir euch beurteilen! Schlechte Schulmeister seid ihr, keine Ahnung von Pädagogik! In der ersten Stunde verhaut ihr die Klasse, daß die Fetzen fliegen, in der zweiten füttert ihr sie mit Bonbons, laßt sie über Tisch und Bänke toben, nach euch mit den Tintenfässern schmeißen. In der dritten Stunde sitzt ihr wie der Leipziger Greis, der sich nicht zu helfen weiß, auf eurem Katheder, ringt die Hände über diese Rangen, in die absolut keine Räsong 'einzubringen ist. So sieht für 'nen vernünftigen Menschen eure Polenpolitik aus! Ein einziges Hinundhergezoddel! Da meinte er höhnisch: 'Liebe grüne Pille, ich werde meinen ganzen Einfluß aufbieten, dir den Posten als preußischer Ministerpräsident zu verschaffen! Dann kannst du ja dein Heil mit dem Ausnahmegesetz versuchen. Ich gebe dir aber schon heute Brief und Siegel, in sechs Wochen ziehst du dich, schmählich geschlagen und ausgelacht, wieder auf deine Klitsche zurück!' 'I bewahre,' sag' ich, 'sondern ich krieg' auf dem Schloßplatz in Posen ein Reiterstandbild als Retter des Vaterlandes! Es handelt sich bloß darum, den preußischen Volksboten begreiflich zu machen, daß die Frage, wie wir mit unseren Polen fertig werden, die Schicksalsfrage Preußens und Deutschlands ist! Den Herren höflichst zu bedenken geben, ob es angängig ist, nach dem Versagen aller bisher angewandten Mittel die Hände in den Schoß zu legen und die Karre laufen zu lassen, wohin sie will?... Ob es da vielmehr nicht nötig ist, die Polen durch ein für sie besonders zugeschnittenes Gesetz ein paar hundert Jahre lang in verdiente harte, aber gerechte Zucht zu nehmen? Alles, was wir bisher versucht haben, hat vollkommen Schiffbruch gelitten. Am allermeisten die sogenannte Versöhnungsära. Die staatliche Ansiedelungspolitik verschlingt Hunderte und aber Hunderte Millionen Geld, ihr einziger Erfolg besteht darin, daß im Osten das Deutschtum in der Polenflut noch nicht ganz und gar ersoffen ist! Und weiter: Sollte es den Herren Volksboten, die ja selbst berufsmäßig Gesetze machen, nicht einleuchten, daß alle Gesetze ganz bestimmte Zwecke haben? Unsere deutschen und preußischen Gesetze insbesondere den, unter Wahrung aller verfassungsmäßigen bürgerlichen Rechte und Freiheiten den gesicherten Fortbestand Deutschlands und Preußens zu garantieren! Was macht man also mit den Leuten, die diese Gesetze als wirksame Angriffswaffen gegen den preußischen Staat benutzen? Man nimmt ihnen diese Waffen weg! Ein Messer zum Beispiel ist ein gutes und nützliches Ding. Wenn dir aber einer deiner Hausgenossen damit an die Kehle will, wirst du da sagen, jeder Mensch hat ein Recht auf sein Messer, also darf ich's ihm um Himmels willen nicht konfiszieren...?' 'Wenn du mit solchen Argumenten kommst', sagt mein Vetter, 'wirst du glatt ausgelacht!' 'Schön', sag' ich, 'dann muß ich's andersrum versuchen! Jeden Morgen den Herren Volksboten einen Auszug aus den polnischen Zeitungen auf den Frühstückstisch legen. Wenn sie da nicht nach vier Wochen schon die Hände über dem Kopf zusammenschlagen vor Entsetzen, was nämlich diese Zeitungen unter dem Schutz der preußischen Preßfreiheit an Hetzarbeit gegen alles Preußische und Deutsche leisten, also dann will ich für den Rest meines Lebens nichts als Wasser trinken! Und wenn auch das nicht hilft, geb' ich den Herren alle drei Monate einen mit genauen Zahlen belegten Überblick über die in dieser Zeit von den Polen in ihrem Kampf gegen das Deutschtum erzielten Fortschritte. Da ist einiges drunter, was ihnen zu denken geben dürfte! Ist's dir zum Beispiel bekannt, daß allein im ostpreußischen Regierungsbezirk Allenstein in der kurzen Zeit von sieben Jahren die Zahl der rein polnischen Besitzer von siebenundsechzig auf dreihundertsechsundfünfzig gestiegen, der Grund und Boden aber, der auf diese Weise aus deutscher in polnische Hand übergegangen ist, von rund achtzehntausend auf mehr als fünfundachtzigtausend Morgen gewachsen ist?' 'Nein', sagt er, 'diese Zahlen sind mir neu.' Und ich mit Triumphgeheul: Ma siehst du? Wenn du nun zu diesen dreihundertsechsundfünfzig Gutsbesitzern die Tausende und aber Tausende von polnischen Arbeitern und Tagelöhnern rechnest, die von ihnen ins Land gezogen werden; wenn du dazu hältst, daß für diese polnische Kundschaft in den bisher rein deutschen Städten sich polnische Kaufleute und Handwerker niederlassen, die deutschen Kaufleute und Handwerker aber von den Polen ebenso boykottiert werden wie in Posen, Westpreußen und Oberschlesien, haben wir da nicht ein gutes Recht, von einer 'Polengefahr' zu sprechen?' 'Hm', macht mein Vetter. 'Aha ', sag' ich, 'Inkulpat stutzt!' und geh' ihm weiter ans Leder. 'Das dickste Ende kommt noch, mein Jungchen! Kennst du das berühmte Exempel von dem Schachbrett und dem Weizenkorn? Na, dann rechne mal: Wenn sich in der erstaunlich kurzen Zeit von sieben Jahren die Zahl der polnischen Besitzer mehr als verfünffacht hat, wie wird's da in Ostpreußen in siebenmal sieben Jahren aussehen? Und noch eine Frage! Weshalb brechen die Polen in so starker Zahl gerade in den an Russisch-Polen grenzenden Bezirk Allenstein ein? Siedeln sie sich in Masuren und Ermland vielleicht wegen der schönen Gegend, des milden Klimas oder des guten Bodens an? Ah nein, das alles können sie weiter im Westen ebenso gut, wenn nicht besser und schöner haben! Also da muß hinter diesem auf eine ganz bestimmte Gegend gerichteten Einbruch doch ein fest umrissener Plan stehen! Ist dir das klar?' 'Nicht so ganz,' sagt er ironisch, 'aber du wirst ihn mir schon entwickeln!' 'Gewiß werd' ich das! Oder gehörst du auch zu den Superklugen, die immer noch nicht daran glauben wollen, daß alles Dichten und Trachten der Polen, all ihre Arbeit in Politik und Volkswirtschaft, ihr Wühlen in Vereinen und Hetzen in Zeitungen nur einem einzigen Ziel gilt, nämlich der gewaltsamen Wiederaufrichtung des alten Königreiches? Und daß zu diesem Königreich nicht nur Danzig, sondern auch Königsberg mit ganz Ostpreußen gehört?' Und er darauf wieder mit dem überlegenen Lächeln des geborenen Diplomaten: 'Ich halt es für ein Märchen, aber, bitte, nur weiter!' 'I wo,' sag' ich, 'meinst du, ich hab' Lust, mit dir weiter leeres Stroh zu dreschen? Aber einen Gefallen mußt du mir noch tun: Bei wem hast du eigentlich die Staatswissenschaften erlernt?' 'Weshalb?' fragt er in mißtrauischer Erwartung einer meiner bekannten Niederträchtigkeiten. Und ich ganz harmlos: 'Ja sieh mal, mein Jüngster quält mich schon lange, er möchte so gerne was lernen, wozu man keinen besonderen Verstand braucht, nur so ein gewisses Selbstge

fühl, und da dachte ich…“Herr von Schenk unterbrach sich unter dem Lachen seiner Zuhörer, hob gegen die mit leidender Miene dasitzende Hausfrau das Glas.

„Dein Wohlsein, verehrtes Klärchen! Ich weiß, all diese Fragen langweilen dich entsetzlich. Aber diesmal war dein lieber Heino das Karnickel, und meine Geschichte hat noch eine Pointe. Die ergebene Frage nämlich, wie sich euer lieber Gast, Herr von Dolinga, zu ihr stellt?“

„O, bitte sehr“, erwiderte Frau von Hakenberg süßsauer, „die heutige Zusammenkunft hatte ja keinen anderen Zweck als den einer Aussprache über politische Fragen. Also, Herr von Dolinga...?“

Viktor verneigte sich leicht.

„Verbindlichsten Dank, gnädige Frau, ich werde mich recht kurz fassen. Die Frage des Herrn von Schenk beantworte ich wohl am besten damit, daß ich hier nach Masuren nicht als Fertiger, sondern als Lernender komme! Mit der Bitte, von seinen reichen Erfahrungen und denen der anderen alteingesessenen Herren möglichst viel und oft profitieren zu dürfen. Wenn ich eine Ansicht mitgebracht habe, so deckt sie sich vollkommen mit der meines verehrten Herrn Vorredners. Ich könnte ihm auch einige Beispiele anführen, wie wenig man draußen im Reich über die Frage unterrichtet ist, die uns hier im Osten oberste und schwerste Sorge ist! Und leider auch, wie gleichgültig man dieser Sorge gegenübersteht. Da müssen wir so lange und laut unsere Stimme erheben, bis wir an der entscheidenden Stelle gehört werden. Es geht nicht an, daß dieses Stück Vaterland, mit deutschem Blut erobert, mit deutscher Kultur gefördert und erzogen, an die Polen verlorengeht! Ich habe die Ehre, heute in einem Hause zu Gast zu sein, dessen Begründer mit unter denen war, die deutsche Gesittung und deutsches Wesen nach dem Osten trugen, den 'Brüdern vom deutschen Hause'. Ich danke von ganzem Herzen für die so gütige Aufnahme, danke für die Gelegenheit, ein begreifliches, aber unverdientes Mißtrauen entkräften zu dürfen, und wünsche diesem vom Grund bis zum First rein deutschen Hause ein starkes Blühen und Gedeihen für alle Zeit! Mein sehr verehrter Herr von Hakenberg, ich bitte um die Erlaubnis, auf Ihr Wohl sowie das Ihrer Damen trinken zu dürfen!“

Er leerte sein Glas und fühlte nicht, wie sehr er in diesen Minuten eigentlich Pole war. Daß er mit Begeisterung für eine Sache einzutreten vermochte, die ihm vor wenigen Tagen noch herzlich gleichgültig gewesen...

Im Augenblick spürte er nur den Triumph, daß ihm aus einem Paar schöner Mädchenaugen ein verheißungsvoller Gruß zuflog, daß die Herren ihm mit Vertrauen und Befriedigung die Hand schüttelten. Da verschlug es ihm wenig, daß die Hausfrau ihrer unerträglichen Kopfschmerzen wegen dem ersten Beisammensein ein frühes Ziel setzte. Er fuhr in gehobener Stimmung neben dem Assessor Heidenreich in einem Ottenwalder Wagen nach Hause. Der Lange hatte sich eine seiner dicken Zigarren angesteckt, schimpfte zuerst ein wenig über den viel zu kurzen Verlobungsabend, begann dann aber glückselig zu plaudern, wie er sich nach einem Brautstand von wenigen Wochen das Leben einzurichten gedenke. Raus aus dem Staatsdienst und mit beiden Füßen hinein in die Arbeit auf eigenem Besitztum! Und wenn er abends auf müdem Gaul vom Feld geritten kam, stand auf der Freitreppe vor dem alten Alksnupöner Hause eine, die ihn erwartete. Eine Zierliche, Feine, sah ihm mit lachenden Augen entgegen... Viktor hörte lächelnd zu, wie der andere schwärmte. Auch sein Weg schien endlich klar vor ihm zu liegen. Er hatte sich entschieden, es gab kein Schwanken noch Zaudern mehr. Und er schickte seine Gedanken in eine hoffentlich nicht allzu ferne Zukunft... Eine Zukunft, die ihn in rascher Laufbahn in eine ganz bevorzugte Stellung brachte. An der Seite einer eleganten, klugen und schönen Frau, so recht geeignet, einem glänzenden Haushalt vorzustehen...

Auch sein Hotelzimmer im „Schwarzen Adler“ nahm sich freundlicher aus als am ersten Abend. Der Oberkellner Louis gab ihm das Geleit, erzählte mit Stolz, daß er keine Mühe gescheut habe, die elektrische Lichtleitung in Ordnung bringen zu lassen, und wies auf einen auf dem Sofatische stehenden Blumenstrauß; eine Aufmerksamkeit der über den hohen Besuch beglückten Frau Wirtin. Im Ofen knallten die Tannenscheite eines behaglichen Feuerleins, Herr Louis bemerkte, dem Frühling im Osten sei nicht zu trauen. Am Tage Sommer, des Nachts unfreundlicher Winter, bei mangelnder Vorsicht könne man sich bei diesem verrückten Klima die schönste Erkältung holen. Die klugen Bauern zögen deshalb auch vor Pfingsten den wärmenden Schafpelz nicht aus. Und als allerneueste Neuigkeit — zuverlässige Information seines Freundes Katzorrek junior — erzählte er, der polnische Prinz werde in Friedrichstein nicht erst in einigen Wochen, sondern schon in den allernächsten Tagen erwartet. Mit ihm zugleich mehrere Herren und Damen aus der vornehmsten polnischen Gesellschaft. Angeblich zur Geburtstagsfeier des Herrn Grafen. In Wirklichkeit aber werde es wohl eine Verlobungsfeier geben. Die Komteß Jelena nämlich sei schon heute mit dem Berliner Abendzuge gekommen...

Als der Herr Regierungsassessor in merkwürdigem Gegensatz zu der leutseligen Unterhaltung beim Frühstück auf diese Mitteilungen keinen Wert zu legen schien, empfahl sich Herr Louis mit korrektem Serviettenschwung und dem Wunsche angenehmer Nachtruhe. Viktor aber schickte ihm eine ingrimmige Verwünschung nach.

Der Teufel hatte den schwatzhaften Burschen geritten, ihm diese Neuigkeit zu versetzen! Er hatte vorgehabt, dem Bruder in Berlin bei einer behaglichen Zigarette einen Bericht über den verflossenen Tag zu geben, ihm für die Einführung im Hakenbergschen Hause zu danken und den starken Eindruck zu schildern, den das schöne Fräulein Ilse auf ihn gemacht habe. Jetzt ging er in dem hellerleuchteten Zimmer ruhelos auf und ab, eine irrsinnige Eifersucht im Herzen. Was halfen alle guten Vorsätze und festen Entschlüsse, wenn er von dieser Leidenschaft nicht loskam? Was half ein laues Gegenmittelchen bei einem verzehrenden Fieber, das wie Feuer in den Adern brannte? Man glaubte es überwunden, ein Hauch fachte es wieder an, daß die Flammen hoch emporschlugen, alles auffraßen, was man als Schutzwehr errichtet hatte! Vernunft, Selbstbeschimpfung, Stolz und Gewissen... Da gab es nur den scharfen Schnitt, der das Übel mit der Wurzel ausrottete.

Er setzte sich an den Tisch, schrieb ohne Besinnen die Verfügung, laut der die Gräfin Valeska Komierowska, geschiedene Freifrau von Dolinga, geborene Komteß Napieha zu verantwortlicher Vernehmung über ihre Staatsangehörigkeit vor das Landratsamt Heinrichsburg geladen wurde. Er versiegelte das Schreiben mit seinem Wappenring, trug es in den am Hause angebrachten Briefkasten. Danach wurde ihm ein wenig leichter zumut. Der Schnitt war vollzogen. Er ging so tief und war so breit, daß kein törichter und verbrecherischer Wunsch mehr auf die andere Seite langen konnte.

Auch in den „Fräuleinszimmern“ von Ottenwalde brannte in dieser Nacht noch lange Licht. Ilse Hakenberg hatte am Bett der kleinen Schwester gesessen, bis diese sich in junger Brautseligkeit nach wohl zehnmaligem Erzählen der „entscheidenden Aussprache“ mit all ihren so „fabelhaft interessanten“ Nebenumständen in den Schlaf geschwatzt hatte. Sie deckte die Kleine sorglich zu, ging in ihr Zimmer hinüber, um nach dem Wunsch des Vaters dem alten Freunde in Berlin über das zum Verkauf stehende Gut Amalienau zu berichten. Daran schloß sie eine Schilderung des Besuches, den der jüngere Bruder abgestattet hatte. Daß diese Schilderung recht ausführlich wurde, lag am Stoffe. Gab es wohl je einen Sohn, dem sein Amt härtere Pflichten auferlegt hatte? Und sie bat den Geheimen Rat herzlich, einen Weg zu suchen, der es dem jüngeren Bruder ermöglichte, sich aus diesem Zwiespalt ohne Einbuße an Ansehen und Selbstbewußtsein zu lösen.

Sie schrieb mit rascher Feder und heißen Wangen. Als sie fertig war, barg sie den Brief im Umschlage, ohne ihn noch einmal zu überfliegen. Was lag daran, wenn der gute Freund, dem sie in kurzen Wochen nähergetreten war als anderen in Jahren, zwischen den Zeilen zu lesen verstand? Oder aus einem raschen Wort ersah, daß der heutige Tag ihrem Herzen endlich das entscheidende Erlebnis gebracht hatte? Seine kluge Hand war es ja gewesen, die unmerklich ihr Schicksal gelenkt hatte! Vielleicht, weil er der einzige war, der ihr innerstes Wesen verstand; ihren unbändigen Stolz, sich nur einem zueigen zu geben, zu dem sie emporsehen mußte...

Dieser Brief gelangte ebensowenig in die Hand des Geheimen Rates von Dolinga wie der, den am Abend vorher der jüngere Bruder geschrieben hatte. Am Morgen nach dem Beisammensein im Esplanadehotel wartete seine alte Wirtschafterin vergebens mit dem Frühstück. Als sie sich endlich entschloß, an die Schlafzimmertür zu klopfen, antwortete ihr ein Stöhnen. Ihr Herr lag in schwerem Fieber, sie entsann sich, daß er schon ein paar Tage recht elend ausgesehen habe; natürlich wieder einmal, ohne sich die geringste Schonung zu gönnen. Der herbeigerufene Arzt machte ein besorgtes Gesicht, riet dringlich zur Überführung in ein Krankenhaus. Eine Lungenentzündung sei in der Entwicklung, die bei dem schwachen Herzen des Patienten nur bei sorgfältigster Pflege in einer Klinik einen günstigen Ausgang erhoffen lasse... Dort lag der Geheime Rat mehr als zwei Wochen zwischen Tod und Leben. Als er endlich wieder aufstehen und die für ihn eingegangene Post lesen durfte, war es zu spät, ein Schicksal zu wenden, das seinem Herzen teuerer gewesen war als das eigene. Zu spät, ein Verhängnis aufzuhalten, das sich in diesen Wochen mit der Zwangläufigkeit eines Naturereignisses vollzogen hatte. —

11.

 

In einem Zimmer des weitläufigen Schlosses Friedrichstein, dessen Vorhandensein nur der lang gedienten und verschwiegenen Beschließerin Katharina Cech bekannt war, erstattete die Komteß Helena Bericht über ihre Pariser Reise.

Der Raum grenzte an den großen Festsaal, besaß keine Fenster und war auf jede erdenkliche Weise gegen Spione oder unliebsame Überraschung gesichert. Wer die vielfenstrige Front des Schlosses musterte, konnte unmöglich auf die Vermutung kommen, daß der langgestreckte Saal nach der Ostseite hin eins schmale Fortsetzung hatte. Der Eingang war so geschickt in das Holzgetäfel der Wand gefügt, daß ihn ein unberufenes Auge nicht entdecken konnte, eine zweite Tür führte durch einen Schrank aus der großen Bibliothek, im äußersten Notfalle gab es noch eine heimliche Treppe, auf der man in den Schloßkeller und von dort in dichtes Parkgebüsch entkommen konnte. Die Anlage war von einem Krakauer Baumeister mit zuverlässigen polnischen Arbeitern schon im ersten Jahre ausgeführt worden, als Graf Zbigniew Zembricki die preußische Herrschaft Friedrichstein gekauft hatte. Sie fand sich in ähnlicher Form in manchem Schlosse in Russisch-Polen; dem „Weichselgebiet“, wie es nach der letzten unglücklichen Erhebung von 1863 von den moskowitischen Machthabern genannt wurde. Wer heimlichen Zielen nachging, die ihm jeden Augenblick einen Zusammenstoß mit den Spionen und Häschern der feindlichen Staatsregierung bringen konnten, mußte eine gegen Entdeckung geschützte Beratungsstelle haben. Oder einen sicheren Zufluchtsort für gefährdete Parteigänger, an dem diese auf die günstige Stunde zur Flucht über die Grenze passen konnten.

Der hohe Raum enthielt als einzigen Schmuck die Bilder von Thaddäus Kościuszko, Mierosławski und dem letzten König aus rein polnischem Geschlecht, Stanislaw August Poniatowski. Die Bilder hingen auf rotseidener Tapete, in die in regelmäßiger Wiederholung der weiße Adler Polens gewirkt war. Dasselbe Emblem, aus Holz geschnitzt und mit einem schwarzen Trauerflor umhangen, hob sich von der Schmalwand über einem Altar mit Muttergottesbild und Bibel. Zur Rechten und Linken des Altars standen Sensen mit steil geschmiedeter Klinge, verschlissene Fahnen in den russischen und preußischen Farben, Beutestücke aus den ebenso glorreichen wie unglücklichen Aufständen des vergangenen Jahrhunderts. Jedem Polenherzen teure Erinnerungszeichen barg der Raum, und gar manche wichtige Beratung war in ihm gehalten worden. Daß die schwarz-weiße Fahne bei keinem preußischen Truppenteil, sondern auf unblutigem Wege in dem Vereinszimmer der Mogilnoer Freiwilligen Feuerwehr erbeutet worden war, tat dem Wert der aus dem denkwürdigen Jahre 1846 stammenden Trophäe keinen Abbruch. Es ist ja nicht nur polnische Art, Dingen und Ereignissen der Vergangenheit einen schimmernden Mantel umzuhängen...

Um den rotbezogenen, länglichen Tisch in der Mitte saßen neben dem Schloßherrn und seiner Tochter die Gräfin Komierowska mit ihrem Sohne Stanislaw, der feiste Propst und Hauskaplan Swiderski und Pan Severin Zakobielski; ein zaunsteckendürres kleines Männchen, dem in pergamentenem Gesicht unter roter Stumpfnase ein gewaltiger weißer Schnurrbart hing. Pan Severin war einer der wenigen noch lebenden Mitkämpfer der letzten glorreichen Erhebung von 1863. Als achtzehnjähriger Jüngling hatte er an der Seite des großen Diktators Mierosławski gefochten und angeblich Hunderte von Russen mit eigener Hand getötet. Nur, es ging ihm wie manchem alten Weidmann mit den in der Jugend erlegten Böcken. Je älter er wurde, desto höher wuchs selbst diese phantastische Zahl. Zuweilen, in später Stunde bei einem Glase feurigen Weins, erreichte sie die Stärke eines Bataillons. Im Friedrichsteiner Schlosse aß er als entfernter Verwandter der verstorbenen Gräfin ein gern gewährtes Gnadenbrot; man lächelte über seine abenteuerlichen Erzählungen, zuweilen aber wußte er einen pfiffigen Rat.

Die Komteß Jelena berichtete, was sie in Paris von maßgebender Seite, den Leitern des dortigen polnischen Komitees, erfahren hatte. Es stand gut, Gott und der heiligen Jungfrau sei Dank, um die polnischen Zukunftshoffnungen; noch nie waren die Aussichten auf endliche Wiederherstellung des alten Reiches so glänzend gewesen wie jetzt! Die Morgenröte des kommenden Freiheitstages zeigte sich am Horizont.

Die Großfürstenpartei am russischen Zarenhofe — den starken, rücksichtslosen und von der Armee vergötterten Nikolai Nikolajewitsch an der Spitze — war zum Kriege gegen Deutschland und Österreich-Ungarn fest entschlossen. Am liebsten noch in diesem Jahr, es fehlte nur der nicht allzu fadenscheinige Vorwand. Man hoffte ihn in dem trotz aller Friedensschlüsse gärenden Balkan zu finden; wenn nicht, brach man den Konflikt vom Zaun. Der Schwächling auf dem Throne neben seiner verängstigten deutschen Frau war kein Hindernis. Man gewann ihn im guten durch Bestechung des abenteuerlichen Klüngels, mit dem er betete oder Geister beschwor; wenn dies Mittel versagte, schreckte man ihn durch die Drohung einer Palastrevolution. Er wäre ja nicht der erste Zar gewesen, der mit seinem eigenen Portepee erdrosselt wurde...

Frankreich war selbstverständlich sicher; im Juni sollte eine Petersburger Reise des „Revanchepräsidenten“ noch gewisse letzte Abmachungen bringen. Das Volk war durch die unablässige Arbeit des letzten Jahrzehnts mit der Hoffnung auf Rache an Deutschland durchtränkt; immerhin bedurfte es zur Entfesselung des einhelligen Schreis einer geschickten Wendung. Die Emser Depesche war ein vorzügliches Beispiel. Man zweifelte nicht einen Augenblick daran, in der entscheidenden Stunde eine politische Lage herstellen zu können, die jene Leidenschaft aufflammen ließ, in der der Franzose unüberwindlich war... Ob England hingegen trotz aller Versprechungen sofort eingreifen würde, darüber waren die Ansichten an maßgebender Stelle geteilt. König Eduard lebte leider nicht mehr, sein Nachfolger war eine Null. Die Herren in Downingstreet hatten gehetzt und geschärt, mehr als alle anderen Verbündeten zusammen, aber es war alte englische Art, andere ins Feuer zu schicken, um nachher ohne Gefahr den Löwenanteil der Beute in die Scheuern zu fahren. Immerhin war anzunehmen, daß die leitenden Staatsmänner sich durch die einen raschen und gefahrlosen Erfolg verheißende Übermacht bestimmen ließen, vom ersten Tage an mitzumachen. Nur, sie brauchten für die Erregung der sogenannten öffentlichen Meinung ihres Stimmviehs eine ganz besonders zugkräftige Parole! Daß der Deutsche dem Engländer auf dem Weltmärkte Geschäft und Brot stahl, war für die große Masse des „souveränen“ Volkes nicht genug. Es mußte mehr hinzukommen; eine eklatante Beleidigung etwa des bekanntlich so ausgeprägten englischen Gerechtigkeitsgefühls. Im alleräußersten Notfalle hoffte man auf die fürchterlichen und empörenden Greueltaten, die von den barbarischen Deutschen sicherlich schon in den ersten Kriegstagen begangen wurden.

Und Jelena fuhr mit einem ironischen Lächeln fort: „Die Figurimacher am Tiber werden ihrem Haß gegen Österreich und ihren Sympathien für die gerechte Sache der Entente folgen, wenn sie für die eigene Haut nichts mehr zu fürchten haben. Die edlen Nachkommen der Römer aber aus der Gegend von Bukarest werden sich wohl erst beim Halali einstellen, wenn von dem Gescheide des gejagten Wildes den Hunden die curée bereitet wird. Und jetzt kommt für uns Polen erst die Hauptsache!

Die ungeheure russische Übermacht ist in solchen Massen im Westen gestaut, daß die deutsche Grenze im ersten Ansturm überrannt, der Krieg sofort in das Herz des feindlichen Landes getragen wird. Unser geliebtes Vaterland kommt nur als Etappengebiet in Frage, auch der ganze Osten von Preußen soll nach Möglichkeit geschont werden — als zukünftiger russischer Besitz. Wem er in Wirklichkeit gehören wird, darüber wird zu reden sein, wenn es Zeit ist!... Als geringsten Preis für unsere 'loyale' Haltung tragen wir Polen die Wiedervereinigung unseres zerstückelten Leibes davon. Englische und französische Freunde unserer gerechten Sache sind am Zarenhofe energisch bemüht, uns eine weitgehende Selbständigkeit zu erwirken. Man wird sich in Petersburg dazu verstehen. Verstehen müssen, aus Gründen, die den Herrschaften dort ebenso gut bekannt sind wie uns! Der russische Bär hat die Fänge des polnischen Adlers vor kurzen neun Jahren ja deutlich genug gespürt.

Aber der gebenedeiten Mutter Gottes von Czenstochau sei Dank“, fuhr sie mit blitzenden Augen fort, „wir hoffen auf mehr! In dem Plan unserer Gönner in Paris und London steckt ein Rechenfehler. Deutschland wird sich bis zum letzten Blutstropfen wehren, bis es zerschmettert am Boden liegt, und dann kommt unsere Zeit! Eine Million Streiter, gut bewaffnet und exerziert, von Vaterlandsliebe entflammt, steht auf dem Plan! Das russische Heer erschöpft vom Siege, von Krankheiten aufgefressen, von revolutionären Aufwieglern verseucht, wir aber frisch und bereit wie am ersten Tag. Dann können wir sagen, hier sind wir! Und stolz rufen im Bewußtsein unserer Kraft: Weißer Adler, spann' deine Schwingen und flieg'! Flieg' wieder über allem Land, das einst dein war...

Den Mann, der die bewunderungswürdige Arbeit der Vorbereitung für diesen glorreichen Tag geleistet, der die herrliche und eisenfeste polnische Kriegsorganisation geschaffen, habe ich ungefährdet über die Grenze gebracht. So sicher wie er die Fesseln des sibirischen Gefängnisses gesprengt hat, so sicher wird er das Vaterland erretten, der Herrliche, Unvergleichliche! Er hat mir Grüße aufgetragen. Wir sollen nicht nachlassen in der Arbeit und frohen Mutes sein, der Tag der Freiheit ist nahe.“

Graf Zbigniew sah voll Stolz auf die von vaterländischer Begeisterung glühende Tochter, die ihren Bericht erstattet hatte wie ein kluger und in politischen Händeln erfahrener Mann. Pan Severin aber reckte den knochigen Arm, stieß einen schrillen Kampfruf aus. Und zu den Bildern an der Wand schrie er in flammender Begeisterung: „Kosciuszko, Mierosławski, ihr Helden, habt ihr's gehört? Heraus aus eurer Gruft, stellt euch an die Spitze des, Gott sei Dank, nicht mehr schlafenden Heeres, der Tag der Freiheit ist nahe! Du Hündin Deutschland aber verkriech' dich zitternd, die Vergeltung pocht an deine Tür...“

Und er begann mit seiner brüchigen Stimme die „rota“ zu singen, den erst vor wenigen Jahren, beim Wreschener Schulstreik, entstandenen „Schwur“ der Marja Konopnicka, der bei den heimlichen Versammlungen der Polen fast die alte Nationalhymne verdrängt hatte:

 

Sie sollen aus der Heimat uns nicht treiben

Nicht rühren an der Sprache Heiligtum!

Denn Polen sind wir, wollen Polen bleiben.

Ein Volk, beglänzt von der Piasten Ruhm.

Dem Feinde trotze grimmer Widerstand —

So helf' uns Gottes, des Allmächtigen, Hand!

 

Auf, laßt uns kühn mit unsrem Blute zeugen

Für Polens Geist, der hehr, unsterblich siegt.

Wenn sich der Feind tief in den Staub muß beugen.

Der Ordensritter Macht zerbrochen liegt.

Ein Bollwerk sei ein jedes Haus im Land —

So helf' uns Gottes, des Allmächt'gen, Hand!

 

Kein Deutscher mehr soll hündisch uns beflecken,

Keins unsrer Kinder werd' uns deutsch gemacht!

Das goldne Horn, es wird die Schläfer wecken,

In Waffen klirrend, stürmen sie zur Schlacht.

Des Hornes Ruf, er sprengt der Seelen Band —

So helf' uns Gottes, des Allmächt'gen, Hand!

 

Die um den Beratungstisch Sitzenden sangen das Lied mit inbrünstiger Hingabe; nur der junge Graf Komierowski fand es nicht nötig, sich anzustrengen. Diese „patriotischen Explosionen“, wie er solche feurigen Kundgebungen zu nennen pflegte, muteten ihn im intimen Kreise wie überflüssiges und geschmackloses Theater an. Als ehemaliger Zögling des Theresianums war er gleich manchen seiner Altersgenossen aus dem galizischen Hochadel mehr Wiener als Pole, sprach mit Vorliebe eine Art von Fiakerdeutsch und bildete für seine Mutter eine immerwährende Quelle von Sorge und Aufregung. Zuweilen begriff sie es nicht, daß dieser immer müde und gelangweilte junge Herr Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem Blut sein sollte. Während die anderen — man denke! — die „rota“ sangen, polierte er die vom ewigen Zigarettenrauchen gelb gefärbten Nägel der Linken am Rockärmel. Woran er dabei denken mochte, wußte Gott allein. An alles andere eher als an die nahe Befreiung des Vaterlandes. Und was war er dabei für ein aufgeweckter, geradezu genial zu nennender Knabe gewesen! Der Stolz und die Hoffnung einer ehrgeizigen Mutter, die in ihm dem polnischen Volke den größten Führer und Helden aller Zeiten zu erziehen gedachte...

Das Lied war zu Ende, Pan Severin schickte sich an, das eben Gehörte vom Standpunkt des erfahrenen, alten Freiheitskämpfers zu beleuchten, aber Graf Zbigniew winkte ungeduldig ab. Seine Tochter war noch nicht fertig. Und der zweite Teil ihres Berichts war leider nicht so günstig wie der erste.

„Ganz recht“, sagte Jelena, „wie ich euch schon vorgestern telegraphisch meldete, meine Erlebnisse in Berlin sind leider nicht so erfreulich gewesen wie die in Paris! Auf der Reise stieg in Düsseldorf ein junger Mann ein, der sich von der ersten Minute an für mich in geradezu lästiger Weise zu interessieren begann. Eine ganz fabelhafte Ähnlichkeit mit Tante Valeska; ich zeichnete seinen Kopf in ein Heft meiner Reiselektüre — leider habe ich's im Wagen vergessen. In Berlin verfolgte mich dieser junge Herr auf Schritt und Tritt. Im Esplanade, wo ich mich im vertrauten Kreis mit Onkel Oleśnicki, Propst Pastrzyniak und natürlich Pytlasinski traf, hatte er sich den Nebentisch gesichert. Dort saß er mit einem sehr großen älteren Herrn, nach einiger Zeit erschien ein dritter — die Bronislava Fußgänger kannte ihn — ein Scherge der politischen Polizei! Weil ich auf die plumpen Annäherungsversuche meines Mitreisenden nicht eingegangen war, hatte er mich denunziert. Als politisch verdächtig und wegen Führung eines falschen Passes. Und wißt ihr, wer dieser saubere junge Herr war? Herr Viktor von Dolinga, der Sohn von Tante Valeska! Und der andere, Große, sein Stiefbruder. Der ärgste Feind unserer gerechten Sache, dem wir alle Schikanen und Bedrückungen verdanken, der Geheime Rat im Ministerium Ulrich von Dolinga!“

„O Schmach und Schande“, rief Pan Severin pathetisch. „Zwei Träger eines so ruhmreichen Namens auf der Seite unserer Feinde! Und der eine davon der Sohn einer polnischen Patriotin.“

Gräfin Valeska zerdrückte etwas zwischen den Zähnen, das wie „Alter Schwätzer“ klang, laut aber sagte sie: „Das Zusammentreffen mit diesem Polizisten kann doch auch zufällig gewesen sein?“

„Ah nein“, erwiderte Jelena leidenschaftlich, „ich habe genau gesehen, wie er ihn auf mich aufmerksam machte! Und ihm allein verdanke ich's, daß ich am anderen Morgen verhaftet wurde! Ganz brutal... Ich saß gerade in meinem Salon beim Frühstück, es klopft. Ich denke, es ist der Zimmerkellner, sage 'Herein', statt dessen erscheint ein furchtbar gewöhnlich aussehender Mensch, legitimiert sich durch eine Marke aus Blech und sagt: 'Fräulein, ich habe den Befehl, Sie zur Vernehmung vor den Herrn Kommissar von Pleßkow zu bringen. Vor der Tür steht ein Auto. Wenn Sie vernünftig sind, können wir die ganze Sache ohne Aufsehen erledigen… 'Ich protestiere natürlich entrüstet, ich würde mich beschweren', der Kerl zuckt nur mit den Achseln. 'Das steht Ihnen frei, liebes Fräulein, aber nachher! Vorläufig kommen Sie mal mit! Und wenn's Ihnen im guten nicht paßt — ich kann auch anders...' Da fügte ich mich der rohen Gewalt, konnte auch vor dem Kommissar leider nicht so auftrumpfen, wie ich gerne gewollt hätte, denn er zeigte mir mit einem niederträchtig-höflichen Lächeln in einem Buch einen Paragraphen. Die Führung eines falschen Passes ist mit sehr empfindlichen Strafen bedroht.“

Herr Stanislaw hob die müden Augendeckel.

„A zuwiderer Kerl! Und i bin dafür, solche blöden Bücheln dierften gar nit g'druckt wern.“

Jelena sah ihn geringschätzig an. „Wenn das alles ist, was du zu sagen hast...? Aber was wollte ich doch gleich? Ja richtig, dieser Polizeischerge war über meine Reise so genau unterrichtet, daß er eigentlich gar nicht nötig gehabt hätte, mich zu vernehmen. Er kannte auch die intensive großpolnische Agitation im Kreise Heinrichsburg ganz genau, von der er sagte: 'Ihr Mittelpunkt ist Ihr Vaterhaus, meine gnädigste Komtesse', und deutete mir verständlich genug an, daß er auch über die Waffentransporte Bescheid wußte. Als er mich endlich entließ, gab er mir den Rat, meine reizenden kleinen Hände von der unangenehmen und gefährlichen Politik zu lassen. Für Sie, Hochwürden, trug er mir — natürlich ironisch gemeinte — Grüße aus, und als nach mir Pytlasinski an die Reihe kam...“

„Meine liebe Tochter“, unterbrach sie der feiste Propst mit einem nachsichtigen Lächeln, „sollte es nicht möglich sein, du hast dich von diesem hinterlistigen Hund überraschen und ins Bockshorn jagen lassen?“

„Ah nein, Hochwürden, das passiert mir nicht so leicht! Für mich war diese Vernehmung nur ein neuer Beweis, wie sehr wir schon seit langer Zeit beobachtet und ausspioniert werden. Infolge einer Politik, die ich schon immer als verkehrt und gefährlich bezeichnet habe! Gewiß, ich achte auch die Kleinarbeit. Aber wenn es besser ist, im Interesse des erhabenen großen Ziels im Dunkeln zu bleiben und nicht aufzufallen...“

„Sehr richtig“, sagte Graf Zbigniew mit Nachdruck, „und ich bin bloß froh, daß ich den letzten großen Transport noch gestern nacht hinübergeschafft habe!“

„Mein liebes Kind“, sagte Propst Swiderski sanft, „wozu streiten? Willst du klüger sein als die sehr ehrwürdigen Väter, die mich vor Jahren schon zur Arbeit unter dem leider viel zu lange vergessenen und vernachlässigten Bruderstamm der Masuren angesetzt haben?“

„Nein, Hochwürden, streiten will ich nicht. Nur bescheiden bemerken, was vor Jahren gut und verdienstlich war, kann bei veränderten Zeitumständen vielleicht schädlich sein!“

„O gebenedeites Köpfchen!“ rief Pan Severin begeistert. „Und wie sagte mein unvergeßlicher Blutsbruder und Vater Mierosławski, als wir in der Nacht vor dem letzten so glorreichen, aber unglücklichen Tag, in unsere Mäntel gehüllt, am Wachtfeuer lagen? 'Severin, Bruderherz', sagte er, 'gib mir eine Legion von reizenden polnischen Unterröckchen, und ich will die Diplomaten von ganz Europa in den Sack stecken.'“

Die Glocke an der Bibliothekstür schrillte in langen Pausen dreimal; zum Zeichen, daß die vertraute Katharina Cech eine wichtige Nachricht brachte.

„Rasch, Stanku, spring'!“ sagte die Gräfin zu ihrem Sohn. Herr Stanislaw aber sprang nicht, sondern erhob sich recht langsam. Wenn die anderen nur eine Ahnung gehabt hätten, wie fad ihm diese endlosen Beratungen waren! Er hatte Sorgen, die ihm dringlicher erschienen als die Wiederherstellung Polens, aus der ja doch nie 'was wurde... Wie er's zum Beispiel fertigbringen könne, die fatale Wachsamkeit der Frau Mama nicht bloß am Vormittag zu täuschen. Solange es ihm noch nicht gelungen war, nach seinem Niederbruch neues Geld zu schaffen, kam nämlich die gewohnte Spielgesellschaft im Hause der Witwe Florianska lieber am Abend zusammen... Er kehrte mit einem an seine Mutter gerichteten Briefe aus der Bibliothek zurück. „Eilt“ stand darauf, deshalb hatte die alte Tinka ihn sofort überbracht.

Die Gräfin riß den Umschlag auf, las und verfärbte sich unter dem die Wangen deckenden Puder. Ihr Vetter Zbigniew hatte mitgelesen, lachte höhnisch auf.

„Da haben wir's! Vorladung wegen Staatsangehörigkeit! Staatsangehörigkeit ist nicht da, also Ausweisung! Nach der Ausweisung natürlich verschärfte Aufsicht. Mit den Transporten ist's vorbei, und ich kann riskieren, daß mir ein Teil meiner Gäste, der Prinz und sein getreuer Paladin Pytlasinski an der Spitze, verhaftet wird...“

„O Weibervolk, Weibervolk“, bemerkte Pan Severin vorwurfsvoll. „Und wie sagte mein unvergeßlicher Blutsbruder und Vater Mierosławski in einem ähnlichen Falle? 'Bruderherz', sagte er...“

Propst Swiderski unterbrach ihn mit bösem Gesicht.

„Sie haben uns die Geschichte schon einmal erzählt! Er sagte: 'Nimm dich in acht, Severin, daß du auf deine alten Tage nicht ein kindischer Schwätzer wirst! Nach Art der törichten Greise, die bespeien, was sie fünf Minuten vorher in den Himmel gehoben haben!“

„Was, du Schelm von Priester“, schrie der alte Freiheitskämpfer erbost zurück, „ich bin ein kindischer Greis? Dann sag' ich dir, du wirst in meinem Alter auf allen vieren kriechen und an einem Lutschbeutel zuckeln.“

Graf Zbigniew machte inzwischen seiner Kusine reichlich verspätete Vorwürfe, daß sie sich herzlos von dem jetzt so unbequemen und feindseligen Sohne erster Ehe getrennt habe. Sie erwiderte heftig, ob er sich noch der Bedingung entsinne, die der verstorbene Komierowski gestellt habe. Er bemerkte, soweit er sich erinnere, sei der Verewigte so verrückt gewesen, daß er sie auch mit zehn fremden Kindern geheiratet hätte, und sie zuckte die Achseln. Ob er sich vielleicht einbilde, ein ganz fremder Landrat würde sich rücksichtsvoller benehmen? Pan Severin schrie gleichzeitig den Propst an, dieser schrie wieder, Jelena läutete erregt mit der Präsidentenglocke, es war ein Spektakel, an dem Herr Stanislaw seine innige Freude hatte. Endlich mal „a Hetz und a Gaudi“ bei den zum Auswachsen langweiligen Verhandlungen! Und er spitzte sich schon jetzt auf den ersten polnischen Reichstag, wenn die Herren Schlachtschitzen sich in voller Freiheit gegenseitig die Meinung sagen durften...

Jelena hatte sich mit der Glocke endlich Gehör verschafft. Sie beherrschte mühsam ihre Erregung.

„Verzeih', liebster Papa, wenn ich eure Auseinandersetzung unterbreche! Wäre es nicht besser, jetzt zu beraten, wie wir dieser drohenden Gefahr begegnen?“

„O gebenedeites Köpfchen“, sagte Pan Severin. Der Propst unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung.

„Ihre historischen Erinnerungen später, wenn ich bitten darf! Ich habe mich nämlich über diesen jungen Herrn von Dolinga schon längst erkundigt. Schon als zum erstenmal die Möglichkeit seiner Berufung auftauchte. Er hat in Düsseldorf weit über seine Verhältnisse gelebt, den Fehlbetrag deckte immer sein älterer Bruder. Aber es ist ein Faß ohne Boden — der junge Herr ist ein leidenschaftlicher Spieler! Wenn es also möglich sein sollte, ihn an diesem schwachen Punkte zu fassen...“

Pan Severin zuckte mitleidig die Achseln.

„Geh' aufs Altenteil, Priester, dein Rat hat keine Zähne! Wenn ihr den Fuchs Zakobielski nicht hättet, der schon als Achtzehnjähriger seine Feinde an der Nase herumführte! Wie Sie, Hochwürden, noch nicht geboren waren!“

„So sprich doch schon“, drängte Graf Zembricki. Der Alte aber steckte sich erst, nach eingeholter Erlaubnis der Damen, umständlich eine Zigarette an, sog den ersten Zug tief in die Lungen.

„Also gut, ich werde euch wieder mal 'rausreißen! Lieber Neffe Zbigniew, deine entzückende Tochter — Gott lasse sie in Schönheit und Gesundheit die Ahnmutter eines blühenden Geschlechtes werden — hat doch erzählt, dieser junge Herr ist in sie verliebt...? Und wie sagte mein unvergeßlicher Blutsbruder und Vater Mierosławski immer? 'Severin', sagte er, 'merk' dir: Kartenspiel ist ein Zwirnsfaden, Liebe aber ein Strick! Einen Ochsen kannst du daran aufhängen, ohne daß er reißt!' Also wenn Jelena jetzt öfter mal nach Heinrichsburg fährt und Gott es fügt, daß der Verliebte ihr begegnet...“

Das junge Mädchen fuhr auf.

„Pan Severin, bin ich eine Dirne?“

Boże kochani, mein Kind, wer würde sich erfrechen, so etwas zu behaupten! In der nächsten Sekunde fiele er von meiner Hand! Eine Madonna bist du an Reinheit, eine Madonna, ehe sie sich dem Heiligen Geist vermählte! Aber was verschlägt es dem Rock einer Jungfrau, wenn sie einem Hündchen erlaubt, bettelnd an ihm in die Höhe zu springen? Andere vor dir — lies unsere Geschichte nach — haben schwerere Opfer gebracht! Und du, liebe Nichte Valeska“, wandte er sich an die Gräfin Komierowska, „du wirst jetzt natürlich dein mütterliches Herz entdecken! Ich wette meinen klugen alten Kopf gegen den unseres verehrten Seelsorgers, in acht Tagen frißt der jetzt so feindlich hackende preußische Habicht aus polnischer Hand! Die Hand muß nur klein und zart sein... So zart wie die deinige, liebe Leska, als der alte Severin Zakobielski das Glück hatte, sie zum erstenmal an seine Lippen zu ziehen.“

Die vier Alten steckten, eifrig tuschelnd, die Köpfe zusammen. Jelena stand da, die weißen Zähne in die Unterlippe gegraben. Herr Stanislaw trat zu ihr.

„Alsdann werdn mir ja bald die Freud habn, mein' Herrn Stiefbruder hier zu sehn! I an deiner Stell wär' mir ja zu schad für a so a schmutziges Geschäft, aber dös is Gschmacksach'...“

Sie fuhr ihn zornig an.

„Du bist wirklich noch so kindisch. Man sollte dich bei wichtigen Beratungen hinausschicken.“

„Was moanst, wie i mi drüber freuen tät'! Aber i muß jetzt fürt, aas der Redakzion. An Artikel schreibn über die Gmoanheiten, wo die Preußen in eahnerer Polenpollitik begangn habn. Wann i nöt mehr weiter weiß, klingl' i bei dir an... 'mpfehl mi zu Gnadn, schönste Kusin', mei Kompliment und vül Vergnügn.“

Vor der Freitreppe hielt der leichte Wagen mit den beiden langmähnigen Orlofftrabern. Er stieg ein, nahm Zügel und Peitsche, gab den ungeduldig in die Gebißstange Schäumenden den Kopf frei. Und bei der windschnellen Fahrt hing das junge Gräflein allerhand Gedanken nach... Gedanken, die ihm nicht zum ersten Male kamen, seit er sich zu seinem Verdruß mit dem ekelhaften Geschäft der hohen Politik befassen mußte.

Einem Verhaßten Aug' in Aug' gegenübertreten, das konnte er sich vorstellen, obwohl eine solche Anstrengung meistens nicht die aufgewandte Mühe lohnte. Den Feind aber hinterlistig in eine Falle locken, in der er elend zugrunde gehen mußte, war niedrig und schimpflich. Und, er konnte sich nicht helfen, er brachte gegen diesen unbekannten Stiefbruder keinen Haß auf. Der war in seiner Art sicherlich ein famoser Kerl; schon seine kavaliermäßige Spielerleidenschaft machte ihn sympathisch. Daß er Preuße geworden war, dafür konnte er nichts. Die Mutter hätte ihn mitnehmen sollen in die neue Ehe, dann wäre er jetzt Pole... Und er zerbrach sich den Kopf, weshalb sie diesen Sohn, den sie doch auch unter ihrem Herzen getragen, hilflos im Stich gelassen hatte. Der Grund, den sie immer anführte, war wenig glaubwürdig. Er selbst wußte nur zu gut, der Vater hatte so unter ihrer herrschsüchtigen Hand gestanden, daß er sich nicht einmal in den gleichgültigsten Fragen eine eigene Entscheidung anmaßte. Selbst bei ihren zahllosen Flirts hatte er nie aufbegehrt! Nur einmal — es war nicht lange vor seinem Tode — hatte er sich über dem Kopf seines damals vierzehnjährigen Sohnes ausgeweint. Wie es diesem scheinen wollte, in stark angetrunkenem Zustande... „Sie macht aus mir genau so einen Harlekin wie aus ihrem Ersten... Aber ich werd' ihr zeigen, daß ich aus anderem Holz bin als dieser verächtliche Schwächling…“ Der Kammerdiener kam mit der Meldung, die gnädigste Frau Gräfin wünsche sofort den Herrn Grafen zu sprechen. „Ich fliege“, sagte der Vater, kühlte sich die Augen mit dem angefeuchteten Handtuche und zerkaute eilig eine halbe Schachtel aromatischer Pillen, um den verräterischen Weingeruch zu verbergen... Und der Mann sollte seiner Frau die harte Bedingung gestellt haben, ihren kleinen Sohn aus erster Ehe im Stich zu lassen? Ah nein, das mußte die Frau Mama anderen Leuten vorerzählen, nur nicht ihm! Und wenn er jetzt seinem Gefühl hätte folgen dürfen, wäre er geradeswegs vor das Landratsamt in Heinrichsburg gefahren: „Pardohn, Herr Assessor, wann i stör', aber schließlich sän mir doch Brüder, nöt wahr? Alsdann lassen sich's um Himmels willen nöt mit die Leut' in Friedrichstein ein, mit unsere Frau Mutter schon ganz und gar nöt! Und — nehmend nöt übel — wie Sö sich habn in die fade Rockn, die Helen', verlieben können, is mir a Rätsel. Dös is doch ka Madl nöt mit weibliche Gefühle, dös is a polnische Jeanne d'Arc!“

Eine solche Warnung aber war leider unmöglich, er war durch einen schweren Eid und — mehr noch — durch sein Ehrenwort gebunden. Wenn es herauskam, daß er einen der Sache Polens so abträglichen Schritt unternommen hatte, war er verfemt für alle Zeiten. Wo er auf dieser Welt einen Polen traf, der spie vor ihm aus... Und er fragte sich, woher eigentlich dieser fanatische Haß? Wenn alle Polen so gesonnen gewesen wären wie er, hätten sie sich mit ihrem Schicksal längst abgefunden gehabt! Es ging ihnen doch gut in Rußland, Preußen und Österreich. In Rußland dank dem wohltätigen Rubel, der jeden schnaubenden Tschinownik in ein sanftes Lamm verwandelte, in Preußen hatten sie nur die für alle Bürger verbindlichen Gesetze zu halten, um herrlich und in Freuden zu leben, in Österreich aber gar? Ach du mein lieber Gott, wenn da der Obmann des Polenklubs schlecht geschlafen hatte, zitterten die Herren Minister auf ihren Stühlchen! Also woher diese leidenschaftliche Begier, die getrennten Volksteile zu vereinigen, das alte Reich wieder auszurichten? Nur aus unbändigem Freiheitsdrang oder aus dem idealen Gefühl, ein Volk mit einer Sprache müsse auch in einem ungeteilten Staat vereinigt sein? Um noch an solche Märchen zu glauben, die man denen da unten im Parterre erzählte, dazu hatte Herr Stanislaw mit seinen blasierten neunzehnjährigen Augen in seiner nächsten Umgebung zu viel gesehen! Für die Mutter war das Konspirieren der notwendige Nervenanreiz, nachdem sie für den Flirt zu alt geworden war, Helene hatte den brennenden Ehrgeiz, an der Seite dieses faden Prinzen Tartoryski Königin von Polen zu werden. Ihr Vater vergeudete in den Waffenankäufen für die Kriegsorganisation ein Vermögen, nur um in dem wiederhergestellten Königreich die führende Rolle zu spielen. Der Propst Swiderski war irgendwo im Posenschen als Tagelöhnerkind geboren, hätte sich ohne seinen großpolnischen Fanatismus nie in die Höhe arbeiten, nie zu Einfluß, Ansehen und Wohlleben gelangen können. Man mußte diesem Vorkämpfer für die gerechte Sache Polens nur zugesehen haben, wie er den Kaviar mit dem Löffel aß, den Sekt mit genießerischer Zunge schlürfte und die schöne Tischnachbarin mit den Augen entkleidete, um zu wissen, welcher Art sein glühender Patriotismus war. Der einzige Ehrliche in der ganzen Gesellschaft schien ihm der alte Aufschneider Zakobielski zu sein. Eine biedere Landsknechtshaut, die wirklich daran glaubte, die Wiedererrichtung des Königreiches müsse allen Polen den Himmel auf Erden bringen. In Wirklichkeit kam es wohl anders. Die Polen hätten nicht Polen sein müssen, wenn sie nicht im ersten Monat der Wiedervereinigung schon das Zanken gekriegt hätten! Und dann fing ihre Geschichte von vorne an. Jede der einander aufs grimmigste befehdenden Parteien suchte in einem anderen der Nachbarländer Rückhalt und Hilfe, an ein ruhiges Gedeihen des Staates war bei dem alle anderen Interessen aufzehrenden Zank und Hader nicht zu denken. Da konnte wohl ein Tag kommen, an dem nicht die schlechtesten Patrioten sich nach der „guten alten Zeit“ zurücksehnten, in der Polen noch geteilt war...

Aber, so mußte Herr Stanislaw mit einem Seufzer denken, er hatte Sorgen, die ihn im Augenblick näher angingen! Die Wucherer in Wien und Krakau, die noch vor kurzem bereitwillig jede Summe geliehen hatten, waren plötzlich harthörig geworden. Sollte diesen klugen und mit feiner Witterung begabten Herren das große Komierowskische Vermögen keine genügende Bürgschaft mehr sein, solange eine in revolutionäre Umtriebe verwickelte Frau darüber die unumschränkte Verfügung hatte? Und hier in diesem kleinen Provinznest waren nicht einmal lumpige zehntausend Mark aufzutreiben! Da war es wirklich höchste Zeit, wieder nach Krakau zurückzukommen... Und plötzlich flog über sein eben noch so sorgenvolles Gesicht ein vergnügtes Schmunzeln. Vielleicht, wenn das Glück gut war, daß dann die Frau Mama ihre Tätigkeit in diesem trostlosen Masuren eher beschließen mußte, als ihr lieb war er jedenfalls gönnte es ihr von Herzen.

12.

 

Der Assessor Heidenreich war mit seiner jungen Braut nach Alksnupönen gefahren, um sie seinen Eltern vorzustellen; in Begleitung des Schwiegervaters Hakenberg, der bei dieser Gelegenheit das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, das Heidenreichsche Gestüt zu besichtigen gedachte. Viktor von Dolinga hatte infolgedessen seine Amtsgeschäfte im vollen Umfange übernehmen müssen und sich mit einem Eifer in die Arbeit gestürzt, der die höchste Zufriedenheit seines Kreissekretärs Wichotta erregte. Wenn der Alte nach einigen Überstunden, die er im Interesse des königlichen Dienstes zugab, endlich zum Städtchen zurückging, saß sein neuer Chef noch lange nach Mitternacht über den Akten. Am nächsten Morgen aber war er der erste im Dienst, diktierte Verfügungen, daß die beiden Schreibmaschinenfräuleins mit ihrer Kurzschrift kaum folgen konnten; hielt ein Dutzend Termine ab, sauste im Auto über Land zu irgendeiner Besichtigung, kaum daß er sich die Zeit zum Essen gönnte. Auch seine Haltung den Polen gegenüber war eine so energische und einwandfreie, daß der alte Wichotta sein Mißtrauen von Tag zu Tag mehr schwinden fühlte. Eine Abschrift der Vorladung der Gräfin Komierowska lag bei den Akten, den Plänen des „Weißen Adlers“ war ein Riegel vorgeschoben worden. Einmal durch eine Verfügung, die die Erlaubnis zu dem beabsichtigten Erweiterungsbau von dem Nachweis eines vorliegenden Bedürfnisses abhängig machte, viel wirksamer aber durch energische Bearbeitung der beiden deutschen Nachbarn des polnischen Hotelbesitzers, ohne deren Grundstücke der Erweiterungsbau unmöglich war.

Die beiden Herren, den Konditor Mondry und den Schnittwarenhändler Krotoschiner, hatte der neue Kreischef besucht, sie ordentlich bei ihrem deutschen Ehrgefühl gepackt. Das hatte geholfen. Mehr aber vielleicht noch, daß er ihnen einen günstigen Verkauf ihrer Grundstücke an den Fiskus in Aussicht stellte. Dem Konditor, weil der mit dem Königlichen Gymnasium, dem Schnittwarenhändler, weil dieser mit dem gleichfalls einer Vergrößerung bedürftigen Katasteramt grenzte.

Dieses straffe Vorgehen hatte in den Kreisen der Deutschen und Polen starken Eindruck gemacht. Die Deutschen atmeten auf, weil sie sich nicht mehr ohne Schutz fühlten, die Polen aber wurden stutzig, mäßigten sich ein wenig. Einer ihrer schärfsten Hetzer, der verantwortliche Schriftleiter des „Mazur“, an der Spitze. Nach einem geradezu maßlosen und von Beleidigungen strotzenden Artikel in Sachen des „Weißen Adlers“ war gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet worden, das ihm aller Voraussicht nach einige Monate Gefängnis eintragen mußte. Da hielt er's für geraten, in seinen Artikeln eine sanftere Tonart anzuschlagen.

Aber auch auf die masurischen Bauern wirkte die energische Haltung des neuen Kreischefs im günstigen Sinne. Fast jede der dörflichen Gemeindeverwaltungen hatte Wünsche, deren Erfüllung im freien Ermessen des Landrates lag. Da redeten die Ortsschulzen den verkaufslüsternen Bauern gut zu, den Abschluß mit dem Polen noch eine Weile hinauszuschieben oder dem Angebot der „Ostpreußischen Landgesellschaft“ den Vorzug zu geben. Diese zum Teil mit Staatsmitteln arbeitende Gesellschaft, deren Hauptzweck die Ansiedelung deutscher Grundbesitzer war, gab bei wirklicher Notlage auch Darlehen. Nicht so bereitwillig wie die unter Leitung des Propstes Swiderski stehende polnische Genossenschaftsbank, dafür aber war sie bei einer durch widrige Umstände entschuldbaren Stockung in der Zinszahlung nachsichtiger, brachte den masurischen Bauer nicht gleich auf die Gant, damit der schon bereitstehende Pole sich an seine Stelle setzen konnte.

Das Vertrauen seines alten Kreissekretärs und zugleich des ganzen Ostmarkenvereins gewann der kommissarische Landrat vollends, als seine Mutter die Vorladung mit dem Zeugnis eines polnischen Arztes beantwortete, der sich vor kurzem im Städtchen niedergelassen hatte. Laut diesem Zeugnis war die Gräfin Komierowska infolge einer bedenklichen Herzschwäche nicht in der Lage, sich den Aufregungen einer polizeilichen Vernehmung auszusetzen. Da schwoll dem Herrn von Dolinga eine feine blaue Ader auf der Stirn, er verfügte kurz, der Kreisphysikus Petitpierre habe die Gräfin von Amts wegen aus ihren Gesundheitszustand zu untersuchen und darüber in drei Tagen zu berichten. Falls das Gutachten Vernehmungsfähigkeit ergab, war die Dame unter Androhung der Vorführung durch Zwang erneut zu laden.

Vielleicht, wenn der alte Wichotta seinem jungen Chef hätte ins Herz sehen können, daß er da zu einem anderen Urteil gekommen wäre, bei aller schroffen deutschen Gesinnung vielleicht auch ein wenig Mitleid empfunden hätte mit einem, der mit den scharfen Verfügungen gegen sich selbst wütete und sich in Anstrengungen erschöpfte, um nicht aufwachen und grübeln zu müssen... Der die Arbeit nahm wie andere ein Narkotikum, der drei und mehr Male am Tag sein armes, krankes Herz anschreien mußte, damit es ihm nicht über den künstlich errichteten Zaun von stachligen Dornen davonsprang...

Einige Tage nach seinem Eintreffen in Heinrichsburg war Viktor nach Allenstein gefahren, um sich auf der Regierung zu melden. Den Präsidenten, von dem er gehört hatte, er sei ein kluger und warmherzig empfindender Mann, traf er leider nicht an; der hohe Herr war in dienstlichen Angelegenheiten zum Oberpräsidium nach Königsberg gereist. Viktor wurde von einem sehr vorsichtigen Herrn Regierungsrat empfangen, der ihm aufs dringendste empfahl, in der Angelegenheit der Gräfin Komierowska eine maßgeblichere Ansicht einzuholen als die seinige. Vielleicht die des Herrn Bruders im Ministerium, der in allen die Polenpolitik angehenden Fragen gewissermaßen doch oberste und sachverständigste Instanz sei. Da hatte er sich höflich bedankt, war den langen Weg nach Heinrichsburg in schier verzweifelter Stimmung zurückgefahren. Die Meinung des „Herrn Bruders im Ministerium“ hatte er schon am ersten Tage eingeholt, ohne eine Antwort zu erhalten! Und er sagte sich mit einem bitteren Lachen, Briefe, die nicht geschrieben wurden, kamen natürlich nicht an. Aber wenn man einen selbstverfaßten Brief mit eigener Hand in den Kasten getragen hatte, ging der doch nicht verloren... Da war Ulrichs Schweigen deutlich genug: er wollte nicht antworten! Selbst aus den wenigen und anscheinend so zuversichtlichen Zeilen hätte er den Ruf heraushören müssen: Komm', hilf mir! Er kam nicht und schrieb nicht, ließ ihn in der Seelennot, in die er selbst ihn gejagt hatte. Nicht mal eine armselige Entschuldigung schickte er: Armer Junge, daß du dort in solche Bedrängnis geraten könntest, habe ich beim besten Willen nicht ahnen können...

Statt dessen erhielt Viktor ein paar Tage später ein anderes Schreiben aus Berlin. „Streng vertraulich“ stand links von der höflichen Anrede.

Der Kommissar der Politischen Polizei Herr von Pleßkow schrieb ihm:

 

„Hochgeehrter Herr von Dolinga,

 

trotz Ihres ritterlichen und menschlich begreiflichen Protestes habe ich mich aus höheren dienstlichen Rücksichten genötigt gesehen, Ihre schöne Reisegefährtin am Morgen nach unserem Zusammentreffen im Esplanade zu einer gründlichen Vernehmung antreten zu lassen. Ich wage zu hoffen, Sie werden mir für diese Vernehmung dankbar sein, denn sie hat, wie ich glaube, auch für Ihre dienstliche Tätigkeit einige wertvolle Fingerzeige erbracht. Und um die überraschende Pointe vorwegzunehmen, die andere sich vielleicht für den Schluß aussparen würden: die junge Dame, die mit einem falschen Paß als eine gewisse Helene Ostermann reiste, ist die einzige Tochter des in Ihrem Kreise ansässigen Grafen Zbigniew Zembricki! Eines Herrn, von dem Sie inzwischen als einem besonders fanatischen Vorkämpfer für die Ausbreitung des Polentums in Ostpreußen gehört haben werden. Die Vernehmung seiner Tochter hat mir die Gewißheit gebracht, daß die Gefährlichkeit dieses Herrn über seine anscheinend lokal begrenzte Tätigkeit weit hinausreicht! Zur Begründung muß ich ein wenig ausholen.

Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß drüben in Russisch-Polen die sogenannte P.O.W. besteht. Diese Buchstaben sind die Abkürzung der drei Worte 'Polska organizacja wojskowa', der Polnischen Heeresorganisation. Wohlverstanden des Heeres, mit dem Polen seine Wiedervereinigung und Unabhängigkeit zu erkämpfen gedenkt! Diese Organisation, deren Anfänge in die Zeit vor dem Jahre 1906 zurückreichen, ist in der Hauptsache das Werk des Herrn Josef Pytlasinski, den Sie in Frack und Dienerlivree — beide Male in Gesellschaft der Komteß Zembricka — ja kennen gelernt haben! Ich wage zu hoffen, Sie werden verständlich finden, daß ich bei dieser Sachlage das allerdringlichste dienstliche Interesse haben mußte, mir diese junge Dame ein wenig näher anzusehen.

Dieser p.p. Pytlasinski also, den man getrost als den größten und erfolgreichsten politischen Verschwörer aller Zeiten bezeichnen darf, hat in der P.O.W. ein in seiner Art geradezu mustergültiges Werk geschaffen! Eine unterirdische Organisation von so sorgfältiger Durchbildung, daß sie nur noch mit der bewährten Einrichtung der preußischen Militärkontrolle verglichen werden kann. Eine große Zentralstelle, und mit ihr durch unterirdische Fäden verbunden, 'Bezirkskommandos' in allen Städten und Marktflecken, 'Vertrauensmänner' in jedem Dorf. Und dies alles unter den Augen einer argwöhnischen Polizei! Russische Kollegen haben mir erzählt, sie sind gegen diese Organisation vollkommen machtlos. Eines der Nester heben sie aus, Tausende bleiben so sorgfältig versteckt, daß von ihnen nicht die geringste Spur zu finden ist. Auch beschlagnahmte Papiere helfen nichts, jede Stadt, jedes Dorf, jede Persönlichkeit wird nur unter einem Decknamen geführt, die große Masse der 'Schützen' kennt bloß ihre allernächsten Vorgesetzten. Und Verräter gibt's nicht! Gegen ein Volk, dem die 'Konspiration' seit Beginn seiner Geschichte im Blute liegt, das in den letzten hundert Jahren die Geheimkunst des Verschwörens bis zur vollendeten Meisterschaft ausgebildet hat, ist mit polizeilichen Machtmitteln nichts auszurichten! Und diese gewaltige Organisation, die in kürzester Zeit nach mäßiger Schätzung mehr als achtmalhunderttausend gut bewaffnete und sorgfältig ausgebildete Soldaten auf die Beine stellen kann, ist das Werk eines einzigen Mannes! Kein Wunder, daß das polnische Volk in ihm seinen Heiland sieht, der es aus der Knechtschaft erlösen, zur Freiheit und Einigkeit führen wird.

Und nun zu dem eigentlichen Zweck meines Schreibens! Diese P.O.W. jenseits der Grenze wird von ihren Gesinnungsgenossen in Preußisch- und Österreichisch-Polen heimlich mit Waffen versorgt. Nach Berichten des russischen Geheimdienstes haben diese Transporte in letzter Zeit einen außerordentlich bedrohlichen Umfang angenommen. Auf einen, der abgefaßt wird, kommen zehn, die ungehindert über die Grenze gelangen.

Nun könnte man vielleicht einwenden, diese Sorgen unserer Feinde von übermorgen dürften uns herzlich gleichgültig sein. Leider aber besteht die nur zu sehr begründete Befürchtung, daß die Flinten der P.O.W. auch gegen deutsche Soldaten losgehen können! Unsere Straz- und Sokol-Vereine haben eine nicht minder straffe Geheimorganisation als die „Schützen“ jenseits der Grenze. Und an ihren letzten Zielen können nur jene unbelehrbar harmlosen Deutschen zweifeln, die das Bestehen revolutionärer Organisationen auch bei fremden Nationen in das Gebiet der Fabeln verweisen, weil dem deutschen Volkscharakter das Geschäft des Verschwörens fremd und zuwider ist. Diesen Herrschaften wären vielleicht die Augen zu öffnen, wenn man ihnen eins jener Bilder in die Hand gäbe, die in Postkartenform auf polnischen 'Wohltätigkeitsfesten' von anmutigen jungen Damen verkauft werden. Ein stattlicher Vertreter des 'Turnvereins' Sokol — das Wort heißt auf deutsch 'Falke' — setzt einem in voller Uniform erschlagen am Boden liegenden preußischen Infanteristen den Fuß auf die Brust! In der Hand schwingt der triumphierende Sokol-Vereinler die weiß-rote polnische Fahne. Aber man kann auch darauf gefaßt sein, daß die eben erwähnten Herrschaften selbst für dieses Bild eine harmlose Erklärung finden! Die geschmacklose Entgleisung eines überhitzten polnischen Patrioten, der durchaus nur als Einzelerscheinung anzusehen ist. Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen!

Nach dieser Abschweifung, die ich mir zugutezuhalten bitte, wieder zu Ihrer schönen Reisegefährtin! Die Tatsache, daß sie unter erheblicher persönlicher Gefahr den Verschwörer Pytlasinski aus Paris geschmuggelt hatte — wäre sie von den russischen Geheimagenten erwischt worden, führe sie mit ihm jetzt schon per Schiff nach Petersburg und von dort weiter nach Sibirien — ja also, diese enge Verbindung ließ in mir den naheliegenden Verdacht keimen, daß die Komteß auch über die Waffenversorgung der P.O.W. recht gut Bescheid wissen müsse. Und das hatte ich recht rasch heraus.

Sie trat, wie alle diese Damen, bei ihrem ersten Zusammenstoß mit der Polizeigewalt recht selbstbewußt und hochmütig auf. Mich beschimpfte sie als eine preußische Abart des russischen Tschinownik, der bei ihren Beziehungen die Überschreitung seiner Befugnisse bitter büßen werde, Sie als einen ganz gemeinen und hinterlistigen Denunzianten! Ich hörte ihr eine Weile freundlich zu, begnügte mich damit, sie auf gewisse Strafbestimmungen zu verweisen, mit denen eine weise Gesetzgebung die Führung eines falschen Passes sowie die Fälschung einer polizeilichen Anmeldung bedacht habe. Da wurde sie erheblich kleiner. Und als ich ihr den wohlgemeinten Rat gab, sie möge auch weiterhin sich vor Konflikten mit den preußischen Behörden hüten, das heißt auf die Beteiligung an gewissen Grenztransporten verzichten, biß sie prompt an. Sie erwiderte mit einem geradezu entzückenden Lächeln: 'Herr Kommissar, die Warnung ist überflüssig. Wir in Friedrichstein transportieren weder Waffen noch Munition über die Grenze!'

'Scharmant', sagte ich, plauderte mit ihr weiter, gab ihr die beruhigende Versicherung, wegen des falschen Passes würde ich noch einmal Gnade für Recht ergehen lassen. Und mittendrein bat ich sie, auch mir einen Gefallen zu tun, mir eine harmlose polnische Postkarte zu übersetzen. Das besorgte sie, überzeugte sich bei dieser Gelegenheit, daß ich kein Wort ihrer Muttersprache verstehe — und war zum zweiten Male auf den Leim gegangen! Als ich, noch in ihrer Gegenwart, Herrn Pytlasinski vorführen ließ, verabschiedete sie sich von mir mit einem gnädigen Kopfnicken, ihm aber sagte sie ungeniert auf polnisch: 'Nimm dich in acht, dieses deutsche Schwein weiß von unseren Geheimnissen mehr, als wir ahnen!' In einem Tone sprach sie diese Warnung aus, als wenn sie ausgerufen hätte: 'Was sehe ich, lieber Freund, Sie auch hier?' Eine glänzende Komödiantin, die junge Dame, aber einem alten Polizeier doch nicht gewachsen!

Ich bitte Sie nun ganz ergebenst, darauf achten zu wollen, ob in der nächsten Zeit an den Herrn Grafen Zembricki umfangreiche Bahnsendungen eintreffen. Die beliebtesten Deklarationen für Waffenkisten sind Wein und Mineralwasser, Küchengeschirr, Klavier, Ersatzteile für Motorpflüge, Brennereiapparate, landwirtschaftliche Maschinen.

Ferner bitte ich festzustellen, ob auf dem Schlosse des Herrn Grafen in nächster Zeit ein 'Familienfest' stattfindet, zu dem eine größere Zahl von Gästen erscheint. Ich hege die wohlbegründete Vermutung, daß dieses Familienfest der Vorwand für eine mit den großpolnischen Umtrieben zusammenhängende Versammlung hervorragender Führer sein dürfte. Und ich gehe auch wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß sich zu dieser Versammlung außer Herrn Pytlasinski auch der von einem kleinen, aber einflußreichen Kreise zum zukünftigen König von Polen bestimmte Prinz Tartoryski einstellt. Herr P. ist landesverwiesen, wir könnten ihn also beim Betreten preußischen Bodens festsetzen und auf diese Weise die gefährlichen Umtriebe der P.O.W. für eine ganze Weile lahmlegen. Vielleicht gerade in einer recht entscheidenden Zeit.

In seiner galizischen Heimat genießt Herr P. eine mehr als nachsichtige Duldung, darf ungeniert seine Fäden nach Russisch-Polen spinnen. Was die Wiener Herrschaften sich dabei denken, ist mir allerdings schleierhaft. Glauben sie, die gewaltsame Wiedererrichtung und Vereinigung Polens wird vor den schwarz-gelben Grenzpfählen haltmachen? Die Gedankengänge der Herren Diplomaten sind zuweilen nicht minder dunkel als die Wege Gottes. Fest steht nur, daß gegenwärtig in der ganzen slawischen Welt eine Erregung herrscht, die meinem beschränkten Untertanenverstand Vorbotin recht schwerer Ereignisse zu sein scheint.

Zu Ihrer persönlichen Information über das Verhältnis zwischen dem Prinzen und Pytlasinski möchte ich bemerken, daß mir dieser nicht der Mann zu sein scheint, der für fremde Rechnung arbeitet. Dieser Mischling aus brutaler Kraft, tollkühner Verwegenheit, kaltblütiger Rechnung, fabelhaftem Organisationsgenie und — einem erheblichen Schuß applausbedürftigen Schauspielertums, also dieser gewaltige Kerl sieht mir nicht so aus, als hätte er hundertfältig Leben und Freiheit gewagt, um im Augenblick des höchsten Triumphes einer aus königlichem Blut stammenden Unbeträchtlichkeit den Platz einzuräumen! Ein Kerl zum Verlieben für einen, der seinen Beruf ein wenig künstlerisch auffaßt, wenn er nur nicht auch für uns so gefährlich wäre!

Herrn Pytlasinski kennen Sie wohl genügend von Ansehen, von der prinzlichen Unbeträchtlichkeit füge ich in einem allerdings recht mangelhaften Abzug ein Photo bei. Ich bitte Sie ebenso dringend wie höflich, mich telegraphisch in Kenntnis zu setzen, ob und wann auf dem Schlosse des Herrn Grafen Z. das von mir vermutete 'Familienfest' stattfindet. Ich schicke Ihnen dann sofort einen besonders zuverlässigen, erfahrenen und mit den nötigen Vollmachten ausgerüsteten Beamten, den ich erforderlichenfalls durch einige Gendarmen zu unterstützen bitte.

Ich habe nach reiflicher Überlegung vermieden, für diese ebenso wichtige wie diskrete Angelegenheit den offiziellen, aber leider auch so umständlichen Apparat der Regierung in Bewegung zu setzen. Ich erlaube mir ergebenst zu bemerken, daß der von mir gewählte direkte Weg für Sie, mein sehr verehrter Herr von Dolinga, die Aussicht erschließt, sich in geradezu eklatanter Weise auszuzeichnen, und verbleibe mit der Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung Ihr ganz ergebener v. Pleßkow.“

 

Diesen langen Brief hatte Viktor mit steigendem Unwillen überflogen. Was mutete ihm dieser Herr von der politischen Polizei eigentlich zu?!... Eine Rolle, die mit seiner Auffassung der Stellung und Pflichten eines königlich preußischen Landrates schlechterdings unvereinbar war! Gegen Gesetzesverletzungen hatte er einzuschreiten, die widrigen Geschäfte eines Polizeispions lehnte er ab! Und die Röte der Empörung triebt ihm ins Gesicht, daß die Komteß Jelena ihn für einen heimtückischen Denunzianten hielt, ohne daß dieser Herr Kommissar anscheinend widersprochen hatte... Wie ein ekelhafter und untilgbarer Fleck saß dieses Wort an ihm; wenn's bei seiner amtlichen Stellung nicht leider ganz und gar unmöglich gewesen wäre, hätte er sich durch ein paar kurze Zeilen vor der jungen Dame von diesem schimpflichen Vorwurf gereinigt! Über die versteckte Drohung mit der Regierung aber lachte er. Dagegen gab es ein sehr einfaches Mittel. Er selbst reichte das eben empfangene Schreiben dem Herrn Präsidenten ein, bat um Verhaltungsmaßregeln. Erhielt er von diesem den dienstlichen Befehl, sich um die Vorgänge in Friedrichstein zu kümmern — gut, dann führte er diesen Auftrag natürlich pflichtgemäß aus, ließ den Herrn Pytlasinski und seinetwegen auch diesen Prinzen durch einen Gendarm verhaften. Vorläufig aber, schien ihm, bestand diese Verschwörerzusammenkunft nur in der Phantasie des Herrn Kommissars. Diese Leutchen litten an einem Zuviel des Mißtrauens, dessen Mangel sie anderen vorwarfen. Zuweilen hatten sie wohl auch das Bedürfnis, die Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit ihrer Tätigkeit ins rechte Licht zu rücken...

Das auf der letzten Seite des Briefes eingeklebte Bild des Prinzen Tartoryski betrachtete Viktor mit brennenden Augen. So also sah der Mann aus, mit dem Jelena sich in einigen Tagen verloben sollte?... Ein böhmischer Kellner in einem Wiener Kaffeehause war das, aber kein Prinz! Auf schmächtiger Gestalt mit Hängeschultern ein glattgescheitelter, von einem übermäßig hohen Stehkragen gestützter Kopf. Ein nichtssagend-leeres Gesicht mit großen Ohren und stumpfen Augen, darunter eine aufgestülpte kurze Nase; 'Himmelfahrtsnase' nannte man am Rhein dieses Format. Wenn die Herren Polen für ihren zukünftigen Königsthron nichts Besseres zur Verfügung hatten als dieses kümmerliche Gewächs, konnte man sie — weiß Gott — nur bedauern! Und ganz ausgeschlossen erschien es ihm, daß die stolze, schöne Komteß sich in dieses dürftige Produkt eines überalterten und entarteten Geschlechts verlieben könne. Als eine Geschmacklosigkeit, und mehr noch, als eine Herabwürdigung wäre es ihm vorgekommen. Aber freilich, was wußte er von dem Innenleben dieses Mädchens, daß er sich ein solches Urteil zutraute? Vielleicht war sie so maßlos ehrgeizig, daß sie sich um den Preis einer Königskrone selbst einem idiotischen Halbaffen hingegeben hätte. Und er selbst war ein ausgemachter Narr, der Zeit und Nerven an unfruchtbares Spintisieren verschwendete! Was ging es ihn an, ob und mit wem sich diese polnische Komteß verlobte? Es durfte ihn nicht angehen, wenn er auf dem Weg bleiben wollte, für den er sich entschieden hatte. Für den er sich hatte entscheiden müssen, weil er ihm — wie sein ganzes bisheriges Leben — von dem Bruder in Berlin aufgezwungen und vorgeschrieben worden war. Dieser Weg aber führte weitab von allem, was mit der Person seiner schönen Reisegefährtin zusammenhing. Wenn's jemals ein Wiedersehen gab, konnte es nur ein feindseliges Schneiden werden... Und er bewies sich zum hunderttausendsten Male das Unsinnige, ja Krankhafte einer Leidenschaft, die so aussichtslos war, als hätte er sich in einen hoch oben am Firmament funkelnden Stern verliebt... „Die Sterne, die begehrt man nicht“, hatte sich der Dichter aller Dichter in ähnlich aussichtsloser Leidenschaft getröstet...

Überhaupt, wollte ihm scheinen, wäre es endlich an der Zeit gewesen, sich einmal nach dem Befinden der Hakenbergschen Damen zu erkundigen! Auf dienstlichen Fahrten war er schon ein paarmal in der Nähe von Ottenwalde gewesen, ohne sich zu dem kleinen Abstecher entschließen zu können. Die zufriedene und genügsam-glückliche Stimmung, in der er von seinem ersten Besuche heimgefahren, war leider längst verflogen. Geblieben war nur das drückende Gefühl, er sei damals in einem gewissen Überschwang weiter gegangen, als er bei nüchterner Selbstprüfung verantworten konnte. Vielleicht aber bildete er sich nur ein, er habe das junge Mädchen gleich beim ersten Zusammentreffen gewonnen. Eine so fertige und selbstbewußte Dame, die sechs Jahre lang gewählt und Körbe ausgeteilt hatte, verliebte sich nicht vom Fleck weg in einen Unbekannten, mit dem sie ein paar Dutzend Worte getauscht hatte... Aber, Schwerenot noch mal, wie war es ihm denn bei dieser polnischen Komteß gegangen?

Da wußte er genau, er belog sich selbst! Zu all diesen Entschuldigungsgründen stimmte eins nicht: der Blick, mit dem sie ihn nach seiner kurzen Erwiderung auf die Begrüßungsansprache ihres Vaters angesehen hatte. Diese Art von Blick kannte er aus vielfältiger Erfahrung. Er hieß: Frag' nur, ich werde vielleicht nicht Nein sagen... Er selbst aber hatte in der Erwiderung dieses Blickes deutlich geworben. Davon konnte er sich nicht freisprechen. Nur hoffen konnte er, daß alles eine flüchtige Regung war, die verging, wie sie gekommen war. Er mußte sich nur einige Zeit zurückhalten...

Und nach all diesen nüchternen Erwägungen schrie es in ihm auf. Er ging ein wie ein weidwund geschossenes Stück Wild, wenn er sich nicht an den Lippen der einen gesund trinken durfte, der an der linken Seite des Kinns ein kleines, braunes Mal stand!... Es ging nicht, in derselben Stunde hätte er sich den Tod getrunken, denn zwischen ihm und diesen Lippen stand sein dem Bruder verpfändetes Wort. Schon das langende Begehren war, streng genommen, ein Verbrechen...

Da setzte er sich nach einer in Arbeit verbrachten Nacht an den Schreibtisch, schickte einen neuen Notschrei an den Bruder. Es wurde ein gar langer Brief, in dem er sein Innerstes bis auf die letzte Faser entblößte, demütig und herzlich um Hilfe bat... Der Brief ging eingeschrieben und mit Eilbestellung ab. Die alte Wirtschafterin des Herrn Geheimrats in Berlin bestätigte dem Boten seinen Empfang mit Postvollmacht, legte ihn gewissenhaft zu dem Stapel der übrigen, der sich auf dem Schreibtische häufte. Was konnten ihren Herren die dringlichsten Briefe kümmern, solange er mit vierzig Grad Fieber bewußtlos lag? Kam er durch, war zur Antwort immer noch Zeit. Ging er mit Tod ab, was Gott verhüten mochte, erledigten sich all diese irdischen Sorgen von selbst...

Viktor aber schleppte sich in diesen Tagen mit einer Unrast hin, die ihn fast auszehrte. Selbst die Arbeit half nicht mehr; er ertappte sich dabei, daß er ein langes Aktenstück durchgelesen hatte, ohne daß ihm von dem Inhalt auch nur eine Spur im Gedächtnis geblieben wäre. Fortwährend kreisten seine Gedanken um die unübersteigbare Mauer, die er selbst vor den eigenen heißen Wünschen errichtet hatte. Und da sagte er sich: Leute, die im Sinne dieses Herrn Polizeikommissars ein schlechtes Gewissen hatten, benahmen sich schmiegsamer! Wenn seine Mutter die Ausweisung befürchten mußte, hätte sie ihm nicht mit einem Attest geantwortet, das im günstigsten Falle einen Aufschub von wenigen Tagen bedeutete. Sie wich ihm aus, mochte ihn nicht wiedersehen, das war alles! Und aus Berlin kam und kam keine Antwort...

Da wurde ihm zur Gewißheit, wogegen er sich all die Zeit über gesträubt hatte: er war das Werkzeug einer zwanzig Jahre lang kaltblütig aufgesparten Rache! Einer Rache, wie sie nur von einem Teufel ersonnen werden konnte, einem Teufel, der ein Weib haßte, das ihn einmal bis in den innersten Nerv beleidigt hatte... Alle Liebe und Fürsorge war Heuchelei gewesen, auch die Tränen beim Abschied. Und der Herr Bruder hatte unrecht, wenn er sich immer als reinen Deutschen bezeichnete. Nur Polen verstanden so glühend zu hassen.

Aber Wort war Wort — wem man es gegeben hatte, war gleichgültig! Zudem: was halfen all diese Zweifel und Erwägungen? Seinen Weg hatte er gewählt, es gab weder Abbiegen noch Umkehr. Schon der nackte Selbsterhaltungstrieb zwang ihn weiter! Wovon hätte er ohne den Zuschuß des Bruders leben sollen? Vielleicht von seinem kümmerlichen Landratsgehalt? Und er mußte grimmig auflachen. Wie kläglich so ein zielbewußter und aufrechter preußischer Beamter im Inneren aussehen konnte, der nach außen hin immerhin einen leidlich anständigen Eindruck machte...

In einer dieser schwarzen Stimmungen, noch verschärft durch unfreundlich-kühles Wetter, gab es eine Begegnung, der er im letzten Augenblick am liebsten ausgewichen wäre, wenn's nicht wie lächerliche Feigheit ausgesehen hätte. Er kam eilig über den Marktplatz, um in der halben Stunde, die er sich gönnen durfte, im „Schwarzen Adler“ sein Mittagessen einzunehmen. Die Komteß Jelena trat, von einem Pakete tragenden Diener gefolgt, aus der breiten Ladentür des polnischen Basars. Er zog unwillkürlich den Hut, sie dankte nicht unfreundlich, verhielt ein wenig den Schritt, fast als wenn sie angesprochen sein wollte.

Ihm schlug das Herz bis in den Hals, einen Augenblick zögerte er noch, dann trat er auf sie zu. Wann hätte es wohl eine bessere Gelegenheit gegeben, den Makel zu tilgen, daß die junge Dame da in ihm einen gemeinen Denunzianten sah? Bei den ersten Worten klang seine Stimme heiser vor Erregung, wurde erst allmählich freier.

„Meine gnädigste Komteß“, sagte er, „ich bitte um Verzeihung, daß ich mir die Freiheit nehme, Sie auf offener Straße anzusprechen. Ich habe vor kurzem erfahren, Sie hegen gegen mich den kränkenden Verdacht, ich habe Sie in Berlin der Polizei denunziert, so daß Sie sich einer peinlichen Vernehmung unterziehen mußten...“

„O bitte sehr“, erwiderte sie zurückhaltend, „wir polnischen Damen müssen in Preußen ja immer auf solche Unannehmlichkeiten gefaßt sein.“

„Wenn diese Damen mit einem falschen Paß reisen, allerdings!“ versetzte er streng. „Aber da ich Wert darauf lege, selbst vor politischen Gegnern nicht in einem so schimpflichen Licht dazustehen... da, bitte“ — er griff in die Brusttasche — „lesen Sie die ersten Zeilen dieses Briefes! Da steht wörtlich: 'Trotz Ihres ritterlichen und menschlich begreiflichen Protestes habe ich mich aus höheren dienstlichen Rücksichten genötigt gesehen', na und so weiter!“

„Verbindlichsten Dank“, sagte sie, „der Fall ist ja nun aufgeklärt. Es war mir auch recht schwer gefallen zu glauben, daß der Träger eines in der Geschichte Polens so ruhmvoll bekannten Namens...“

„Verzeihung“, unterbrach er sie abweisend, „die Dolinga waren niemals Polen! Unser Geschlecht ist altpreußischer Uradel und seit Jahrhunderten deutsch!“ Er lüftete zum Abschied den Hut, sie hielt ihn mit einem Lächeln zurück.

„Eine kurze Frage nur noch, Herr von Dolinga! Weshalb nannten Sie mich eben eine 'politische Gegnerin'? Der Herr Kommissar hat in dem Briefe da über mich wohl recht schlimme Dinge geschrieben?“

„O ja, so allerhand! Aber da Sie, Komtesse, ja am besten wissen werden, was man Ihnen vorzuwerfen hat, wäre es wohl unnötig, Sie aufzuklären. Außerdem wohl auch kaum meines Amtes.“

Sie zuckte mit den Achseln.

„Ja, dann! Aber wenn auch ich den Wunsch haben sollte, vor Ihnen in keinem falschen Lichte dazustehen?“

„Sie vor mir?“

„Allerdings! Wäre das so verwunderlich?“

Er fühlte, wie ihm vor Verwirrung das Blut ins Gesicht stieg.

„Gewiß... oder vielmehr... nun denn, gnädigste Komteß, Sie werden mir zugestehen, wenn man sich zu dem Abenteuer hergibt, unter erheblicher persönlicher Gefahr einen so gefährlichen Menschen wie diesen berüchtigten Herrn Pytlasinsski aus Paris zu schmuggeln...“

Sie schlug die kleinen Hände zusammen.

Boże kochani, wenn Sie wüßten, wie ich harmloses unpolitisches Tierchen zu diesem angeblich so gefährlichen Abenteuer gekommen bin! Ich war, wie jedes Frühjahr, nach Paris gefahren. In der hochverräterischen Absicht, mit einer gewissen Dame Paquin über einige Toiletten zu konspirieren. Da wurde ich von Freunden gebeten, auf der Rückreise einen widerrechtlich von den Russen nach Sibirien verschleppten und von dort glücklich entflohenen Landsmann über die deutsche Grenze mitzunehmen. Als meinen Diener. Die Polin möchte ich sehen“, fügte sie mit blitzenden Augen hinzu, „die zu dieser Bitte Nein gesagt hätte! Wenn sie sich auch um die Politik gar nicht kümmert, absolut nichts davon versteht in ihrem dummen Köpfchen, sie ist doch Polin! Und hätten Sie in meiner Lage nicht ebenso gehandelt? Wenn es um einen Deutschen gegangen wäre?“

„Wahrscheinlich! Aber der gefälschte Paß?“

„Nun, der wurde mir in Paris ebenfalls gegeben! Herr Pytlasinski hatte natürlich auch einen deutschen Paß. Man sagte mir, man käme damit leichter über die deutsche Grenze. Ich fand es sehr drollig, zur Abwechslung einmal als simples Fräulein Ostermann zu reisen.“

„Und weshalb führten Sie diesen angenommenen Namen auch in Berlin weiter?“

'Mon Dieu', sagte sie mit einem komischen Seufzer, „sind Sie ein strenger Untersuchungsrichter! Meine dumme Zofe hatte mich unter diesem Namen im Hotel angemeldet. Sie hatte geglaubt, das sei nötig, weil wir mit ihm die Grenze passiert hätten. Sollte ich sie Lügen strafen? Sie starb sowieso schon vor Angst, bildete sich ein, sie würde hingerichtet werden, wenn man unser 'Verbrechen' entdeckte!“

Sie waren bei der Unterhaltung um den Marktplatz gegangen, aus hundert Fenstern von neugierigen und erstaunten Augen bespäht. An der Ecke der Kirchstraße blieb Jelena stehen.

„Ich möchte Sie nun nicht länger aufhalten, Herr von Dolinga! Aber auf Wiedersehen kann ich nicht sagen. Preußische Landräte verkehren nicht in polnischen Häusern! Also, mein Herr Vetter...“

Sie neigte mit drolligem Lächeln den zierlichen Kopf. Jetzt hielt er sie durch eine erstaunte Bewegung zurück.

„Verzeihung, Komteß! Habe ich mich verhört, oder sagten Sie eben...?“

„Ganz recht, ich sagte 'Herr Vetter'! Wissen Sie denn nicht, daß meine Mutter ebenso wie die Ihrige — es geht ihr übrigens sehr schlecht mit ihrem armen Herzen — ja also, daß auch meine Mutter eine geborene Napieha ist?“ Und mit einem Seufzer fügte sie hinzu: „Es ist eigentlich gar nicht lustig, dieses Verhältnis! Kusin und Kusine müssen sich als Fremde auf der Straße aussprechen, hundert Schritte weiter, im Hotel, erwartet mich Ihr Bruder Stanislaw Komierowski... Mit dem dürfen Sie natürlich auch nicht verkehren?“

Er riß sich gewaltsam zusammen, erwiderte schroff: „Bedaure, ganz und gar ausgeschlossen.“

Es zuckte um ihre Lippen, als wenn sie noch etwas sagen wollte, aber sie machte nur eine bedauernde Handbewegung. Und sie ging nach flüchtigem Gruß die Straße hinab, die zum „Weißen Adler“ führte.

Viktor sah ihr nach, bis die zierliche Gestalt hinter der ersten Biegung verschwunden war. Dasselbe violette Sammetkostüm trug sie, in dem er sie in Berlin gesehen hatte. Eine Ewigkeit schien ihm seit dem Morgen vergangen zu sein, so viel hatte er in dieser Zeit erlebt und erlitten. Und genau wie damals schmiegte sich der weiche Stoff an ihre schlanken Glieder, wippte der mit schmalem braunem Pelzwerk besetzte Rocksaum bei jedem federnden Schritt... Sein Glück ging da von ihm für immer. Vielleicht hätte es ihn nur ein Wort gekostet, es zu halten und mit ihm zu gehen —— das Wort hatte er nicht sprechen dürfen——

Wie lange er so gestanden hatte, wußte er nicht, er fuhr erschreckt zusammen. Jemand hatte kurz vor ihm den Hut gezogen, Herr Bauunternehmer Padöffke!

Der dicke Kerl grinste höhnisch.

„Nicht wahr, schöne junge Damen gibt's bei uns in Heinrichsburg? Namentlich unter denen, die der Dichter besingt: 'Der Polin Reiz bleibt unerreicht…' Das interessante Rendezvous ist übrigens viel bemerkt worden, Herr Königlich Preußischer Regierungsassessor.“

Viktor begnügte sich mit einem verächtlichen Achselzucken, ging langsam zum „Schwarzen Adler“ hinüber. Die weiche Stimmung war verflogen, er fing an, die kurze Unterredung nachzuprüfen und kritisch zu zerlegen. Und da wollte ihm scheinen, die Komteß habe vor ihm eine wohlberechnete Rolle gespielt, die zu ihrem wahren Wesen schlecht paßte. Wie stimmten zu ihrer so auffällig betonten politischen Harmlosigkeit die Worte, die der Herr von Pleßkow in seinem Briefe berichtet hatte: „Nimm dich in acht, dieses deutsche Schwein weiß von unseren Geheimnissen mehr, als wir ahnen...?“ Der Mann hatte doch keine Veranlassung, ihn zu belügen oder sich mit seiner Gewandtheit zu brüsten, mit der er politisch Verdächtige überlistete?... Nur schade, daß ihm nicht schon auf dem Marktplatze der Einfall gekommen war, der jungen Dame diese so belastende Äußerung vorzuhalten! Es wäre immerhin recht interessant gewesen, was sie darauf zu erwidern gewußt hätte. Und weshalb war sie jetzt so freundlich zu ihm, nachdem sie ihn in Berlin vor diesem Herrn Pytlasinski einen zudringlichen Tropf genannt hatte? Der Grund war durchsichtig genug: den Herrschaften in Friedrichstein war die Vorladung in die Glieder gefahren! Und mehr noch vielleicht die anbefohlene Untersuchung durch den Kreisarzt. Sie sahen daraus deutlich, er machte Ernst...

In jedem Falle, so durfte er sich sagen, hatte er sich nichts vorzuwerfen, hatte sich bei dem unerwarteten Zusammentreffen korrekt benommen. Über die versteckte Drohung aber, die in den anzüglichen Worten seines sogenannten Jugendfreundes gelegen hatte, lachte er. Stand er denn als offizieller Vertreter des Deutschtums hier im Kreise bei seinen Volksgenossen unter einer Art von Polizeiaufsicht? Verwehrte ihm sein Amt, mit einer Polin ein paar verbindliche Worte zu wechseln? Unleidlich erschien ihm eine solche pharisäische Bevormundung! Und unerträglich dünkte ihn der Zwang, unter dem er hier leben sollte. Wie in einer jener schmalen Gassen, die durch ein Dorf im Süden führte, ging er dahin, rechts und links von hohen Steinmauern gefriedet. Hinter den grauen Mauern blühten Rosen, reiften Orangen und köstliche Früchte ohne Zahl, er durfte nicht hinüberspähen, mußte wie ein Lasttier die staubige Straße geradeaus traben. Auf dem Rücken das Amt, hinter sich die Peitsche eines gegebenen Wortes. Und zum Überfluß kam noch dieser Berliner Polizist her, versuchte, ihn weiter zu treiben, als er ohnedies schon zu gehen hatte! Was wußte er denn von diesem Menschen, daß er seine Schilderung auf Treu und Glauben hinnehmen sollte? Bei näherem Hinsehen schielte fast hinter jedem Wort die liebe, selbstbewußte Eitelkeit hervor: „Ich, der Vielerfahrene und Kluge, spiele mit den Menschlein, die in meinen Bereich kommen, wie mit Puppen…“ Solche Leute neigten des Effektes halber zu Übertreibungen! Vielleicht auch zu kleinen, dichterischen „Korrekturen der Wahrheit“ ... Und ob dieser Herr Kommissar, peinlich befragt, wohl hätte beschwören können, daß Jelenas Worte bei der Begrüßung ihres Reisegefährten wirklich eine dazu noch so vulgär klingende Warnung enthalten hatten? Er konnte sich die Worte „deutsches Schwein“ aus ihren Lippen nicht vorstellen! Und wie hatte dieser Herr sie genannt? Eine „glänzende Komödiantin“? Er selbst traute sich auch eine gewisse Menschenkenntnis zu, und da lautete sein Urteil anders. Etwas Schlichteres und bei aller Einfachheit Herzlicheres als die Worte, die sie über den betrübenden Gegensatz zwischen Pflicht und Verwandtschaft gesprochen hatte, konnte er sich nicht gut vorstellen.

Und wer weiß... vielleicht... wenn das Glück ihm hold war... wenn sie wirklich das „dumme, ganz und gar unpolitische Köpfchen“ war, als das sie sich selbst bezeichnet hatte —— Weshalb sollte es einem preußischen Beamten verwehrt sein, um ein solches Mädchen zu werben?... Nur weil es Polin war? Auf die Abstammung kam es doch in einem solchen Falle nicht an, ausschließlich auf die Gesinnung. Wenn man mehr forderte, durfte er selbst sich doch auch nicht als Deutschen bezeichnen...

Da kam es über ihn wie ein feiner und fröhlicher Rausch. Zum erstenmal seit langer Zeit sah er am Ziel seines grauen Wegs ein freundliches Lichtlein blinken ——

Die Komtesse Jelena aber war mit dem Ergebnis der Begegnung, die keine ganz zufällige gewesen war, nicht zufrieden. Bei den ersten Worten, die dieser ins feindliche Lager übergegangene Sohn einer polnischen Mutter an sie richtete, hatte sie zu ihrer Genugtuung gemerkt, er war noch genau so töricht verliebt wie vor jenen Tagen, als er ihr in Berlin wie ein Hündchen nachlief. Nachher aber hatte er Selbstbeherrschung und Charakter gezeigt... Sie hatte geglaubt, sie brauchte nur ein paar freundliche Worte zu sprechen, um in seinem Gesicht die demütige Bitte um eine Einladung zu lesen. Einen gar verführerischen Köder hatte sie ihm hingehalten, die Aussicht auf ein durch die nahe Verwandtschaft bedingtes vertraulicheres Verhältnis. Er hatte die Lockung schroff zurückgewiesen, sie aber hatte in dem Augenblick, wo er stolz ausgerichtet vor ihr stand, zum ersten Male gesehen, mit wem sie ihr Spiel zu treiben gedachte. Wie der Achill aus dem glorreichen Geschlecht der Napieha, der sich im Krakauer Dom, in Marmor gemeißelt, über dem Grab eines herrlichen, von den Russen zu Tode gemarterten Jünglings erhob, war er ihr erschienen. Und sie hatte unwillkürlich Vergleiche gezogen. Dünne und immer feuchte Finger hatte dieser Prinz Tartoryski zudem; ein Schauer flog über ihren Nacken, wenn sie daran dachte, diese feuchten Finger sollten einmal nach ihrem unberührten und so stolzen Leibe langen...

Im polnischen Hotel empfing sie der Vater mit fragendem Gesicht. Sie zuckte die Achseln.

„Ich hab' mit ihm gesprochen. Er denkt nicht dran, seine Haltung zu ändern!... Und das Schlimmste: dieser Kommissar in Berlin hat ihm über meine und Pytlasinskis Vernehmung einen Brief geschrieben! Da gehört keine große Phantasie dazu, sich zu sagen, daß wir nichts Gutes von ihm zu erwarten haben.“

„Nun, und wenn du ihm auch morgen mittag begegnen würdest?... Übermorgen kommen unsere Gäste.“

Jelena schüttelte den Kopf.

„Ich tu's nicht mehr! Schon jetzt komm' ich mir so gemein und erniedrigt vor... wie eine Anreißerin vor einem Altkleiderladen in Warschau komm' ich mir vor!“ Und mit einer unbändigen Bewegung schrie sie auf: „Läuse krieg' ich, wenn ich's noch einmal versuchen soll!“

Graf Zbigniew schrie mit zornrotem Gesicht zurück: „Na, und ich? Ein Magnat, der von Kowno bis Wilna fahren kann auf eigenem Grund und Boden, ich soll diesem kleinen preußischen Kläffer schöntun? Laß die doch den Brei auslöffeln, die ihn angerührt hat!... Aber die liegt im Bett, hat Nerven und Herzgeschichten. Der Teufel hat mich geritten, als ich sie in mein Haus lud.“

Jelena sah mit zornigen Augen zum Fenster hinaus, der Vater ging mit starken Schritten in der leeren Gaststube auf und ab. Das Wort, daß er von Kowno bis Wilna auf eigenem Grund und Boden fahren konnte, war keine Übertreibung. Ein Besitz von der Größe eines Fürstentums gehörte ihm in Russisch-Polen. Das russische Gesetz, daß Ausländern kein Grundeigentum gehören durfte, war nur für die Dummen da, die es nicht zu umgehen verstanden. Ein armer Vetter, der russischer Untertan war, hatte die dem Grafen Zembricki durch Erbgang zugefallenen Liegenschaften „gekauft.“ Er stahl wie ein Rabe, machte sich ein nach Hunderttausenden von Rubeln zählendes Vermögen — was lag daran? Es blieb noch genug übrig.

Graf Zbigniew trat zu der zärtlich geliebten Tochter, zog ihr Köpfchen von rückwärts an die Brust.

„Na na na, mein Augapfel, mein geliebter, sei wieder gut! Für wen leb' ich denn auf dieser Welt als für dich? Selig die Stunde, in der ich als erster vor meiner Tochter und Königin huldigend das Knie beugen darf! Also komm', laß uns nochmal in Ruhe überlegen, was hier am besten ist.“

Sie erwiderte den Kuß, den er auf ihre Wange drückte.

„Goldenes Väterchen, ich weiß, du hast mich lieb! Du wirst nicht verlangen, ich soll mich noch einmal demütigen! Vielleicht ist's wirklich am besten, wenn jetzt Tante Leska der Vorladung folgt und dabei versucht...“

Graf Zbigniew nickte.

„Gewiß, mein Kind! Aber nicht gleich. Auch die Sache müßte erst ordentlich vorbereitet werden.“

Vor den Fenstern draußen ging ein hochgewachsener junger Mann vorüber, eine schwarze Aktenmappe unter dem Arm. Frei hob sich sein wohlgeformter Kopf über kräftigen Schultern. Als er die Front des Gasthofes entlangschritt, blickte er suchend in die Fenster. Ein verteufelt hübscher Bursch mit den großen blauen Augen über der feingeschnittenen Nase und dem schöngeschwungenen Mund!

Jelena war unwillkürlich zurückgetreten, eine feine Röte stieg ihr in den Wangen empor.

„Das war er“, sagte sie. „Und findest du nicht auch, Väterchen, ein echter Napieha?“

Graf Zbigniew pfiff leise durch die Zähne. Er glaubte zu erraten, was in dem Herzen seines Töchterchens vorging. Einen Froschkönig sollte es heiraten, und der da draußen war ein wirklicher Prinz... Aber solche flüchtigen Regungen gingen vorüber. Dazu war sein liebes Mädel zu ehrgeizig und vernünftig. Und übermorgen war die Verlobung...

„In der Tat“, sagte er lässig, „der junge Herr schlägt ein wenig auch in die Verwandtschaft deiner unvergeßlichen Mutter! Merkwürdig, daß ein so echt aussehender Pole hat fanatischer Preuße werden können... Schön, man muß es mit ihm versuchen! In einer Stunde hoffe ich wieder zurück zu sein.“ Und mit einem Lächeln fügte er hinzu: „Ich glaube, ich werd' mit ihm fertig werden. Soviel ich nämlich weiß, führt der kürzeste Weg vom Marktplatz nach dem Landratsamt nicht gerade am 'Weißen Adler' vorüber.“

13.

 

Unter den mit der Mittagspost gekommenen Eingängen befand sich auch der Bericht des Herrn Kreisphysikus Petitpierre. Er lautete kurz, nach sorgfältiger Untersuchung der Gräfin Komierowska müsse der von dem polnischen Arzte festgestellte Befund bestätigt werden. Die Dame sei bettlägerig, eine Vorführung unter Zwang erscheine ohne schwere Schädigung ihrer Gesundheit ausgeschlossen.

„Was machen wir da nun?“ fragte Viktor, reichte das Schriftstück seinem neben dem Schreibtische stehenden Kreissekretär hinüber. Der alte Herr las den Bericht sorgfältig durch.

„Hm“, sagte er, „da gibt's jetzt verschiedene Wege. Herr Regierungsassessor können die Frau Gräfin auf Schloß Friedrichstein durch einen Gendarm vernehmen lassen. Wir können sie aber auch schriftlich auffordern, sich innerhalb von drei Tagen unter Vorlegung der nötigen Papiere über ihre Staatsangehörigkeit auszuweisen.“ Und mit einem zufriedenen Schmunzeln fügte er hinzu: „Heute ist Mittwoch — wenn das Glück gut ist, können wir Anfang nächster Woche schon sagen: Empfehlen uns gehorsamst, Frau Gräfin! Hier im Kreise Heinrichsburg wird nicht mehr gehetzt und agitiert!“

Draußen, von der Auffahrtsrampe her, erklang das Rollen eines Wagens, der alte Kanzleirat sah unwillkürlich zum Fenster hinaus. Aber sein Gesicht flog es fast wie Erschrecken.

„Der Herr Graf Zembricki kommt eben vorgefahren!“

„Wer?“

„Der polnische Graf aus Friedrichstein! Und... und verzeihen Sie, Herr Regierungsassessor, wenn ich mir herausnehme... wir haben uns nun so schön eingearbeitet in den vierzehn Tagen... eine wahre Freude ist's, und den Herren Polen ordentlich in die Knochen gefahren...“

„Na und?“

„Ja... ich bitte um Entschuldigung, da wollte ich ganz ergebenst... diesen Herrn Grafen kenne ich nämlich aus dienstlichem Verkehr seit zwanzig Jahren. Das Verschlagenste, Rücksichtsloseste und Gefährlichste, was man sich vorstellen kann!“

Viktor lachte auf. Aber es kam nicht recht von Herzen.

„Und da haben Sie, lieber Kanzleirat, Angst, ich werd' mich von diesem 'gefährlichen' Herrn einwickeln, womöglich gar umkrempeln lassen?“

„Nein, das nicht, Herr Regierungsassessor! Das wäre ja... und wie sollte ich mir herausnehmen, eine solche Vermutung? Bloß ganz gehorsamst zur Vorsicht raten möchte ich! Mich hat dieser Herr Graf vor jenen zehn Jahren beinahe aus Amt und Brot gebracht durch eine Denunziation bei der Regierung. Weil ich bei einer dienstlichen Unterredung die unbedachte Kritik eines Vorgesetzten ausgesprochen hatte, zu der er mich gewissermaßen verleitet hatte.“

Ein Schreiberlein aus dem Meldezimmer brachte mit allen Zeichen von Respekt eine Visitenkarte. „Zbigniew Graf Zembricki-Friedrichstein“ las Viktor.

„Ich lasse bitten“, sagte er; der alte Kanzleirat empfahl sich mit einem schweren Seufzer. Der Besucher kam zur anderen Tür herein, und Viktor blickte unwillkürlich überrascht auf. Eine pompöse Männererscheinung stand da vor ihm, wie aus dem berühmten Huldigungsbilde Mateykos in der Krakauer Akademie geschnitten. Auf breiter Gestalt ein wohlgeformter, mächtiger Kopf, in kühnem und freiem Gesicht ein paar klare Augen.

Graf Zembricki verneigte sich leicht. „Habe ich die Ehre mit Herrn Regierungsassessor von Dolinga?“

Viktor erwiderte die Verneigung.

„Zu dienen! Darf ich fragen, was Sie zu mir führt, Herr Graf?“ Er blieb neben dem Schreibtische stehen, zum Zeichen, daß er der bevorstehenden Unterredung nur eine kurze Dauer zu geben wünsche. Der andere runzelte leicht die Stirn.

„Verzeihung, Herr Regierungsassessor, wird in diesem Bureau nur deutschen Besuchern ein Stuhl angeboten?“

Viktor fühlte, wie ihm eine Blutwelle ins Gesicht schoß. Zugleich aber sagte er sich unwillkürlich: Wer so schroff auftrat, kam sicherlich nicht in der Absicht, den anderen gleisnerisch einzuwickeln...

„Ich bin sehr beschäftigt“, entschuldigte er sich.

„Und ich muß den Anspruch erheben“, sagte der Graf nachdrücklich, „hier genau so behandelt zu werden wie andere Grundherren des Kreises! Und ich mache Sie darauf aufmerksam, ich bin ebenso gut Preuße wie Sie, Herr von Dolinga!“

Viktor hatte Mühe, eine zornige Aufwallung zu unterdrücken. Er deutete auf einen Stuhl.

„Also um was handelt es sich, Herr Graf?“

„Verbindlichsten Dank, um eine ganze Kleinigkeit! Um das Ersuchen, gegen Ihre Frau Mutter, die Gast in meinem Hause ist, diejenigen Rücksichten zu üben, die Sie sicherlich auf das ärmste deutsche Tagelöhnerweib nehmen würden! Wenn eine solche armselige Person ein ärztliches Attest einreicht, sie kann zu einem Termin nicht erscheinen, schickt man ihr doch nicht gleich den Kreisarzt auf den Hals zu einer peinlichen Untersuchung?“

„Herr Graf, ich muß mir jede Kritik meiner amtlichen Tätigkeit ebenso höflich wie energisch verbitten!“

„Und ich muß Ihnen sagen, in Ihrem Vorgehen liegt ein ganz ungerechtfertigtes und beleidigendes Mißtrauen! Meine Kusine, die Gräfin Komierowska, wäre bereitwillig zu der Vernehmung gekommen, wenn ihr Gesundheitszustand das erlaubt hätte. Sie hat ja nichts weiter zu erklären als: 'Ich bin österreichische Untertanin, Herr Landrat, also, bitte, weisen Sie mich aus, wenn Sie glauben, diese Maßregel verantworten zu können!' Aber wir Bürger polnischer Nationalität sind ja gewöhnt, mit einem anderen Zollstock gemessen zu werden als die übrigen Preußen.“

„Diese Bemerkung muß ich zurückweisen, Herr Graf! Wenn die Herren Polen sich darüber beklagen, daß man sie nicht gerade mit Glacéhandschuhen anfaßt, müßten sie sich bei einiger Überlegung doch sagen, sie haben sich diese Behandlung lediglich selbst zuzuschreiben!“

Graf Zbigniew sprang mit einer leidenschaftlichen Bewegung auf.

„Und darf ich fragen, weshalb, Herr von Dolinga? Was tun wir denn Unrechtes? Verstoßen wir vielleicht gegen Ihre und unsere Gesetze?“

Viktor mußte sich zusammennehmen, bei diesem herausfordernden Auftreten seine Ruhe zu behalten.

„Herr Graf, Sie werden von mir wohl nicht verlangen, daß ich mich jetzt mit Ihnen auf eine Erörterung der Polenfrage einlasse!“

„Und wollen Sie mir vielleicht sagen, weshalb nicht?“ erwiderte der andere. „Sie regieren hier im Kreis doch über genug Polen! Aber auf wen hören Sie? Haben Sie vielleicht schon einen von uns kommen lassen: 'Bitte, was sind nun Ihre Beschwerden?' Aber entschuldigen Sie, wenn ich um die Erlaubnis bitte, mir eine Zigarette anstecken zu dürfen... Das Thema erregt mich jedesmal so.“

„O bitte sehr.“

Graf Zbigniew sog den ersten Zug tief in die Lungen, über sein gebräuntes Gesicht flog ein Lächeln.

„Sehen Sie, Herr von Dolinga, ich bin schon wieder ein ganz friedlicher Mensch! Und um nun zunächst den Fall Ihrer Frau Mutter zu erledigen: Glauben Sie, ich wäre mit der lebhaften Tätigkeit einverstanden, die sie hier entfaltet hat?“

„Was Sie sagen!“

„Sie zweifeln daran? Hoffentlich bleiben Sie lange genug hier in unserem Kreis, um mir diesen Zweifel einmal abzubitten. Ich will nichts weiter als Ruhe und Frieden! Und nun wollen wir mal den Fall annehmen, Sie lassen Ihre Frau Mutter ausweisen. Was wird der Erfolg sein? In drei Monaten wird sie wieder dasein, mit der preußischen Staatsangehörigkeit — sie hat in Berlin recht einflußreiche Freunde! Dann aber kommt sie als Märtyrerin zurück! Ausgewiesen von dem eigenen Sohn, aber — Gott und der heiligen Jungfrau sei Dank — die gerechte Sache der Kirche und Polens hat gesiegt! Die Gräfin kauft sich mit ihrem vielen Geld hier im Kreis ein Gut und nimmt die unterbrochene Arbeit mit frischen Kräften auf.“

„Vielleicht haben wir bis dahin ein Gesetz, das uns gestattet, einen solchen Kauf zu hindern.“

Jetzt trat aus das Gesicht des Grafen ein fast mitleidiger Ausdruck.

„Mein lieber Herr von Dolinga — nehmen Sie's nicht übel — ein solches Gesetz... eher erleben wir die Wiederherstellung des Königreiches Polen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer! Ihre Beschwerde aber, daß wir in Ostpreußen 'einbrechen', uns hier breitmachen und die Deutschen verdrängen... ja, verehrter Herr, wo sollen wir denn hin? Ein preußischer Minister hat einmal gesagt, wir Polen vermehren uns wie die Kaninchen. Das Wort ist richtig. Mein 'Oberschweizer' zum Beispiel, der die Viehwirtschaft versieht, hat zweiundzwanzig, ein anderer Tagelöhner achtzehn Kinder. Wollen Sie mir erklären, wo wir mit diesen Kindern bleiben sollen? Vielleicht ersäufen wie junge Katzen? Oder sollen wir sie zu unseren Todfeinden, den Russen, schicken? Machen Sie aus diesen Kindern zufriedene Bürger, und die polnische Frage ist für Sie gelöst! Na schön — wir haben uns ausgesprochen, ich bitte, mich empfehlen zu dürfen, Herr von Dolinga!“

Viktor hob die Hand. Das alles klang so glaubwürdig, und — wenn er ehrlich sein wollte — die Argumente wiederholten nur, was er selbst früher gedacht und geglaubt hatte.

„Einen Augenblick noch, Herr Graf! Möchten Sie mir aber erklären, weshalb Sie für Ihre Person dieses Bedürfnis nach Ausbreitung haben? Weshalb Sie jeden masurischen Bauer auskaufen, den Sie kriegen können, und jetzt auch Ihre Hand nach dem deutschen Gut Amalienau ausstrecken?“

Graf Zbigniew steckte sich eine neue Zigarette an und machte ein komisch-verschmitztes Gesicht.

„Wenn Sie mir versprechen, das Geheimnis keinem Menschen zu verraten: Ich will aus Friedrichstein ein selbständiges Königreich machen! 'Zbigniew der Erste', finde ich, würde sich sehr sein anhören! Aber jetzt im Ernst gesprochen: Was machen denn Ihre deutschen Großgrundbesitzer, wenn sie so wohlhabend sind wie ich? Sie kaufen zu, was sie kriegen können! Ist das also bei einem Polen ein Verbrechen?“

„Nein“, erwiderte Viktor unsicher. „Aber all diese — wie ich gerne zugeben will — recht geschickt aneinandergereihten Argumente können doch eine Tatsache nicht aus der Welt schaffen! Daß Sie sich nämlich niemals mit einer friedlichen Ausbreitung begnügen, sondern mit ihr stets die Propagierung großpolnischer Tendenzen verbinden! Hier bei uns in Ostpreußen dasselbe versuchen, was Ihnen in Oberschlesien leider so erfolgreich gelungen ist, das heißt, aus einer gut preußischen eine rein polnische Bevölkerung zu machen!“

„Entschuldigen Sie“, sagte der andere mit überlegenem Lächeln, „Sie geben zu, daß wir Polen in Posen und Westpreußen unter einigen mehr oder weniger unbequemen Ausnahmebestimmungen leben?“

„Allerdings!“

„Und wie sind diese Bestimmungen zu ändern oder abzuschaffen?“

„Durch den preußischen Landtag!“

„Na sehen Sie! Kann man es uns Polen da verdenken, wenn wir uns dieses vollkommen gesetzlichen Mittels bedienen? Das heißt, durch Ausbreitung unseres Einflusses so viel polnisch gesinnte Abgeordnete in den Landtag zu schicken versuchen, als nur irgend möglich ist?“

Viktor atmete tief auf. Wenn man diesen Gedanken weiterdachte, führte er zu der Versöhnung, die er heißer ersehnte denn je. Nicht nur für die Allgemeinheit wäre es ein Weg aus allen Konflikten und Nöten gewesen.

„Herr Graf“, sagte er warm, „Ihre ganze Art, sich zu geben, läßt mich vermuten, daß Sie auch in der Politik verschmähen, sich unlauterer Mittel zu bedienen! Also denn eine Frage von Mann zu Mann! Wenn diese unbequemen Bestimmungen gefallen wären — könnten wir da annehmen, die Polen würden sich dazu verstehen, loyale preußische Untertanen zu werden?“

Graf Zbigniew hob die breiten Schultern.

„Ich bin kein Prophet, Herr von Dolinga! Fanatiker gibt's auf beiden Seiten, und die Erbitterung auf polnischer Seite ist groß. Meine persönliche Meinung ist, jede Regierung hat die Polen, die sie verdient. Die österreichische hat die besten, weil sie die weichste Hand hat!“

„Und weshalb auch dort, in Galizien, das ungestüme Verlangen nach Vereinigung aller durch drei Landesgrenzen getrennten Polen? Das unablässige Bemühen, das Polenreich in alter Herrlichkeit wiedererstehen zu lassen?“

Der Graf strich sich den dichten, schwarzen Schnurrbart.

„Sie verstehen einem auf den Zahn zu fühlen, Herr von Dolinga! Die Einsichtigen unter uns erhoffen eine Zeit, in der zwei der drei Reiche, die sich in unseren Rock geteilt haben, ein dringendes Bedürfnis empfinden werden, das polnische Reich im eigenen Interesse wiederherzustellen. Für die anderen möchte ich Ihnen als Entschuldigung die Geschichte Preußens und Deutschlands anführen. Was geschah in Preußen, als es von der harten Faust Napoleons zu Boden geschlagen war? Und lebte in dem zerrissenen Deutschland vielleicht in den schlechtesten Herzen der brennende Wunsch, das Vaterland wieder einig zu sehen?“

Viktor richtete sich auf. Als eine Blasphemie erschien es ihm, die Einheitsbestrebungen Deutschlands mit polnischen Zetteleien auf eine Stufe zu stellen. Dieses Volk hatte sein Recht verwirkt, denn es hatte den eigenen Rock schmählich verkauft!

„Verbindlichsten Dank“, sagte er, „es hat mich recht interessiert, einmal die Meinung der Gegenseite kennenzulernen. Sie werden mir zugestehen: solange es polnische Ziele gibt, die nur durch eine Zertrümmerung des preußischen Staates zu erreichen sind, wird es auch Abwehrmaßregeln geben müssen. Und weiter: Hört hier in Ostpreußen die großpolnische Agitation nicht bald auf, haben Sie auch hier ähnliche Ausnahmebestimmungen zu erwarten wie in Westpreußen und Posen! Ich kann Ihnen sogar sagen, die Entrüstung über diesen neuen Einbruch in ein bisher gut preußisches Land ist so groß, daß es vielleicht auch zu einem recht scharfen Gesetz kommen könnte.“

„Dessen Entwurf natürlich von der Hand Ihres Herrn Bruders herrühren würde!“ warf der andere ein. „Ein sehr kluger und unterrichteter Mann, der Herr Geheimrat im Ministerium, seit langen Jahren — wenn ich so sagen darf — der intellektuelle Urheber aller polenfeindlichen Maßregeln. Nur schade, wir Eingeweihten wissen, auf welche Motive diese feindselige Politik zurückzuführen ist.“

Viktor brauste auf.

„Herr, was wollen Sie damit sagen?“

Um den vom dichten Schnurrbart beschatteten Mund des Grafen flog ein Lächeln. Der junge Herr da machte es ihm leichter, als er gedacht hatte. Er hob beteuernd die Hand.

„Um Gottes willen, nichts, was gegen den Charakter Ihres Herrn Bruders spricht! Ich bin überzeugt, er würde auf dem Totenbette noch schwören, er habe sich nie durch andere als durch rein sachliche Gründe leiten lassen. Manchmal nämlich sind wir uns der letzten Triebfedern unserer Handlungen gar nicht bewußt. Wir jedoch, die wir wissen, in welchem Verhältnis Ihr Herr Stiefbruder zu Ihrer Mutter gestanden hat...“

Viktor zwang sich gewaltsam zur Ruhe.

„Nach diesen Andeutungen werden Sie die Güte haben müssen, mir dieses Verhältnis ein wenig näher zu schildern!“

„Gewiß, warum nicht? Auf meine Kusine, Ihre Frau Mutter, fällt dabei nicht das geringste schlechte Licht. Aber ich möchte vorher doch ausdrücklich feststellen, daß nicht ich es war, der bei unserer Unterhaltung diese Wendung ins Persönliche provoziert hat.“

„Meinetwegen, nur weiter...“

„Nun denn, es ist eigentlich eine ziemlich alte Geschichte. Die Geschichte von der schönen jungen Mutter und dem erwachsenen Stiefsohn. Ihr Dichter Schiller hat daraus ein Drama gemacht. Unser Fall hat nur eine kleine Variante. Die schöne Stiefmutter lebte mit dem alten König die ersten Jahre recht glücklich, hatte nicht die geringste Veranlassung, der unsinnigen und verbrecherischen Werbung des Kronprinzen anders als mit kühler Nichtachtung zu begegnen.“

„Herr Graf“, sagte Viktor schwer, „Sie sprechen da eine so fürchterliche Anschuldigung aus...“

Graf Zbigniew machte ein ernstes Gesicht.

„Nicht gerne, Herr von Dolinga, verlassen Sie sich drauf! Aber soll ich Ihrem Herrn Bruder zu Gefallen vielleicht gegen meine innerste Überzeugung sprechen? Ich kenne genug glaubwürdige Menschen, die diese Tragödie miterlebt haben. Die Entwicklung eines Hasses, wie er nur aus verschmähter Liebe entspringt!“

„Und wie will meine Mutter erklären, daß sie mich nach der Scheidung von meinem Vater einfach im Stich ließ? Hilflos im Stich ließ, daß ich hätte verkommen müssen wie ein ausgesetztes kleines Tier, wenn der Stiefbruder sich meiner nicht angenommen hätte?“

Der Graf legte ihm in impulsiver Aufwallung die Hand auf die Schulter.

„Mein lieber junger Herr, es tut mir aufrichtig leid, daß ich bei Ihnen so schmerzliche Erinnerungen geweckt habe! Aber jetzt ist unser Gespräch bei einem Punkt angekommen, wo ich feierlich erklären muß, ich halte mich nicht für befugt, den Schleier zu lüften, der über dieser unerquicklichen Familiengeschichte liegt. Es ist vielleicht auch besser, man rührt sie nicht wieder auf, läßt sie für alle Zeiten begraben sein.“

Viktor ging in heftiger Erregung auf und ab. Er selbst hatte sich in diesen Tagen Ähnliches gesagt, wenn er das seltsame Verhalten des Bruders zu erklären versuchte. Jedesmal aber, wenn die schweren Vorwürfe sich einstellten, hatte er sie sich mit hundert Gegengründen fortbewiesen. Nur, wie hatte Ulrich vor wenigen Wochen in Berlin selbst gesagt?

„Ich bin schon verheiratet! Mit einer häßlichen Erinnerung...“

Er blieb dicht vor seinem Besucher stehen, hatte Mühe, die paar Worte herauszubringen.

„Und wenn ich Sie, Herr Graf, nun bitten würde, mir Gelegenheit zu einer Aussprache mit meiner Mutter zu geben?“

„Um Gottes willen! Sie ist durch das Verhalten Ihres Bruders so maßlos erbittert, Sie selbst haben sie durch Ihre Verfügungen so furchtbar aufgeregt, daß bei ihrem leidenden Zustand...“

„Herr Graf, ich bitte Sie — meine Mutter muß mir diese Unterredung gewähren! Von dem, was sie mir zu sagen hat, hängt für mich mehr ab, als... nun gut, was davon für mich abhängt, ist meine Sache ganz allein.“

Der Graf schien ein paar Augenblicke zu überlegen.

„Also gut, ich sehe ein, Sie haben ein gewisses Recht zu dieser Forderung! Ein Mann in Ihrer Lage muß wissen, ob er seine Mutter verachten soll, oder um Verzeihung bitten... Also ich fahre jetzt nach Hause, will versuchen, die Gräfin vorzubereiten. Wann darf ich Sie telephonisch anrufen, um Ihnen die Entscheidung mitzuteilen?“

„Ich bin bis zum späten Abend hier auf dem Amt zu erreichen.“

„Schön! Sollte die Gräfin geneigt sein, Ihnen die erbetene Unterredung zu gewähren, würde ich Sie bitten, mit dem Abendzug bis Friedrichstein zu fahren. Von dort gehen Sie ein paar hundert Schritte zu Fuß, finden auf der Chaussee einen meiner Wagen, und der Kutscher weiß Bescheid.“

Viktor richtete sich auf.

„Wenn ich's für richtig halte, mich mit meiner Mutter auszusprechen, habe ich's wohl kaum nötig, diese Fahrt mit dem Schleier des Geheimnisses...“

Graf Zbigniew unterbrach ihn mit einem bedenklichen Kopfschütteln.

„Na, ich weiß nicht! Wer sagt Ihnen denn, wie die Unterredung mit Ihrer Mutter ausfällt? Ich, mein lieber Herr von Dolinga, garantiere Ihnen, ich denke vernünftig genug, daß ich's Ihnen nicht übelnehme, wenn Sie sich durch diese Aussprache nicht im geringsten beeinflussen lassen. Sie haben so lange unter der Hand Ihres Herrn Bruders gestanden — vielleicht glauben Sie gar nicht, was die Mutter Ihnen zu sagen hat?... Aber jetzt kommen die Herren vom Ostmarkenverein! Ich bitte um Entschuldigung — in meinen Augen eine sehr engherzige Gesellschaft! Wie ich die kenne, dürfte der Besuch in Friedrichstein für sie eine ewige Quelle des Mißtrauens sein.“

„Nun denn, meinetwegen! Es soll so sein, wie Sie's für gut befinden. Und jetzt, Herr Graf, danke ich Ihnen für den Besuch, der mir zuerst so unwillkommen war!“

Der andere verneigte sich mit liebenswürdigem Lächeln.

„Ein Resultat, das ich nicht erwartet hatte, als ich mit meinem entrüsteten Protest zu Ihnen kam! Wollte Gott, auch die Mißverständnisse auf anderem Gebiet ließen sich in so vernünftiger Form lösen.“

Viktor geleitete seinen Besucher höflich zur Tür. Als er zu seinem Schreibtisch zurückkehrte, mußte er sich hinsetzen. Die Knie versagten ihm den Dienst. Und hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken. Jedes Wort des Hasses rief er sich ins Gedächtnis zurück, das Ulrich gegen die Mutter gesprochen hatte. Und da wollte ihm scheinen, es bedurfte gar nicht mehr der bevorstehenden Aussprache! Schon jetzt konnte er dem Bruder den Vorwurf ins Gesicht schleudern: „Hattest du denn keine Spur von Gewissen im Leib, daß du in deinem Haß so frivol und verbrecherisch mit Menschenschicksalen spieltest? Wundere dich nicht, wenn ich dir die Gefolgschaft aufkündige, mir meinen eigenen Weg suche...“

Der alte Kanzleirat Wichotta erschien in der Tür, im Arm die dicke Mappe mit den zu unterzeichnenden Schriftstücken.

„Verzeihung, Herr Regierungsassessor, wenn ich nicht länger warten konnte... gerade heute liegt so viel vor...“

Viktor fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

„Ach so, an Sie hatte ich gar nicht mehr... Also, bitte, geben Sie her.“ Und er unterschrieb Akt für Akt. Beim letzten stutzte er.

„Wollen Sie mir gefälligst erklären, was das hier bedeutet?“

„Nun, die Verfügung, die Gräfin Komierowska habe sich innerhalb von drei Tagen schriftlich über ihre Staatsangehörigkeit zu äußern!“

„Hatte ich Ihnen den Auftrag gegeben, diese Verfügung aufzusetzen?“

„Nein, Herr Regierungsassessor, aber ich dachte...“

„Das wollen wir doch nicht einführen!“ unterbrach ihn Viktor scharf. „Ich muß Sie ersuchen, Herr Kanzleirat, in so wichtigen Fragen vorher meine Entscheidung einzuholen!“

„Dann soll die Verfügung wohl überhaupt nicht abgehen?“

„Weiß ich noch nicht! Das wird von den Umständen abhängen. Vorläufig ist die Gräfin mal schwerkrank. Darf sie in diesem Zustand etwa weniger Rücksicht beanspruchen als irgendein Tagelöhnerweib?“

Der alte Herr seufzte unmerklich auf. Die „Akten Komierowska“ lasen sich erheblich anders als noch vor einer Stunde... Aber das kam davon, wenn man den Versucher hereinließ, statt ihm die Tür zu weisen! Und die weitere Entwicklung konnte man sich denken. Nur, da spielte der alte Wichotta nicht mit! Er reckte die untersetzte kleine Gestalt so gut heraus, als es ging.

„Herr Regierungsassessor, ich bitte zur Kenntnis nehmen zu wollen, daß ich mit dem heutigen Tage mein Pensionierungsgesuch einreiche!“

„Ja weshalb denn auf einmal? Vorige Woche haben Sie mir doch erst gesagt, Sie würden mit mir noch ein paar Jahre so fort arbeiten?“

„Sehr wohl, Herr Regierungsassessor, aber inzwischen hat sich hier einiges geändert! Ich will die paar Tage, die ich noch vor mir habe, dem Kampf für das bedrohte Deutschtum in meiner masurischen Heimat widmen! Ohne die Befürchtung, damit bei meinem unmittelbaren Vorgesetzten vielleicht Anstoß zu erregen.“

Viktor wollte zornig auffahren, aber er fühlte deutlich, der Alte da mit seinen funkelnden Brillengläsern sah ihn durch und durch. Sah vielleicht mehr, als er selbst sich im Augenblick eingestehen mochte. Und er sagte mühsam: „Es ist gut, Herr Kanzleirat! Ich bitte, mir das Gesuch zur Befürwortung vorzulegen.“

Der alte Herr, der an bescheidenem Platze seinem Könige mehr als fünfzig Jahre gedient hatte, war gegangen. Viktor blieb allein zurück. Allein mit seinen Gedanken... Und da überfiel es ihn jäh: Was wurde aus ihm, wenn ihm die Mutter bewies, er sei hier nur das Werkzeug einer niedrigen und unwürdigen Rache? War er dann seines Wortes ledig, oder mußte er sein Amt pflichtgemäß weiterführen? Ganz hilflos stand er vor diesen Fragen, keinen Menschen weit und breit, mit dem er sich hätte aussprechen, von dem er klugen Rat hätte holen können. Der eine, dessen Pflicht es gewesen wäre, ihm belzustehen, hielt sich heimtückisch zurück. Kein Wunder. Der Pfeil war abgeschnellt, der meuchlerische Schütze barg sich im Dunkel. Da wurden ihm die Augen schwarz vor Haß und Zorn. Der Herr Bruder hatte geglaubt, er könne ihn mit dem Worte binden wie mit einem Strick. Ein Spinngewebsfaden war es, mit einem Hauch zu zerblasen, wenn man die hinterlistige Absicht erkannt hatte... Und in gewissen Lagen war es vom Übel, allzuviel zu grübeln und zu bedenken. Wer mitten im Sprunge zu überlegen begann, ob es vielleicht besser sei, wieder umzukehren, stürzte kläglich in die Tiefe. Wer aber am anderen Ufer stand, dicht vor dem heißersehnten Ziel, den fragte kein Mensch, was alles er hinter sich gelassen hatte, um leichter hinüberzukommen.

Da schlug er die Hände vors Gesicht, ein Aufschluchzen erschütterte seinen Körper. Er hatte deutlich die Stimme des Bruders gehört, wie sie ihm mit milder Mahnung zusprach: „Geh' nicht, mein lieber Junge, der Weg führt in Wirrsal und Tod...“ Woher nahm er das Recht, zu sagen, der andere in Berlin weigerte ihm aus böser Absicht die Antwort auf all seine Fragen? Vielleicht war er plötzlich erkrankt?... Und er entsann sich, wie seltsam heiß sich Ulrichs Hand beim Abschied angefühlt, wie tief ihm die Augen im Kopfe gelegen hatten... Aber es war zu spät, er konnte nicht mehr umkehren! Er mußte hören, was die Mutter ihm zu sagen hatte. Nur, mit Mißtrauen gedachte er sich zu wappnen, nicht jedes Wort auf Treu und Glauben hinzunehmen ——

Zur gleichen Zeit fuhr der Graf Zembricki in recht guter Laune nach Hause. Er selbst lenkte das Viergespann hochbeiniger Ungarn, deren räumender Trab so viel Boden nahm wie bei anderen Gäulen ein scharfer Galopp. Seine Tochter saß neben ihm. Im Hotel hatten sie Bekannte getroffen, sich nicht aussprechen können. Als sie aber von dem lauten Pflaster des Städtchens auf den weichen Sommerweg der Chaussee gekommen waren, legte sie dem Vater ungeduldig die Hand auf den Arm. Um nicht von den rückwärts sitzenden Dienern verstanden zu werden, sprach sie Französisch.

„Nun, wie steht's?“

„Gut, mein Kind, gut! Er kommt heute abend zu seiner Mutter. Sich mit ihr auszusprechen, weshalb sie sich um ihn nie gekümmert hat!“

„Wenn er ihr aber nicht glaubt?“

Der Graf lachte kurz auf.

„Mein Töchterchen, warst du mal schon im Wald dabei, wenn die Holzhacker einen Baum fällen?“

„Ja natürlich! Sie sägen ihn von der Windseite an, daß nur ein ganz dünner Span stehenbleibt.“

„Na, siehst du? Eine Kinderhand kann ihn umstoßen. Bei diesem Herrn Assessor aber brauchte ich mir nicht allzuviel Mühe mehr zu geben, er schien mir schon ziemlich angesägt zu sein. Von wem, brauche ich dir wohl nicht zu sagen. Und jetzt kommt er in die Hände einer Meisterin. Ich kenn' doch so ziemlich ihr ganzes Leben, mein Kind. Aber ich sage dir, auch ich hab' zuweilen Mühe, bei ihren Erzählungen zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden.“

Jelena schob verächtlich die Unterlippe vor.

„Sie war mir vom ersten Tag an zuwider! Und ich verstehe nicht, wie eine Mutter ihr eigenes Kind belügen kann?“

„Belügen? Sie spricht die Wahrheit! Vor Gott, den Menschen und sich selbst! Sie hat die Geschichte ihrer unglücklichen ersten Ehe so oft erzählt, daß sie auf die Wahrheit ihrer Erzählung vor dem Altar die Hostie nehmen würde! Aber woher mit einemmal bei dir diese Bedenken? Haben wir auf Feinde unserer heiligen Sache vielleicht irgendwelche Rücksichten zu nehmen? Ist in dem Kampf gegen sie nicht jedes Mittel erlaubt?“

„O gewiß.“

„Na also! Und für Zweifel sind die Pfaffen da. Oder noch besser vielleicht ein Vater, der sein einziges Kind so liebt wie ich dich, du mein Stern und Augentrost.“

Jelena schmiegte sich an ihn.

„Nun gut, mein goldenes Väterchen. Es geht mir ganz seltsam: ich komm' von dem innerlichen Vorwurf nicht los, es ist doch ein Blutsverwandter...“

Graf Zbigniew nahm Zügel und Peitsche in die Rechte, schlang den linken Arm um die Tochter.

„Mein kleines liebes Mädel, als mir deine unvergeßliche Mutter an einem gottverfluchten Tag für diese Zeitlichkeit entrissen wurde, ließ sie mir als einzigen Trost dich! Zugleich mit ihrer Liebe und ihren Augen. Du brauchst dich vor mir nicht zu verstecken noch zu schämen; ich sehe und verstehe jeden Schlag deines geliebten Herzchens. Und da lege ich dein Schicksal in deine Hand. Noch mehr: als ein getreuer Knecht will ich ausführen, was du befiehlst! Aber ehe du dich entschließest, muß ich dir jeden der beiden Wege zeigen, die du gehen kannst. Der eine führt zu stolzer Höhe, weit über alle anderen Menschen hinaus. Wer ihn einschlagen will, muß stark sein, sich zu entscheiden. Für den Verzicht auf vieles, was die da unten Glück nennen. Der andere Weg ist viel leichter. Ich brauche ihn dir nicht zu schildern, du hast ihn dir in diesen Stunden selbst ausgemalt. Also prüf' dich, ob es mehr ist als flüchtiges Mitleid, ich geb' dir Zeit! Ich huste auf Polen und huste auf diesen kümmerlichen Prinzen, wenn du unglücklich werden solltest, mein einzig geliebtes Kind.“

Jelena sah starr geradeaus auf die Straße. Rechts und links die Bäume schlossen sich in der Ferne wie zu einem geheimnisvollen Tor zusammen. Als Kind hatte sie bei jeder Fahrt geglaubt, hinter diesem Tor müsse etwas ganz Besonderes kommen. Etwas Unerwartetes, Neues; es war immer eine Täuschung gewesen... Sie richtete sich auf:

„Ich glaube, es ist schon wieder vorbei, Väterchen! Befiehl du, was zu geschehen hat!“

„Ich hab's nicht anders erwartet, mein einzig geliebtes Kind, mein goldenes! Und hab' keine Angst: diesem abtrünnigen Vetter geschieht nichts Böses. Er soll uns nur eine Zeitlang nicht stören, das ist alles. Nachher kann er hier im Kreis Heinrichsburg für die Sache der Deutschen so viel wieder kämpfen, wie er Lust hat ———“

14.

 

Die Stunden bis zum Abgang des Abendzuges dehnten sich und schlichen, wollten kein Ende nehmen. Viktor hatte nach dem telephonischen Anruf aus Friedrichstein einen langen Spaziergang vor das Tor des Städtchens unternommen; auf einsamem, an bestellten Feldern entlang führendem Weg traf er den Bürgermeister Wendtland. Er sah ihn zu spät, sonst wäre er der Begegnung ausgewichen. Und der liebenswürdige Herr kehrte mit ihm um.

Eine Weile lang gingen sie nebeneinander her in einem Gespräch, das den Herrn Bürgermeister mehr interessierte als seinen Zuhörer. Der deutsche Stadtverordnete Kraska war plötzlich gestorben, die Zeitung „Mazur“ hatte die Polen in einem flammenden Artikel aufgefordert, bei der Neuwahl eine Kraftprobe zu versuchen, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Diesem frivolen Beginnen mußte mit allen verfügbaren Mitteln entgegengetreten werden. Und weiter erzählte Herr Wendtland, nach gewissen Vorbereitungen zu schließen, stehe auf Schloß Friedrichstein eine Reihe glänzender Feste bevor. Eine Menge von Gästen werde erwartet, im Städtchen spreche man davon, die Erbin von Friedrichstein werde sich am Geburtstage ihres Vaters verloben. Mit einem jungen Prinzen Tartoryski, von dem man in eingeweihten Kreisen behaupte, er sei in gewisser Hinsicht die Hoffnung der Polen.

Viktor mußte alle Willenskraft aufbieten, um seiner Stimme einen leichten Klang zu geben. Die Worte hatten ihn getroffen wie ein Schlag vor die Brust.

„Darf man fragen, ob diese Nachricht mehr ist als der übliche kleinstädtische Klatsch?“

„Keine Ahnung“, erwiderte der Herr Bürgermeister. „Ich hatte geglaubt, Sie wüßten darüber am besten Bescheid? Mir wurde nämlich erzählt, Sie wären mit der zukünftigen Braut dieses jungen Herrn heute mittag auf dem Marktplatz fast eine Stunde lang auf und ab gegangen.“

„Es waren zwar kaum fünf Minuten“, sagte er erregt, „aber, bitte, nur weiter!“

Der Bürgermeister sah ihn erstaunt an.

„Wenn ich mehr wüßte, würde ich doch nicht fragen, Herr Regierungsassessor! Aber weil wir schon mal darauf gekommen sind: Man hat sich in der Stadt über diese Unterredung ein wenig gewundert!“

Da lachte er höhnisch auf.

„Vielleicht wird man sich in diesem Krähwinkel bald über mehr wundern, Herr Bürgermeister! Aber ich verbitte mir, daß hier jeder meiner Schritte ausspioniert und bekrittelt wird!“

„Um Gottes willen“, sagte Herr Wendtland erschreckt, „was haben Sie nur, mein lieber Herr von Dolinga? Es liegt doch nicht der geringste Grund vor, sich so maßlos zu erregen!“

„Kein Grund?“ schrie er, hatte Not, seine Stimme vor dem Umschlag ins Weinerliche zu bewahren. „Aber denken Sie, bitte, was Sie wollen, um acht Uhr geht mein Zug! Nach Friedrichstein, zu den Polen!“

Er wandte sich auf dem Absätze, eilte mit langen Schritten querfeldein auf den hohen Schornstein der Brauerei zu, in dessen Nähe der Bahnhof lag. Es tat ihm leid, daß er sich so ungezogen benommen hatte, aber die bis zu körperlichem Schmerz aufgepeitschten Nerven waren ihm durchgegangen... Und nach dem jähen Ausbruch wurde ihm ein wenig leichter zumute. Was der Bürgermeister von der angeblich bevorstehenden Verlobung Jelenas erzählt hatte, war sicherlich auch nicht mehr als derselbe kleinstädtische Klatsch, den er schon von dem Oberkellner im „Schwarzen Adler“ gehört hatte. Aber es gab ja eine Instanz, bei der er erfahren konnte, was an diesem Gerücht Wahres war. Er brauchte nur die Mutter zu fragen. Die würde ihm die Auskunft sicherlich nicht weigern...

Es dunkelte schon, als Viktor den Bahnhof erreichte. Gerade noch zur rechten Zeit, der von Allenstein kommende Zug war schon eingelaufen. Die Lokomotive setzte sich ächzend und schnaufend in Bewegung, unablässig erklang auf ihrem Rücken das warnende Läutewerk. Sie schleppte den Zug so langsam durch das im Dunkel liegende Land, daß man an die Wahrheit des alten Scherzes glauben konnte, es ginge einer zu Fuß vor ihr her, der in der Hand die bimmelnde Glocke schwänge... Aber auch die halbe Stunde Bahnfahrt ging vorüber, der Schaffner rief: „Friedrichstein, fimf Minuten!“ Viktor stieg aus, ging die Chaussee entlang. Schon von weitem sah er die beiden Wagenlaternen aus dem Dunkel leuchten, wie ein paar glühende Augen starrten sie ihn an. Und in seiner überreizten Stimmung hatte er das Gefühl, als liefe er in den aufgesperrten Rachen eines Ungeheuers, das ihn zu verschlingen drohte. Aber zur Umkehr war es zu spät, er mußte Gewißheit haben! Nur eine unsägliche Angst schnürte ihm das Herz zusammen: Was wurde aus ihm, wenn Jelena sich wirklich verlobte?

Ein dürres, kleines Männchen, unter rötlich schimmernder Stupsnase einen gewaltigen weißen Hängeschnurrbart, trat im Licht der Wagenlaterne auf ihn zu, legte grüßend die Hand an die Mühe. Es fragte in hart klingendem Deutsch: „Ich chabbe die Erre, den zu begrüßen, wo zu seine Mutter wiel?“

Da mußte Viktor in aller Seelennot hell auflachen.

„Allerdings, verehrter Herr! Aber, wenn ich fragen darf, wozu diese überflüssige Heimlichtuerei? Brauche ich mich zu verstecken, wenn ich mich mit meiner Mutter aussprechen will? Aber ein paar Fragen, die nur sie und mich angehen?“

Panie kochani“ — das alte Männchen verbesserte sich — „Ach so, ich vergeß, Sie niecht können Polnisch... gar niecht zu begreifen, Sonn von polnische Muter, und kein Wort von angeborrene Sprache nun ich choffe, Sie werrden lernen... Also ich sagge, bei ahle Dingge ist besser, man klinggelt sie niecht aus miet Glocke auf Markt. Sie sich können diese Warrheit annehmen, ich ihr chabbe ausprobiert in langge gefärrliche Lebben! Sie mir werrden gleich verstehn, wenn ich sagge meinen Nammen: Severin Zakobielski!“

„Sehr angenehm“, erwiderte Viktor, „aber ich muß zu meiner Schande gestehen, ich höre diesen Namen zum ersten Male.“

Der kleine alte Herr reckte sich heraus.

„Dann Sie kennen vielleicht auch niecht Nammen von Mierosławski?“

„Den kenne ich allerdings!“

„Also denn, ich warr sein berühmte Adjutant! Wir werden ja noch viel Geleggenheit chabben, sich zu erzällen, jetzt ich nur sagge, ich warr von ihm rechte Hand! Wenn ich auch manchmall wär' gewesen sein Kopf, polnische Geschiechte cheute wierd' chabben eine andere Gesiecht! Abber — Gott und cheilige Jungfrau sei Dank — letzte Kapietel von diese Geschiechte ja noch iest niecht geschriebben! Und jetzt ich biette Platz nemmen.“

„Mein lieber Herr“, sagte Viktor, „Sie beehren mich mit einem Vertrauen, das ich nicht rechtfertigen kann! Ich bin immer noch preußischer Beamter... Wenn ich den begreiflichen Wunsch habe, mich mit meiner Mutter über einiges auszusprechen...“

Herr Zakobielski unterbrach ihn mit einer leidenschaftlichen Bewegung.

„Gutt, gutt, ich sagge gar niechts mehr! Bloß noch eine einzige Wort! Vorrher ich muß bemerken, ich bin Verwandter zu Sie, Onkel! Die Napieha und Zakobielski... also nächste Verwandtschaft! Da also ich sagge, lieber Neffe, wenn einer kommt her, stiehlt deutsche Kiend deutsche Muter und erzieht in Haß geggen deutsche Vaterland, also wie würdest du zu diesen Dieb und Verbrecher saggen? Wierst du saggen, er chat recht gehabbt? Odder wierst du saggen, er muß wieder 'rausgebben, was er chat gestollen?“

Viktor atmete tief auf.

„Mein lieber Herr, was wir beide sprechen, hat wenig Zweck! Wenn meine Mutter mir den Beweis liefert, daß mein Bruder... Verzeihen Sie, der bloße Gedanke schon erregt mich so...“

„Du dier reggst auf, liebe Neffe? Ich bien ganz ruhig! Ich kenn' Lebben von deine Muter wie Buch, was ich chab' so oft gelessen, daß ich ihm auswendig kann! Ich schwörre, in zwei Stunden du biest Polle, spukst auf den, wo dich vergieftet chat! Vergieftet miet eine Haß, wo von Natur du sollst lieben.“

„Ich bitte Sie“, sagte Viktor gequält, „ich kann diese Fragen jetzt nicht erörtern wie ein Rechenexempel! Und — nehmen Sie's nicht übel — fast werde ich mißtrauisch! Wenn ich nicht die Überzeugung hätte, die Mutter wird mir in entscheidender Stunde die Wahrheit sagen...“

Pan Severin sprang mitten in der Fahrt vom Sitze auf, fuchtelte mit dem rechten Arm in der Luft herum, als kämpfe er gegen einen unsichtbaren Feind.

„Tötten sollte man diesen Verbrecher, wo einen Napieha zum Feind gemacht hat von der heiligen Sache, wo hundert von diesem Namen dafür sind gestorben! Dein Großonkel, liebe Neffe... also die Russen ihm chabben gebunden auf eine Baum und dann, vorwärts, unter Sägge! Lebenndig von unten nach obben! Ich selbst chabb' zwei Hälften von Leichnam vergraben! Abber Nebbensache... ich vertraue so, daß du kommst auf unsere Seite, daß ich dir jetzt eine große Geheimnis...“

„Verehrter Herr Zakobielski, so tun Sie mir doch den Gefallen... ich will von Ihren Geheimnissen nichts wissen! Oder, richtiger gesagt, ich darf nicht! Ich stehe unter dem Zwang eines verpfändeten Wortes, und ehe ich nicht selbst...“

„Gutt, gutt... ich wiel niecht weiter dränggen! Abber dann ich muß bietten, liebe Neffe, daß du dich wierst verhalten wie Parlamentär, was man chat geführt miet verbundene Augen in Lagger! Schon heute siend gekommen zwei Freunde... Früher, als wie wier chabben gedacht... Prienz Hektor Tartoryski und sein Vorkämpfer Pytlasinski. Ich brauche niecht zu saggen, sie sind zu Vergnüggen gekommen... es siend Dingge in Vorbereitung... also ganze Welt wierd Auggen aufreißen.“

„Hergott noch mal“, sagte Viktor gequält, „ich will und darf nicht wissen, was diese beiden Herren hier vorhaben! Oder — jetzt auch ganz aufrichtig gesprochen, mich interessiert nur eins: Ist dieser hochgeborene junge Herr vielleicht zum Zweck einer Verlobung hergekommen?“

Pan Severin sah ihn erstaunt an.

„Verlobbung? Ich biette, miet wemm?“

„Nun, das liegt doch auf der Hand...“

Der alte Freiheitskämpfer boxte ihn mit dem Ellenbogen Vertraulich in die Seite.

„Liebe Neffe, du machst Spaß, oder du spriechst in Ernst?“

Viktor wandte sich zu seinem Fahrtgenossen jäh um.

„Ich kann mir nicht helfen, ihr seid mir alle viel zu geflissentlich! Aber jetzt genau so offen, wie ihr zu mir: Lügt mich nicht an! Für mich geht's um Tod oder Leben! Ich schieße mich tot, wenn man mich zum Narren hält! Und auf die Gefahr hin, von beiden Seiten für einen Nichtswürdigen gehalten zu werden: ich selbst bin mir der nächste! Ich habe innerlich schon jetzt die Brücken abgebrochen, die mich mit meiner Vergangenheit verbinden. Und ich verkaufe mich nur für einen einzigen Preis. Wenn man ihn mir nicht zahlt — gut, dann wird sich alles übrige finden.“

Pan Severin schlang ihm mit herzlicher Gebärde den Arm um die Schulter.

„O wie woll, wenn man hörrt in diese moderne Zeiten eine Tonn von Leidenschaft und Juggend! In deine Alter, liebe Neffe — jedder Nebbenbuhler starb von meine Hand! Aber die meisten schonn vorher chatten Angst! Weil meine Klinge... Also ich wiell mehr niecht saggen, du sollst niecht glauben, ein alte Hund, wo niecht mehr beißt, kann bloß noch bellen... Abber zu deine Beruhigung: Eher fällt Chiemmel ein, als daß eine gewiesse jungge Damme... dobrze, gutt, ich schwörre, sie ist von eine Gleichgültigkeit in ahle polnische Fraggen... Ich iemmer hab' Zorn auf ihr! Weibervolk! Denkt niecht miet Kopf, sondern miet andere Körperteil! Höflichkeit verbiet mir zu saggen, miet welchen! Und jetzt Ende! Wenn du chast Verdacht, alte Kämpfer für polnische Freiheit chat dir beloggen — gutt, kannst Fliente miet Kuhmiest ladden, schieß alten Zakobielski tott! Wenn niecht — du mußt kommen: stary przyaciel... ach so, ich vergess'... also, alte Onkel Severin, komm', hier iest meine Mund zu Brudderkuß.“

Viktor antwortete nicht. Er hätte zu gern geglaubt, aber — er konnte sich nicht helfen — er hatte das unabweisliche Gefühl, er sollte hier eingewickelt, für die Unterredung mit der Mutter präpariert werden. Und er nahm sich vor, doppelt vorsichtig zu sein... Nur, so schlug es ihm schwer aufs Herz: die deutsche Sache, auf die er eingeschworen war, hatte er in Gedanken und Worten schon drei- und vierfach verraten... Eine Frage bloß noch stand zur Entscheidung: Aus welchen Gründen hatte der in Berlin ihm das Wort abgenommen? Ein in hinterlistiger Absicht abverlangtes Wort brauchte man selbst bei peinlichster Anschauung nicht zu halten.

Der Wagen rollte durch ein hohes Tor, hielt vor einer säulengetragenen Freitreppe. Viktor stieg aus, der alte Herr schüttelte ihm die Hand.

„Mit Gott, mein geliebte Neffe! In eine Stunde — so choffe ich — werden wir uns Cherz an Cherz schließen: Es lebe das ungeteilte, unvergängliche Pollen.“

In dem Vorraum der nur von einer einzigen Kerze matt erleuchteten Halle legte Viktor Hut und Mantel ab. Und drinnen erwartete ihn eine, die wiederzusehen er selbst im verwegensten Traum nicht gehofft hatte.

Fast hätte er aufgeschrien vor freudiger Überraschung, sie legte, Vorsicht gebietend, den Finger auf den Mund.

„Still, nicht so laut! Es ist besser, von der Dienerschaft merkt niemand, wer heute abend hier zu Besuch gekommen ist...“

Er richtete sich hoch auf.

„Ja, was hab' ich denn zu verheimlichen, Komteß? Bin ich vielleicht ein Überläufer, wenn ich den Wunsch habe, mich mit meiner Mutter auszusprechen?“

Sie sah ihn mit einem Blick an, in dem es fast wie Mitleid schimmerte.

„Sie müssen wissen, was Sie tun oder lassen dürfen... Und jetzt bitte ich, folgen Sie mir.“

Sie stieg die breite Treppe empor, die aus der großen Halle in den ersten Stock führte, vor einer Flügeltür blieb sie stehen, stellte das Licht auf ein Wandbrett.

„Da hinein geht's zu Ihrer Mutter! Wie Sie sich nach der Unterredung stellen werden, weiß ich nicht! Nur, mir persönlich täte es leid, wenn sie ebenso unbefriedigend ausgehen sollte wie eine andere.“

Er beugte sich hinab, ihr die Hand zu küssen, und — es war keine Täuschung — er fühlte eine leichte Berührung auf seinem Haar. Wie einen Hauch oder wie eine linde Frauenhand...

Da übermannte ihn die Leidenschaft. Er riß die Hand, die er in seiner Rechten hielt, zu sich herüber, preßte die schlanke Gestalt so fest an die Brust, daß sie sich nicht wehren konnte. Und er raunte heiß an ihrem Ohr: „Jelena, vom ersten Augenblick an — ich bin ja kein Mensch mehr, hab' nur einen einzigen Gedanken im Hirn, den Schrei nach dir!... Meine Seligkeit verkauf' ich für ein einziges Wort... Komm', sprich das Wort, und ich lieg' im Staub vor dir...“

Sie stemmte die kleinen Fäuste gegen seine Brust, rang mit ihm und keuchte halblaut: „Du Unsinniger, laß mich, oder ich rufe um Hilfe...“

Er lachte in Siegerfreude hell aus.

„Warum hast du denn nicht schon längst geschrien, he? Und jetzt komm' mal her...“ Er riß sie an sich mit brutalem Griff, faßte mit der Linken ihren Nacken, suchte ihren Mund. Da gab sie nach, hing ein paar Sekunden lang willenlos in seinen Armen, und — o Seligkeit aller Seligkeiten — er spürte deutlich, ihre Lippen blieben nicht kalt. Einen Augenblick später hatte sie sich ihm entwunden, lief wie gehetzt den langen Korridor zurück. Er aber sah ihr mit trunkenen Augen nach, reckte sich stolz empor. Na also! Wäre ja zum erstenmal gewesen, daß ihm ein Weib, das er begehrte, ernstlich widerstanden hätte. Und diese Eroberung hier bedeutete gar viel. Einen Bruch mit der Vergangenheit, einen Aufstieg in stolze Höhe. Wenn er als Herr von Friedrichstein dastand, wer wollte es wagen, ihm den Kaufpreis in die Zähne zu werfen? Und wenn er selbst sich innerlich freisprach, wer wollte sich wohl herausnehmen, ihn eines Wortbruchs zu beschuldigen?

Er pochte an die Tür, eine schwache Stimme rief:. „Herein!“ Ein von rötlicher Ampel matterhelltes Zimmer tat sich vor ihm auf, auf einem Ruhebett lag, in Decken gehüllt, eine schwerleidende Frau... In eingefallenem, altem Gesicht ein paar große blaue Augen, und diese Augen sahen ihm in ängstlicher Erwartung entgegen. Als hätte er ein Urteil über Tod und Leben zu sprechen.

Er trat zögernd näher, das Herz zog sich ihm vor Mitleid zusammen.

„Du hast mich gerufen, liebe Mutter“, sagte er halblaut, „hier bin ich! Ich komme nicht in feindlicher Absicht, glaubt mir — nur Antwort will ich haben auf ein paar Fragen.“

Sie stützte sich mit Mühe auf den rechten Arm, aus den Augen flossen ihr unaufhaltsam die hellen Tränen.

„Wie groß und wie schön du geworden bist, und wie fremd! Als er dich von meinem Herzen riß, warst du ein Kind — ein Mann steht vor mir, fordert Rechenschaft! Wofür?... Nicht drei Jahre hätte ich damals suchen und um dich kämpfen sollen, sondern zwanzig! Bis ich dich gefunden hätte... Aber er hatte dich zu gut versteckt, und schließlich — eine Sorge verdrängte die andere!

Ich hatte noch einen Sohn, der meine Liebe verlangte. Ein Lichtlein war es, das jeden Augenblick ausgehen konnte... Wer will den ersten Stein auf mich werfen, daß ich eine schlechte Mutter war?“

Er hatte sich vorgenommen gehabt, sein Herz mit Mißtrauen zu wappnen; unter den schlichten Worten schmolz es wie Schnee in der Sonne.

„Liebe Mutter... verzeih' — ich will wirklich nicht richten, aber sieh: Wie sollen wir zur Klarheit kommen, wenn du mir nicht erlaubst zu fragen... Und da ist eins zuerst: Du hast drei Jahre nach mir gesucht, ohne mich zu finden?“

Die Mutter machte eine leidenschaftliche Gebärde, hielt mitten darin inne, griff sich nach dem Herzen. Und sie erwiderte mit matter Stimme:

„Ich muß mir den Zweifel gefallen lassen! Wie soll ich dir die Wahrheit beweisen? Zwanzig Jahre warst du in seiner Hand. Zwanzig Jahre lang hat er dich mit seinem Haß getränkt... Geh', laß mich! Dafür ist eine Viertelstunde nicht genug.“ Und sie warf sich mit heftiger Bewegung auf die andere Seite, schlug die Hände vors Gesicht und begann schier fassungslos zu weinen.

Er stand ratlos da, streichelte ihr Haar. Als es nicht half, ließ er sich vor dem Bett auf die Knie nieder.

„Liebe Mutter, ich kann dir nicht sagen, wie wehe auch mir... Ich möchte ihn nicht anklagen, er hat für mich gesorgt wie ein Vater! Erst jetzt in diesen Wochen hat sich mir das Mißtrauen ins Herz gefressen. Also sag'... und das ist bis zu gewissem Grad die Entscheidung: Hat er wissen müssen, daß du in die Heimat zurückgekommen warst oder nicht?“

Sie trocknete mit einem Tüchlein die Augen, sah ihn ein wenig unsicher an.

„Ich will ihn auch nicht mehr anschuldigen, als er verdient, aber ich möchte sagen, er mußte es wissen! Mit meinem Rechtsanwalt hat er jedenfalls noch vor ganz kurzer Zeit verhandelt. Über Papiere aus dem Nachlaß seines Vaters.“

Viktor nickte nur, sprechen konnte er nicht. Es war die Bestätigung dessen, was er selbst gedacht hatte. Aber das Herz tat ihm plötzlich dabei weh, er konnte der endlichen Gewißheit nicht froh werden. Und die Mutter sprach in leidendem Tone weiter. Jedes Wort schien ihr Mühe zu verursachen, von Zeit zu Zeit mußte sie eine kurze Pause machen.

„Sieh, mein Kind, das alles ist so schmutzig und niedrig, so entsetzlich gemein... Ich weiß ja auch nicht, welche Verleumdungen er sich ausgedacht haben mag, mein Bild aus deinem Herzen zu verdrängen, ich schwöre dir nur in dieser heiligen Stunde des Wiedersehens, ich bin ohne Schuld! Sieh, ich war ein armes Mädchen, da lernte ich deinen Vater kennen. Er warb um mich, ich folgte ihm gern, denn ich achtete und verehrte ihn. Daß diese Ehe später so unglücklich werden würde, konnte ich nicht wissen. Konnte auch nicht ahnen, daß mein eigener Stiefsohn von dem Tage an, wo er mich zum ersten Male gesehen hatte, mich mit einer ganz wahnwitzigen Leidenschaft verfolgen würde. Ich schwöre dir, so wahr ich einst hoffe, selig zu werden, ich habe ihm weder mit Wort noch Blick dazu Veranlassung gegeben. Ich wies seine schimpflichen Anträge mit Entrüstung zurück, der eigene Vater warf ihn zum Hause hinaus. Daher sein Haß... Und dann kam die furchtbare Zeit, wo sich bei deinem armen alten Vater die ersten Spuren seiner Krankheit zeigten. Hätte ich die Art dieser Krankheit erkannt, wäre manches vielleicht anders gekommen. O die fürchterlichen Stunden, wo ich ihn mit gerungenen Händen beschwor, sich und mich und dich nicht unglücklich zu machen! Auf den Knien bin ich hinter ihm hergerutscht, hab' geweint und geschrien, es half alles nichts, er betrank sich Tag für Tag, warf in sinnloser Verschwendungssucht das Geld zum Fenster hinaus. Willst du mich da verdammen, mein Sohn, wenn ich eines Tages dieser Hölle entfloh? Mich in die Arme eines edlen Mannes rettete, der mir schon lange in selbstloser Liebe zugetan war?“

Viktor stand auf, eine gewisse Ratlosigkeit war plötzlich über ihn gekommen. Die Mutter starrte ihn aus angstvollen Augen an.

„Du glaubst mir nicht, mein Sohn?“

Er sah an ihr vorbei, atmete tief auf.

„Ich weiß nicht... Ulrich hat mir das alles so anders... und auch meine eigene Erinnerung...“

Die Mutter griff sich nach dem Halse, als müsse sie ersticken.

„Der Elende“, sagte sie mühsam, „nicht nur gestohlen hat er dich, sondern vergiftet! Eine Mutter bettelt vor ihrem Kind um ein bißchen Vertrauen... Ah, welch ein Meer von Lüge und Verleumdung, und wie ich ihn verachte...“ Sie schrie plötzlich gellend auf, griff nach dem Herzen und sank mit hilflosem Wimmern zusammen. Eine robuste Frau in der Tracht einer Bäuerin stürzte ins Zimmer, schalt unwillig aus polnisch und flößte der Kranken mit geübter Hand eine Medizin ein. Die lag schweratmend da, die Alte richtete sich auf, über ihr runzliges Gesicht flog ein Schimmer. Und sie sagte in unbeholfenem Deutsch:

„Kleine Viktor wieder zu Haus? Besinnst dich noch auf mir?“

„Tinka“, rief er, sie hob warnend die Hand.

„Still, nach diese Medizin Muter muß schlaffen!... Sie serr krank... Und mußt viel beten zu cheilige Jungfrau Maria, sonst wierst Muter niecht merr lang chabben.“

Da beugte er sich hinab, küßte leise die auf der Bettdecke liegende zarte Hand und ging auf den Fußspitzen aus dem Zimmer... Das Herz tat ihm weh, aber er hätte sich selbst belügen müssen, wenn er sich fragte, ob ihm die Aussprache endlich die heiß ersehnte Klarheit gebracht habe...

Auf dem Korridor stand die kleine Zofe, die er von der Reise her kannte. Sie knickste höflich, sagte auf französisch: „Die Komteß hat befohlen, ich soll den Herrn Baron hier erwarten und zum Wagen führen!“

„Und sonst hat sie Ihnen nichts aufgetragen?“

„O ja, einen schönen Gruß.“

„Das ist alles?“ fragte er enttäuscht. Die Kleine aber lächelte.

„Mein Herr Baron, ist das nicht ganz genug?“

Da schwoll ihm das Herz vor Glückseligkeit, er gab der Kleinen an Trinkgeld, was er bei sich trug, bat sie, ihrer Herrin seine ergebensten Huldigungen zu Füßen zu legen. Und er würde sich erlauben, noch heute abend einen Brief zu schreiben. Das hübsche Zöfchen versprach gewissenhafte Bestellung, er stieg in den Wagen, die hochbeinigen Ungarn zogen an. Und er fuhr wie in einem Traum zum Städtchen zurück. In einer Art von Rausch, der ihm Fernes nahe, Unmögliches erreichbar erscheinen ließ In seinem Hotelzimmer fand er auf dem Tische einen Brief, der in seiner Abwesenheit gekommen war. „Durch Eilboten zu bestellen“ stand darauf, er erkannte in der zittrigen Schrift die Hand des Bruders. Ein unsägliches Angstgefühl preßte ihm plötzlich das Herz zusammen, er ließ sich nicht Zeit, Hut und Mantel abzulegen. Und er las mit eiligen Augen...

 

„Lieber Viktor,

 

gestern bin ich nach schwerer Lungenentzündung zum ersten Male wieder aufgestanden, heute bringt mir meine alte Wirtschafterin die eingelaufenen Briefe. Trotz ärztlichem Verbot schreibe ich Dir. Mir scheint, Du, armer Junge, bist kränker als ich!

Also ich schwöre Dir bei allem, was mir heilig ist, ich habe von der Anwesenheit und Tätigkeit Deiner Mutter in Friedrichstein nichts gewußt! Ich gebe Dir mein Wort, ich habe ihren Weg geflissentlich nicht verfolgt, von der Stunde an, seit sie sich von meinem Vater geschieden hatte. Die Gründe erkläre ich Dir, wenn ich — was hoffentlich in drei bis vier Tagen der Fall sein kann — nach Heinrichsburg kommen darf. Ich bitte und beschwöre Dich, laß Dich bis dahin nicht mit dem verruchten Weibe ein, das schon zwei unseres Namens ins Unglück gebracht hat, und das nicht zögern wird, mit dem dritten das gleiche zu tun, trotzdem dieser ihr eigener Sohn ist. Du brauchst ihr nur bei gewissen Zielen im Wege zu sein, und sie wird kein Mittel scheuen, Dich unschädlich zu machen.

Ich sehe ein, nachdem ich diese Warnung, die zugleich eine bitterschwere Anschuldigung ist, ausgesprochen habe, muß ich sie begründen. Und da kann ich Dich nur bitten: Nimm Dein Herz in beide Hände, mein Junge, denn was ich Dir zu sagen habe, ist fürchterlich! Deine Mutter war im Taumel einer trunkenen Karnevalsstunde mein, ehe sie meinen Vater heiratete. Ihr war es flüchtiger Rausch, mir wurde es Schicksal. Als ich sie nach kaum zwei Monaten wiedersah, war sie das Weib meines Vaters! Und als Du vor mehr als zwanzig Jahren in Friedrichstein von einer Bonne hereingetragen wurdest und zum ersten Male Deine schwachen Ärmchen um meinen Hals schlangst, machte Deine Mutter mir eine Andeutung, die mir das Blut in den Adern gerinnen ließ... Da legte ich ein Gelübde ab, von dem ich glaube, ich habe es gehalten. Dieses Geständnis aber wird Dir vielleicht ein Schlüssel sein zu dem Verhalten, das ich all die Jahre Dir gegenüber beobachtet habe: heiße Liebe und Schuldbewußtsein...

Ich bitte und flehe Dich nun an, mach' um Himmels willen keine irreparablen Dummheiten, Leben ist Leben! Das Wort, das ich Dir abverlangte, ging auf Deine Spielerleidenschaft und Deinen nicht gerade übermäßigen Diensteifer. Hätte ich auch nur in einem Winkel meines Hirns einen Konflikt ahnen können wie den, in den Du geraten bist, hätte ich Dir das Wort nie abgenommen. Oder vielmehr, ich hätte Dich in die Gefahr nicht geschickt.

Ich bitte Dich also, Dich von dem Wort vollständig frei zu betrachten, flehe zum Allmächtigen, Du hast Dir unter dem Zwang nicht etwa ein Leid angetan!

Was das Mädchen anlangt, das Du liebst, so bitte ich Dich, auch in dieser Affäre noch einige Tage Zurückhaltung zu üben. Bis ich Dir zu Hilfe kommen kann. Ich habe den Eindruck, Du begibst dich da auf unsicheren Boden, läßt Dich vielleicht zu Handlungen drängen, die nicht mehr gutzumachen sind. Ich glaube, wenn ich Hand in Hand mit Dir Deiner Mutter gegenübertrete, kann ich Deine Sache besser führen als Du allein. Ich will alles aufbieten, das Mädchen für Dich zu gewinnen, trotzdem mir für Deine Zukunft immer ein anderes Bild vorgeschwebt hat. Eine Gefährtin, deren edle Eigenschaften Bürgschaft für ein dauerndes Glück gewesen wären.

Und nun: Hand, Kopf und Herz versagen mir den Dienst, ich kann nicht mehr! Vikki, lieber, einziger Sorgenjunge, nimm mir die schreckliche Angst vom Herzen, telegraphier' mir das einzige Wort: Verziehen! In drei, spätestens vier Tagen hoffe ich bei Dir zu sein. In heißer Liebe

 

Ulrich.“

 

Viktor saß wie betäubt, es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, was er gelesen hatte. Und da fing er an zu lachen, lachte, bis das Gelächter in ein wildes Schluchzen überging... Wer sprach nun die Wahrheit, die Mutter oder — der Vater? Und was hatte er geschrieben, helfen wollte er ihm? Das Messer ins Herz hatte er ihm gestoßen, das war seine Hilfe gewesen! Fragte sich nur, ob er jetzt gleich schon Schluß machte, oder noch die letzte Enttäuschung abwartete... Die kam bestimmt, er wußte es schon heute, aber weshalb sollte er sich's versagen, sie bis zur Neige auszukosten? Eine Nacht und ein Tag gingen schließlich auch herum... Nur schlafen mußte man, nicht grübeln, noch fragen, noch denken... Er entsann sich, bei der Heimkehr hatte er trotz der späten Stunde in der Gaststube noch Licht gesehen. Da drückte er auf die Schelle.

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Kellner erschien. Verschlafen und ohne Kragen.

„Entschuldigen Sie, Verehrtester“, sagte Viktor, „wenn ich Sie aus wohlverdienter Ruhe aufgestört haben sollte, aber ich muß noch was Trinkbares haben! Ein paar Flaschen Sekt oder Rotwein, ganz egal.“

„Einen ausgezeichneten Lafitte könnte ich Härrn Baron empfehlen“, sagte Herr Louis. „Vier Mark die Flasche, aber ein Weinchen, wo man immer dem lieben Gottchen danken muß, daß er in seiner unänndlichen Gnade so was wachsen läßt.“

„Na denn vorwärts!“ lachte Viktor auf. „Der Abschied ist billiger, als ich gedacht hatte.“

Herr Louis kam nach einiger Zeit mit zwei Flaschen zurück, entkorkte die erste mit einer gewissen Feierlichkeit, schenkte ein. Viktor holte vom Waschtisch ein Wasserglas, goß es voll.

„So, mein Lieber, jetzt stoßen Sie mal mit mir an!“

Der Kellner sah ihn ordentlich erschreckt an.

„Aber, Härr Baron, wo kann ich dänn das? So was kömmt mir doch gar nich zu?“

„Ja, weshalb denn nicht? Können Sie sich nicht vorstellen, daß man manchmal Stimmungen hat, in denen man das Bedürfnis empfindet, nicht ganz allein zu sein? Wenigstens eine menschliche Stimme zu hören?“

Herr Louis verneigte sich.

„Sehr wohl, Härr Baron! Und Härr Baron haben gewiß eine sehr freidige Nachricht gekricht?“

„Allerdings! Und erst mal prost, auf alles, was wir lieben! Und ja, was ich sagen wollte, Sie hatten mir vor einiger Zeit doch etwas erzählt? Von einer in Schloß Friedrichstein bevorstehenden Familienfeier?“

Der Oberkellner hatte sein Glas aus einen Zug geleert, wie ein Soldat vor seinem Vorgesetzten.

„Ganz recht, Härr Baron, und heit' bin ich in der angenehmen Lage, Härrn Baron wirklich was Ottäntisches...“

„Quelle natürlich Ihr Geschäftsfreund, Herr Katzorrek?“

„Sehr wohl, Härr Baron! Der Kammerdiener, wo wieder ein Freind zu meinem Freind Katzorrek is, also der hat erzählt, er hat zugehört, wie der Härr Graf die Verlobungsred' auswänndig lärrnt! Der Propst Swiderski hat die Red' aufgesätzt, und der Härr Graf wird se halten. Er bedankt sich fier die hohe Ehre, wo der Härr Prinz, Durchlaucht Tartoryski, seinem Haus angetan hat, gibt ihm gärrn seine Tochter zur Frau Gemahlin und bringt zum Schluß einen Toast aus auf den zukünftigen König und die Königin von Polen!“

„Das wird natürlich nicht ohne gewisse Erschütterungen des mit Recht so beliebten europäischen Gleichgewichts abgehen... Na schön, Gute Nacht jetzt, Herr Oberkellner.“

„Winsche ebendfalls angenehme Nachtruhe, Härr Baron“, erwiderte Herr Louis, empfahl sich in einiger Verwunderung. Zwei Tage später konnte er zu seiner großen Befriedigung erzählen, der Herr Regierungsassessor sei ihm am letzten Abend gleich „so komisch“ vorgekommen... Er habe sich natürlich sein Teil dabei gedacht, aber was hätte er machen sollen?

Und Viktor schenkte sich ein neues Glas Wein ein, überlegte, ob er schon jetzt gleich Schluß machen sollte, oder noch einen Tag warten. Er entschied sich für das letztere. Mit eigenen Augen sehen war besser. Er zweifelte zwar nicht im geringsten daran, daß die eben gehörte Nachricht „ottäntisch“ war, aber wer vermochte zu sagen, ob die Rede des Herrn Grafen wirklich so gehalten wurde, wie sie von dem Herrn Propste aufgesetzt worden war? Vielleicht kam im letzten Augenblick noch etwas dazwischen? Vielleicht hob die Tochter die kleine Hand, mit der sie sich gewehrt hatte: „Lieber Papa, es geht nicht. Da ist ein anderer... Er hat die Frechheit gehabt, mich an sich zu reißen, aber ich habe seine heißen Küsse erwidert...“?

Er wußte genau, er belog sich selbst, aber war sein ganzes Leben bisher nicht auch eine einzige Lüge gewesen?... Er trank langsam eine der Flaschen leer, hing beim Rauch einer Zigarette allerhand Träumen nach. An einem Spinngewebsfaden hingen diese Träume, aber wer weiß... vielleicht... weshalb nicht? — —

 

***

 

Am anderen Vormittag wachte er spät auf, die Flasche Rotwein hatte ihre Schuldigkeit getan. Und dann fing er an, sich ganz kaltblütig zum Abschied zu rüsten. Er ordnete seine Rechnungen, verbrannte unnütze Bilder und Briefe. Aufs Amt zu gehen verwehrte ihm sein Gewissen. Unter welcher Maske hätte er dort auftreten sollen, als Deutscher oder als Pole? Er war keins von beiden; eigentlich unbegreiflich erschien ihm, daß eine Frage, um die er sich bisher nie gekümmert hatte, für ihn über Tod oder Leben entscheiden sollte. Und er sann darüber, woher der Haß zwischen zwei Völkern stammen mochte, die als Nachbarn allen Grund gehabt hätten, in Frieden zu leben? Er fand keine Lösung. Unabänderliches Gesetz war es wohl, daß die Streifen der alten Erde, an denen zwei Völker zusammenstießen, Geschwüre waren, aus denen der Haß sich immer von neuem ergoß wie fressender Eiter... Wann kam einmal der Messias — größer als der erste — der diese Schwären am Leibe der Menschheit durch Auflegen einer wundertätigen Hand zur Heilung brachte?

Und weiter dachte er, Menschen in seiner Lage schrieben Abschiedsbriefe. Ihm wollte scheinen, diese Mühe brauche er sich nicht zu machen. Einen Brief hätte er vielleicht ganz gerne geschrieben, an das stolze, schöne Mädchen in Ottenwalde. Aber was hätte er ihm schreiben können, was nicht zugleich eine Kränkung gewesen wäre? Da ließ er's lieber. Wenn er schweigend fortging, vergaß sie ihn leichter.

Schon am frühen Nachmittag machte er sich auf den Weg nach Friedrichstein, ging die Straße, deren Beschreibung er in dem Büchlein des Herrn Pastors Grandjean gelesen hatte.

Die Beschreibung stimmte, der gewaltige See bot einen wundervollen Anblick. Wie ein ungeheurer Spiegel gleißte er im Frühlingssonnenschein, im sprossenden Schilf pfiffen die Wasserhühner, am Ufer blühten vielfarbige Blumen. Und weit hinten im dämmernden Dunst lockte ein unbekanntes Land...

Am Fuße einer gewaltigen Eiche setzte er sich zum Ausruhen hin, nahm Abschied. Das Herz zog sich ihm zusammen, aber er sah nur einen Weg, der wieder ins Leben zurückführte; an der Hand der einen, von der es ihm schien, er habe sie seit Anbeginn der Welt geliebt... Sie reichte diese Hand einem anderen, er wußte es genau. Aber wer wollte ihm verwehren, bis zum letzten Augenblick an ein Wunder zu glauben?

Es dunkelte schon, als er endlich im Park von Friedrichstein stand. Als Zaungast vor den hell erleuchteten Fenstern des großen Saales.

Auf der Estrade spielte eine Musikkapelle, um die mit Blumen geschmückte Tafel saß eine festlich gekleidete Gesellschaft. Er allein stand draußen. Aber er sah das Schauspiel mehr neugierig als traurig an...

An der Mitte der Tafel, das Gesicht ihm zugekehrt, saß Helene. Weshalb er sie in seinen Gedanken plötzlich mit dem deutschen Namen nannte, wußte er nicht... In tiefausgeschnittenem weißem Kleide saß sie da, um den Hals eine schwere Perlenkette, im hochfrisierten Haar ein funkelndes Diadem. Das Gesicht erschien ihm unnatürlich blaß, die großen braunen Augen strahlten in fieberhaftem Glanz. Vielleicht aber redete er sich das alles nur ein, weil er für sie nach einer Entschuldigung suchte.

Neben ihr saß das schmächtige Bürschlein, das er aus der Photographie des Berliner Polizeikommissars kannte. Im Schmuck seiner bunten Ordensbänder sah er wirklich nicht anders aus als ein Kellner, der sich für einen Maskenball als Prinz verkleidet hatte. Und dieses kümmerliche Menschlein saß auf dem Platze, der eigentlich ihm gehörte... Aber wer war er denn selbst, daß er so vermessene Ansprüche erhob? Nicht Deutscher, nicht Pole, weder Beamter noch Künstler, nichts weiter als das mißratene Erzeugnis zweier Nationen, die sich ärger haßten als Feuer und Wasser...

Die Musik auf der Estrade spielte eine schwermütige Weise. Viktor entsann sich ihrer wohl. Er hatte sie oft genug gehört in jenen Tagen, als er noch nicht nötig gehabt hatte, draußen vor den Fenstern zu stehen, wenn da drinnen im Saal Feste gefeiert wurden.

„Polens Adler sind gefallen“, so begann das Lied. Den Text hatte ein Deutscher gedichtet.

Nach dieser klagenden Melodie aber kam ein Aufjubeln, wie ein heller Schrei: „Jezce Polska nie zgineła“, „Noch ist Polen nicht verloren...“

Das Lied war zu Ende, der Hausherr stand auf. Zugleich mit ihm das Paar, das zu seiner Rechten saß. Graf Zbigniew sprach mit lebhaften Gebärden, Helene stand mit niedergeschlagenen Augen, der Prinz hatte ihre Hand gefaßt. Da schluchzte Viktor still auf, er hatte genug gesehen. Er wandte sich zum Gehen, sein Weg war nicht weit. Irgendwo im Park fand sich wohl ein Dickicht, in dem er sich zum letzten Ende still verkriechen konnte. In seinen Ohren klang ein Wort, das der Bruder als Richter über einen anderen gesprochen hatte; über einen, der Leib, Ehre und Deutschtum verkauft hatte für das Lächeln einer polnischen Frau...

Ein grelles Licht flammte plötzlich auf über dem Ausgang der Terrasse, laute Rufe klangen in polnischer Sprache, ein paar Kerle in Dienerlivree vertraten ihm den Weg. Er schwang sich zur Seite über das Geländer, rannte einen geraden Weg entlang, der ins Dunkle führte. Nicht auszudenken war die Schande, wenn man ihn hier als Lauscher ergriff... Und plötzlich, mitten im Lauf, spürte er einen Stoß im Rücken, stolperte, fiel, ehe er Zeit gefunden hatte, die Hände vorzustrecken. Er wollte sich aufraffen, es ging nicht, die Glieder versagten ihm den Dienst. Und den Mund hatte er voll Blut. Da wußte er, was er sich antun wollte, hatten ihm andere abgenommen...

Eine rohe Faust wälzte ihn auf den Rücken, eine Menge Menschen kam gelaufen, ein angebranntes Streichholz leuchtete ihm ins Gesicht. Der Graf schrie zornig: „Wer von euch Hunden hat geschossen?“ Einer der Diener verantwortete sich in polnischer Sprache. Der am Boden lag, verstand nur das Wort „Spion.“ Das war er nicht, aber er konnte sich nicht mehr verteidigen.

Eine im weißen Kleid drängte den Vater zur Seite. Viktor sah ein tränenüberströmtes Gesicht, hörte einen angstvollen Schrei: „So helft doch, vielleicht ist er noch zu retten!“ ...

Da streckte er im Sterben sich lang aus. Das Wort des Bruders stimmte nicht. Die Polin weinte um ihn. — — —

191



Wyszukiwarka

Podobne podstrony:
Richard Skowronnek Am Spirdingsee 2
Richard Skowronnek Heimat, Heimat!
Richard Skowronnek Muttererde (Die schwere Not und Morgenrot)
Richard Skowronnek Masurische Dorfgeschichten
Wenn der weisse Flieder wieder bluht (Anton, G; Doelle, Franz)
Fritz Skowronnek Garbata Der Kawaljer
Gegenstand der Syntax
60 Rolle der Landeskunde im FSU
Zertifikat Deutsch der schnelle Weg S 29
karta technologiczna1, Polibuda (MiBM), Semestr VI, SKOWRON, Nowy folder, VI semestr, Talar, projekt
dos lid fun der goldener pawe c moll pfte vni vla vc vox
Christie, Agatha 23 Der Ball spielende Hund
jaskolka, skowronek
Glottodydaktyka Grundlagen der Nieznany
Der Erlkoenig ( Król Olch )
julis haben angst vor der piratenpartei 2009
45 Progression Stufen der Sprachfertigkeit ( variationsloses, gelenkt varrierendes und freies Sprech

więcej podobnych podstron