Richard Skowronnek Heimat, Heimat!


Heimat, Heimat!

Ein Roman von der Grenze

von

Richard Skowronnek

11.—15. Tausend

Im Verlag Ullstein / Berlin

Umschlagzeichnung von Theo Matejko

Copyright 1927 by Ullstein A.G., Berlin

Printed in Germany

1

Den Namen Ordensburg wird man vergeblich auf der Landkarte suchen, wer aber die am Ufer ihres großen Sees weithin gelagerte masurische Grenzstadt einmal gesehen hat, wird sie in der Schilderung vielleicht wiedererkennen. Und das mögen in den Jahren des großen Krieges Tausende und aber Tausende gewesen sein. Sei es, daß sie auf dem Wege zur Ostfront durch ihre Straßen marschiert sind oder bei der zweimaligen Wiedereroberung aus der harten Hand der Russen ihr Blut vergossen haben.

Vom polnischen Tor bis zum deutschen durchzieht eine lange Straße die Stadt. Wo sie sich zu einem Marktplatz von beträchtlichen Abmessungen verbreitert, erhebt sich mit seinem gedrungenen Turm der noch aus den Zeiten des deutschen Ordens stammende Ziegelbau der Kirche. Dahinter, von ihr durch einen baumbestandenen Platz getrennt, die heute Gymnasium genannte alte Lateinschule, in der seit ihrer Errichtung durch den letzten Hochmeister des Ordens gar viele Söhne Ostpreußens ihr wissenschaftliches Rüstzeug erworben haben. Vor der Kirche spannt über einem aus Findlingsteinen erbauten Sockel eine Viktoria ihre Flügel, vier schmale Tafeln tragen mit goldenen Buchstaben die Namen der jungen Helden aus Stadt- und Landkreis, die im glorreichen Feldzuge der Jahre 1870 und 71 für den Aufstieg des Vaterlandes ihr Leben gelassen haben. Die Tafeln aber mit den Namen der Söhne Masurens, die im letzten Kriege durch das Opfer ihres Daseins die Niederlage Deutschlands nicht aufhalten konnten, nehmen in der Vorhalle der Kirche zwei breite und hohe Wände ein, denn die Schlachtfelder, auf denen sie begraben liegen, erstrecken sich fast über die ganze weite Welt. Und es vergeht kaum ein Tag im Jahr, an dem nicht Mütter kleine Kränze aus Blumen oder Tannenreisig zu Füßen der hohen Tafeln niederlegen...

Vom Marktplatz führt je eine Straße nach Osten und Westen. Die erste an dem weitläufigen Bau des Landgerichtes vorüber zum Bahnhofe, die zweite einen steilen Berg hinab und über eine lange Seebrücke zur „Insel“. Dort hatten vor mehr als einem halben Jahrtausend die adeligen Herren vom deutschen Orden eins ihrer „festen Häuser“ erbaut. Einen weiten Hof mit Schloß, Stallungen und Wirtschaftsgebäuden, umgeben von einer hohen Mauer mit Türmen und Wehrgängen. Zum Schutz der deutschen Siedler gegen die Einfälle der Polen und zur Niederhaltung der immer wieder sich gegen Unterwerfung und Christentum auflehnenden wilden Pruzzen. Schloß und Türme sind verschwunden, nur ein Teil der alten Mauern steht noch heute. Hinter ihnen blicken durch vergitterte Fenster Strafgefangene mit sehnsüchtigen Augen über den weiten See zu dem fern am Horizont blauenden Saum des Waldes...

Das Geschlecht, das heute durch die Straßen der Stadt zieht, hat wenig Zeit, an die Vergangenheit zu denken. Der gegenwärtigen Sorgen sind zu viele, seit Ostpreußen durch den Polnischen Korridor vom Mutterlande abgetrennt wurde. Ein unglückseliges Gebilde, das sich wie ein würgendes Band um deutsches Land schließt, ohne den Polen merkliche Vorteile zu bringen. Handel und Wandel liegen hüben wie drüben danieder, schwere Not brückt Deutsche und Polen, und von einem vernünftigen und aufrichtigen Ausgleich, beiden Völkern so nötig, ist kaum auch nur ein schüchterner Anfang zu sehen. Tragisches Geschick allen Grenzlands, wo seit Jahrhunderten die Kraft zweier Völker um die Scholle ringt.

In Ordensburg war Ostermarkt. Die Sonne schien hell über Wasser, Land und Wald, nur der scharfe Ostwind mahnte daran, daß der Frühling im masurischen Ländchen späten Einzug hält.

Schon in den ersten Vormittagsstunden herrschte auf der langgestreckten Hauptstraße ein schier lebensgefährliches Gedränge von Mensch und Vieh. Für die Kaufleute des Städtchens aber war mehr Lärm dabei als Verdienst, denn der masurische Bauer hat noch weniger Geld als seine Schicksalsgenossen in anderen deutschen Landen...

Kein Dorf und keine Einzelsiedlung in dem weiten Landkreise, die zu diesem, alljährlich in der letzten Woche vor Ostern stattfindenden Markte nicht einen Teil ihrer Bewohner entsandt hätten. Nicht wenige von ihnen aber führten ein Rind oder Schwein am Strick, das sie auf dem Viehmarkte zu verkaufen gedachten. Er sollte der Vorschrift gemäß nur auf dem Hofe der seit dem Frieden leerstehenden Dragonerkaserne abgehalten werden, auf dem Wege dorthin aber war mit gar vielen, seit langer Zeit nicht gesehenen Bekannten Handschlag zu tauschen oder ein Gläschen zu trinken. Und wenn der liebe Gott wollte, konnte er's ja auch fügen, daß man Schwein oder Kuh zu gutem Preise schon hier auf der Straße verkaufte; an die zahlreichen Händler, die sich in ihren langen Leinenmänteln prüfenden Auges durch die lärmende Menge schoben.

Auf dem breiten, vom Mittelwege zum Bürgersteige hinaufführenden Bankett stauten sich die kurzen Leiterwagen der Bauern fast Rad an Rad, die Höfe der Kaufleute und Aufspannungen der Gastwirte waren schon längst überfüllt, aber immer noch rollte Gefährt auf Gefährt durch die Tore, pilgerten Instleute, Knechte und Mägde auf den Chausseen und Landwegen heran.

Vor den ersten Häusern der Stadt pflegten sie am Grabenrand kurze Rast zu halten, um die barsten Füße mit den auf dem Marsche sorgsam in Korb oder Rucksack bewahrten Strümpfen und Schuhen zu bekleiden. Doch nur die Ältesten trugen noch die von vergangenen Tagen her übliche Gewandung. Die Frauen den gefalteten Rock, der sich dick über den Hüften bauschen mußte, und das grellbunte, unter dem Kinn gebundene Kopftuch, die Männer aber den langschößigen, aus starkem Hausmachertuch gefertigten „Sukman“ mit farbiger Weste zu hohen Röhrenstiefeln. Die junge Welt kleidete sich schon seit geraumer Zeit nach städtischer Mode, war in den bunten Strickjacken oder den fertig im Kleiderladen gekauften Anzügen von Stadtbewohnern kaum zu unterscheiden. Die Jungburschen allenfalls an der besonderen Farbenfreudigkeit ihrer Krawatten und dem groben Eichenstocke in der Rechten, Stütze beim Wandern und handliche Waffe für den Abend, wenn sich in heißen Köpfen die Streitlust regte, alte Feindschaften zum Austrag kamen. Ganz wie in anderen deutschen Landen, in denen jede Jungmannschaft eifersüchtig über ihre besondere Dorfehre und darüber wacht, daß die Mädchen keinem ortsfremden Burschen blanke Augen machen. Deutsch war auch die Sprache der Jugend, nur die Alten bedienten sich noch des Masurischen; eines Dialektes, der, schon seit Jahrhunderten vom Hochpolnischen getrennt, mit einer großen Zahl deutscher Worte durchsetzt war. Er stammte aus jener Zeit nach dem Niedergange der Ordensherrschaft, als man im ganzen Ostlande sich bemühte, die als feiner geltende Sprache und Sitte des Warschauer Königshofes anzunehmen.

Aus alten, in den Archiven der Ordensschlösser zu Neidenburg und Soldau bewahrten Urkunden geht hervor, wie deutsche Ortsbezeichnungen sich allmählich in polnische wandelten, wie den letzten Preußengeschlechtern und den im Gefolge der Kreuzritter ins Ostland gezogenen Siedlern aus Thüringen, Franken, Sachsen und Schwaben der aus der alten Heimat mitgebrachte Name nach der neuen Mode nicht mehr vornehm genug erschien. Wie die Bergner in der fünften oder sechsten Geschlechterfolge sich bei einem Vertrage plötzlich Gorski nannten, wie aus den Waldheimern die Przyborowski, aus den Bruchhöfern die Baginski wurden. Aus den Sperlingen aber die Wrobel, aus den Falken die Kobuß und aus den Lerchen die Skowronnek und Skowronski; welch' letztere sich noch heute im Scherz als die Adeligen der vor jenen Zeiten wohl gemeinsamen Sippe bezeichnen.

Von altersher nämlich unterschieden sich die Namen der Adeligen von denen des Bürgerstandes durch die Endsilbe „ski“. Die Namen selbst aber waren der Sage nach auf besondere Art entstanden. Als der Teufel eines schönen Tages die gesamte Schlachta in einem großen Sack hoch durch die Lüfte zur Hölle trug, weil sie ihm durch Trunk, Völlerei und Unzucht verfallen war, schnitt ihm der Erzengel Michael aus Erbarmen mit einigen reuigen Sündern in den Sack ein Loch. Wer herauspurzelte, wurde neu getauft, und zwar nach Tier, Baum oder Ort, auf die er fiel. Der Herr von Kozierowski nach einer Ziege, der Kobylinski nach einer Stute, die Dembinski und Lipinski nach Eiche und Linde, der Herr von Blotowski aber nach dem — Dreckhaufen, auf dem er sanft und unbeschädigt landete. Bloß einige Nachkommen der altadeligen Ordensgeschlechter mußten auch bei dieser Gelegenheit etwas Besonderes haben. Sie blieben in der Luft hängen, woraus es sich erklärt, daß sie seither noch immer stolz auf die unten wimmelnde Masse der Bürger und Bauern herabsehen.

Durch Lärm und Gedränge des Marktes schob sich suchenden Auges ein noch jugendlicher, hochgewachsener und breitschulteriger Mann. Er unterschied sich nicht nur durch die modische und gutsitzende Kleidung von der Menge der Burschen, Bauern und Händler. Sein glattrasiertes Gesicht mit dem energischen Kinn war blaß wie von Stubenarbeit oder langer Krankheit, die bleiche Farbe aber stammte nicht daher. Vier Monate lang hatte er durch das Gitter des Kattowitzer Untersuchungsgefängnisses nur ein schmales Stück Himmel sehen dürfen, bis die Polen ihn wieder freiließen, weil die unbegründete Anklage wegen hochverräterischer Umtriebe nicht aufrechtzuerhalten war. Er war frei, aber in die Freiheit führte nur der kurze Befehl, sich binnen vierundzwanzig Stunden aus dem polnisch gewordenen Teil Oberschlesiens zu entfernen. Damit aber war er auch seiner gutbezahlten Stellung als Chefkonstrukteur an der Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen verlustig gegangen, die er seit mehreren Jahren bekleidet hatte. Und nach einigen vergeblichen Versuchen, von Berlin aus eine neue Stellung zu finden, hatte er sich nach der Heimat aufgemacht, um sich mit dem jüngeren Bruder über den Rest seines Erbteils auseinanderzusetzen.

Dem Jüngsten, als dem besonderen Liebling der Mutter, war der Hof verschrieben worden, ihm, als dem Ältesten, der auf Anraten des Dorfpfarrers auf das Ordensburger Gymnasium geschickt worden war, hatte man Schulbesuch und Studium an der Technischen Hochschule mit Heller und Pfennig angerechnet. Weil aber diese Ausgaben nur einen winzigen Bruchteil des ganzen Erbes ausmachten, war für ihn ein Kapital von fünfzehntausend Mark auf das Grundstück eingetragen worden. Und diese im Verhältnis zum Werte des mehr als achthundert Morgen großen Hofes geradezu lächerlich geringe Summe hatte ihm der Bruder in der schlimmsten Zeit der Inflation zurückgezahlt. Damals hatte er sich nicht viel daraus gemacht, denn er verdiente für seine bescheidenen Ansprüche genug. Heute aber lag der Fall anders, heute brauchte er das Geld. Und er hoffte, mit dem Bruder angesichts der gerade in seinem Falle klaren Bestimmungen des Aufwertungsgesetzes auch ohne Anrufung des Gerichtes zu einer Einigung zu kommen. Namentlich, wenn er ihm auseinandersetzte, daß von einer baldigen Auszahlung des Erbteils seine Zukunft abhänge. Ein Kollege, mit dem er während der gemeinschaftlichen Tätigkeit bei der Kattowitzer Fabrik Freundschaft geschlossen hatte, war schon vor einem Jahre nach Argentinien ausgewandert, hatte in Rosario eine Reparaturwerkstätte für landwirtschaftliche Maschinen aufgemacht, die sich zu einer gutgehenden Fabrik zu entwickeln begann. Dort konnte er eine einträgliche und aussichtsreiche Stellung finden, wenn er in der Lage war, außer seiner bewährten Arbeitskraft ein Betriebskapital von acht- bis zehntausend Mark einzuschießen. Die Frist aber, die der Freund ihm für die Entscheidung gesetzt hatte, war kurz. Da hatte er sich gleich nach Empfang des Briefes zu einer Aussprache auf den Weg nach Hause gemacht, trotzdem zwischen ihm und dem Bruder noch etwas anderes stand als der Groll über die Benachteiligung bei der Verteilung des Erbes. Aber wenn er die Mutter begrüßt hatte, konnte er ja im Dorfwirtshaus wohnen, solange die Verhandlungen dauerten, brauchte der nicht zu begegnen, um die er sieben Jahre lang die Heimat gemieden hatte... Von jenem Abend im Pfarrgarten an, wo sie weinend an seinem Halse gehangen hatte: „Sei doch vernünftig, Hans, es geht doch nicht anders! Wer soll denn für die kranke Mutter sorgen und die drei kleinen Geschwister, wenn nicht ich? Die paar Groschen Pension, die sie als Pfarrerswitwe kriegt, sind doch zum Verhungern!“ Da hatte er nur aufgelacht: „Na ja, und der andere erbt den Hof, und `ne reiche Bauernfrau ist auch was anderes als `ne Studentenbraut, die vielleicht noch jahrelang warten muß...“ — „Hans!“ schrie sie auf, „mach mir's doch nicht so entsetzlich schwer, ich hab' ja schon mein ganzes Herzblut verweint in all diesen Nächten...“ Da hatte er sich losgerissen, war im ersten Morgengrauen fortgefahren, entsann sich heute nicht mehr, ob er von der Mutter Abschied genommen hatte. Wenn nicht, ging es mit allem übrigen in einem hin. Sie hatte ihm den jüngeren Bruder ja schon vom ersten Tag an vorgezogen... Weshalb, wußte er sich nicht zu erklären. Die Geburt des Jüngeren hatte ihr fast das Leben gekostet und später tausend schlaflose Nächte, in denen sie das schwächliche und immer kränkliche Kind auf den Armen herumschleppen mußte, weil der verwöhnte Schreihals in seiner Wiege nicht schlafen wollte...

So ging er in finsteren Gedanken dahin, spähte in jeden Bauernwagen, ob er nicht ein bekanntes Gesicht aus dem an der polnischen Grenze gelegenen Heimatdorfe entdeckte. Vielleicht, daß er dadurch zu einer Fahrgelegenheit kam, die ihm die Ausgabe für einen Mietswagen ersparte...

Vor zwei Marktschreiern, die es durch besondere Zungenfertigkeit verstanden, die Käufer anzulocken, staute sich die Menge. Die beiden führten vor einem Stapel von Tuchballen eine Art von Schauspiel auf. Der eine verkündete laut, er habe in der Lotterie gewonnen, beabsichtige daher, den armen Bauern Anzugstoffe weit unter dem Selbstkostenpreise, halb geschenkt, zu verkaufen. Der andere schrie ihn an, ob er verrückt sei oder betrunken, die ganze Familie müsse durch den Schleuderverkauf an den Bettelstab kommen. Schließlich, als die Beschwörungen nicht halfen, warf er sich auf ihn, um ihm den hoch emporgehobenen Ballen zu entreißen. Er wurde zu Boden geschlagen, beschwor die Herumstehenden weinend, weiterzugehen, den offenbaren Irrsinn des stärkeren Bruders nicht auszunützen. Der andere aber maß und schnitt und verkaufte an die lachenden Bauern, die gut zurechtgemachten Schund mit teuerem Gelde bezahlten.

Auch der Heimgekehrte war stehengeblieben, hörte eine Weile lang zu. Eine Hand tastete nach seinem Rockärmel, um ihn nach Bettlerart an die Lippen zu ziehen. Unwillig blickte er über die Schulter, riß den Arm an sich. Gleich danach aber lachte er fröhlich auf: „Chila, alte Haut, lebst du noch? Und wie geht's zu Hause im Bruchhof?“

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis der Alte in dem vielfach gestickten Schafpelz ihn wiedererkannte. Über sein zerknittertes Gesicht flog ein freudiger Schimmer: „O Jesus, der junge Herr! Aber vom Bruchhof weiß ich nichts mehr. Das sind jetzt schon drei Jahre, daß der Bauer mich fortgejagt hat. Ins Kreisarmenhaus, weil ich nicht mehr zwang, die Kühe auf die Weide zu treiben. Mein Essen hab' ich hier, aber ich will in Baginsken begraben sein. Da sitz' ich am Sonntag vor der Kirchentür oder streck' auf dem Markt die Hand aus. Nicht lang' mehr, und es wird reichen. Für die sechs Bretter und ein feines Leichenhemd. Vielleicht, wenn der liebe Gott mir noch ein paar Jahre gnädig ist, auch zu Musik. Daß der Bauer sich ärgert, wenn ich wie ein Herr begraben werd'...“

Die zittrige Hand des Alten schloß sich über einem blanken Talerstück, er flehte allen Segen des Himmels auf den Ältesten vom Bruchhofe herab. Dem aber stand der Ingrimm wie ein Knäuel im Halse. Schämte der Bruder sich denn nicht vor der Nachbarschaft, daß er so gegen jede gute Bauernsitte verstieß? Der Alte da eben hatte schon dem Großvater als ein treuer und fleißiger Knecht gedient, und den hatte er kaltschnäuzig vom Hofe gejagt, statt ihm in der Leuteküche den wohlverdienten warmen Platz am Herdfeuer zu gönnen?! Das schien fast ein übles Vorzeichen für den ihm selbst bevorstehenden Empfang. Wenn der Bruder sich weigerte, die Hypothek vor dem durch Gesetz festgelegten Termin auszuzahlen, war es mit den Zukunftsplänen vorbei...

In der Bahnhofstraße vertrat ihm eine junge Frau den Weg.

„Na, da bist du ja endlich, und guten Tag, Hans“, sagte sie, streckte ihm die Hand entgegen. Er aber fuhr unwillkürlich zusammen, weil die plötzlich vor ihm stand, der noch vor wenigen Minuten seine verbitterten Gedanken gegolten hatten. Die junge Frau aber deutete die Bewegung anders. Über ihr verhärmtes und mager gewordenes Gesteht flog ein schmerzliches Lächeln: „Hast ganz recht, ich erschreck' auch immer, wenn ich's mal nicht vermeiden kann, in den Spiegel zu sehen.“ Und ohne ihm Zeit zu einer Erwiderung zu lassen, fuhr sie fort: „Schon seit einer halben Stunde such' ich dich. Die Fränze Podleschny hat mir erzählt, sie hätt' dich in der Hauptstraße gesehen. Da hat die Mutter also doch Recht behalten. Ich weigerte mich immer, dir zu schreiben, aber sie bedrängte mich so lange, bis ich mich schließlich zu dem Brief hinsetzte.“

„Du hast mir geschrieben?“ erwiderte er, noch immer befangen. Die unbefangene Art, mit der sie über alles hinwegging, was zwischen ihnen gewesen war, stimmte nicht zu dem Bilde, das er sich von dem Wiedersehen ausgemalt hatte…

„Aber ja doch! Schon vor mehr als acht Tagen, nach Kattowitz.“

„Da war ich schon längst fort.“

„Um Gottes willen“, sagte sie erschreckt, „es ist ja nicht auszudenken, was passiert, wenn der Brief als unbestellbar zurückkommt, und mein Mann macht ihn auf!“

„Beruhige dich, sie werden ihn in Kattowitz zu den Akten genommen haben! Vielleicht suchen sie auch darin nach Beweisen für ihre lächerlichen Anklagen, mit denen sie mich...“ Er unterbrach sich plötzlich, starrte in die auf der Straße flutende Menge, indes der aufsteigende Zorn ihm das Gesicht purpurn färbte.

„Was hast du denn auf einmal?“ fragte die junge Frau ängstlich.

„Gleich“, gab er kurz zurück. Und mehr zu sich selbst fuhr er fort: „Ich seh doch nicht am hellichten Tag Gespenster? Der Kerl da mit dem Handkoffer und der blauen Brille...“ Die letzten Worte hatte er schon gesprochen, während er sich durch die Menge arbeitete, vertrat dem Manne mit der blauen Brille den Weg.

„Grüß Gott, Herr Schwaige“, sagte er höhnisch, „wie kommen Sie denn hierher? Haben Sie in Kattowitz nichts mehr zu bespitzeln, daß Sie uns hier in Ordensburg beehren?“

„Geben Sie mir die Straße frei“, erwiderte der andere in barschem Tone. „Und Sie verwechseln mich wohl, ich kann mich nicht besinnen, daß ich Sie irgendwo `mal gesehen hätte!“

„Ach nee, so kurz von Gedächtnis?“

Hans Baginski riß ihm mit der Linken die Brille ab, holte mit der Rechten zu einem Schlage aus, der einen Stier gefällt hätte. Ein bäuerlich gekleideter Marktbesucher fiel ihm in den Arm, andere drängten ihn zurück. Und weil der alte Stadtsergeant Wenkhöfer, der sonst jeder irgendwie unbequemen Amtshandlung in weitem Bogen aus dem Wege ging, zufällig in unmittelbarer Nähe war, mußte er wohl oder übel eingreifen.

„Herrschaften“, sagte er begütigend, schob seinen umfangreichen Bauch zwischen die Streitenden, „seid doch friedlich! Und was sind das für neue Moden, schon am Vormittag Keilerei? Was anständige Menschen sind, die warten damit doch bis auf'n Abend...“

Der Mann, der Hans in den Arm gefallen war, drängte sich eifrig vor: „Herr Oberwachtmeister, ich bin Zeuge und ich hab' genau gesehen, wie dieser Herr hier angefangen hat. Der andere kam ganz harmlos mit seinem Koffer vom Bahnhof...“

„Harmlos?“ schrie Hans Baginski erregt zurück. „Haben wir hier vielleicht einen Maskenball, daß er sich mit einer blauen Brille verkleidet? Der Kerl ist aus Oberschlesien, ein ganz gemeiner Lump, ein Spitzel, der schon viele gute Deutsche ins Gefängnis gebracht hat...“

Der alte Stadtsergeant hob die Hand.

„Immer mit der Ruhe und eins nach dem anderen, wie bei den Kartoffelkeilchen! Also legitimieren Sie sich `mal zuerst!“

„Bitte“, erwiderte Hans, griff in die Brusttasche. „Aber ich muß bemerken, daß ich mir aus ganz besonderen Gründen in Berlin für die Fahrt durch den Korridor einen falschen Ausweis besorgt habe...“

„Na, denn zeigen Sie `mal her“, bemerkte Herr Wenkhöfer, langte in die Tasche nach seiner Brille. Aber er kam nicht dazu, sie aufzusehen, wurde mit dem ganzen, dicht gekeilt stehenden Schwärm Neugieriger plötzlich zur Seite gedrängt. Ein Trupp unruhiger Pferde wurde von schreienden Zigeunern die Straße entlanggeführt. Einer der Gäule hatte sich losgerissen, stieg, sich bäumend und mit den Vorderhufen schlagend, mitten zwischen die auseinanderhastende Menge. Ein untersetzter Herr in hellem Staubmantel warf sich ihm entgegen, faßte mit dem geübten Griff eines alten Landwirtes den Zügel. Und über den Rücken des Gaules hinweg schrie er den Stadtsergeanten mit befehlsgewohnter Stimme an.

„Zum Deuwel noch mal, müssen Sie erst die Brille rauslangen, um einen früheren Reserveoffizier vom Regiment Masuren wiederzuerkennen? Wenn nicht, verbürge ich mich für ihn. Es ist der Herr Oberingenieur Baginski — ich hab' lang genug mit ihm zusammen im Schützengraben gelegen!“

„Ich hab' ihn auch wiedererkannt“, schrie der Alte zurück, „aber wenn er selbst sagt, er hat einen falschen Paß?“

„Hätten Sie sich trotzdem den andern immer `mal zuerst vorknöppen können!“

„Wird auch gleich besorgt werden, Herr Oberamtmann, aber möchten Sie mir vielleicht das Kunststück vormachen, mit einem Paar Beinen auf zwei Hochzeiten zugleich zu tanzen?“ Der dicke Stadtsergeant sah sich suchend um, aber der Mann mit dem Handkoffer war verschwunden. Auch der Eifrige, der so nachdrücklich für ihn Partei ergriffen hatte, war nicht mehr zu finden. Da kratzte er sich den weißhaarigen Kopf: „Mir scheint, die beiden sind aufgerissen, wie der verrückte Schinder vorhin zwischen die Menschheit preschte...“

„Na nu nee“, versetzte der Domänenpächter Schrötter höhnisch, „sie werden warten, bis die Ordensburger Stadtpolizei sich um sie kümmert?!“

Herr Wenkhöfer aber steckte bedächtig seine Brille in das Futteral zurück: „Ich werd' Ihnen `mal was sagen, Herr Oberamtmann! Hatte der Kerl wirklich Butter auf dem Kopf, dann hatte er auch einen Paß, an dem nichts zu tippen war! Na, empfehl' mich gehorsamst...“ Und er ging weiter, trieb mit schellenden Worten die Menge auseinander: „Glotzt nicht so dammlich, ihr Kuhbauern, hier is kein Kientopp! Vorwärts, dalli, dalli, Straße frei für den Verkehr!“

Der Oberamtmann Schrötter lachte auf: „Er hat nicht so unrecht. Die Herrschaften auf der anderen Seite haben den Bogen mit der Fabrikation von einwandfreien Pässen genau so gut raus wie wir, wenn's mal nötig ist! Na, guten Tag endlich, Baginski, freu' mich von ganzem Herzen, daß man sich wiedersieht nach so langer Zeit... Aber sagen Sie erst `mal: Haben Sie den Kerl wirklich wiedererkannt?“

Hans flog vor Erregung noch am ganzen Körper.

„So genau, wie ich Sie hier wiedererkenne! Der Schweinehund hat ja als Deutscher monatelang in unserem Klub in Kattowitz verkehrt, riß am lautesten die Klappe auf, wenn mal auf die Polen geschimpft wurde. Bei meiner Vernehmung saß er als Zeuge dabei, hieß mit einem Male Gerlitzki und tat, was er konnte, seine Klubfreunde ins Gefängnis zu bringen. Da hab' ich mir einen heiligen Eid geschworen, wo und wie ich ihn noch `mal treffe, kriegt er seine Zähne in den verräterischen Hals!“

„Schade“, sagte der Oberamtmann, „daß man Ihnen in den Arm gefallen ist! Dieser Besuch aus Oberschlesien ist mehr als interessant, und mir reimt sich jetzt auch allerhand anderes zusammen. Schon vorhin nämlich sind mir ein paar verdächtige Gesichter aus der Allenberger Gegend aufgefallen — Kerle, die es heimlich mit unseren unfreundlichen Nachbarn halten. Da findet todsicher unter dem Schutze des Marktgetümmels eine geheime Obmännerversammlung statt. Aber das alles können wir im `Königlichen Hof' bei einer anständigen Pulle Rotspohn bedeutend ruhiger besprechen.“

„Tut mir leid“, erwiderte Hans, „ich habe soeben meine Schwägerin getroffen.“

„Das geht natürlich vor! Aber ich rechne bestimmt darauf, daß Sie mich schon morgen in Rakowen besuchen. Ich hoffe nämlich herauszukriegen, was es mit diesem merkwürdigen Gast aus Oberschlesien auf sich hat!“

Die junge Frau kam von der anderen Seite der Straße herüber. Es hatte den Anschein, als wenn sie sich ängstlich umsähe, ob sie von irgendeiner Seite beobachtet würde. Herr Schrötter war ihr einige Schritte entgegengegangen, beugte sich über ihre Hand.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich Ihren Herrn Schwager aufgehalten habe. Nach einem leider mißglückten Versuch, die Polenfrage auf abgekürztem Wege zu lösen, sind wir ins Plaudern geraten. Und meine Gattin hat erst gestern wieder bedauert, daß ihr unser Jüngster keine Zeit läßt, sich nach Ihnen umzusehen. Der kleine Mann ist bei seinen ersten Backzähnen, erledigt das schwierige Geschäft mit erhöhter Temperatur und reichlichem Gebrüll...“

Sie wurden getrennt, ein Bäuerlein, das rückwärtsgehend eine störrische Kuh am Strick führte, hatte sich zwischen sie geschoben. Es folgte eine Rotte von Jungburschen, die schon des Guten zuviel getan hatten, den Bauer hänselten und laut johlend alles zur Seite trieben, was ihnen im Wege war. Auch der Oberamtmann Schrötter wurde mitgeschoben, winkte zum Abschied nur mit der Hand. Die junge Frau stand mit ihrem einstigen Verlobten mitten im Gedränge, Brust an Brust. Ihre Wangen färbte eine jäh aufsteigende Röte, sie schob die Hand vor, versuchte zurückzutreten.

„Entschuldige“, sagte sie und fügte mit einem verlegenen Lächeln hinzu: „Hast dich wenig verändert in all den Jahren! Noch genau so wild und jähzornig wie früher.“

„Du irrst dich“, erwiderte er, „das war keine plötzliche Aufwallung, sondern eine alte Rechnung, die sich in vier langen Monaten angesammelt hatte. Aber laß uns in irgendeine Nebenstraße gehen, hier kann man ja im Gedränge nicht ein einziges ruhiges Wort sprechen!“

„Lohnt nicht mehr“, versetzte sie hastig, „da hinten kommt schon mein Aufpasser, Herr Ludjich Sareyka!“ Und sie deutete die leerer gewordene Straße hinauf. Ein Kaleschwagen mit zwei mageren Kleppern davor kam im Trabe angefahren, der Kutscher in einer Art blauer Livree sah sich nach allen Seiten hin suchend um. — —

„Erlaube mal“, sagte er ungläubig, „ist das jetzt Spaß oder Ernst? Dein eigener Kutscher soll dein Aufpasser sein?“

„Wirst dich noch über manches andere auf dem Bruchhof wundern! Aber um Himmels willen, mach ein gleichgültiges Gesicht, er hat uns schon gesehen!“ Und flüsternd fügte sie mit fliegendem Atem hinzu: „Er ist meines Mannes oberster Vertrauter und Spießgeselle, also sei vorsichtig, er erzählt ihm jedes Wort brühwarm wieder...“

Der Wagen hatte sie erreicht, der Kutscher zog die Leinen an.

„Frau Wohltäterin“, rief er in masurischer Sprache hinüber, „der Herr läßt sagen, Sie sollen allein nach Hause fahren. Er kommt mit dem Gospodarz Soyka nach, weil die Bullen noch nicht verkauft sind. Das heißt, das soll ich ausrichten“, fügte er mit einem breiten Grinsen hinzu, „aber die Wahrheit ist anders. Beim Zawodda im Krug zum letzten Groschen wird schon das Geldchen begossen, und der Herr traktiert alles, was mithalten will. Ich denk' mir so, wenn er morgen früh nach Hause kommt, wird er von den fünf Bullen wohl bloß noch die Stricke mitbringen...“

„Es ist gut“, erwiderte sie ebenfalls auf masurisch. „Was der Herr mit seinem Geld zu machen beliebt, geht keinen was an!“ Und als Hans ihr in den Wagen half, raunte sie an seinem Ohr: „Damit wollte er mich bloß zu einem unvorsichtigen Wort herausfordern, aber ich hab' ja Lehrgeld bezahlt, fall' ihm auf so was nicht mehr `rein! Wir beide werden nachher noch Gelegenheit finden...“ Und laut fügte sie hinzu: „Wo hast du denn dein Gepäck gelassen, Hans? Wohl auf dem Bahnhof?“

Der Zorn über die unwürdige Komödie schüttelte ihn so, daß er nur mit einem Kopfnicken antworten konnte.

„Also vorwärts, Ludjich“, sagte sie, „zum Bahnhof! Und damit du Bescheid weißt: Der Herr hier ist der Bruder von meinem Mann. Er wird sich auch über den Besuch freuen, wenn er nach Hause kommt.“

Tak, tak, panna dobroczulka“, erwiderte der vierschrötige Knecht, „do brannocha...“ Er trieb die Pferde mit einem Zungenschnalzen an, wandte sich halb rückwärts: „Aber Vorstellung war nich nöttich, Pan Leitman, ich weiß, Regiment Masuren, zehnte Kompanie. Ich bei erste, aber liebe Gott war gnädig. Zuerst mit Durchfall in Lazarett und nachher mit Gefangenschaft. Ich hab' sich mit Bruder Russki gut vertragen...“ So radebrechte er auf deutsch, bis entgegenkommende Fuhrwerke ihn nötigten, seine Aufmerksamkeit wieder den Pferden zuzuwenden. Vor dem Bahnhof hielt er still:

Papjera, Pan Leitman?“

„Hier“, sagte Hans, händigte ihm Geld und Gepäckschein aus. Und als der Kutscher im Eingang verschwunden war, brach er aus: „Entschuldige, Anna, aber das ist ja eine ganz gottverruchte Schweinerei! Sag mir, wo die Kneipe liegt, m der mein sauberer Herr Bruder...“

„Um Gottes willen“, schrie sie auf, preßte ihm die Hand auf den Arm: „Damit wär' mein ganzer Plan von vornherein verdorben!“

„Was für ein Plan?“

„Meinen Mann dorthin zu bringen, wo er hingehört! Ich setz' dir alles auseinander, wenn wir nachher zu Hause unter vier Augen sind!“

„Ja, hast du denn irgend was verbrochen, daß er dich, sozusagen, unter Polizeiaufsicht stellt?“

„Verbrochen?“ Sie lachte bitter auf: „O ja, eine ganze Masse! Unter anderem, ich leb' ihm zu lange. Ihm und einer... na, du wirst sie ja nachher zu Hause zu sehen kriegen...! Aber die paar Minuten gehen herum: Also, wenn mein Brief dich nicht mehr erreicht hat, weshalb bist du da hergekommen?“

„Weil ich raus will aus Deutschland! Dein Mann soll wir mein Erbteil auszahlen!“

Sie hob wie im Hohn die schmale Oberlippe über den weißen Zähnen.

„Dein Erbteil? Er denkt so nicht daran! Als das Schreiben kam von der Aufwertungsstelle beim Amtsgericht, hat er nur gelacht: `Gutwillig keinen Pfennig!`“

„Dann könnte ich also gleich wieder umkehren?“ sagte Hans. Das Wort reute ihn schon, kaum daß er's gesprochen hatte, aber es war heraus, stand da.

„Meinetwegen auf der Stelle“, erwiderte sie bitter, „wär' ja auch zu viel verlangt, daß du dich um mich kümmern solltest, nach der Gemeinheit, die ich dir angetan hab'! Ich führ dann das Hundeleben weiter, bis er endlich einsteht, ich laß mich nicht scheiden, damit er die Kanaille heiraten kann! Bloß die Mutter tut mir leid. Sie barmt jeden Tag, ob du auf den Brief hin auch kommen wirst, um das Unglück vielleicht noch abzuwenden.“

„Um Gottes willen, was für ein Unglück?“

„Daß der Bruchhof an einen Polen verkauft wird!“

Er starrte sie fassungslos an.

„An euren Polen, der — Bruchhof?“

Sie hob die schmalgewordenen Schultern.

„Meines Wissens haben wir bisher von keinem anderen gesprochen! Deine Mutter meint, das wär' dann das letzte von dem alten Fluch, der an dem Stück Erde hängt. Aber wie ist's nun? Willst du mitkommen oder...“ Sie unterbrach sich plötzlich, deutete auf den Giebel des Bahnhofes: „Aber auch die Figur da oben hast du ja noch nicht gesehen! Die Regierung hat sich mächtig angestrengt bei dem Wiederaufbau noch im Kriege, aber es gibt manche Bauern, die da weinen, für das viele schöne Geld wäre jetzt bessere Verwendung.“

So gab sie sich beflissen den Anschein, als führe sie mit ihrem Begleiter ein harmloses Gespräch, während der Knecht den Koffer auf dem Bock verstaute. Er kletterte auf seinen Sitz, nahm Zügel und Peitsche, trieb die mageren Gäule mit gemütlichem Zuruf an: „Dalaima po chlodcze... los in der Morgenkühle, meine Liebchen, ehe die Bremsen sich rühren...“ Die beiden aber hinter seinem breiten Rücken legten fast den ganzen langen Weg durch Felder, Wald und Dörfer schweigend zurück. Ein paar Male hatte Hans versucht, mit der neben ihm Sitzenden ein leises Gespräch anzufangen, sie hatte jedesmal mit einem scheuen Kopfschütteln abgewehrt. Da gab er's auf, nur die Angst vor dem auf dem Bocke sitzenden Lümmel erschien ihm geradezu krankhaft lächerlich. Und ihm drängte sich die Vermutung auf, auch an allem anderen, was sie ihm erzählt hatte, sei manches übertrieben. Der jüngere Bruder war ja von klein auf, wie man so sagt, ein übles und bösartiges Früchtchen gewesen, aber daß er sich zu so einem ausgemachten Schweinehund entwickelt haben sollte, erschien ihm kaum glaublich. Er selbst war ein so ehrlicher und innerlich unständiger Mensch, daß er an die Schlechtigkeit anderer erst glaubte, wenn sie ihm richtig bewiesen war. So hatte er sich auch im Laufe der Jahre für den Bruder eine Erklärung, fast eine Art von Entschuldigung zurechtgemacht. Wie der Jüngere schon von jeher gewöhnt gewesen war, nach allem zu greifen, was ihm gefiel, so hatte er sich wohl auch um die heimlich Verlobte des älteren Bruders beworben, bis sie aus Sorge um die hilflose Mutter und die kleinen Geschwister schließlich einwilligte. Die Ehe schien reichlich unglücklich geworden zu sein, was er selbst aber noch heute litt, stand auf einem anderen Blatt... Und ganz unwillkürlich mußte er an das soeben erst wieder gehörte Wort der Mutter denken; von dem Fluche, der am Bruchhofe hing. Das war natürlich eins jener Märchen, von denen es in Masuren viele gab, aber in allen Seedörfern der engeren Heimat erhielt sich hartnäckig der Glaube, jede Frau, die einem Baginski auf den zwischen Wasser und Bruch liegenden Hof folge, müsse dort unglücklich werden. Und er selbst entsann sich noch genau der Angst, die er als kleiner Junge vor der mit Gestrüpp und wucherndem Unkraut bedeckten Stelle am Waldrand empfunden hatte. Sie wurde seit undenklichen Zeiten nicht beackert, weil dort ein Baginski mit zweien seiner Söhne bei einem Streit um die Bruchhöfer Jagd erschossen worden war...

Hinter der langgestreckten Ortschaft Neundorf fühlte Ludjich Sareyka das Bedürfnis, seiner so schweigsam dasitzenden Herrschaft durch ein wenig Unterhaltung den Weg zu kürzen. Zugleich in der stillen Absicht, ganz unauffällig herauszukriegen, was es mit dem plötzlichen Besuche des Bruders, von dem sein Herr bisher weder im günstigen noch ungünstigen Sinne gesprochen hatte, eigentlich auf sich habe. Und Vertrauen konnte man nur gewinnen, wenn man sich selbst vertraulich gab... Er deutete mit der Peitsche auf eine leicht wellige Erhebung zu beiden Seiten der Straße, auf der ein paar verwitterte Holzkreuze standen.

„Da, Schützengrabe! Hier erste Kompanie, Hauptmann Haberland, auf der andere Seite Dragoner. Alle ferfault, bloß ich noch lebe! Ich schon drei Tage vorher in Lazarett, dumme Doktor hat gesagt, Ruhr, bloß Feldwebel hat geschimpfen, ferfluchte Schwein, du hast Rizinus gesoffen, ich werd' sorgen, daß du von Soldatenstand in zweite Klasse! Gesoffen ich hatte, aber ich hab' keine Wort gesagt, bloß gedacht: Lieber lebendige Schwein, wie tote Soldat von erste Klasse…“ „So stehst du auch heute noch aus“, sagte Hans mit ingrimmigem Auflachen, der andere aber tat so, als nahm er's für ein Lob, schmunzelte wie selbstgefällig. Eigentlich wollte ihm jetzt schon scheinen, dieser plötzlich heimgekehrte Bruder passe wenig in den Betrieb seines Herrn, aber er konnte ja noch weiter nachfühlen. Wenn's verkehrt war, stritt man hinterher alles ab, und dir Frau da als Zeugin? Deren Wort war auf dem Bruchhof so viel wert, als wenn ein Huhn gackerte...

Eine ganze Weile später, in dem zur Domäne Rakowen gehörigen Walde, hob Ludjich Sareyka von neuem die Peitsche: „Pan Leitman, da hinter Schonung bei kleine Birke Herr und ich feine Hirsch, groß wie Pferd, an jede Horn sieben Äste. Ich hab' gewußt, wo Hirsch sich badet in Torfloch, Oberamtmann verreist, Förster alte Mann, immer hinter Ofen. Herr hat geschossen, Hirsch mausetot, bloß Hörner abgesägt. Ich aber hab' gedacht, wozu soll schone Fleischchen verfaulen? Zawodda in Krug von letzte Groschen gibt für Pfund 20 Fennig! Da hab' ich Handwagen genommen nächste Nacht, wie ich komm' leise an Torfloch, hör' ich Förster schnarchen, alte Mann bei Wachen is gewesen eingeschlafen. Ich seine Flinte genommen, weggetragen. Wie ich Hirsch zerschneid', er wacht auf, sagt, Hände hoch! Prost! Mallzeit, sag' ich, und wo is deine Flinte? Ich aber hab' Axt und Messer. Hast du schon Lust auf sterben? Du hast keine Lust? Also du wirst Oberamtmann sagen, du weißt Überhang nich, wo Hirsch is geblieben! Aber jetzt komm, faß an...“ Ludjich Sareyka schlug sich lachend gegen die Brust: „Pan Leitman, ich schwör', alles so gewesen, keine Märchen. Förster hat geholfen aufladen, ich bei Attjeh hab' gesagt: `Alte Vater, schön Dank für Helfen, aber du wirst zu keine Mensch eine Wort plappen, sonst alle werden lachen und Oberamtmann dir schmeißt `raus... ` Und schade, daß Hirsch jetzt im Frühjahr keine Hörner auf Kopf, aber wenn Pan Leitman bleibt bis zu Sommer — also ich weiß noch mehr Hirschen! Oder wenn Pan Leitman will Rehbock, ich weiß auch von diese. Bloß Flinte und, Ludjich, los... ?“

So schloß er mit listiger Frage. Hans wollte unwillig auffahren, ein warnender Händedruck ließ ihn einlenken: „Du scheinst mir ja ein ganz verteufelter Kerl zu sein, und, ich glaube, wir werden noch manchmal die Förster zum Narren halten…“ Ludjich Sareyka aber wußte Bescheid. Der Herr Bruder da kam nicht als Freund, hielt mit der Frau zusammen...

Der Wagen war auf die letzte Höhe vor dem See gekommen. Weithin dehnte sich zwischen bewaldeten Hügeln der im Sonnenlicht glänzende Spiegel bis zu dem jenseitigen, in dunstiger Ferne verschwimmenden und schon hinter der polnischen Grenze liegenden Ufer. Unten im Tale aber lag der Hof. Zwischen noch unbelaubten Linden das Haus mit tief hinabreichendem moosgrünen Strohdach, daneben der Obstgarten und anschließend die langen Scheunen und Ställe. Hinter den umzäunten Weidekoppeln aber dehnte sich mit Kiefern- und Birkengebüsch das Bruch, von dem das alte Bauerngeschlecht seinen Namen trug. Da sprang den Heimgekehrten wieder einmal das Leid an, daß er vor jenen Jahren sich hatte bestimmen lassen, sein Recht der Erstgeburt gegen ein Linsengericht zu tauschen — — —

2

Als Hans mit Anna die Wohnstube betrat, erhob sich von dem Sofa eine hochgewachsene junge Frau von üppigen Formen. Sie griff hastig nach einem zu ihren Füßen spielenden Kinde, nahm es hoch und preßte sein Gesicht mit einer wie ängstlich abwehrenden Bewegung gegen die rotseidene Bluse, die ihre hochgeschnürte Brust umspannte. Zu einem kurzen, dunkelblauen Rock trug sie fleischfarbene Strümpfe und Lackschuhe, das hübsche, nur an den Backenknochen ein wenig zu breite Gesicht war dick gepudert, der Mund grellrot angemalt. In ihren Ohrläppchen funkelten Zwei große Brillanten, eine Kette aus Goldmünzen lag um den fleischigen Hals, und schwere Armreifen spannten sich um die plumpen Handgelenke. Wie eine zum Fest geputzte Zigeunerin nahm sie sich aus mit ihren blauschimmernden Haaren und den im weißgepuderten Gesicht fast unnatürlich groß wirkenden schwarzen Augen. „Entschuldigen Sie“, sagte sie in reinem Hochpolnisch, „ich hatte Sie nicht so früh zurückerwartet. Und der Kleine wollte durchaus einmal hier auf Ihrer Seite spielen…“

Hans hatte sich unwillkürlich verneigt, trotzdem er sich nach der kurzen Andeutung, die ihm seine Schwägerin schon auf dem Markte in Ordensburg gemacht hatte, ungefähr denken konnte, was die Schwarzhaarige in dem Hause seines Bruders darstellte. Anna hob mit einem höhnischen Lächeln die schmale Oberlippe.

„Wo du der... Dame da einen so höflichen Diener gemacht hast, darf ich wohl auch vorstellen? Mein Schwager, Herr Oberingenieur Baginski — Fräulein Jelena Tarrasczinska, die... `Freundin' meines Mannes!“

Die andere richtete sich auf: „Ich verbitte mir Ihre Beleidigungen, Frau Baginska!“

„Ski, ski“, schrie Anna zurück, „Frau Baginski heiß' ich, ich bin eine anständige deutsche Frau! Und sind Sie vielleicht nicht die `Freundin' meines Mannes? Oder soll ich Sie etwa mit dem Namen nennen, der Ihnen von Rechts wegen zukommt?“

„Es ist gut, wenn der Herr nach Hause kommt, wird sich alles übrige finden!“

„Oder auch nicht! Aber jetzt `raus! Auf dieser Seite vom Haus haben Sie nichts zu suchen!“

Die Schwarzhaarige warf den Kopf in den Nacken zurück, verließ mit ihrem Kind das Zimmer. Anna preßte die Hand auf die Brust, ging ein paar Schritte über den alten, an vielen Stellen gestopften Teppich, der einen Teil der weißgescheuerten Dielen bedeckte.

„Entschuldige, daß ich mich hinreißen ließ“, sagte sie, zitterte vor Erregung am ganzen, schmächtigen Körper. „Es war vielleicht auch unklug, aber im Augenblick konnte ich nicht anders. Das Weib da ist allein an meinem Unglück schuld. Alles andere wäre zu ertragen gewesen, hätte sich wohl auch wieder zurechtgezogen — seit sie im Hause ist, behandelt mein Mann mich wie einen lästigen Eindringling. Oder, als wenn ich eine widerliche Krankheit an mir hätte...“

„Entschuldigen?“ erwiderte Hans. „Das hast du, weiß Gott, wohl nicht nötig! Aber schämt sich mein Bruder nicht vor unserer Mutter? Oder vor den Leuten im Dorf, daß er euch zumutet, mit dieser Person unter einem Dach zu leben?“

„Vor dem Dorf? Da kriecht ja alles vor ihm auf dem Bauch! Wenn er gut aufgelegt ist, traktiert er im Krug, daß die Bauern und Tagelöhner noch am anderen Tag voll sind. Bloß für die Mutter und mich hat er kein Geld, auch nicht vor der Steuer. Und an das Amtsgericht hat er geschrieben, seine Wirtschaft solle neu abgeschätzt werden, weil er deine Erbschaftshypothek nicht mal zum vierten Teil aufwerten könne...“ Sie brach plötzlich ab, strich mit der Hand über die Stirn: „Ja, aber, was wollte ich doch eben...?“ Und mit einem hilflosen Lächeln fügte sie hinzu: „Seit dem furchtbaren Unglück nämlich mit meinem Bübchen laufen mir die Gedanken manchmal noch ein bißchen durcheinander... Aber ich weiß schon wieder, ich verwechsle es mit dem Brief. Darin hatte ich dir's auch geschrieben, aber den hast du ja nicht gekriegt. Also nach drei Jahren endlich bekam ich einen süßen kleinen Jungen. Und mein Mann war wie umgewandelt, saß stundenlang an meinem Bett, tat sich mit dem Kleinen wie närrisch. Ich aber mußte mehr als acht Wochen liegen, weil die Entbindung so entsetzlich schwer gewesen war. Als ich endlich wieder aufstehen durfte, nahm ich meinen Jungen auf den Arm, trug ihn draußen im Sonnenschein umher. Auf dem Bootsteg am See hob ich ihn hoch und lachte: 'Da, junger Herr, steh um dich! Noch viel, viel weiter, als deine dummen Äugelchen jetzt reichen — all' das gehört mal dir...' Da muß mich wohl ein Schwindel erfaßt haben, eins von den Scharwerksmädeln sah vom Hof aus mich lang ausgestreckt auf dem Steg liegen, kam heruntergerannt, griff auch gleich nach dem kleinen weißen Bündel im Wasser…“

Sie schluchzte auf, trocknete aber gleich danach wieder die Augen.

„Also darum hab' ich schon so viel geweint, da kann ich nicht mehr! Und nach dem Begräbnis wurde ich in die Irrenanstalt gebracht, nach Tapiau. Weil ich Tag und Nacht das Steckkissen umhertrug, schrie, kratzte und biß, wenn man es mir wegnehmen wollte. Nach einem Jahr wurde ich als geheilt entlassen; als ich nach Hause kam, fand ich das Fräulein da von vorhin als Wirtschafterin vor. Von einer seiner Fahrten über die Grenze hatte er sie mitgebracht. Die Leute im Dorf erzählten, aus dem berüchtigten Restaurant Jäger in Prawdawola, sie selbst rühmte sich, sie wär' die Tochter eines von den Bolschewik erschossenen Generals und nur in Not geraten, weil sie bei der Flucht bloß ihr nacktes Leben hätte retten können. Ich begehrte natürlich auf, denn mit dem ersten Blick hatte ich gesehen, was für `ne Art Wirtschaft das war, die das Fräulein hier führte — sie trug sich mit einem Kind. Deine Mutter aber zuckte die Achseln: `Mein Tochterchen, du warst ein ganzes langes Jahr fort... Männer sind Männer... also, ich werd' ihm gut zureden, daß er die Person mit einem Stück Geld fortschickt.' `Schön`, sagte ich, `ich will dann auch so tun, als wenn nichts gewesen ist', aber es kam anders. Er erklärte, seit dem Tode des Kleinen hätte er einen Widerwillen gegen mich, und es stellte sich heraus, daß er eine Scheidungsklage eingereicht hatte. Damit wurde er natürlich abgewiesen, der Chefarzt in Tapiau gab ein Gutachten ab, ich sei geistig wieder ganz gesund. Da versuchten sie es umgekehrt, glaubten, sie würden es fertigkriegen, daß ich die Scheidungsklage einreichte. Aber den Gefallen tu ich ihnen nicht, und das andere... also ja, deine Mutter und ich, wir rühren nichts an, was wir nicht selbst gekocht haben!“

Hans Baginski fuhr auf: „Anna, bedenk', was du sprichst! Das soll heißen, daß mein Bruder und diese Person den Versuch gemacht haben...“

„Mich zu vergiften?“ fiel sie ihm ins Wort. „Nein, nein, sieh mich nicht so entsetzt an, ich weiß genau, was ich spreche, und es ist so wahr, wie ich noch lebe! Nur ob mein Mann was davon gewußt hat, kann ich nicht behaupten. Aber hör zu! Das mag jetzt wohl ein halbes Jahr her sein, da sagt die Mutter zu mir: 'Du, Anna, was ist das heute mit dem Kaffee?' `Wieso?' sag' ich, `nehm' einen kleinen Schluck, spie zu meinem Glück aber das meiste wieder aus. Und ich sag' weiter, noch ganz harmlos, `für uns beide ist ja alles gut genug, wer weiß, in was für einem dreckigen Topf die Margellen den Kaffee aufgebrüht haben'. Und wir gehen in den Garten, Fallobst aufzulesen. Mit einem Male wird es der Mutter schlecht, aber mich durchfuhr es wie ein Blitz — ich wußte ja Bescheid, wie die dummen Bauernweiber es noch immer anstellen, wenn der Mann ihnen zu lange lebt, und die Hausierer tragen ja den 'grauen Stein' in dem Geheimfach von ihrem Kasten pfundweise bei sich. Also ich ins Haus zurück, unterwegs aber überfiel es auch mich, ich mußte alles `rauswürgen, was ich bei mir hatte. Und als ich in die Küche kam, war es zu spät, die Person wusch schon Kanne und Tassen aus. Da nahm ich mich gewaltsam zusammen: Fräulein Tarrasczinska, beim nächsten Male müssen Sie nicht so viel Arsenik in unseren Kaffee schütten, man schmeckt ihn zu früh raus!' Sie wurde blaß wie der Kalk an der Wand: „Frau, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen...?' Ich weiß es aber`, sagte ich, fuhr noch am selben Nachmittag in die Stadt zur Polizei. Aber der alte Wenkhöfer zuckte nur mit den Achseln: `Wo Sie von der Brühe nichts vorzeigen können zur Untersuchung, wird wenig auszurichten sein. Aber machen Sie's doch ebenso wie der alte Bauer Boczan in Popjellen. Der ist vor ein paar Monaten in einer ähnlichen Sache bei mir gewesen. Das Essen schmeckte so merkwürdig, die Zähne wackelten ihm, und er meinte, seine zweite junge Frau wollt' ihn um die Ecke bringen, den Knecht heiraten. Da sagte ich ihm, geschieht dir recht, alter Esel, hättst froh sein sollen, daß du deine erste glücklich los warst! Aber jetzt geh zum Rechtsanwalt, mach' ein Testament, der Kreisphysikus soll dich aufschneiden, ehe du eingebuddelt wirst, und feststellen, an welchem Gift du gestorben bist. Von dem Testament laß deiner Frau eine Abschrift geben, und sollst mal sehen, wie friedlich ihr drei miteinander auskommen werdet.' Da ging ich also hin und tat desgleichen. Ein paar Tage später aber...“ sie schwieg plötzlich, biß die Zähne aufeinander und starrte vor sich hin.

„Und weiter?“ drängte Hans.

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, ich weiß ja, wie du früher an mir hingst... und ich kenne deine Heftigkeit. Nachher, wenn er kommt, läßt du dich hinreißen, und mit dem Plan, den ich mir zurechtgelegt hab', ist's vorbei...“

„Ich geb' dir mein Wort, ich werd' mich zusammennehmen!“

„Also gut! Hast du vorhin bemerkt, wie ängstlich sie ihrem Jungen den Kopf nach rückwärts gedreht hat? Nicht? Na, diese eine Sache ist eher komisch. Sie legt sich selbst nämlich stundenlang die Karten, ob mein Mann sie wohl heiraten wird, und alle Woche einmal geht sie ins Dorf hinunter zur alten Jendrszeiska, um mit Kaffeesatz, Eigelb und ähnlichem Hokuspokus die Probe auf ihre Karten zu machen. Da suchte deine Mutter ein noch aus Friedenszeiten stammendes Zwanzigmarkstück raus und ging auch ins Dorf. Als das Fräulein Tarrasczinska vom nächsten Besuch bei ihrem Orakel nach Hause kam, brachte sie eine schreckliche Warnung mit. In ihrer Umgebung sei eine junge Frau mit dem 'Oko', dem bösen Blick, die jedem ihr Mißbeliebigen Siechtum oder Tod bringen könne. Na, und da ich die einzige war, der man eine solche Gemeinheit zutrauen konnte, war das Weib drüben die erste, die darauf drang, daß hier das Haus in zwei Hälften getrennt würde. Mein Mann aber…“ Sie zögerte einen Augenblick, fuhr dann aber fort: „Also er kam hier herüber, brüllte schrecklich, er würd' mich zertreten, wenn ich versuchen sollte, an seinem kleinen Sohn heimliche Künste auszuüben. Und als ich dazu lachte, versuchte er, mich zu schlagen. Ich schälte gerade Äpfel, um Gelee zu kochen, setzte mich zur Wehr. Der erste Stich traf leider bloß seine Brieftasche, der zweite aber... na also, er mußte seine rechte Hand wochenlang in der Binde tragen. Vor den Leuten redete er sich heraus, er hätte beim Kramen zwischen altem Eisen in eine Sense gegriffen... Von da an kommen wir ganz gut miteinander aus. Nur ab und zu — wie jetzt eben — fauchen wir uns an wie Katz und Hund, die man, mit einer Drahtwand dazwischen, in ein und denselben Käfig gesperrt hat...“

Hans stöhnte auf: „Und von all diesen Gemeinheiten habt ihr mir nicht schon längst geschrieben?“

Die junge Frau zuckte mit den Achseln. „Wie sollten wir? Du kamst ja nicht einmal zum Begräbnis von deinem Vater...“

„Da lag ich selber krank!“

„Und später? Die Mutter behauptet, sie hätte dir im ersten Jahr ein paarmal geschrieben, aber weil du nie Antwort gabst...“

Er fuhr zornig herum: „Na, was denn? Du, meine ich, solltest doch am allerbesten wissen, weshalb ich nicht wieder geschrieben habe! Hätte ich auf die Klagen über deine schon vom ersten Tag an wenig glückliche Ehe vielleicht antworten sollen, geschieht ihr recht?“

Sie hob von neuem die schmalen Schultern.

„Weshalb nicht? Das wäre das einzig Nichtige gewesen! Als ich damals an deinem Halse weinte, du solltest mich frei geben, war ich ja schon nichts mehr wert. Da gehörte ich schon längst ihm, weil er mir während deiner Abwesenheit auf Schritt und Tritt nachgestiegen war...“

„Du lügst!“ schrie er auf.

„Ah nein, ich will nur nicht haben, daß du aus unangebrachtem Mitleid mit mir dich zu einer Unbesonnenheit hinreißen läßt! Das Gericht, zudem ich ihn und sein Frauenzimmer einladen will, muß kalt gegessen werden!“

Hans Baginski war zum Fenster getreten, starrte auf den Hof hinaus, seine Schultern zuckten wie in einem Krampf. Während er fern von der Heimat Tag und Nacht arbeitete, um das in der Kriegszeit Versäumte nachzuholen, holte sich hier zu Hause der Herr Bruder mit frecher Hand, was ihm selbst als köstliche Hoffnung am Ziel seines Strebens gestanden hatte. Und Gott allein mochte wissen, wie lange vor jenem rührseligen Abschied die beiden ihn schon betrogen und ausgelacht hatten...

In der niedrigen Stube mit der von mehr als hundert Jahren dunkel gebeizten Holzdecke entstand ein langes Schweigen. Ein paar matte Winterfliegen, die von der Ofenwärme aus dem Schlaf geweckt worden waren, summten gegen die schmalen Fensterscheiben.

„Ich hätte es dir und mir erspart“, sagte die junge Frau endlich, „aber es ging nicht anders. Ich kenne dich. Fliegst auf wie Pulver, und wenn dir hinterher der andere ein paar versöhnliche Worte sagt, ist bei dir wieder alles gut. Und jetzt, ehe die Mutter von ihrem Nachmittagsschlaf aufsteht, hör' zu! Sie wird dir vorklagen, der Bruchhof gerät in polnische Hand. Das kann wahr sein oder nicht wahr sein — ich weiß es nicht. Vor zwei Wochen etwa war ein Herr da von jenseits der Grenze, blieb mehrere Tage und sah sich sehr eingehend nicht bloß den Hof und die Feldmark, sondern auch die ganze Umgegend an. Weshalb sagte mein Mann uns nicht; erst durch die Dienstboten erfuhren wir, es handle sich um den Verkauf des Bruchhofes. Und die Mutter meint, du könntest beim Grundbuchamt vielleicht irgendwie Einspruch erheben. Ob du dazu ein Recht hast, kann ich nicht beurteilen. Der andere Weg ist sicherer. Du sagst ihm nicht, weshalb du nach Hause gekommen bist, er soll dich nur aufnehmen, bis du eine neue Stelle gefunden hast. Und wenn du über seine dunklen Geschäfte Bescheid weißt, geh hin zum Staatsanwalt und brich ihm das Genick!“

„Um Gottes willen, Anna, ich soll den eigenen Bruder…“

„Na, was denn?“ gab sie höhnisch zurück. „Hat er etwa Bedenken getragen, dir hinter deinem Rücken die Braut zu verführen?“

„Was... was sind das für Geschäfte“, fragte er heiser, „von denen du eben sprachst?“

„Wenn ich's genau wüßte, hätte ich ihn schon längst selber angezeigt. Aber jedesmal, wenn er mit seinem Sareyka und den beiden polnischen Knechten — er duldet ja schon lange keinen deutschen Menschen mehr auf dem Hof —, ja also, wenn er mit der Bande nachts unterwegs ist, werden die drei Riesenköter aus dem Zwinger gelassen. Und hast du nicht vorhin den Zaun aus Stacheldraht gesehen, der sich um das ganze Gehöft zieht?“

„Ich hab' nicht darauf geachtet...“

„Na, denn sieh ihn dir nachher an. Auch die drei Hunde in dem Verschlag neben dem Pferdestall. Wer sich da zutrauen wollte, nachts über den Hof zu gehen, wenn sie los sind, ich glaube, der würde nicht weit kommen...“

Im Nebenzimmer entstand ein Geräusch, als wenn in gemessenen Pausen Holz gegen Holz pochte. Anna flüsterte hastig: „Die Mutter! Sei gut, Hans, laß sie in dem Glauben, daß du auf ihren Brief hin zurückgekommen bist...“

Die Tür tat sich auf, ein gebeugtes, altes Frauchen stand, auf einen Stock gestützt, im Rahmen. Die Haare gebleicht, das runzelige Gesicht mit dem eingefallenen Mund nur noch wie eine gute Männerfaust so groß. Die Tränen schossen ihm in die Augen, halb unbewußt rechnete er nach: er selbst war vierunddreißig, da war die früher so quicke und aufrechte Mutter mit sechsundfünfzig Jahren schon ein hilfloses Menschenwrack, von Sorgen und Kummer zermürbt und zerschlagen... Er eilte ihr entgegen, schloß sie in die Arme... Sie küßte ihn auf die Stirn, strich mit der Hand über sein Haar und nannte ihn zärtlich mit dem Namen, mit dem sie ihn als Kind gerufen hatte: „Janku, Janetzku, bist du endlich gekommen? Die Anna hat immer gesagt, du wirst auch diesmal nicht antworten, aber ich hab' genau gewußt, du wirst kommen, wenn die Mutter dich ruft. Die Mutter und der Hof...“ Und noch in der Umarmung begann sie von dem zu sprechen, um das Tag und Nacht ihre Sorgen kreisten:

„Hast du dich schon in der Wirtschaft umgesehen? Warst du in den Ställen? Und was sagst du zu der Wintersaat auf dem Schlag am See? Das soll Roggen sein, behauptet dein Bruder, ich hab' nur die Hände gerungen: Unkraut und Quecke ist's, nicht mal die Hasen wollen das Zeug fressen, weil sie in der Nachbarschaft was Besseres finden…“

Er führte sie zum Sofa: „Muttchen, ich bin ja eben erst mit der Anna vom Markt gekommen!“

Die alte Frau ließ sich schwerfällig nieder.

„Dann wirst du also noch sehen, was aus der Musterwirtschaft geworden ist, die ihm der Vater übergeben hat! Alles verschlampt und verludert... Und ich sag' immer, es gibt vielerlei Sünden auf dieser Welt. Gegen den lieben Gott, gegen die Gesetze und gegen die Menschen. Die schlimmste aber von allen gegen die Muttererde! Wenn du sie pflegst und ehrst, gibt sie's dir zehnfach wieder mit ihrem Segen. Wenn du sie aber mißhandelst, rächt sie sich. Nicht bloß durch Mißwachs, ihr Arm langt viel, viel weiter hinein in dein Leben... Er lacht nur dazu: `Mutter, wir haben ja auch noch das Wasser! So lange da unten der See liegt und die Grenze, brauchen die Herren vom Bruchhof nicht wie die Mistbauern hinter dem Pflug herzugehen…`“ Sie unterbrach sich selbst: „Aber Anna, du hast dem Hans ja noch nicht mal einen Willkommenstrunk vorgesetzt?! Zu meinem Schrank steht eine Flasche Wein. Er kann ihn ruhig trinken, er ist noch genau so versiegelt, wie ich ihn vom Kaufmann bekommen hab'...“

Da wußte Hans, was die Schwägerin ihm erzählt hatte, war kein leeres Hirngespinst gewesen. Und er leistete sich im Herzen einen Schwur, ähnlich dem vor nicht zu langer Zeit im Gefängnis von Kattowitz. Es ging nicht an, daß ein Zuchtloser hier Menschenleben zertrat wie Gewürm vor seinem Fuß, den von den Voreltern ererbten Hof verlottern ließ, weil allerhand dunkle Geschäfte ihm leichter und einträglicher schienen...

Auf dem Pflasterdamm, der sich mitten durch das weitläufige Gehöft zog, erklang Peitschenknallen und Räderrollen. Die junge Frau spähte zum Fenster hinaus, lachte spöttisch auf: „Ich kenn' doch meine Leute! Ist's dir nicht aufgefallen, Hans, wie geflissentlich ich dich vorhin in der Stadt dem Knecht Sareyka vorstellte?“

„Allerdings...“

„Na also! Meinst du, der hätte sich sonst herbeigelassen, deinen Koffer höchstpersönlich zu holen? Die Nachricht aber, daß du plötzlich nach Hause gekommen bist, erschien ihm so wichtig, daß er es vorzog, vom Bock zu klettern und seinem Herrn einen Boten zu schicken. Das hat rascher gewirkt, als ich eigentlich gedacht hatte — sein Herr ist da. Und wenn du sehen willst, wie zärtlich er sich mit seiner `Freundin' begrüßt, dann komm her...“

Die Mutter machte eine hilflose Bewegung.

„Um Gottes willen, und wir haben noch gar nicht besprochen, was werden soll. Auch daß ich Angst hab', er will den Hof an einen Polen verkaufen.“

Hans atmete tief auf.

„Keine Sorge, Mutter, so lange ich lebe, bleibt der Bruchhof deutsch!“

Die alte Frau hob die zitterigen Hände.

„Das alles ist so furchtbar! Möchtest du's nicht zuerst mit ihm im guten versuchen? Vielleicht, wenn auch du ihm vernünftig zuredest…“

Anna fuhr heftig herum.

„Da stehst du! Vor ein paar Wochen hat sie noch den Tag verflucht, an dem sie ihn geboren hat, und jetzt, wo's Ernst werden soll, wär' sie womöglich imstande, ihn zu warnen! Also komm...“ Sie faßte die Widerstrebende unter den Arm, führte sie hinaus. Während die Frauen noch im Abgehen waren, betrat der heimgekehrte Hausherr schon das Zimmer. Er glich dem älteren Bruder wenig. Bedeutend kleiner war er, und in den Schultern schmächtiger, trug um Kinn und Lippen einen kurzgeschorenen, blonden Bart. In seinem modischen und gutgeschnittenen Jackettanzug mit farbiger Krawatte glich er eher einem Großstädter als einem Bauerngutsbesitzer. Er kam lächelnd näher, begrüßte den älteren Bruder nur mit einem Kopfnicken.

„Sieh mal an, der Herr Oberingenieur! Ich komm' ganz ahnungslos nach Hause, da sagt mir die Jelena...“ Er unterbrach sich selbst: „Aber ich hab' doch nicht etwa gestört? Oder war der Familienrat über mich räudiges Schaf schon zu Ende?“

Hans hatte Mühe, sich unbefangen zu geben.

„Familienrat? Ich hatte mit der Mutter genug von meinen eigenen Angelegenheiten zu sprechen.“

„So, so“, erwiderte der Jüngere, „aber für die meinigen wird wohl auch einiges abgefallen sein — umsonst haben mir auf dem Heimweg nicht die Ohren geklungen. Ehe wir uns aber darüber unterhalten, darf ich vielleicht fragen, was dich nach sieben Jahren zum erstenmal wieder nach Hause geführt hat?“

„Der Grund ist sehr einfach, ich habe in Kattowitz meine Stellung verloren. Da dachte ich mir, der alte Bruchhof steht ja noch, also werd' ich dort wohl so lange Obdach kriegen, bis ich was Neues finde...“

„Und darf man erfahren, weshalb du die Stelle verlorst?“

„Ich hatte mich mit dem Direktor überwarfen.“

„Hm“, machte der Jüngere, zog seinen kurzen Spitzbart durch die Hand, „weshalb sagst du mir nicht die Wahrheit? Ist es eine Schande, wenn jemand für seine Überzeugung im Gefängnis gesessen hat? Und daß du zwischen den Deutschen in Kattowitz und dem Grenzschutz in Breslau Verbindungsmann gewesen bist, hat man dir doch nicht nachweisen können?“

„Natürlich nicht! Aber ich konnte doch vorher nicht wissen, wie du gesonnen bist. Ich hab' mir sagen lassen, auch hier in Masuren soll es manchen geben, bei dem Vorsicht geboten ist.“

„Kann sein“, erwiderte der andere. „Ich kümmere mich um diesen politischen Kram nicht, muß mich mit beiden Seiten gut stellen, mit Deutschen und mit Polen. Allein schon aus Geschäftsinteresse.“

„Du als Landwirt?“

Karl Baginski hob scheinheilig die Achseln.

„Du mein lieber Gott, wenn ich von der Landwirtschaft allein leben sollte, müßte ich verhungern! Deshalb habe ich mich auf den Handel verlegt. Jedesmal, wenn die Grenze für den Nahverkehr ein paar Tage lang aufgemacht wird, bring' ich von drüben — mit Erlaubnis der deutschen Behörden natürlich — was herüber. Zwanzig, dreißig Schweine, mal auch einen Waggon Roggen — was sich so gerade trifft.“

„Und das soll heißen?“

„Daß ich dich zu meinem Bedauern hier nicht aufnehmen kann. Ganz offen gesprochen: meine Geschäftsfreunde auf der anderen Seite würden es mir übelnehmen, wenn ich dich beherbergen wollte. Außerdem aber...“ Er machte eine kurze Pause, sah den älteren Bruder höhnisch an: „Würdest du jemand in dein Haus nehmen, der als Spion zu dir kommt? In der ausgesprochenen Absicht, dir bei der ersten passenden Gelegenheit das Genick umzudrehen?“

„Ich sollte die Absicht haben, dir...“

„Na, was denn sonst? Grüß meine Frau, sie soll ein andermal keine Briefe schreiben, die als unbestellbar zurückkommen und in die Hand ihres Mannes fallen!“

„Gott sei Dank“, sagte Hans mit einem Aufatmen, „mir stand die Komödie auch schon bis an den Hals! Und jetzt nur noch ein paar kurze Fragen. Ist es wahr, daß du den Hof an einen Polen verkaufen willst?“

„An einen Polen? Das ist albernes Gerede! Aber sonst, wenn ein gutes Stück Geld dafür geboten wird, warum nicht?“

„Und weiter: Gedenkst du die Schweinewirtschaft in meinem Elternhause fortzuführen oder das Frauenzimmer drüben dorthin zurückzuschicken, woher du es geholt hast?“

In den Augen des Jüngeren blitzte es bösartig auf, ehe er aber antwortete, trat er mit einem raschen Schritt hinter den breiten Sofatisch.

„Elternhaus? Seit einer ganzen Weile gehört es mir allein! Aber ich will dir und der Verrückten, die dich aufgehetzt hat, einen anderen Vorschlag machen! Sie soll sich endlich von mir scheiden lassen. Ich hab's ihr oft genug angeboten, will mich auch nicht lumpen lassen, ihr eine anständige Abfindung zahlen. Da wäre vielleicht euch beiden geholfen, denn, soweit ich mich besinne, hast du ja auch mit ihr einmal...“

Hans fühlte, wie ihm das Blut in die Augen trat, aber noch hielt er an sich.

„Das mußt du mir erst ein bißchen näher erklären...“

„Gerne“, erwiderte der andere, „aber du erlaubst wohl, daß ich mir vorher eine kleine Unterstützung `ranhole.“ Schon während des Sprechens hatte er das Fenster geöffnet, schrie auf den Hof hinaus: „Sareyka, Michalski, Kuligowski, hierher...!“

Aus dem Nebenzimmer kam die Mutter gestürzt, so rasch ihre Füße sie dann wollten. „Karl!“ schrie sie laut auf, „du rufst gegen den eigenen Bruder die Knechte auf?“

„Na, was denn?“ schrie er zurück. „Sieh dir deinen ältesten Herrn Sohn doch an, wie er dasteht! Man ist in seinem eigenen Haus schließlich nicht `mal seines Lebens sicher...“

„Da hast du recht“, erwiderte Hans, spürte plötzlich, daß er heiser geworden war, „hättest du das infame Wort ausgesprochen, das du auf den Lippen hattest, hätte ich dich niedergeschlagen!“

In der zum Flur führenden Tür war Fräulein Tarrasczinska erschienen, kreischte laut: „Wer ist an all' dem wieder `mal schuld? Bloß die da!“ Und sie wies mit der ausgestreckten Hand auf Anna, die hinter der Mutter ins Zimmer getreten war. „Erst setzt sie Märchen in die Welt, ich wollte sie vergiften, sie selbst aber schreibt Briefe an ihren früheren Liebhaber, er soll herkommen, ihren Mann zu ermorden! O Jesus, Maria und alle Heiligen, warum habt ihr's nur zugelassen, daß ich in diese Hölle von Haus geraten bin?!...“

„Na, denn scher dich doch zurück in den Bordellhimmel, aus dem du gekommen bist!“ schrie die junge Frau, und gleichzeitig steckte Ludjich Sareyka den Kopf zum offenen Fenster hinein: „Was hat der Herr befohlen?“

Da mußte Hans in aller Erregung hell auflachen.

„Wie auf dem Theater, fehlt bloß noch die Musik!“ Und auf masurisch fügte er hinzu: „Tapferer Sareyka, dein Herr hat sich geirrt. Er glaubte, drei solche Helden wie du sind nötig, meinen Koffer nach dem Wirtshaus zu tragen, aber ich denk' mir, du schaffst es allein...“

Der Knecht zog sich mit verlegenem Grinsen zurück, sein Herr aber wandte sich zu dem Bruder: „Wenn du noch ein paar Tage hierbleibst, wird dir die Musik nachgeliefert werden, die dir jetzt gefehlt hat...“

Hans hob die Hand: „Grüß deine drei Spießgesellen und sag' ihnen, ich wart' nur auf sie! Aber seht raus! Auf der reinlichen Seite von diesem Hause hast du, glaub' ich, nichts zu suchen!“

Karl Baginski machte eine Bewegung, als wollte er sich auf den älteren Bruder stürzen, seine Geliebte warf sich dazwischen, schrie gellend auf: „Du Narr, was willst du denn gegen den Riesen da ausrichten? Geh lieber auf das Weib los, das uns mit seinem Irrsinn noch alle ins Unglück bringen wird...“

Erst schien es, als wolle er sich losreißen, dann blickte er zu der Mutter hinüber, die auf einem Stuhl zusammengesunken still vor sich hin weinte. Da kam es fast wie ein Aufschluchzen aus seiner Brust: „Heul' nicht, du weißt am besten, daß nur die beiden Weiber mich so weit gebracht haben!“ Und als die Polin sich verantworten wollte, schnitt er ihr mit einem groben Wort in ihrer Sprache die Rede ab. „Stul morde“, sagte er zornig, schob sie aus dem Zimmer und schlug hinter sich die Tür ins Schloß. Seine Frau aber stand erst einen Augenblick lang wie in einer Erstarrung, dann lachte sie triumphierend auf: „Habt ihr gehört, was er zu ihr gesagt hat? Halt die Fresse, hat er gesagt, halt die Fresse! Sie aber prahlt vor den Leuten im Dorf, sie lebten noch immer in den Flitterwochen, und er wüßte sich kaum zu lassen vor Zärtlichkeit...“

Die Mutter schluchzte auf: „Zwei Brüder! Zwei Kinder, die unter ein und demselben Herzen gelegen haben, und wenn ich nicht dazwischengetreten wäre...“

„Ganz recht“, sagte Hans, aber seine Stimme klang rauh, „dann hätte es Mord und Totschlag gegeben! Du und der Vater, ihr habt uns nicht genug verprügelt, als es noch Zeit war. Mich, um mir den verrückten Jähzorn auszuweiden, und aus dem anderen wäre dann vielleicht nicht so ein ausgemachter Lorbaß geworden...“ Er beugte sich über ihren weißen Scheitel, nahm Hut und Mantel. Anna wollte ihn zurückhalten, er schüttelte den Kopf. „Nein, laß, ich kann nicht! Wenn ihr mich braucht, bin ich im Dorfkrug zu finden...“

Vor dem zum Dorfe führenden Tor stand Ludjich Sareyka, einen riesigen Schäferhund am Riemen. Das Tier bellte und jaulte, schnürte sich fast die Kehle ab am Halsbande.

Hans Baginski hatte unwillkürlich nach seiner Waffe gegriffen, schrie auf zwanzig Schritte Entfernung den Knecht an: „Gib den Weg frei! Wenn auf meines Vaters Hof die Hunde gegen mich gehetzt werden, dann — bei Gott — versteh' ich keinen Spaß!“

„Meineswegen, Pan Leitman, aber Herr hat um Hilfe geschrien und jetzt noch nicht gesagt, ob Sie dürfen von Hof herunter...“

Der Hund hatte sich losgerissen, stürmte in langen Sätzen heran. Hans versuchte, ihn mit einem Fußtritt abzuwehren, als er merkte, daß das offenbar auf den Mann dressierte Tier ihm im nächsten Augenblick an der Kehle sitzen würde, drückte er ab. Der Hund wälzte sich heulend am Boden, der Knecht warf sich schreiend über ihn, versuchte, mit den Händen das aus der Schußwunde spritzende Blut zurückzuhalten: „Gilku, kochany, nich sterben...“

Hans schritt unangefochten zu dem Tore hinaus, von dem die Straße zwischen noch kahlen Feldern zum Dorfe hinaufführte. Es tat ihm leid, daß er den Hund hatte töten müssen, aber hätte er vielleicht still halten sollen, bis das wütende Tier ihm die Kehle durchbiß...?

3

Das Dorf Baginsken lag auf einem sanft ansteigenden Hange wohl mehr als tausend Schritte vom See entfernt. Eine alte Überlieferung besagte, vor jenen Zeiten, als die festen Häuser der Ritter vom schwarzen Kreuz noch aufrecht standen, wäre alles Land am Südende des Sees Eigentum der Baginski gewesen, und sie hatten nicht gelitten, daß in der Nähe ihres Hofes oder am Ufer sich andere Siedler festsetzten, als die Hörigen ihres Geschlechtes. Was daran wahr sein mochte, war schwer zu entscheiden. Urkunden, die darüber hätten Auskunft geben können, waren nicht vorhanden. Sie waren vielleicht mit anderen Dokumenten verbrannt, als bei einem Einfall der Polen das Ordensburger Schloß mitsamt seinem Archiv in Flammen aufgegangen war. Und die Kirchenbücher des Dorfes, in denen von der Hand der jeweiligen Pfarrherren neben Eheschließungen, Taufen und Sterbefällen ab und zu auch ein bemerkenswertes Geschehnis aus dem Bezirk der Gemeinde verzeichnet stand, reichten nur bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Um das Jahr 1750 herum war das Dorf so groß geworden, daß es sich eine eigene Kirche errichtet hatte; einen ungefügen Bau aus roh behauenen Findlingssteinen mit einem winzigen Holztürmchen, in dem die Glocke hing. Auch darüber, von wem das Dorf seinen Namen trug, ob von dem Geschlecht der Baginski oder dem Bruche, das sich vom Südufer des Sees weithin ins Land zog, war nichts zu ermitteln. Nur auf einem aus dem Jahre 1844 stammenden Blatte des Kirchenbuches fand sich eine Bemerkung, mit der der Versuch gemacht worden war, diese Frage, die in der Gemeinde wohl zu einem Streit geführt hatte, zu entscheiden. Da stand nämlich unter dem schwarzen Kreuz, das den Tod eines Adam Baginski anzeigte, von der Hand des damaligen Pastors geschrieben: „Bey gesetzeswidriger Ausübung des Waidwerkes sammbt zweyen seiner Söhne erschossen. Wobey bemerkt sein möge, daß dieses hochmütige und jedweder Frömmigkeit abholde Bauerngeschlecht sich zu Unrechten berühmet, unser Dorf Baginsken trüge von ihm seinen Namen. Bagno heißet auf Deutsch das Bruch, und sintemalen Gott die Erde eher erschaffen hat, als die Menschen, so gehet daraus herfür, daß nicht die obengenannten Bauern dem Bruche und dem Dorfe den Namen gegeben haben, sondern umgekehret das Bruch den Bauern und dem Dorfe.“ Die Gerechtigkeit aber gebietet es wohl, festzustellen, daß auch damit die Frage nicht endgültig entschieden war. Wenn man's genau nahm, ging aus der Eintragung nur hervor, daß der damalige Pfarrherr sich über den mangelhaften Kirchenbesuch der Insassen des Bruchhofes schwer geärgert hatte.

Das Dorf hatte sich wenig verändert, seit Hans Baginski es zum letzten Male gesehen hatte. Weil es in unmittelbarer Nähe der Grenze lag, hatten die Russen bei ihrem Abzuge darin nicht so sinnlos grausam gesengt und gehaust wie weiter landeinwärts. Sehr zum Leidwesen der von ihrer Flucht wieder heimkehrenden Bauern, denn die staatlichen Entschädigungen waren damals so reichlich geflossen, daß die Abgebrannten ihre Gewese in Ziegelsteinen wiederaufbauen konnten und noch ein Stück Geld für die Wirtschaft übrigbehielten. In Baginsken aber hingen noch immer die moosgrünen Schilfdächer über den aus geschnittenen Stämmen gefügten Holzwänden mit den bunt bemalten Fensterläden. Holz war zu jenen Zeiten, als das Dorf entstanden war, billiger gewesen als gebrannter Stein. Namentlich, weil der königliche Wald sich nur in einigen tausend Schritten Entfernung rings um die Feldmark zog. Wenn man einen Teil des benötigten Bauholzes gekauft hatte, „holte“ man sich bei passender Gelegenheit das noch Fehlende. Vor dem lieben Gott war Holzdiebstahl keine Sünde, denn der Allgütige hatte den Wald, das Wasser und die Erde ja für alle Menschen erschaffen, nicht nur für einzelne, besonders bevorzugte...

Hans ging die breite Dorfstraße entlang, zu deren beiden Seiten die einzelnen Gehöfte lagen, durch wenig gepflegte Gärten voneinander geschieden. Auch in dem großen Pfarrgarten sah es nicht viel anders aus. Auf der Seite, die an das Nachbargehöft der Bogdans grenzte, stand noch immer das schier undurchdringliche Dickicht von Faulbaum, Tollkirsche und Espen, aus dem das Holz für den Backofen geschnitten wurde, durch die Mitte des weiten Geländes stoß das Bächlein zwischen krummen, zu allerhand seltsamen Formen verbogenen Weiden. Nur in der Nähe des stattlichen Wohnhauses war ein neuer, sorgfältig gepflegter Obstgarten angelegt worden. Zwischen hochstämmigen Birn- und Apfelbäumen zogen sich an den sauber geharkten Wegen niedrige Spaliere hin — sechs oder sieben Jahre mochte es her sein, daß sie gepflanzt waren. Ungefähr so lange, als Annas Vater, der Pfarrer Lehnert, auf dem kleinen Friedhofe im Schatten der Kirche neben seinen Amtsvorgängern von einem gottesfürchtigen und arbeitsreichen Leben ausruhte.

Hans war stehengeblieben, blickte über die aus Feldsteinen lose geschichtete Mauer, die den Garten von der Straße schied. Dort, auf einer der alten Weiden, hatte er mit seiner Jugendgespielin gesessen, als ihn der Pfarrer herunterholte: „Komm `mal her, kleiner Baginski, willst du `was Besseres werden als Bauer?“ „Warum nicht“, hatte er geantwortet, „wenn's noch `was Besseres gibt…?`“ „Dann ist's gut, ich spreche noch heute mit deinen Eltern. Du hast mir bei der letzten Schulvisitation so gescheite Antworten gegeben — du mußt auf`s Gymnasium!“

Er lachte bitter auf und ging weiter. „Was Besseres als Bauer...“ Was hatte er denn mit allem Lernen und Studieren erreicht? Daß er heimatlos geworden war, den größten Teil seines Lebens die Füße unter fremder Leute Tisch hatte strecken müssen. Aber noch war es ja nicht zu spät, umzukehren und seinem Leben ein neues Ziel zu setzen. Der Bruder Karl hatte vorhin ja selbst gesagt, er wolle den Hof wieder hergeben, wenn ihm ein ordentliches Stück Geld geboten würde. Da mußte das Gelb eben aufgebracht werden, er hatte ja noch Freunde in der Heimat, bei denen er wohl nicht vergebens anklopfen würde. Im Notfalle aber ging man hin und verkaufte sich an irgendeine reiche Erbtochter aus der weitläufigen Verwandtschaft, der Bruchhof war einen solchen Handel schon wert. Und das Geschäft hätte er längst machen können, wenn er nicht wie ein Narr an der einen gehangen hätte, die ihm noch zärtliche Briefe geschrieben hatte, während sie ihn schon mit dem andern betrog... Wie hatte sie damals im Pfarrgarten gesagt? Ihr Herzblut hätte sie verweint in all' den langen Nächten? In den Nächten vielleicht, in denen sein Herr Bruder zu ihr schlich…? Der Ingrimm würgte ihn am Halse, wenn er sich das Bild vorstellte... Dafür hatte er selbst sich all' die Jahre sauber gehalten, kein Weib angerührt, so sehr sein Blut auch zuweilen drängte... In einer Art abergläubischer Hoffnung, er könne sie auf die Art doch noch einmal gewinnen... Von dieser Narrheit war er heute gründlich geheilt... Aber der Plan, der ihm vorhin entwickelt worden war, schien gut, nur anders, als seine Erfinderin sich's gedacht hatte. Welcher Art die Grenzgeschäfte waren, die der Bruder trieb, war wohl bald herauszukriegen. Und dann stellte man sich als Bauer zu Bauer: „Mein Lieber, ich biete dir für den Bruchhof einen anständigen Preis. Gehst du darauf nicht ein, muß ich bei meinem Angebot noch eine Kleinigkeit drauflegen: den Herrn Staatsanwalt in Ordensburg! Der dürfte sich vielleicht sehr lebhaft dafür interessieren, daß du bei deinen Geschäften immer nur nachts unterwegs bist...“

Das alles aber mußte nicht in heißem Zorn bedacht werden, sondern in nüchterner und kalter Überlegung. Auch nicht mit hungrigem Magen, denn er hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen. Er ging quer über den lindenumsäumten Dorfplatz zu dem Wirtshause, das nach altem Brauche der Kirche gerade gegenüber lag, damit die Bauern es vor und nach der Predigt zur leiblichen Stärkung nicht allzuweit hatten.

Der graue, mit Stroh gedeckte Holzbau der Schenke stand noch da wie früher. Zur Rechten die geräumige Ausspannung für Dauergäste, unter den Fenstern die langen Halterbäume mit den Eisenringen, an denen bei kurzer Einkehr das Handpferd mit dem Zügel festgebunden wurde. Nur über der Tür prangte ein neugemaltes Schild mit zwei schäumenden Biergläsern und dazwischen der Name Casimir Zaborowski. Ein neuer Besitzer also mit einem in Masuren ganz ungebräuchlichen Vornamen...

Die große Schenkstube mit den bunten Reklameplakaten an den Wänden war leer. Erst auf energisches Klopfen erschien in der zum „Herrenzimmer“ führenden Tür ein junges aufgeputztes Ding. Ein bildhübsches Mädel von kaum zwanzig Jahren mit roter Haarschleife in dem braunen Wuschelkopf, fleischfarbenen Strümpfen und einer Tändelschürze über dem knapp über die Knie reichenden Rock. Hans mußte unwillkürlich auflachen. Wenn er an die schlampige, alte Kellnerin dachte, die früher hier den Gästen aufgewartet hatte, war selbst im tiefsten Masuren ein gewisser Fortschritt zu verzeichnen. Ob zum Besseren war freilich eine andere Frage...

Das zierliche Mädel reckte sich verschlafen, sagte in gebrochenem Deutsch: „Herr und seinige Frau noch auf Markt in Stadt, ich allein zu Hause, mit keine Schlüssel... nichts zu trinken...“

„Auch nichts zu essen? Ich hab' einen mächtigen Hunger!“

„Zu essen, ich weiß auch nicht... muß nachsehen in Schrank. Vielleicht ein Stückchen Wurst...“

Hans setzte sich rittlings auf einen der Holzstühle: „Schön, sieh' nach, mein Kind! Aber erst komm `mal her: Wo hast du denn dein schönes Deutsch gelernt?“

„Ich? In Sczuczin, andere Seite von Grenze.“ Und mit einem geschmeichelten Lächeln fügte sie hinzu: „Nich wahr, ich schon spreche sehr gut, aber ich will noch lernen besser.“

„Lobenswert! Und dein Herr? Auch 'von andere Seite von Grenze'?“

Tak, aber ich sich nich weiß, aus welche Stadt. Ich noch nich acht Tage in diese Krug...“

„Und wer hat dich hierhergebracht? Solche hübschen Mädel hat es hier früher nicht gegeben!“

„Ich weiß“, erwiderte sie stolz. „Geschäft geht auch sehr gut, Burschen aus Dorf kommen alle Abend gelaufen, auch Bauern, ganze Stube voll. Bloß meinige Bräutigam zu eifersüchtig, paßt immer auf... Aber erzählen können wir sich nachher, wenn ich hab' was gefunden zu essen...“

Hans sah ihr nach, wie sie in ihren kleinen Lackschuhen auf hohen Absätzen davonstöckelte, machte sich über diesen, aus Polen eingewanderten Wirt seine eigenen Gedanken. Die Vermutung, daß zwischen ihm und den dunklen Geschäften seines Bruders ein Zusammenhang bestand, war ziemlich naheliegend. Darüber war wohl etwas zu erfahren, wenn er dem hübschen Mädel da nachher ein wenig den Hof machte...

Nebenan im Herrenzimmer klapperten Teller, die Kellnerin sang mit wohllautender Stimme eines jener Tanzliedchen, die diesseits und jenseits unter dem Jungvolke im Schwange waren:

„Denkst du noch, mein lieber Bub,

Was du mir geschworen.

Als wir uns beim Hafermäh'n

Im Getreidefeld verloren?“

Und mit nachgemachter Männerstimme sang sie den zweiten Vers:

„Mädchen, was ich damals schwur,

Mußte ich vergessen,

Weil von deinem Tellerlein

Andere schon gegessen…“

Der Zuhörer aber lachte ingrimmig auf. Der letzte Vers paßte auf ihn, als wenn das Mädel da hinter der Tür sein Schicksal gekannt hätte. Auch er mußte endlich vergessen, nur schade, daß man so etwas nicht auf Kommando besorgen konnte...

Die hübsche Kellnerin öffnete die Tür, machte eine einladende Handbewegung: „Zu Schrank ich habe gefunden eine ganze Menü, Brot, Wurst und Käse.“ Sie setzte sich im Herrenzimmer mit an den Tisch, sah ihm zu, wie er hungrig aß. Als er endlich den Teller fortschob, aber immer noch keine Miene machte, die begonnene Unterhaltung fortzusetzen, fragte sie leicht schmollend: „Also wie ist? Ich hatte gedacht, wir sollen sich `was erzällen?“

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn: „Hast recht, Mädel, bei dem Grübeln kommt nichts Gescheites `raus... Was die kleinen Beester wirklich denken, ob sie lügen oder Wahrheit sprechen, hängen sie einem ja doch nicht auf die Nase... Na, und nun schieß `mal los: Wie in aller Welt kommt ein so blitzsauberes Mädel hier in diese elende Bruchbude?“

Sie hob unter der dünnen Seidenbluse die rundlichen Schultern.

„Wenn man hat gar keine Geld? Vater und Mutter tot, Schwester, wo hat für mich gesorgt, auch gestorben, jetzt wird sein schon drei Wochen...“ Sie schluchzte auf: „Eine so gute Schwester! Nach Begräbnis von Mutter hat sie zu mir gesagt: Bronislawa, sie hat gesagt, du sollst nicht dieselbe Weg gehen, wie ich, ich werd' zahlen für Schule mit Deutsch und Französisch, Lehrer für Piano und Singen... Zwei Jahre hat sie bezahlt, auf einmal...“ Sie schwieg, sah mit schwimmenden Augen vor sich hin.

„Armes Mädel“, sagte Hans mit mehr Teilnahme, als er eigentlich nötig gehabt hätte. Sie widersprach lebhaft.

„Nein, nicht arm, sie hat verdient viel Geld, mir auch geschrieben noch acht Tage vor Tott, sie hat Sparkassenbuch in Kommode auf zwanzigtausend Zloty. Ich mir gar nicht gewundert über so viele Geld. Sie war erste Attraktion von Maison d'or in Straße Miodowa von Warschau, auch in Hotels sie war sehr beliebt, wo Kavaliere bei Portier aussuchen Mädchen nach Photographie. Aber sie hat diese Leben nicht ausgehalten mit Brust, eine Morgen ganze Bett voll Blut. Ich zu Begräbnis. War sehr schön. Eine ganze Wagen mit Blumen, alle Mädchen auch von andere Häuser sind gefahren hinter Sarg in Karosse, Kuryer Illustrowany hat gebracht Bild mit Unterschrift: unersetzliche Verlust für ganze Jeunesse dorée. Ich anderen Tag pack Kleider von Stanislaw in Koffer, frag' Madame nach Sparkassenbuch. Alte Weib mir lacht aus: „Welche Sparkassenbuch? Deinige Schwester bei mir noch Schulden, du wirst abarbeiten!“ Da ich ohne Koffer bin gelaufen zu Bahnhof, weil Angst, alte Weib mich wird nehmen in seine Haus mit Gewalt. In Sczuczin aber wovon leben? Vielleicht auf Straße gehen? Da ist Bräutigam gekommen, hat gesagt, ich weiß für dich gute Stelle. Und ich dir habe unter Augen, daß du nicht wirst lieben mit andere, bis wir beide können sich...“ Sie brach ab, putzte sich das feine Näschen.

„Hm“, sagte Hans, „da müßtest du deinem Bräutigam doch eigentlich sehr dankbar sein?“

Fräulein Bronislawa blickte, wie verwundert, auf.

„Ich nicht dankbar? Ich ihn sogar auch ein bißchen liebe, aber ich bitte, wenn er war in Sczuczin in Geschäfte, er hat sich aufgespielt als eine große Herr, ich komme hierher, er ist ein Knecht. Ich weine; er sagt, er keine gewöhnliche Knecht, sondern mit seinige Herr bei Geschäfte auf Prozente. In zwei Jahre er hat so viel Geld, daß er kann kaufen kleine Bauernhof. Jetzt aber, ich bitte, meine Schwester mir hat lernen lassen auf Karriere von Sängerin in Café chantant. Soll ich vielleicht hier singen vor Schweine oder bei Melken von Kuh?“

Er mußte unwillkürlich auflachen.

„Keine Sorge, mein Kind! Wer so hübsch ist wie du, wird hier nicht versauern. Aber ich kenne den Bruchhof sehr gut. Welcher von den Knechten ist denn dein Bräutigam? Etwa der Ludjich Sareyka?“

Tak, der Sareyka. Aber wenn Sie kennen den Bruchhof, dann Sie auch kennen die Tarrasczinska!“

„Ich hab' sie erst vor `ner Stunde gesprochen.“

Die Kleine rückte näher.

„Dann, bitte, erzählen Sie, wie steht sie aus? Ist sie so schön, wie Sareyka immer sagt?“

„Das war sie vielleicht einmal! Aber jetzt? Das ganze Gesicht voll Schminke, daß man die Runzeln nicht sieht, und dick... also dich könnte man dreimal in sie reinpacken!“

Fräulein Bronislawa nickte befriedigt.

„Jetzt ich weiß, wieso sie meine Bräutigam gefällt. Zu mich er sagt immer, ich zu mager.“

„So ein Esel!“ erwiderte Hans und fügte aufs Geratewohl hinzu: „Ich kann mich ja täuschen, aber ich glaube, mit der Herrlichkeit der dicken Dame auf dem Bruchhof ist's bald vorbei.“

Die Kleine sprang prompt darauf ein. In ihren dunklen Augen blitzte es auf.

„Sie kennen auch den Pan Baginski gut?“

„Wie meinen Bruder!“

„Dann Sie werden auch können sagen, ob Wahrheit, was meine Herr Zaborowski hier in diese Stube gestern zu seinige Frau hat gesagt. Sie haben gezählt Geld, aber nicht gewußt, daß ich dort in Laden, und Klappe stand offen. Da hat er gesagt, Geschäft ja ganz schon, aber Baginski Wolf, wo frißt ganze Schwein, und ich kleine Fuchs, wo muß zufrieden sein, wenn von Fleisch noch ein bißchen bleibt au Knochen. Wenn Baginski will, er jede Tag hier kann kaufen ganze Dorf!“

Da glaubte Hans zu wissen, auf welche Art die Kleine ihre unterbrochene „Karriere“ fortzusetzen gedachte. Und er fragte, wie nebenher: „Weshalb interessiert dich denn das?“

Sie hob die wohlgeformten Schultern.

„Interessieren...? Interessier' ich mich gar nich, man fragt so, wenn man nichts Besseres weiß zu Unterhaltung. Und ich hab' schon erlebt, wenn einer hat drei Grosczi, die Leuten daraus machen tausend Zloty.“

Da schien es ihm geraten, zu erwidern, der Herr vom Bruchhof sei unermeßlich reich. Bei der Gefährlichkeit seiner Geschäfte müsse ja auch ein geradezu riesiger Nutzen heraussprengen. Sie widersprach lebhaft: „Gefährlich? Aber, ich bitte, wieso gefährlich? So lange alte preußische Straschnik aus Dlugossen... ich weiß nicht, wie man zu ihm sagt auf Deutsch…“

„Grenzaufseher?“

Tak, tak, Grenzaufseher! Gleich erste Tag, wie ich bin gekommen, Sareyka hier in diese Stube mit ihm hat getrunken. Bier und Wein und Schnaps, alte Mann kaum hat stehen können auf seine Füße. Da hat er ihm zu Abschied Geld sicher gesteckt in Brusttasche, daß er unterwegs nicht verliert. Arme Teifel mit kranke Frau und ganze Haus voll Kinder...“

Hans wußte genug, mehr war wohl aus dem kleinen Mädel nicht herauszuholen. Daß ein umfangreiches Schmugglergeschäft ohne Mitwissern eines untergeordneten Grenzbeamten unmöglich war, hätte er sich auch selbst sagen können. Er griff in die Tasche: „Na, dann wollen wir jetzt `mal so langsam ans Bezahlen denken...“

Sie schmiegte sich an ihn, sah schmollend zu ihm auf: „Ich erzähl' meine ganze Leben, und Sie gar nich? Und überhaupt, wieso Sie schon wollen gehen?“

Er lehnte sich in dem wachstuchbezogenen Sofa zurück: „Hast recht, Kleines, anderswo ist auch nichts los. Na, dann rat `mal zuerst, was ich bin!“

Sie sah ihn erst einen Augenblick lang prüfend an, dann nahm sie seine linke Hand: „Sie glauben an Linie?“

„Kommt ganz darauf an, wer sie ausdeutet...“

„Ich von meine Mutter viel hab' gelernt. Sie konnte auch lesen in Auge und Gesicht, ich nur in Hand.“

„Na, was steht denn da d'rin geschrieben?“

Sie bekreuzigte sich, studierte eine ganze Weile lang. Schließlich blickte sie auf: „Soll ich sagen Wahrheit?“

„Na, was denn? Sonst hätte der ganze Spaß doch keinen Zweck...“

„Keine Spaß“, erwiderte sie, „Sie werden gleich sehen! Also diese Hand keine Hand von Kaufmann, nicht von Landwirt, nicht von Lehrer, aber von studierte Mann, wo hat gearbeitet. Vielleicht mit Maschine?“

„Kann sein“, gab er ein wenig betroffen zu, „aber weiter...“

„Weiter?“ Sie berührte nacheinander einzelne Stellen seiner Hand: „Hier von Herzen sehr gute und weiche Mensch, aber hier Temperament, wo in Zorn kann totschlagen, hier Liebe zu eine Frau schon von viele, viele Jahre, aber nicht zu sehen, ob mit gute Ende... hier Streit mit nächste Verwandte, vielleicht Bruder oder Vater... hier Linie von Leben... an eine Stelle kleine Gefahr... vielleicht Krankheit, an andere sehr große Gefahr...“

Er zog seine Hand zurück, wie Frieseln war es ihm den Nacken entlanggefahren.

„Mädel, entweder weißt du ganz genau, wer ich bin...“

„Ich weiß gar nich“, unterbrach sie ihn, „ich Sie heute hab' zu erstemal gesehen!“

„Na schön, dann bist du klüger als andere Leute...“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich bin eine dumme kleine Mädchen. Lesen in Hand keine Klugheit, sondern Erbteil. Ich lese auch in meine eigene Hand... Drei Monate von diese heutige Tag ich muß sterben, vielleicht ich werde auch schon früher…“

Draußen in der großen Schenkstube erklang ein Poltern, als wenn ein schwerer Gegenstand auf die Dielen geworfen würde. „Bronislawa, mein Täubchen, wo steckst du?“ rief eine laute Stimme auf Masurisch.

Die Kleine fuhr zusammen.

„Tutai, hier...“

„Hier ist der Koffer von dem deutschen Hund! Weil er gesagt hat, er soll hierhergebracht werden. Und bestell dem Zaborowski, nur diese eine Nacht soll er Quartier geben!“

Hans Baginski trat in die Tür, die Ader auf der Stirn war ihm geschwollen.

„Freund Sareyka, mir scheint, du wirst deine Tracht Prügel früher kriegen, als ich geglaubt hatte!“

Der Knecht verneigte sich mit übertriebener Unterwürfigkeit, tat erschreckt.

„O Jesusche, Pan Leitman! Fall zu Füße, ich hatte nicht gewußt, daß Pan Leitman is hier. Und meine Gospodarz sich laßt empfehlen, morgen früh hier wird sein für Pan Leitman Wagen zu Abreise...“

Hans nahm sich gewaltsam zusammen. Und nur — fast hätte er über sich gelacht — weil das Mädel da vor ein paar Minuten in seiner Hand gelesen hatte, er könne im Zorn einen Menschen erschlagen. Er schob, ohne lange zu wählen, einen Geldschein in die Tasche ihrer Tändelschürze: „Da, mein schönes Kind, das ist für dich. Du aber, lieber Sareyka, empfiehl mich meinem Herrn Bruder auch. Ich fand' es recht merkwürdig, daß er mich durchaus von hier forthaben will. Das könnte mich veranlassen, noch ein paar Tage hierzubleiben!“

Er ging hinaus, ärgerte sich schon im nächsten Augenblick über sich selbst. Klüger wäre es gewesen, zu antworten, er reise schon morgen wieder ab, um dann seine Nachforschungen in aller Heimlichkeit fortzusetzen. Aber zum Diplomaten hatte er kein Talent, und niemand kann aus der Haut heraus, die ihm gewachsen war...

4

Auf der Dorfstraße war es lebendig geworden, ein ganzer Zug Bauernwagen kehrte aus der Stadt zurück. Lustige Zurufe flogen hin und her, Weiber kreischten, der auf dem Markt genossene Schnaps tat noch seine Wirkung. Ein Jungbursche erprobte die neu gekaufte Ziehharmonika, flachsköpfige Kinder kamen aus den Torwegen gesprungen, kletterten auf die Wagen und bettelten ungeduldig um das süße Mitbringsel. Eine Schar von Zuchtgänsen lief flügelschlagend über den Dorfanger, die Glocke in dem winzigen Holztürmchen über der Kirche bimmelte. Der alte Schmied Pjessowodski kam aus seiner rußigen Werkstatt, eine frisch vorgeschützte Pflugschar in der Zange, steckte sie zum Härten in das hoch aufzischende Wasser des Troges und warf sie zur Abkühlung auf die Erde.

Hans trat näher. „Guten Abend, Ohm Samel“, sagte er, denn die Pjessowodski waren von irgendeiner Urgroßmutter her den Baginski verwandt, und in Masuren rechnete man die Vetternschaft bis ins zehnte Glied.

Der Alte nickte gleichmütig, als hätte er den heimgekehrten Ältesten vom Bruchhof erst gestern zum letzten Male gesehen.

„Guten Tag, Hans! Ich hab' schon gehört, daß du wieder nach Haus gekommen bist. Der Knecht Kuligowski war vorhin hier wegen einer Egge. Da erzählte er auch von dem Skandal, den es wieder `mal auf dem Polenhof gegeben hat...“

Das Wort traf ihn wie ein Schlag.

„Erlaube, was hast du eben gesagt?... Polenhof?“

Der Schmied blickte auf.

„Da wunderst du dich? Aber ich hab' eben nicht daran gedacht, daß du ja ein paar Jahre fort warst. Es ist eine Schande, aber auf einmal war das Wort da. Aber mehr möchte ich jetzt nicht sagen. Dein Bruder hat einen langen Arm, und es ist nicht gut, sich mit ihm anzulegen.“

„Ohm Samel“, erwiderte er bitter, „soll das heißen, daß ich weitergehen soll? Ich hatte geglaubt, ich könnt' bei einem alten Freund meines Vaters ein Weilchen Einkehr und Ansprache finden?!“

In dem von Ruß geschwärzten Gesicht des Alten arbeitete es, seine vom Schmiedefeuer blaßgebeizten Augen spähten in die Runde. „Es ist gut“, sagte er endlich, „geh voran in die Werkstatt...“

Hans trat in den im Dämmerlicht liegenden Raum, der nur von einem spinnwebbezogenen Fenster und dem rötlichen Schein des Essenfeuers spärlich erhellt wurde. Die aus Steinkohlenrauch, Holz- und Eisengeruch gemischte Luft war ihm vertraut. Dort an der Wand, auf dem von Feilspänen bedeckten Werktisch mit den Schraubstöcken, Zangen und Raspeln hatte er vor jenen Jahren oft gesessen und zugesehen, wie von dem Eisen auf dem blankgehämmerten Amboß die roten Funken wie blitzende Sterne sprangen... Vielleicht war auch hier der erste Keim zu dem Entschluß entstanden, ein Mann des Maschinenbaus zu werden statt eines streitbaren Dieners am Worte Gottes, zu dem ihn der Herr im Pfarrhof nach seinem eigenen Beispiel zu erziehen gedacht hatte...

Erst nach einer Weile kam der Alte nach, schloß hinter sich die Tür.

„Feierabend meinetwegen für heute!“ Er wies auf einen an der Wand stehenden Schemel: „Da setz' dich hin und hör' zu. Du hast vorhin geglaubt, ich hab' Angst vor deinem Bruder. Für mich nicht, ich leb' zur Not von meinen zehn Morgen Acker. Aber da ist die Witwe von meinem Ältesten mit ihren vier Kindern, die muß ich miternähren. Er liegt in Flandern begraben; die Uhr, die mir sein Hauptmann geschickt hat mit einem Brief, das ist alles, was von ihm übriggeblieben ist.“ Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen: „Ein Kerl wie ein Baum, der schwere Schlaghammer war ihm wie eine Feder in seiner Hand...“

„Und dein Zweiter, der Samélek?“

„In Westfalen, hackt Kohlen. Was soll er hier? Vielleicht als gelernter Schmied bei einem Bauer auf Arbeit gehen? Für Schöndank und Essen? Das Handwerk hat bei uns nicht mal `nen bleiernen Boden mehr... mit ihrem `Korridor' hungern die Polen uns aus. Aber jetzt sag', weshalb bist du nach Hause gekommen?“

Da hielt Hans es für geraten, vorsichtig zu Werke zu gehen. Ihm wollte scheinen, er habe mit seinem unbesonnenen Dazwischenfahren schon mehr Porzellan zerschlagen, als gut war. Wenn er erfahren wollte, was sein Bruder wirklich trieb, mußte er die Legende verbreiten, er gedenke nach einigen Tagen wieder abzureisen. Und er kannte Masurenart. Bei neugierigen Fragen stand man wie vor einer mißtrauisch verschlossenen Tür. Er holte seine Zigarrentasche hervor: „Da, Ohm Samel, steck' dir auch eine an. Das Feinste, was in Berlin zu kriegen war.“

Der Alte biß die Spitze ab, holte eine glimmende Kohle aus der Esse. Und als er mit dem ersten tiefen Zuge die Lunge gefüllt hatte, bemerkte er achtungsvoll: „Donnerwetter, Junge, mußt du ein Geld verdienen! Für so was muß man drüben beim Krugwirt mindestens zehn Pfennig das Stück bezahlen!“

„Gott“, erwiderte er, „ich kann nicht klagen. Dafür hab' ich ja auch lange genug studiert. Aber auch im Reich geht's der Industrie nicht gut, die Herren Direktoren fangen an, den Ingenieuren das Gehalt zu beschneiden. Da hat sich mir in Argentinien eine gute Sache geboten, und ich hab' angenommen.“

„Ach so! Da bist du wohl nach Hause gekommen, dich mit deinem Bruder Karl wegen der Erbschaft auseinanderzusetzen?“

„Du hast's erraten. Natürlich gab's dabei Krakeel, fast wären wir uns ans Leder gegangen. Wenn ich's mir aber jetzt in Ruhe überlege: Es ist auch `ne Zumutung, fünftausend Taler so schlankweg auf den Tisch zu legen!“

Der Alte dämpfte seine Stimme.

„Unsinn! Er will bloß nicht! Hier im Dorf ist kein Bauer, der nicht `ne Hypothek von ihm hätt'! Und er trägt immer so ein kleines Buch bei sich. Da reißt er ein Blatt raus, schreibt seinen Namen, und das Papier ist bares Geld. Ich wollte es zuerst auch nicht glauben, aber der Bauer Sewzik hat ganz genau erzählt, wie's dabei zugeht. Der Karl hatte ihm zu letzter Stelle noch achthundert Taler auf sein Grundstück gegeben, zu achtzehn Prozent. Die achthundert Taler aber hatte er auch auf so einen Zettel geschrieben. Wenn der Sewzik das Geld gleich haben wollte, sollt' er nach Königsberg fahren, auf der Sparkasse in Ordensburg müßte er eine ganze Woche warten. Da hat der Sewzik sich in die Eisenbahn gesetzt, auf der ganzen Reise aber immer gedacht, der Karl macht sich bloß einen Spaß mit ihm, wie manchmal mit den Bauern im Krug, wenn er gut aufgelegt ist. Und in Königsberg hat er sich nach der Kasse durchgefragt, die auf dem Papier stand. Ein Haus wie unser Landgericht so groß, an der Tombak nimmt ihm ein junger Kommis den Zettel ab, fragt einen älteren: 'Hat ein Karl Baginski in Baginsken ein Guthaben bei uns?' Da hat der gesagt: `Mehr als hunderttausend, aber lassen Sie nachsehen, ob die Unterschrift echt ist!' Nach zehn Minuten hat der Sewzik sein Geld gehabt, wir alle hier aber haben vor deinem Bruder einen großen Respekt gekriegt. Daß sogar die Herrschaften in Königsberg seine Unterschrift kennen. Sein meistes Geld aber soll er drüben in Polen haben. Wieviel? Na, das behält er hübsch für sich.“

Hans hatte der naiven Schilderung mit einem stillen Lächeln zugehört. Er zuckte nichtachtend mit den Achseln.

„Ohm Samel, mir scheint, der Sewzik hat euch da ein Märchen erzählt. Womit soll der Karl denn so viel Geld verdient haben? Was ich von seiner Landwirtschaft gesehen hab', war doch nichts als Bruch und Plunder.“

Der Alte lachte kurz auf.

„Man sieht, daß du schon lange nicht mehr zu Hause gewesen bist. Und hast du nie von deinem Vater gehört, was dessen Großvater für ein Geschäft betrieben hat?“

„Ich weiß nur, daß mein Großvater und Vater ordentliche Landwirte gewesen sind. Meine Mutter erzählte auch `mal, es hätt' ein Heft gegeben, worin allerhand von früheren Zeiten geschrieben stand, aber das Heft war verlorengegangen oder verbrannt, und wenn wir den Vater fragten, was da drin gestanden hätt', sagte er, lauter schlechtes Zeug, das wir nicht zu wissen brauchten.“

Der Schmied langte eine neue Kohle aus der Esse, um seine ausgegangene Zigarre wieder anzuzünden.

„Dann ist also dein Bruder ganz von allein darauf gekommen. Und ich sag' immer, Blut ist Blut. Mal schläft es viele Jahre lang in einem Geschlecht, und mit einem Male springt es wieder auf. Du hast vorhin gesagt, ich bin deinem Vater gut Freund gewesen. Ich bin heute achtundsiebzig, dein Großvater war vielleicht fünfzehn Jahre älter, und als ich jung war, da wußte man im Dorf noch viele von den Stücklein, die sein Vater mit dem Knecht Guzek ausgeführt hat. Ganze Schlachten haben sie den Russen geliefert, von dem Guzek hieß es, ein Mensch wär' ihm nicht mehr als eine Fliege gewesen, mehr als hundert soll er totgeschossen haben. Der Sareyka jetzt fackelt ja auch nicht lange, aber der Guzek war mehr so eine Art Herr und nicht so heimtückisch. Das meiste von dem Adam Baginski hab' ich ja schon vergessen, ich weiß nur, er ist auf der Jagd erschossen worden mit zweien von seinen Söhnen. Und dein Großvater hat die Tochter von dem Förster geheiratet, der die drei auf dem Gewissen hatte. Da haben sich die Leute im Dorf noch lange darüber gewundert... Ja, aber ich wollte doch... ach so, ich weiß es schon wieder. Ich wollte sagen, was der Vater von deinem Großvater in Groschen verdient hat bei seinen Geschäften über die Grenze, das verdient dein Bruder Karl in Talern.“

„Ach so“, erwiderte Hans, als hätte er jetzt erst verstanden. „Du meinst, er schmuggelt?“

„Na, was denn sonst?“

„Dann ist mir nur eins rätselhaft. Daß die andern Bauern ihn nicht schon längst aus Neid angezeigt haben!“

„Kalbchen Gottes, sie machen doch alle ihr heimliches Geschäftchen über die Grenze! Bloß mit deinem Bruder können sie sich natürlich nicht vergleichen. Der arbeitet mit dem Zaborowski, dem Gastwirt, zusammen. Wer will da Verdacht haben, wenn der in jeder Woche für sein Geschäft ein paar Dutzend Fässer oder Kisten kriegt? Manchmal kommen in der Nacht auch Wagen gleich auf den Polenhof, von Ordensburg und vielleicht noch von weiter her...“

„Und was ist in den Kisten und Fässern drin?“

Der Alte zuckte mit den Achseln.

„Weiß ich's? Allerhand Sachen, die drüben in Polen gebraucht und teuer bezahlt werden. Drüben in Prawdawola hat er seine Helfershelfer. Und damit's hier bei uns nicht auffällt, daß er sich fünf oder sechs große Kähne hält, hat er die Fischerei auf der deutschen Seite vom See aus gepachtet. Ein ganz ausgekochter Bursche, und, was ihm nicht einfällt, denkt sich der Sareyka aus. Wer die beiden fangen will, muß schon sehr früh aufstehen.“

„Und unsere Grenzaufseher?“

„Da kommt nur einer her, und der revidiert immer bloß die Flaschen vom Zaborowski. So gründlich, daß er schon ein paarmal im Straßengraben ausgeschlafen hat. Aber selbst wenn er deinen Bruder anzeigen wollte, könnte nicht viel passieren. Bestrafen würd' man ihn doch nur für das, was er von Polen hereinbringt, und das soll blutwenig sein. Sechs Wochen würde er vielleicht kriegen mit Bewährungsfrist oder ein paar tausend Mark Geldstrafe — da pfeift er d'rauf!“

„Und wenn er sich `mal mit einem der Bauern im Dorf verfeindet?“

Der Schmied hatte seine Zigarre zum größten Teil zwischen die Zähne geschoben, das Feuer versengte ihm fast schon das Bartgestrüpp.

„Weißt du, Hans“, sagte er, „priemen und rauchen zugleich, das ist wohl das höchste an Genuß, was es gibt auf der Welt.“ Hans hatte verstanden, bot ihm eine neue Zigarre an. Der Alte steckte sie umständlich in Brand: „Wie hast du vorhin gesagt? Mit deinem Bruder sich verfeinden? Mein Jungchen, das tut nicht gut. Da könnte dir vielleicht `mal das Gehöft abbrennen, wenn kein Mensch mehr an den gewesenen Streit denkt, oder du könntest beim Baden ertrinken wie der arme Bengel, der Filusch Gawron. Der hatte in der Betrunkenheit `mal dem Sareyka im Krug gedroht, wenn er auspacken wollte, was er wußt', würden Herr und Knecht aus dem Gefängnis nicht mehr `rauskommen. Drei Monate später war er verschwunden. Zuerst haben die Eltern sich nicht beunruhigt. Denn er nach Polen unterwegs war, blieb er ja immer ein paar Tage weg. Nach einer Woche aber fingen sie an zu suchen, und da fanden sie auf der polnischen Seite seine Kleider am Seeufer, fein zusammengelegt. Auch das verdiente Geld steckte in der Brusttasche. Da wurde das große Netz vorgelegt, und gegen Abend zogen sie ihn `raus, der Sareyka war dabei, hat noch die Mutter getröstet. Die konnte sich ja nicht erklären, wieso ihr Junge darauf verfallen war, gerade dort zu baden, wo er's beim Dorf bequemer hatte, aber es war nun `mal so, er hatte gebadet und war ertrunken. Auch der Kreisphysikus konnte beim Zerschneiden an ihm nichts Besonderes finden... die blauen Flecke an den Armen kamen eben daher, daß er ja schon mehr als eine Woche im Wasser gelegen hatte. Und jetzt bitt' ich dich himmelhoch: Wenn du noch `mal mit deinem Bruder sprichst, kein Wort von dem, was ich dir erzählt habe...“

„Keine Angst, Ohm Samel! Und jetzt ist's dir wohl auch lieber, wenn ich nicht vorne `raus, sondern durch die Hintertür und den Garten gehe?“

„Lieber wär' mir's schon, aber ich hab' dir ja schon vorhin gesagt, für mich selbst hab' ich keine Angst...“

Hans lachte bitter auf: „Ich weiß, nur für die anderen. Und ich hatte nicht gewußt, was mein Bruder in diesen Jahren für ein mächtiger Mann geworden ist. Na, denn gehab dich wohl, Ohm Samel… Und er ging den Weg, den er von früher her noch gut genug kannte...

***

Der scharfe Wind war gegen Abend schlafengegangen, die weite Fläche des Sees leuchtete im Schein der sich zum Untergange neigenden Sonne wie ein von Gold und roten Rosen gefärbter Spiegel, nur auf der westwärts liegenden Seite zog sich an dem hohen Ufer ein nachtschwarzer Schatten entlang. Die weit in den See reichenden Schilfhorste standen noch gelb vom vorigen Jahr, dazwischen aber schoben schon neue Sprossen die messerscharfen, grünen Spitzen ans Licht. Und überall an der glänzenden Oberfläche des Wassers ein Schnalzen und Springen, ein Jagen und Sichfindenlassen silberbeschuppter, kleiner Leiber, die dem urewigen Triebe folgten, der die Welt erneuerte von Jahr zu Jahr. Hechte und ungefüge Barsche fuhren dazwischen mit plantschendem Getöse, schluckten und mordeten ohne Unterlaß. Unten aber lauerte die gleitende Sippe der Aale, schlürfte den rinnenden Rogen, denn für sie war es Erntezeit. Nur die Räuber aus der Vogelwelt taten nicht mit, waren mit eigener Minne beschäftigt. Mitten auf dem See warben die Haubentaucher mit tiefem Balzlaut um die Gunst ihrer Schönen, im Schilf aber jagten sich die schwarzen Wasserhühner mit schrillem Pfiff. Allenthalben gab es erbitterte Kämpfe unter dem streitsüchtigen Volk, bis der besiegte Nebenbuhler mit klatschendem Flügelschlage aufs offene Wasser entfloh...

Der Älteste vom Bruchhofe war vom Garten der Schmiede quer übers freie Feld gekommen, hatte sich unter einer breitausladenden alten Kiefer niedergelassen, die am Steilufer zwischen niedrigen Fichten und Espen stand. Die kleine Lichtung, in deren Mitte er auf einer aus dem Boden ragenden, halbmannsdicken Wurzel saß, war wohl weit mehr als tausend Schritte vom Hofe entfernt; mit seinen scharfen Äugen aber konnte er erkennen, wie vom Bootsstege sich einer der großen Kähne löste, mit einem Ruderer besetzt, schräg über den See nach dem diesseitigen Ufer fuhr. Vor dem Hause hielt ein Fuhrwerk, ein Mann in langem Mantel stieg ein, der Wagen rollte zum Tor hinaus. Vielleicht der Herr Bruder, dem es leid tat, daß er seine Saufkumpane in der Stadt für ein paar Stunden hatte verlassen müssen...

Vom See her stieg mit der tiefer sinkenden Sonne ein kühler Hauch herauf, dem Einsamen unter der alten Kiefer flog ein Frösteln über den Nacken. Nach all den Erregungen des Tages kam als Rückschlag eine tiefe Traurigkeit über ihn. Was er im Überschwang der Stimmung als ein leicht zu nehmendes Hindernis angesehen hatte, stellte sich bei näherem Nachdenken als eine unübersteigliche Mauer heraus...

Den Bruder bei der Behörde zu denunzieren, kriegte er nicht fertig. Die Anzeige hätte nach dem, was der alte Pjessowodski erzählte, wohl auch nur den einzigen Erfolg gehabt, daß der andere ihn auslachte. Und der Plan, den Hof zu kaufen? Er selbst traute sich zu, ihn in paar Jahren wieder in die Höhe zu wirtschaften, wie aber sollte er dem, der das Geld dafür herzugeben hätte, die gleiche Überzeugung beibringen? Auch der Mutter und der, die ihn verraten hatte, konnte er trotz allem Mitleid nicht helfen. Er hielt bei seinen letzten paar hundert Mark, ihm blieb nichts anderes übrig, als nach Berlin zurückzukehren, dort von neuem auf die Suche nach einer Stellung zu gehen. Durfte er's verantworten, die beiden Frauen in dieses ungewisse Schicksal mitzunehmen?!...

Während er so an verzagten Gedanken spann, tauchte in seinem Gedächtnis plötzlich ein Wort auf, das der Bruder am Nachmittag gesprochen hatte. Ein Wort, über das er in der Erregung des Augenblicks hinweggegangen war, das aber jetzt eine ganz besondere Deutung gewann...

Das Wort lautete ungefähr: „Daß du zwischen den Deutschen in Lankowitz und dem Grenzschutz in Breslau heimlicher Verbindungsmann gewesen bist, hat man dir ja nicht beweisen können...“ Woher wußte der Bruder das? In den Zeitungen hatte nur gestanden, er sei verhaftet worden, weil er in öffentlicher Versammlung zum Widerstande gegen polnische Verordnungen gehetzt habe. Was man von ihm in stundenlangen Verhören zu erpressen versucht hatte, war über die vier Wände des Richterzimmers nicht hinausgedrungen. Das konnte der Jüngere also nur auf einem einzigen Wege erfahren haben, und der führte nirgendwo anders hin, als zum Mittelpunkt jener mächtigen Geheimorganisation, die an der ganzen Ostgrenze Deutschlands ihre Ränke spann... Wie aber kam der Herr des deutschen Bruchhofes zu einer Verbindung mit diesen unverantwortlichen Parteigängern, deren letztes Ziel der Raub von Ostpreußen und ganz Oberschlesien war? Sein Herz wehrte sich noch gegen die klare Schlußfolgerung aus diesen Voraussetzungen, aber die Gedanken liefen ganz von selbst weiter... Die Mutter hatte von einem Verkauf des Hofes an einen Polen gesprochen, und Anna hatte erzählt, der Kaufliebhaber habe sich nicht nur das Grundstück selbst, sondern tagelang das ganze umliegende Gelände höchst genau angesehen. Aus welchem Grunde? Dafür gab es für einen mißtrauisch Gewordenen eine ganz glatte Erklärung: Ein Spion war dieser angebliche Käufer gewesen, und zwar ein militärisch gebildeter, der zu einem ganz bestimmten Zwecke das Gelände erkundet hatte! Eine der Einbruchsstellen sollte es bilden für den Fall, daß die Geheimorganisation sich eines Tages stark genug fühlte, über den Kopf der eigenen Regierung hinweg zu neuer Gewalttat zu schreiten... Und als alter Soldat mußte er sich sagen, die Stelle da unten war für einen raschen Handstreich nicht schlecht gewählt... Ein Trupp von einigen hundert Bewaffneten war bei Einbruch einer mondlosen Nacht auf Pontons und Flößen in anderthalb Stunden von Prawdawola heranzubringen, eine Abteilung umzingelte das Dorf, ließ keine Katze heraus. Den Telephondraht brauchte sie nicht erst abzuschneiden. Nach sechs Uhr abends konnte man auf dem flachen Lande sich am Apparat die Hand lahm drehen, ohne daß das Amt sich meldete. Der Haupttrupp aber gelangte noch vor dem ersten Morgengrauen nach Ordensburg, überwältigte die dort liegende einzige Kompanie, ehe die Kerle sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, der wichtigste Platz von ganz Masuren mit dem Knotenpunkt dreier Eisenbahnen war in seiner Hand!

Und weiter: Der als unbestellbar zurückgekommene Brief Annas mit dem Plan, ihrem Manne seiner dunklen Geschäfte wegen durch eine Anzeige den Hals zu brechen, war diesem in die Hand gefallen. Wenn diese Geschäfte so wenig gefährlicher Art waren, wie der alte Pjessowodski meinte, woher dann die Beflissenheit, den unbequemen Gast so rasch wie nur möglich wieder zu entfernen? Keine harmlosen Waren wurden in den Kisten und Fässern nach drüben verschifft, sondern Waffen und Munition... Nicht für die polnische Armee, die für solche Einfuhr den bequemen und offenen Weg über Danzig hatte, sondern für jene Verbindungen, die ihr unheilvolles Treiben auch vor der eigenen Regierung im Dunkeln hielten...

Die Brust des Heimgekehrten hob sich unter einem tiefen Atemzüge: Wenn dem so war, hörten alle Skrupel auf! Nicht auszudenken war für ihn die Schmach, daß der Herr des von Urzeiten her deutschen Bruchhofes sich für schnöden Gewinn als Verräter verkauft hatte... Sein ganzer Körper flog vor Erregung, er versuchte, sich zur Beruhigung eine Zigarre anzuzünden, das brennende Streichholz verlöschte in seiner flatternden Hand... Für ihn gab es fortan nur eine Aufgabe, den Pflicht- und Ehrvergessenen zur Strecke zu bringen. Den Erbanspruch in der Stadt für ein paar tausend Mark zu verkaufen, um wieder Geld in die Hand zu bekommen, und möglichst eindringlich die Nachricht zu verbreiten, er reise schon in wenigen Tagen ins Ausland ab, für immer. Dann aber kreiste man heimlich hier um den väterlichen Hof Nacht für Nacht, jeder Weg und Steg war ihm ja noch von früher her vertraut, als hätte er sie gestern zum letzten Male beschritten... Auch jeden Schlupfwinkel im Bruch kannte er noch, wenn es nötig war, sich vor Späheraugen tagsüber zu verbergen.

Die Dämmerung war langsam gekommen, unten in dem Schilfgürtel am See blitzte es plötzlich auf. In dem Stamm der alten Kiefer gab es einen schmetternden Einschlag, der Hall eines Schusses brach sich zwei-, dreimal im Echo...

Hans war unwillkürlich zusammengefahren, seine nur gegen einen losen Stein gestützten Füße verloren an dem Steilufer den Halt, er stolperte, Kopf voran, bis zu den niedrigen Fichten am Rande der Lichtung. Dort lag er wie gelähmt, denn das eben war nichts anderes als ein kalter Mordanschlag gewesen! Die Kugel hatte keine Fußbreite über seinem Kopf in die Kiefer geschlagen, unter dem Luftdruck hatte er ganz von selbst die Augen geschlossen...

Ein paar Sekunden vergingen, bis er sich ein wenig beruhigt hatte und zu überlegen begann, wie er sich weiter zu verhalten habe. Nach seinem Sturz mußte der Mordbube da unten annehmen, die Kugel habe gesessen. Dann aber stand zu erwarten, daß er schon nach kurzer Zeit hier oben erschien, um die Spuren des Verbrechens zu beseitigen... Da kroch Hans auf allen vieren zwischen den eng stehenden Fichten erst ein ganzes Ende zur Seite, schob sich dann, gegen Sicht gedeckt, wieder nach oben und legte sich hinter der dicken Kiefer auf die Lauer, den entsicherten Browning in der Hand. Wenn der Kerl kam, sollte er einen warmen Empfang finden...

Seine Geduld wurde auf eine ziemlich lange Probe gestellt. Es dunkelte schon, als er endlich vernahm, daß sich irgend etwas den Hang hinauf näherte. Er fühlte es mehr, als er's hörte, nur in langen Zwischenräumen verriet ein leise knickendes Ästchen den Kommenden. Ein vierschrötiger Bursche schob sich lautlos in den Rand der kleinen Lichtung, unter dem rechten Arm das Gewehr, vor dem Gesicht einen hellen Lappen. Eine Weile lang stand er sichernd wie ein Stück Wild, dann holte er mit der Linken eine Taschenlampe hervor, leuchtete den Boden ab und sprach auf masurisch halblaut vor sich hin: „Der Teufel soll's holen, das wird eine schöne Schweinerei geben, ich bin zu tief abgekommen. Aber eigentlich müßte er dann doch hier auf dem Fleck liegen... ? Ober ob er sich vielleicht bis zu den kleinen Tannen da unten geschleppt hat...?“

Er wandte der alten Kiefer den Rücken, mit zwei langen Schritten war Hans über ihm, schlug ihm den Kolben des rasch wieder gesicherten Browning mit weit ausholendem Hieb gegen die Schläfe. Der Kerl brüllte auf und sackte zusammen, streckte alle viere von sich. Hans wälzte den Bewußtlosen auf den Rücken, riß ihm den Leinenlappen vom Gesicht... „Sieh mal an“, sagte er mit fliegendem Atem, „Herr Sareyka! Fast hätte ich's mir gedacht...“ Er entfernte aus der Büchse den Rest der Patronen, warf das Schloß weit ins Gebüsch hinein und brach mit einem kurzen Schlag gegen die Kiefer dm Kolben vom Lauf. Dann aber schnitt er eine reichlich zweifingerdicke Espe dicht am Boden ab, kappte die Krone. Dabei war er wieder ruhiger geworden, drehte den noch immer Regungslosen zurück auf den Bauch. „So“, sagte er mit einem grimmigen Auflachen, spuckte in die Hand, „Versprechungen muß man halten. Wenn du tot bist, mein Junge, spürst du's nicht mehr, wenn du aber noch lebst, hast du's reichlich verdient! Ich garantier' dir, du wirst vier Wochen lang nicht sitzen können...“ Beim zweiten Streich aber schon hatte der regungslos liegende Körper sich mit einem jähen Ruck zusammengezogen, kugelte über Kopf den Abhang hinab. Wie von einem durch Unterholz davonpreschenden Hirsch klang das Brechen und Prasseln trockener Aste zur Höhe hinauf. Da schrie ihm Hans mit schrecklicher Stimme nach: „Komm morgen früh in den Krug, hol dir deine Kugel ab! Solchen Dreck fang' ich in der hohlen Hand…“ Ob's der Davoneilende noch gehört hatte, wußte er nicht. Vielleicht aber glaubte der Knecht nach dem Mißerfolg seines Schusses schon von selbst daran, daß der Älteste vom Bruchhofe einen jener geheimnisvollen „Segen“ besaß, die den Inhaber kugelfest machten...

Einen Augenblick lang bedauerte er, daß er den Kerl hatte entwischen lassen, statt ihn mit vorgehaltener Waffe zu einem Geständnis zu nötigen, welcher Art die Grenzgeschäfte waren, die er mit seinem Herrn betrieb. Aber auch eine so scharfe Bedrohung hätte wohl keinen Erfolg gehabt, wenn Ludjich Sareyka — wie es den Anschein hatte — zu jenen Stock-Masuren gehörte, deren Blut seit Urzeiten her mit keinem Tröpfchen von deutschem gekreuzt worden war und von denen es immerhin noch einige Tausende gab. Sie steckten voll Aberglauben von der Zehe bis zum Scheitel, und wenn man ihre Zunge unlöslich binden wollte, gab es ein einfaches Mittel. Sie waren evangelischen Bekenntnisses, aber man ließ sie in der katholischen Kirche schwören, die rechte Hand erhoben, die linke im Weihwasser. Ihre dereinstige Seligkeit mußten sie verpfänden mit dem Eide. Was galt da das bißchen Leben, wenn man die Gewißheit hatte, den Wortbruch für alle Ewigkeit mit dem Höllenfeuer zu bezahlen?!...

Das im Namen der heiligen Jungfrau Maria geweihte Wasser besaß geheimnisvolle Kräfte, viel stärkere als das österliche, das man in der Nacht zum ersten Feiertag unter unverbrüchlichem Schweigen aus dem Bache holen mußte. Osterwasser war gut für Liebestränke, aber das geweihte diente zur Heilung von Mensch und Vieh. Nur dieses Wasser durfte nicht gutwillig hergegeben, mußte heimlich entwendet werden. Aber der Diebstahl war leicht. An Markttagen oder in den heiligen Nächten stand die Tür der katholischen Kirche in Ordensburg weit offen, und der Küster mußte etliche Male den Weg zum Brunnen machen, um den dicht am Eingang des Gotteshauses hängenden Kessel immer wieder aufzufüllen — — —

5

Die Bauern und Burschen des Dorfes hatten wohl von ihrem Jahrmarktstrunke genug, die Gastwirtschaft des Herrn Zaborowski wies an diesem Abend nicht die zahlreichen Besucher auf, von denen das hübsche Kellnermädchen erzählt hatte. Der niedrige, von allerhand Gerüchen geschwängerte Raum war von einer an der Decke hängenden Petroleumlampe nur schwach erhellt. In der Nähe der Schenke saßen zwei gedrungene Kerle, deren Gesichter Hans am Nachmittag auf dem Bruchhofe gesehen hatte, und an einem der kleineren Fenstertische drei stattliche Jungburschen. Er entsann sich ihrer noch von früheren Ferienzeiten her, wo sie ihm als Halbwüchsige oft genug über den Weg gelaufen waren. Ein Bogdan war es, ein Sewzik und ein Grizan... jüngere Söhne alteingesessener Bauerngeschlechter.

Der Wirt nahm sich mit seiner hageren Gestalt, dem tief an den Mundwinkeln herabhängenden Schnurrbart und den blankgewichsten Schaftstiefeln wie eine schlechte Kopie einer Falatschen Reiterfigur aus. Er lud den neuen Gast mit unterwürfiger Höflichkeit ein, im Herrenzimmer Platz zu nehmen. Hans lehnte ab, trat zu dem Tisch der Jungburschen hinüber und rückte einen Stuhl: „Ist es erlaubt, meine Herren?“

Der zum Hofe der Bogdans gehörige, als der Älteste, erwiderte mit merklicher Zurückhaltung: „Hier hat jeder die Freiheit, sich hinzusetzen, wo er will...“

Da wußte Hans, die Nachricht von dem Zerwürfnis mit seinem mächtigen Bruder war schon durch das ganze Dorf gelaufen, übte ihre Wirkung. Auch daß die beiden Knechte vom Bruchhofe dasaßen, schien ihm kein Zufall. Er wurde unter dauernder Beobachtung gehalten. Oder sollte hier vielleicht nachgeholt werden, was am Seeufer mißglückt war?...

Fräulein Bronislawa trat an den Tisch, kein Zug in ihrem hübschen Gesicht verriet, daß sie den neuen Gast schon kannte. „Was wünscht der Herr?“ fragte sie in gleichgültigem Tone. Um so gemütlicher gab sich Hans. Nur mit einem raschen Griff versicherte er sich, daß seine Browning handgerecht in der Tasche steckte.

„Weshalb so unfreundlich, mein schönes Fräulein?“ fragte er scherzend. „Wenn dein Bier so sauer ist wie dein Gesicht, möchte ich's erst gar nicht probieren...“

Herr Zaborowski versicherte, sein Bier sei klar wie Kristall und süffig wie Honigseim, er habe es soeben erst selbst gekostet. Und er werde es sich zur Ehre anrechnen, den Herrn Bruder seines Freundes Baginski persönlich zu bedienen.

Auf dem Tische der Jungburschen lagen eine Broschüre mit farbigem Umschlag und eine buntgedruckte Karte. „Kanada, das Land der Zukunft“, stand quer darüber mit dicken Lettern gedruckt.

„Woher haben Sie das, meine Herren?“ fragte Hans.

„Auf dem Jahrmarkt wurde es verteilt“, erwiderte der junge Sewzik. Und der Grizan fügte hinzu: „Wir haben es vorhin durchgelesen. Man wär' ja ein Narr, wenn man da zu Hause bleiben wollte. Ein Drittel Reisekosten werden geschenkt, den Rest kann man abarbeiten...“

„Zum Tagelohn von zwei Dollar den Tag“, warf der Bogdan ein. „Das macht in deutschem Geld acht Mark fünfzig... Und nachher Land an der Eisenbahn... Weizenboden mit fünfundzwanzig Zentner Ernte auf den Morgen... Das muß man sich bloß vorstellen: fünfundzwanzig Zentner auf den Morgen!...“

„Und das Land wird geschenkt!“ bemerkte der Sewzik. „Pferde, Maschinen und Saat kriegt man geborgt, das Haus baut man sich selbst... Ein paar Balken und Bretter sind ja bald zusammengeschlagen...“

Herr Zaborowski hatte höchstpersönlich das Bier gebracht, Hans hob sein Glas.

„Prost, meine Herren!“ Und lauter, als nötig gewesen wäre, fügte er hinzu: „Ich gehe in einigen Tagen ja auch ins Ausland. Nicht nach Kanada, nach Argentinien. Ich bin nur hergekommen, von meiner alten Mutter Abschied zu nehmen. Ihnen aber, meine lieben Herren, möchte ich doch raten, sich vorher ganz genau zu erkundigen, ob auch alles wahr ist, was da versprochen wird.“

„Aber es steht doch schwarz auf weiß gedruckt: `Unter Garantie der deutsch-kanadischen Landgesellschaft!`“

„Mein lieber Herr Grizan“, sagte Hans, „diese deutsch-kanadische Landgesellschaft kenne ich nicht, aber ich mochte Ihnen nach vorhandenen Beispielen zehn zu eins legen, die Garantie hört auf, wenn diese Gesellschaft das Kopfgeld eingestrichen hat, das ihr von irgendeiner kanadischen Eisenbahn gezahlt wird.“

Ein kleiner Junge kam von der Straße herein, überbrachte der Kellnerin einen Zettel. Sie las und reichte ihn dem Wirt hinüber, der neben dem Schanktische lehnte. Der warf einen Blick auf das Blatt, schob es in die Tasche. Und erst nach einem Weilchen ging er zu den beiden Knechten hinüber, sprach leise auf sie ein. Sie schüttelten lachend den Kopf, bestellten ein neues „Achtélek Prosti“, ein Achtelliter gewöhnlichen Schnapses. Hans glaubte zu wissen, von wem der Zettel stammte, wunderte sich nur, daß Herr Sareyka nicht persönlich gekommen war, die beiden anzufeuern. Vielleicht lag es daran, daß der saftige Hieb gegen die Schläfe ein zu tiefes Loch gegeben hatte...

An dem Tisch der Burschen war die Unterhaltung ins Stocken geraten. Auch sie schienen zu merken, daß die beiden Knechte irgend etwas gegen den Bruder ihres Herrn im Schilde führten. Es wäre ja nicht das erstemal gewesen, daß sie einen Streit vom Zaun gebrochen hätten, um einen Mißliebigen zu verprügeln... Endlich begann der junge Bogdan wieder: „Sie raten uns da gewissermaßen ab, Herr Baginski, aber Sie gehen doch selbst hinaus?“

„Das ist etwas anderes, lieber Landsmann, ich hab' drüben meine feste Stellung! Aber Sie? Ich garantiere Ihnen, drüben wird Ihnen ein Kontrakt vorgelegt, der Sie zum Sklaven macht, wenn Sie ihn unterschrieben haben. Unter anderem steht darin, daß Sie Ihr Getreide nur an die Eisenbahngesellschaft verkaufen dürfen, die Ihnen das Land geliefert hat.“

„Und was folgt daraus?“

„Daß diese Gesellschaft Ihnen einen Preis bietet, bei dem Ihnen selbst kaum noch ein Tagelohn bleibt. Wenn Sie nicht darauf eingehen, wird Ihr Getreide nicht verladen, Sie können es verfaulen lassen oder für die Vögel ausstreuen, andere Transportmöglichkeiten als die Eisenbahn gibt es nicht. Paßt Ihnen das nicht, können Sie weiterziehen. Sie haben für die Eisenbahngesellschaft ein Stück Prärie urbar gemacht, Ihre Maschinen können Sie nicht mitnehmen, weil sie nicht bezahlt sind, Sie tauschen dafür aber das erhebende Bewußtsein ein, daß Sie für ein fremdes Volk Kulturdünger gewesen sind. Ich sehe voraus, daß Sie verstehen, was ich damit meine...“

Der junge Bogdan reckte seine breitschulterige Gestalt.

„Oho, Herr Baginski, wir leben hier nicht im Torfloch, und die Zeiten sind vorbei, wo es heißen durfte: `Wo sich aufhört das Kultur, anfängt sich der Masur!' Wir lesen unsere Zeitung, und, wie wir drei hier sitzen, haben wir zwei Lehrgänge der landwirtschaftlichen Winterschule besucht in Ordensburg. Mit uns auch noch andere Bauernsöhne aus dem Dorf. Was helfen uns aber all unsere Kenntnisse? Als Knechte müssen wir arbeiten auf dem väterlichen Hof für Essen und ein bißchen Taschengeld!“

„Und eine Stelle als Inspektor annehmen?“

„Annehmen?“ erwiderte der andere ironisch, „Sie meinten Wohl `suchen', Herr Baginski! Aber suchen und finden ist zweierlei! Mit landwirtschaftlichen Beamten können Sie Schweine mästen, so viele gibt es. Nicht bloß bei uns, sondern auch im Reich. Auf eine offene Stelle, die in der Zeitung steht, melden sich dreihundert Bewerber!“

Der junge Grizan, der wohl vom Markte her einen Kleinen in der Krone hatte, schlug mit der Faust auf den Tisch: „Land wollen wir haben, aber keine Stellung! Jede Regierung verspricht es uns, dann kommt eine neue, verspricht auch, aber wenn die Herren erst auf ihren Ministerstühlen sitzen, haben sie alles vergessen. Da haben wir keine Lust, uns länger zum Narren halten zu lassen, wir wandern aus!“

Karl Bogdan legte ihm die Hand auf den Arm: „Schrei nicht so, die Herren in Berlin hören dich ja doch nicht!“ Und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort: „Rücken Sie ein bißchen näher heran, Herr Baginski! Die Knechte vom Polenhof recken ihre Ohren bis an unseren Tisch, es ist nicht nötig, daß sie hören, was hier gesprochen wird. Und sehen Sie mal, Sie waren zu lange fort, wissen nicht, wie es bei uns aussieht. So wie hier in Baginsken sitzen in jedem größeren Dorf zwanzig, dreißig jüngere Bauernsöhne, wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Wir sind gute Deutsche, wollen es auch bleiben. Beim letztenmal, als die Polen hier einbrechen wollten, sind wir im Grenzschutz aufgestanden wie ein Mann. Aber schließlich fragen wir, was sollen uns all die schönen Berliner Redensarten? Da heißt es immer, an der ganzen Ostgrenze soll als Schutzwall ein kerndeutsches Bauerndorf neben dem anderen geschaffen, die Domänen und großen Güter sollen aufgeteilt werden. Nichts als leere Versprechungen, und die stehen uns bis an den Hals!“

Auch der junge Sewzik war näher gerückt.

„Glauben Sie uns, Herr Baginski, wir wollen nichts geschenkt haben! Wenn wir eine Hofstelle kriegen, wollen wir dafür arbeiten, daß uns das Blut unter den Nägeln verspritzt. Wir können uns auch denken, daß die Regierung in Berlin noch andere Sorgen hat, aber vielleicht weiß sie nicht, wie von der anderen Seite an uns gearbeitet wird. Mit Zetteln zum Beispiel, die einem, wie heute auf dem Jahrmarkt, heimlich in die Hand geschoben werden. Schade, ich hab' den Dreck gleich wieder fortgeworfen, aber oben drüber stand: `Agrarreform'. Und weiter hieß es, wie drüben in Polen der Großgrundbesitz zerschlagen würde, so sollte auf dieselbe Art auch bei uns in Masuren ein freier und stolzer Bauernstand geschaffen werden. Dazu aber müßten wir uns zu unserer großen polnischen `Mutter` bekennen, uns lossagen von dem Deutschland, das uns verhungern läßt. Der Krugwirt da drüben ist auch so einer, der dafür im stillen arbeitet.“

Karl Bogdan zischte ihn an: „Bist wohl verrückt, hier so laut zu sprechen? Willst du vielleicht auch `baden gehen', wie der Filusch Gawron?“ Und noch leiser fuhr er fort: „Herr Baginski, es ist traurig, daß man es aussprechen muß, aber die Verbitterung wächst von Tag zu Tag. Und ebenso die Überzeugung, daß man davon in Berlin keine Ahnung hat. Nehmen Sie zum Beispiel den Hof von den Grizans. Seit dem Großvater ist er schon zweimal geteilt, weiter geht's nicht mehr! Der Vater von meinem Freund Wilhelm hier sitzt nur noch auf achtzig Morgen, hat außer dem Jüngsten da noch zwei Söhne, die beide haben heiraten müssen, weil... na, weshalb, können Sie sich wohl denken. Die Bräute waren keine Scharwerksmargellen, die man mit Alimenten abspeist, sondern Bauerntöchter. Wie sie so weit waren, mußten sie vorm Altar ehrlich gemacht werden. Jetzt lauert der Älteste darauf, daß der Vater stirbt oder aufs Altenteil geht, der zweite arbeitet mit seiner Frau und dem Wilhelm hier auf Tagelohn — der Alte zankt mit ihnen um jeden Groschen. Weshalb? Weil er selbst nichts verdient, fast jedes Jahr eine neue Hypothek aufnehmen muß. Zu Zinsen, daß es besser wär', er würd' sich lieber auf einmal den Hals abschneiden! Und wie sieht es bei uns aus, den `reichen Bogdans`? Mein Vater hat bei der letzten Erbteilung noch zweihundert Morgen gekriegt, aber zwischen mir und dem Hof stehen noch drei Brüder und zwei Schwestern, die wenigstens ein paar Taler mitkriegen müssen, wenn sie nicht unter ihrem Stand heiraten sollen. Da frag' ich, wo bleib ich? Ich wander' aus und sag': `Gott behüt' dich, liebes, altes Vaterland, wenn du mich verhungern läßt, muß ich mir ein neues suchen!` Er leerte sein Glas: „Na, prost, Herr Baginski! Unser Unglück im Bauernstand ist, daß unsere Mütter es noch immer als Sünde vor Gott ansehen, allzu reichlichen Kindersegen zu verhüten. Aber vielleicht lernen sie's noch von ihren großstädtischen Schwestern...“

Die vier an dem kleinen Tische waren so in ihre Unterhaltung vertieft gewesen, daß sie es gar nicht bemerkt hatten, wie einer der Bruchhöfer Knechte hinter den Stuhl von Hans Baginski getreten war. Erst als er zu sprechen anfing, fuhren sie unwillkürlich zusammen.

„Meine Herren“, sagte er in reinem Hochpolnisch, „ich hörte vorhin, Sie sprechen immerfort von `Vaterland.' Das freut mich sehr, und ich bitte Sie, mit mir zu rufen: Hoch lebe unser großes Polen!“ Auch der andere Knecht war aufgestanden, kam näher. Es lag klar auf der Hand, die beiden suchten Streit. Die drei Jungburschen sprangen auf, Hans hatte mit einem langen Schritt am Fenster Rückendeckung genommen, griff in die Rocktasche und rief auf polnisch: „Keine Aufregung, liebe Landsleute, der Herr da will mit uns gewiß nur ein Verbrüderungsfest feiern! Ich für meine Person bin dazu bereit, aber vorher muß er aus vollem Hals „Hoch unser großes Deutschland' rufen!“

Der Knecht sah ihn einen Augenblick verdutzt an, die Kellnerin schrie gellend auf: „Pan Zaborowski!“ Der Wirt, der sich für ein Weilchen von dem Tisch der Knechte entfernt hatte, kam aus dem Herrenzimmer herbeigestürzt, fluchte bei allen Heiligen, beschwor Krätze, Aussatz und Pestilenz auf die beiden herab, versprach zuletzt, er würde ihre Leichen eigenhändig auf den Misthaufen werfen, alle Dorfhunde zu Gast laden, wenn der Herr sie nach seinem guten Recht über den Haufen geschossen hätte. Da tauschten die Knechte einen Blick, zuckten die Achseln und gingen hinaus. Herr Zaborowski aber trat zu dem Tische der Jungburschen: „Auch Ihnen Feierabend, meine Herren! Ich verbrenn' mehr Licht, als ich an Ihnen verdienen kann.“

Die drei zahlten ihr Glas Bier, verabschiedeten sich von Hans nur mit einer steifen Verneigung. Weshalb, konnte er sich denken. Es war nicht gut, sich mit den Insassen des Bruchhofes feindselig zu stellen. Auch er griff in die Tasche: „Fräulein, zahlen. Und Sie, Herr Zaborowski“, wandte er sich an den Wirt, „Sie würden mich verpflichten, wenn Sie mich auf mein Zimmer führen wollen. Ich bin müde.“

Der Wirt verneigte sich.

„Wie der Herr befehlen! Aber vorhin fuhr Ihr Herr Bruder hier vorbei auf dem Weg nach der Stadt, winkte mich heraus: `Casimir, du bist mein bester Freund, mein Bruder ist ein Hitzkopf, ich auch, da ist es besser, ein dritter übernimmt `mal erst die Vermittlung. Hinterher können wir uns ja immer noch `mal persönlich aussprechen...“

„Tut mir leid“, erwiderte Hans, „ich habe schon von der ersten Aussprache genug. Morgen früh reise ich ab. Seine Knechte sind mir zu eifrig, ich habe keine Lust, hier fortwährend mit der geladenen Pistole in der Hand umherzulaufen.“

Herr Zaborowski hob mit theatralischer Bewegung die Rechte.

„Herr, ich schwöre, die beiden Wölfe haben nicht mit Ihnen Streit gesucht! Zwischen ihnen und den drei jungen Bauern besteht schon lange eine Feindschaft...“

„Na, und der dritte, der heute abend auf mich geschossen hat?“

„Um Gottes willen“, rief der Wirt aus, „das kann nur ein Mißverständnis gewesen sein! Aus dem staatlichen Wald kommen so viele Wildschweine, daß sie den Bauern manchmal in einer Nacht die ganzen Kartoffeln ausgraben. Da ist der Sareyka gewiß auf der Jagd gewesen, hat sich in der Dunkelheit versehen...“

„So, so“, versetzte Hans trocken, „diese Erklärung hat wohl auf dem Zettel gestanden, den der kleine Junge vorhin brachte? Und hat Herr Sareyka nichts davon geschrieben, daß er von dem `Wildschwein' eine ordentliche Tracht Prügel gekriegt hat? Nicht? Na, denn grüßen Sie ihn schön von mir: beim nächsten Male gibt's mehr! Und jetzt gute Nacht...“

Das Giebelzimmer im Oberstock, in das ihn der Wirt über eine in allen Fugen krachende Treppe geführt hatte, war nicht zu verschließen. Hans stellte zwei Stühle übereinander vor die Tür, entkleidete sich und stieg in das riesige Himmelbett mit den zu Bergen gehäuften Kissen. Er hatte einen leichten Schlaf, glaubte auch nicht, daß man nach dem mißglückten Attentat seines Freundes Sareyka noch irgend etwas gegen ihn im Schilde führte. Zu viele Leute wußten darum, daß er im Wirtshause nächtigte. Aber der andere Plan war nicht übel gewesen... Für ein unglückseliges Versehen auf der Jagd gab's wegen fahrlässiger Tötung im Höchstfälle ein Jahr Gefängnis. Das saß Ludjich Sareyka auf einer Backe ab. Oder er rückte aus, sein Herr hatte für ihn sicherlich auch auf der anderen Seite der Grenze lohnende Beschäftigung... Ein Frösteln zog ihm trotz der dicken Kissen über den Nacken, wenn er daran dachte, woran sein Leben gehangen hatte. Nur daran vielleicht, daß der Lümmel im Schilf ein bißchen zu volles Korn genommen hatte. Und im Hinüberdämmern schmiedete er an einem Plan, seinem Bruder die Überzeugung beizubringen, er sei wirklich abgereist. Auf der nächsten Station hinter Ordensburg konnte er ja wieder umkehren...

Es mochte schon lange nach Mitternacht sein, als er plötzlich aufwachte. Draußen an der Tür war ein leises Kratzen zu vernehmen, das sich nach kurzen Pausen wiederholte. Da steckte er das Licht an, fuhr in die Kleider und nahm seinen Browning: „Zum Donnerwetter, wer ist da draußen?“

„Ich, Bronislawa“, kam es wie ein Hauch durch die Tür. „Ich dem Herrn `was habe zu sagen!“

„Hat das nicht Zeit bis morgen?“

„Morgen zu spät!“

„Schön“, erwiderte er und räumte die Stühle fort: „Komm rein!“

Die kleine Kellnerin stand barfuß da, hatte nur ihren kurzen Rock über das Hemd gezogen. „Herr Baginski“, sagte sie leise, „Sie nicht müssen Schlechtes von mir denken...“

„I bewahre“, erwiderte er lachend. „Wenn einem ein hübsches Mädel zur Nachtzeit in die Stube schneit, das ist doch sehr `was Gutes! Aber du wirst bei mir wenig Glück haben...“

Sie blies das Licht aus: „Ich mich schäme zu sehr! Und die Glück, wo Sie meinen, ich nicht will haben. Aber jetzt rasch, Sie müssen noch in nächste Viertelstunde fort!“

„Na, na, na, wo brennt's denn wieder? Ich werd' hoffentlich doch noch ausschlafen können?“

„Nein, nicht schlafen, sondern fort! Sareyka ist noch dagewesen, hat mit Wirt und dem seinige Frau viel getrunken. Mich hat er gezeigt Messer, er wird mir stechen, wenn `rauskommt, ob ich zu Sie was hab' geplappert von Sachen von Bruchhof. Und weiter, er hat geschworen bei Grab von seine Mutter, daß Sie ihn haben geschlagen, er wird nicht vergessen.“

„Dann sind wir ja quitt. Ich werd' ihm seine Kugel auch so bald nicht vergessen.“

„Er hat gesagt, das nur Warnung; Sie sollen nicht stecken Nase in Geschäften von seine Herr. Wenn er hätt' gewollt treffen, er hätte getroffen sicher, weil auf hundert Schritte er kann Mücke Auge ausschießen. Aber jetzt, wo Sie ihm haben beschimpft mit Schlagen, er muß haben Rache. Er hat gesprochen von morgen, wenn Sie fahren durch Wald, aber ich hab' Angst, er holt bloß Knechte von Bruchhof und kommt noch zurück in diese Nacht.“

Hans Baginski steckte die Kerze wieder an, stand ein paar Augenblicke lang überlegend da. Das hier konnte vielleicht eine ehrlich gemeinte Warnung sein, ebensogut aber auch eine geschickt gelegte Falle, um ihn draußen im Dunkel der Nacht in einen Hinterhalt zu locken... Bronislawa sah ihn an, schüttelte traurig den braunen Wuschelkopf.

„Was Sie denken, ich weiß! Aber ich will nur ehrliche Geschäft. Ich helfe Sie und Sie helfen mich. Ich hab' Angst vor Sareyka, ihn kann nicht heiraten, will weg, ohne daß er weiß. Achtzehn Mark ich habe gespart, wenn Sie mich geben hundert, ich komme bis Berlin, kann leben, bis ich habe Stellung...“

Eine Sekunde lang zögerte er noch, dann holte er seine Brieftasche hervor, teilte christlich die blauen Scheine. Drei für sich, einen für das Mädel. Sie schob das Geld in den Ausschnitt ihres Hemdes, küßte, ohne daß er's verhindern konnte, seine Hand: „So, und jetzt, unten an Treppe steht eine Fahrrad! Nehmen und fort...“

„Und mein Koffer?“

„Können Sie holen lassen morgen! Und was liegt an Koffer, wenn geht um Leben?“

„Aber die alte Treppe? Jede Stufe kracht ja wie ein Pistolenschuß?!“

„Schad't nicht, Herr und seinige Frau schlafen wie Schweine, wenn sind satt. Beide ihre beste Gast... sie mit süße Schnaps, er mit Wein. Ich auch erst bin gekommen, wie ich hab' gehört, daß Tür von ihrige Schlafstube zittert von Schnarchen.“ Sie schlang plötzlich die Arme um ihn, küßte ihn auf den Mund: „Du wirst nicht vergessen kleine Bronislawa? Du von Berlin Postkarte an alte Witwe Jendrzeiska hier in Dorf, keine Name auf Karte, bloß Straße und Haus. Sie zu mich gute Freund, weil ich ein paarmal hab' gegeben zu essen, und wir beide in Berlin sich sehen wieder...?!“

Er löste ihre weichen Arme von seinem Nacken.

„Geh, Mädel, mach mir nicht heiß! Möglich, daß ich ein Esel bin, aber wenn man's vierunddreißig Jahre lang gewesen ist, soll's auch noch weiter so bleiben…“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich dir nicht wollte verführen! Was du jetzt hast gesagt, ich schon hatte gelesen in deine Hand. Ich nicht schlafe an eine Herz, wo gehört eine andere... Aber jetzt fort, Nacht geht herum...“ Sie nahm die Kerze, leuchtete auf die Treppe hinaus.

Da ging er in einer Art von Benommenheit die krachenden Stufen hinab, unten stand das Fahrrad... ein paar Minuten später fuhr er die Dorfstraße entlang... Hunde kläfften, in einem Stalle brüllte klagend ein Stück Vieh, eine Laterne schwankte über den Hof... Erst, als er schon längst den Wald erreicht hatte, kam er wieder zu ruhiger Überlegung...

Da wollte es ihm zunächst scheinen, er sei von einem gerissenen kleinen Frauenzimmer nach allen Regeln der Kunst geneppt worden. Aber das stimmte nicht, ihre Angst war zu echt gewesen. Er hatte ja auch selbst am eigenen Leibe erfahren, wie gefährlich es war, den Weg des masurischen Wildlings Sareyka zu kreuzen. Oder vielmehr den seines Herrn, denn der Mordanschlag war sicher nicht ohne dessen Auftrag ins Werk gesetzt worden... Der Zorn stieg ihm bis zum Halse empor, füllte seine ganze Brust. Aber die Abrechnung mußte unter vier Augen vollzogen werden. Die Schande, daß der Abkömmling eines alten Geschlechts Überläufer war ins polnische Lager, durfte nicht durch die Gassen getragen werden...

6

Der Herr vom Bruchhofe war sehr schlechter Laune. Er war erst im Morgengrauen aus der Stadt nach Hause gekommen, hatte sich zwar noch für eine Weile ins Bett gelegt, aber nicht schlafen können. Die Viehhändler im Krug zum letzten Groschen hatten ein neues Spiel aus Königsberg mitgebracht, das sie Poker nannten, und bei dem man auch ohne gute Karten gewinnen konnte. Der Gegner mußte nur durch „Blößen“ zu dem Glauben gebracht werden, seine Karte sei die schlechtere. Da hatte er erst ein paar Runden lang zugesehen und dann als Fünfter mitgemacht. Das Spiel schien kinderleicht, man brauchte den Einsatz der anderen jedesmal nur immer um je dreißig Mark zu überbieten, bis sie Angst bekamen und ihr Geld fahren ließen. Das glückte ein paar Male, aber dann kam es umgekehrt. Schon nach einer halben Stunde war der Erlös für die fünf zu Markte gebrachten Bullen wieder in den Taschen der Händler, und da hatte er die Karten zusammengeworfen: „Genug von dem neumod'schen Quatsch, den Würfelbecher her, Zawodda! Und stell' ein paar Flaschen Champagner kalt, wer ihn bezahlen wird, das wird zum Schluß der Sektionsbefund ergeben!“

Aber auch mit der „Lustigen Sieben“ wollte es nicht glücken, ganz als wenn ihm jemand die Hand behext hätte... Sein mitgebrachtes Geld war längst zu Ende, der Krugwirt hatte ihm schon mehr als dreitausend Mark auf Schecks leihen müssen, weil die Händler sich auf unbares Spiel nicht einließen, und wer mochte wissen, wie viel mehr noch bei der „Pechsträhne“ draufgegangen wäre, wenn ihn nicht gegen zwei Uhr nachts ein eiliger Bote nach dem Restaurant des Polen Zapietznik gerufen hätte. Zuerst hatte er sich geweigert, sein Spiel zu unterbrechen, dann aber hatte der Hausdiener seines polnischen Geschäfts- und Parteifreundes ihm ein paar Worte ins Ohr geraunt, die ihn trotz des reichlich genossenen Weins erblassen ließen. „Verfluchte Schweinerei“, sagte er, stand auf. „Und vernaschen Sie nicht inzwischen mein Geld, meine Herren, in einer halben Stunde bin ich wieder hier!“ Als sich aber die ganze Tragweite des geschehenen Unglücks herausgestellt hatte, war ihm die Lust zum Weiterspielen vergangen...

In dem verschwiegenen Hinterzimmer des Restaurants Zapietznik, zu dem man von der Hauptstraße aus nur durch die Privatwohnung des Wirtes gelangen konnte, saßen und standen zehn Herren, sprachen aufgeregt durcheinander. Führer der polenfreundlichen Organisation aus der Allenberger und Heinrichsburger Gegend, der polnische Gemeindevorsteher aus Prawdawola und ein Herr, den Karl Baginski nicht kannte. Der Gemeindevorsteher kühlte sich eine dicke Beule an der Stirn mit Eis aus dem Sektkübel, der fremde Herr blutete aus der Nase. Und der Wirt Zapietznik erzählte mit weitausholenden Handbewegungen, auf die beiden illustren Gäste sei soeben auf dem Wege zu dem in der Seestraße wartenden Auto ein Mordanschlag verübt worden. Von einem Dutzend johlender Bauernburschen, die sich betrunken stellten, in Wirklichkeit aber nüchtern waren. Die Herren hätten zuerst natürlich tapferen Widerstand geleistet, dann aber vor der Überzahl der Attentäter ihr Heil in der Flucht suchen müssen.

„Und wegen einer so gewöhnlichen Marktholzerei sprengt ihr mich von meiner Spielpartie fort?“ fragte Karl Baginski unwillig. „Noch dazu, wo ich bis an den Hals im Verlust sitz'?“

,,Weil die Sache auch dich angeht! Bei dem Überfall sind den Herren die Mappen verlorengegangen.“

„Habt ihr denn nicht sofort mit einer Laterne die Straße abgesucht?“

„Schon längst! Da glaube ich, den Kerlen war es überhaupt nur um die Mappen zu tun!“

„Und was war in den Taschen drin?“

„Protokoll über die heutigen Beschlüsse, verschiedene Mitgliederlisten, Befehle der Zentrale...“

Da fuhr er zornig auf.

„Ich hab's euch immer gesagt, wozu die dumme Schreiberei? Man sitzt ja wie auf einem Pulverfaß, kann jeden Augenblick hochstiegen!“

„Na, was denn“, bemerkte einer der Heinrichsburger scharf, „wollen Sie eine Organisation, wie die unserige, vielleicht ohne Papiere leiten? Aber beruhigen Sie sich, Herr Baginski! Alles Wichtige ist nach unserem Geheimcode abgefaßt, zu dem die Deutschen niemals einen Schlüssel finden werden. Und alle Führer der Organisation sind nur mit Nummern bezeichnet. Bloß der Herr Starost hatte einen kleinen Zettel mitbekommen, mit den zu den Nummern gehörigen Namen. Aber der Zettel steht ganz harmlos aus, denn er ist mit sympathetischer Tinte beschrieben.“

Bei dem Namen Baginski hatte der fremde Herr aufgehorcht, nahm das blutige Handtuch von der geschwollenen Nase und stellte sich vor.

„Gerlitzki heiße ich! Ist der aus Kattowitz verwiesene Oberingenieur vielleicht ein Verwandter von Ihnen?“

„Mein älterer Bruder!“

Herr Gerlitzki zögerte ein wenig: „Ja, dann weiß ich nicht...?“

„Bitte, nehmen Sie kein Blatt vor den Mund! Mein Bruder ist mir schlimmer als ein ganz Fremder.“

„Also dann weiß ich auch, wem wir den Überfall zuzuschreiben haben. Er hat mich heute früh hier auf dem Markt erkannt. Nur einem Zufall verdanke ich's, daß ich ihm entschlüpfen konnte. Nicht aus Angst, sondern weil ich meine Mission nicht gefährden durfte. In Kattowitz hab' ich mir den Mund lahmgeredet, ihn für ein paar Jahre in der Warschauer Zitadelle verschwinden zu lassen. Jetzt haben wir die Bescherung!“

Karl Baginski zog überlegend den kurzen Spitzbart durch die Rechte.

„Daß mein Bruder heute früh angekommen ist, stimmt. Jetzt aber schläft er bei unserem Freunde Zaborowski im Baginsker Dorfkruge. Und ich glaube, ihn zu kennen. Er ist kein Mann für Pläne von langer Hand. Jähzornig, wie ein Stier aufs rote Tuch — das Tuch bin ich —, aber geradeaus und einfältig. Heute nachmittag dauerte es keine zehn Minuten, bis ich ihm seine Kunststücke abgefragt hatte. Mir will er ans Leder, aber das sind Familiengeschichten, für die sich die Herren nicht interessieren werden. Na, und jetzt kann ich wohl wieder zu meiner Partie zurückkehren?“

Der Wirt, der nach seinen Gästen in den vorderen Räumen gesehen hatte, kam aufgeregt zurück.

„Meine Herren, wissen Sie, was mir mein Schafskopf von Hausdiener eben erst erzählt hat? Bei dem Zusammenstoß, den Herr Gerlitzki heute früh mit dem Bruder unseres Freundes Baginski gehabt hat, ist auch der berüchtigte Oberamtmann Schrötter aus Rakowen dabei gewesen! Da sage ich Ihnen, der hat auch den Überfall angestiftet, und, wie ich ihn kenne, studiert er schon jetzt über unseren Papieren!“

Die Anwesenden waren aufgesprungen; einer der Herren aus Allenberg rief: „Jetzt fehlt nur noch, daß einer von den nichtswürdigen Attentätern unsern verehrten Herrn Starosten aus Prawdawola erkannt hat, dann haben wir in einer Viertelstunde hier die Polizei auf dem Hals!“

Da gab es einen allgemeinen Aufbruch durch die Hintertür des Restaurants, nachdem der Hausdiener von einem raschen Erkundungsgang die Meldung zurückgebracht hatte, in der Seestraße sei alles ruhig. Auch Karl Baginski hielt es für geraten, nach Hause zu fahren, statt die Spielpartie fortzusetzen. Und auf dem Heimwege überlegte er, wie ein vielleicht drohender Schlag am besten zu parieren sei... Vor allem mußten die „Waren“ fortgeschafft werden, die in einem Fach der großen Scheune unter einem Haufen Stroh lagen. Wenn die Polizei die bei dem Überfall verlorenen Papiere in die Hand bekam, konnte es Haussuchungen geben. Und die zwölf gefährlichen Kisten im Stroh waren keine Haselnüsse, die man in die Westentasche stecken konnte...

Über den See nach drüben ging nicht an, die Abnahme war erst für die nächste Woche verabredet. Und im Dorf wachten hundert offene Augen. So lange, wie alles gut ging, hielt die Bande den Mund, war viel zu sehr eingeschüchtert. Wenn ihn aber die Gendarmen fortführten, kam es anders. Dann stoßen den Bauern die Mäuler über, schon, um die Behörde vom eigenen Plunderkram abzulenken. Ihm aber war das Zuchthaus sicher wegen Landesverrates... Ein lächerliches Wort. Was konnte er dafür, daß die Grenze nicht ein paar tausend Schritte hinter seinem Hof entlang ging, statt mitten durch den See? Und was tat das deutsche Vaterland schon für seine notleidenden masurischen Kinder? Wenn's der Landwirtschaft besser gegangen wäre, hätte er sich auf die Grenzgeschäfte nie eingelassen... Aber wem verdankte er's, wenn jetzt das Unglück über ihn hereinbrach? Nur dem Bruder! Sieben Jahre lang hatte er die Heimat gemieden, mußte gerade jetzt nach Hause kommen und seine Nase in Dinge stecken, die ihn nichts angingen...

Wann sein Haß gegen diesen Menschen angefangen hatte, konnte er sich nicht entsinnen. Vielleicht schon, als sie zusammen in die Dorfschule gingen... Da hatte der Ältere ihn geschlagen, daß er fast eine Stunde ohnmächtig lag, bis er wieder zur Besinnung kam. Wegen eines ganzen Drecks. Er hatte beim Spiel dem ältesten Sewzik einen blanken Uniformknopf geklaut, der fünfundzwanzig gewöhnliche galt, wollte den Diebstahl nicht eingestehen, trotzdem der Knopf in seiner Tasche gefunden wurde. Da hatte der Bruder wie ein Irrsinniger auf ihn eingeschlagen... Und am Abend kam der Vater, zog sie beide übers Knie: „Brüder sollen sich nicht prügeln, sondern einander liebhaben...“ Weshalb, hatte er sich gefragt, als ihn die Mutter hinterher heimlich mit einem Stück Kuchen tröstete. Weshalb sollten sich Brüder liebhaben, wenn der ältere den ganzen Hof erbte mit allen Pferden, Kühen und Schweinen und der jüngere nur mit einem knappen Ausgedinge abgefunden wurde...? Das hatten die Knechte und Mägde ihm schon beigebracht, als ihm noch der Hemdzipfel hinten zum Hosenlatz heraushing, zeigten es deutlich Tag für Tag. Wenn der Ältere irgendeinen Wunsch hatte, sprangen sie nur so, ließen jede Arbeit liegen, ihn beachteten sie kaum. Das hatte sich ja später geändert, als der Ältere auf die hohe Schule kam, aber der Haß war geblieben. Aus Haß hatte er ihm auch die Braut abgejagt, das schönste Mädchen der ganzen Gegend, zum Teil aber auch aus brennendem Ehrgeiz. Wenn er die Tochter des hochgeachteten Pfarrers Lehnert heiratete, der bei allen Großgrundbesitzern in der Runde verkehrte, fand er in diesen Kreisen selbstverständlich auch Eingang. Es war eine grimmige Enttäuschung gewesen. Nur einige von den Herrschaften hatten den Besuch erwidert, aber die Einladungen hinterher blieben aus. „Gutsbesitzer“ hatte er auf seine Visitenkarten drucken lassen, aber das hochmütige Pack sah in ihm immer bloß den masurischen Bauer, trotz seiner achthundert Morgen. Ja, wenn er Reserveoffizier gewesen wäre, wie der Herr Bruder, aber er hatte als ganz gewöhnlicher Muschko dienen müssen, bis ihn der Vater wegen eigener Hinfälligkeit für die Wirtschaft reklamierte...

So dämmerte er auf der langen Fahrt in allerhand Gedanken dahin, bis er im Morgengrauen von der letzten Höhe am Walde seinen Hof im tiefsten Frieden liegen sah. Die frische Luft hatte auch die Weingeister aus seinem Kopf vertrieben, und da wollte ihm scheinen, er habe sich mit selbstgemachten Gespenstern geängstigt. So hirnverbrannt töricht war die Leitung der Geheimorganisation doch wohl nicht, daß sie irgendwelche Angaben über den an der Grenze betriebenen Waffenschmuggel dem Papier anvertraute! Aber selbst wenn: die Schriftstücke waren nach einem Code abgefaßt, den die Deutschen erst finden mußten. Und was lag schon daran, wenn der Oberamtmann Schrötter durch den mit sympathetischer Tinte beschriebenen Zettel nicht mehr erfuhr, als daß der Besitzer des Bruchhofes zu den Führern des Masurenbundes gehörte? Die Ziele dieses Bundes waren bei der letzten Reichstagswahl ja in hundert öffentlichen Versammlungen erörtert worden. Um was es wirklich ging, wußten nur wenige. Da drohte keine Gefahr. Und schließlich: Wer gefährliche, aber gewinnbringende Geschäfte machen wollte, durfte nicht ängstlich sein. Mut mußte er haben, ein bißchen Leichtsinn und viel Glück...

Da gedachte er erst einmal ordentlich auszuschlafen, ehe er sich daran machte, den Bruder in einer geschickt geführten Unterredung einzuwickeln. Für die feindselige Haltung von gestern war der aufgefangene Brief ja Ausrede genug. Und dann bot man ihm etwas mehr als die Hälfte des Geldes, das ihm nach diesem blödsinnigen Aufwertungsgesetz zustand, war ihn los für alle Zeiten... Vielleicht auch die Frau — —

Daß die beiden noch immer aneinanderhingen, fühlte, sozusagen, ein Blinder mit dem Krückstock. Und wenn man's klug anfing, konnte man sie wieder zusammenbringen. Man verhandelte mit dem Bruder nicht persönlich, sondern schickte die Frau, gab ihr Vollmacht, um des lieben Friedens willen auch bis zur vollen Auszahlung des Erbteils zu gehen. Da kam ihnen wohl ganz von selbst der Gedanke, gemeinschaftlich auszuwandern. Wie er den Narr von Bruder zu kennen glaubte, zunächst `mal als „Bruder und Schwester“, bis die Scheidung vollzogen war... Das schien ihm der gescheiteste Einfall, den er seit langer Zeit gehabt hatte. Er begab sich, höchst zufrieden, ins Schlafzimmer.

Jelena war schon auf, schleppte sich wieder einmal mit dem ins Jungen, wollte eine lange Geschichte erzählen. Von einem neuen Zank, den es am Abend mit „denen von da drüben“ gegeben habe. Er wehrte unwirsch ab, er habe andere Sorgen im Kopfe, sah sich beim Auskleiden die Frau, die einmal Herrin des Bruchhofes werden sollte, unwillkürlich näher an. Lag es an seiner übernächtigen Stimmung, oder hatte er früher nicht so scharf darauf geachtet: der Anblick war wenig einladend. Die sonst sorgfältig frisierten kurzen Haare hingen ihr in unordentlichen Zotteln um das schwammig gewordene Gesicht, und dieses Gesicht war ohne die Bemalung alt. In heruntergetretenen Pantoffeln schlampte sie umher, die fleischigen Beine, die das spitzenbesetzte Hemd nur bis zu den Knien deckte, kamen ihm unförmig plump vor. Und ihm wollte scheinen, das Weib habe ihn um mindestens zehn Jahre betrogen, als sie bei der ersten Bekanntschaft ihr Alter mit vierundzwanzig angab. Sie näherte sich zärtlich, wollte den „Stammhalter“ zur Liebkosung ins Bett reichen, ehe sie ihn wieder zu seiner „Nanna“, dem Kindermädchen, hinüberbrächte; er zerdrückte zwischen den Zähnen ein grobes Wort, drehte sich auf die andere Seite. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen, hinter seinen geschlossenen Augen gaukelten unablässig Kartenbilder aus dem neu gelernten Spiel... Vier Asse oder Könige, fünf Blätter von einer Farbe, und er gewann unaufhörlich... Da stand er wieder auf, zog sich an. Seit Jahren schon hatte er beim Frühläuten nicht mehr auf dem Hofe gestanden, es war vielleicht ganz gut, `mal nachzusehen, was das Gesinde um diese Zeit trieb... Den versäumten Schlaf konnte er ja bei Tage nachholen. Aber der Rundgang brachte wenig erfreuliche Überraschungen.

Im Schweinestall stand die Mutter, stampfte gedämpfte Kartoffeln in einem hölzernen Trog.

„Wo sind die Margellen?“ fragte er nach kurzer Begrüßung.

„Schlafen noch“, war die mürrische Antwort.

„Wenn du selbst so früh aufstehst, weshalb schmeißt du sie nicht aus den Betten?“

Die Mutter ließ die verarbeiteten Hände sinken.

„Weil ich keine Lust hab', freche Redensarten zu hören!“ Und plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen. „Karl, bleib noch einen Augenblick hier! Mich heben die Ängste, und sonst bist du ja nie zu sprechen. Vor ein paar Tagen hat im Ordensbruder Kreisblatt eine Bekanntmachung gestanden, vom Landrat. Die Regierung hat verfügt, Höfe, die von ihren Besitzern liederlich bewirtschaftet werden, können auf Antrag enteignet werden. Zur Aufteilung an die aus Polen vertriebenen deutschen Ansiedler.“

Er zuckte die Achseln.

„Eins oder das andere, Mutter! Entweder Landwirtschaft oder Geschäft. Beides zusammen verträgt sich nicht. Wenn's ginge, würde ich auch die polnischen Scharwerksmargellen abschaffen. Jedes von den Weibern hat zwei Augen zu viel. Nur weil sie guten Lohn kriegen, halten sie die Mäuler. Auch aus Angst, der Sareyka schlägt sie krumm und lahm, wenn sie im Dorf unnützes Zeug schwatzen. Die Knechte aber? Wenn sie sich nachts auf dem See abgerackert haben mit den schweren Kähnen, kann ich nicht verlangen, daß sie tagsüber hinter dem Pflug hergehen. Aber den `Antrag' wollen wir ruhig abwarten. Ich glaub' nicht, daß sich in Baginsken, Dlugossen und Rostken nur ein einziger Bauer findet, der sich getraut, gegen den Herrn vom Bruchhof aufzustehen!“ Er lachte kurz auf und ging weiter. Die Mutter aber sah ihm bekümmert und sorgenvoll nach. Schon seit vielen Nächten verfolgten sie unheilbedeutende Träume. Von schwelendem Feuer hatte sie geträumt, die im Bruche hausende Mahr kniete ihr auf der Brust, schnürte ihr den Atem ab, und an einem hellen Mittag sogar hatte sie ihren Jüngsten draußen auf dem Hof neben dem Ziehbrunnen stehen sehen, trotzdem sie ganz genau wußte, er war unterwegs zur Stadt. Seinen Jagdanzug trug er, die Augen waren geschlossen, und auf der Brust hatte er einen großen roten Fleck...

In dem Milchstall, in dem noch fünfzig auserlesene Holländer Kühe gestanden hatten, als der jetzige Herr von seinem Vater die Wirtschaft übernahm, fraßen kaum zwanzig magere Knochengestelle an den Krippen. Ein verschlafenes Mädel drehte lässig die Maschine zum Wrukenschneiden, seine Frau kam aus dem Mittelgang, an jeder Hand einen mit Milch gefüllten Eimer. Sie achtete auf den schlecht gepflasterten Steg zu ihren Füßen, er hatte ein paar Augenblicke Zeit, sie zu mustern. Ein sauberes Tuch trug sie um das blonde Haar geschlungen, sauber war der Leinenkittel über ihrer schlanken Gestalt und elastisch der Gang trotz der schweren Last an ihren hager gewordenen Armen. Er entsann sich einer Zeit, in der diese Arme rund und voll gewesen waren, sich zärtlich um seinen Hals geschlungen hatten, als sie beide endlich den Hoferben erwarteten... Und, wer weiß, zu welchen Entschlüssen er noch fähig gewesen wäre, wenn er nicht die Überzeugung gehabt hätte, daß in dem immer noch begehrenswerten Körper eine kranke Seele wohnte... Eine seltsam weiche Regung zog ihm durchs Herz, aber seine Stimme klang rauh, als er ihr den Weg vertrat.

„Seit wann ist das Mode, daß die Frau vom Bruchhof morgens im Milchstall steht?“

Sie fuhr bei der unerwarteten Anrede erschreckt zusammen, blickte auf. Und es dauerte ein Weilchen, bis sie sich zu der Antwort gesammelt hatte:

„Seit wann? Seit der Herr vom Bruchhofe alles an sein Frauenzimmer hängt! Da müssen seine Frau und Mutter sich ein paar Groschen aus der Wirtschaft machen.“

„Anna“, sagte er, „laß die alten Geschichten `mal für `ne Weile beiseite! Wir müssen doch irgendwie miteinander in Ordnung kommen. So wie bis jetzt geht's mit uns allen hier nicht weiter!“

Sie hob die schmale Oberlippe über weißen Zähnen.

„Weshalb soll's auf einmal nicht weiter gehen? Ich find's ganz wunderschön so! Das Weibstück da drinnen macht dir Tag für Tag die Hölle heiß, sie will nach der Kindstaufe endlich Hochzeit machen, und ich sag' immer, nee, is nich! So lange ich lebe, nicht! Ich laß mich nicht scheiden. Da müßte sie's schon noch einmal mit dem Kaffee probieren oder eine Axt nehmen und mich totschlagen. Aber dann müßtet ihr die Hochzeit im Gefängnis feiern. Dafür hab' ich vorgesagt.“

Er sah einen Augenblick lang zu Boden, das Wort, das er halblaut vor sich hin sprach, klang fast wie „schade...“ Dann warf er den Kopf wieder in den Nacken zurück: „Die Kur in Tapiau hat — scheint es — wenig geholfen. Du müßtest noch `mal hinein! Aber es handelt sich jetzt nicht um uns beide, sondern um meinen Bruder.“

„Er ist dir bei deinen Geschäften hier wohl sehr unbequem?“ fragte sie höhnisch.

„Unsinn, bei meinen Geschäften hab' ich nichts zu verstecken. Aber ich hab' mich gestern übereilt.“

Sie stellte die beiden Eimer hin, sah ihn erstaunt an: „Du dich übereilt? Das wär' ja das erstemal in deinem Leben!“

„Da wunderst du dich? Wem soll nicht die Galle ins Blut gehen, wenn er von seiner Frau einen Brief auffängt? Mit einem Plan, dem Mann den Hals umzudrehen? Der Plan selbst war ja nichts wert, aber auf die Gesinnung kommt es an. Und dann war noch `was in dem Brief. Wenn der ihn richtig zu lesen verstand, für den er bestimmt war, stand da drin: Laß meinen Mann erst im Gefängnis sitzen, dann heiraten wir beide!“

Sie strich sich unter dem Kopftuche eine in die Stirn gefallene Haarsträhne zur Seite, und es schien, als wenn sie ein paar Augenblicke lang angestrengt nachdächte.

„Du irrst dich“, sagte sie endlich, „das konnte kein Mensch aus dem Briefe herauslesen. Weil es nicht wahr gewesen wäre, innerlich nicht wahr. Das andere aber war wohl deutlich genug! Haß und Haß und noch `mal Haß! Noch zehn Kinder kannst du mit dem Weibsbild da drinnen in die Welt setzen, sie bleiben Bankerte, eins wie das andere, denn ich geb' dich nicht frei! Was aber deinen Bruder angeht, dem hab' ich gestern hier die Augen aufgemacht, über uns beide. Ich hab' ihm erzählt, wie wir ihn betrogen haben, während er geglaubt hat, ich bin ihm noch treu. Da wird er endlich gegen dich wohl auch die richtige Gesinnung gekriegt haben. Und jetzt gib mir den Weg frei, jedes Wort weiter ist überflüssig!“

Er hob die Hand: „Noch einen Augenblick! Ich könnt' dir darauf auch allerhand sagen, von meinem Standpunkt aus, aber es hätt' keinen Sinn, man spricht bei dir wie gegen eine steinerne Mauer. Bloß eins noch: du hast ihm mit der Erzählung von unserem Verhältnis einen schlechten Dienst erwiesen. Ich hatte die Absicht, mich des lieben Friedens halber mit ihm persönlich anzusprechen. Da denk' ich jetzt natürlich nicht mehr dran — ich müßte ja Angst haben, er fährt mir wieder an den Hals. Wenn du also haben willst, daß er zu seinem Erbteil kommt, geh' du zu ihm `rauf ins Dorf. Ich will dir einen Scheck mitgeben auf die Deutsche Bank in Königsberg. Über die ganze Summe mit zehn Prozent Nachlaß. Etwas will ich auch verdienen bei der sofortigen Auszahlung.“

Sie sah ihn ein paar Augenblicke forschend an, dann stieg in ihr mager gewordenes Gesicht eine flammende Röte, sie spie verächtlich aus. „Kuppler“, sagte sie, nahm ihre Eimer und ging hinaus. Er schrie ihr nach: „Das hat man davon, wenn man sich endlich `mal gut zu euch stellen will! Und du bist ja noch genau so verrückt, wie du gewesen bist! Immer bildet ihr Weiber euch ein, die ganze Welt dreht sich um nichts anderes als euer bißchen...“ Das letzte gemeine Wort ließ er angesprochen, denn er merkte plötzlich, daß das polnische Scharwerksmädel an der Wrukenschneide ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Mit der Zeit schnappten diese Frauenzimmer doch ein paar Worte Deutsch auf, und die da hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als der Tarrasczinska brühwarm wiederzuerzählen, wie der Herr von seiner Frau abgetrumpft worden sei.

Vor dem Pferdestall begegnete ihm ein seltsamer Zug. Die Knechte Kuligowski und Michalski trugen den erschossenen Hund auf einer mit Tannenreisig geschmückten Leiter, der Sareyka ging hinterher mit dick verweinten Augen.

„Was ist denn mit euch los?“ fragte er, trat näher.

„Wir wollen den Gilk begraben“, erwiderte der Michalski.

„Und darum macht ihr so ein Theater?“

Ludjich Sareyka blickte unwillig auf. Seine masurische Muttersprache ging ihm geläufiger vom Munde als sein holpriges Deutsch.

„Herr, für dich war es vielleicht bloß ein gewöhnlicher Hund, du kaufst einen neuen und denkst, wenn er bellt und beißt, ist's schon gut. Mir aber war er wie ein Bruder, wir verstanden uns so gut, daß ich bloß zu denken brauchte, was er zu tun hatte!“

„Da hat er gestern zu viel gedacht, als er auf meinen Bruder losging.“

Der Knecht schüttelte den Kopf.

„Nein, Herr, er wußte ganz genau, wie ich gegen deinen Bruder gesonnen bin, war ja auch bei mir am Fenster, als du um Hilfe riefst. Bloß ich hab' ihn nicht fest genug gehalten. Dafür hab' ich mir schon die Brust zerkratzt vor Jammer, denn gestern abend wär' es anders gekommen, wenn der Gilk noch gelebt hätte. Da hätte dein Bruder mich nicht untergekriegt und sich hinterher im Wirtshaus gerühmt, er hätt' mich, den Sareyka, geschlagen! Zum Kindergespött hat er mich gemacht vor dem ganzen Dorf, aber dafür wird's ja bald Abrechnung geben!“

Karl Baginski machte zu den beiden Knechten an der Leiter eine kurze Handbewegung.

„Fort mit euch, grabt den Köter ein! Du aber, Sareyka, komm `mal her! Wer hat dich geschlagen?“

„Dein Bruder, Herr! Aber noch ein paar Stunden, und er kriegt jeden Hieb zehnfach wieder. Da kann er in jeder Hand zwei Pistolen haben, sie werden ihm nichts helfen!“

Der Herr vom Bruchhofe ließ sich auf dem nächsten Pflugsterz nieder.

„Ich glaub', du bist schon am frühen Morgen besoffen, Ludjich! Wir sollst du denn mit meinem Bruder zusammengeraten sein?“

„Herr, weil ich feststellen wollte, was er hier trieb. Da bin ich ihm gestern abend nachgegangen. Erst war er in der Schänke, hat versucht, die Kellnerin auszuhorchen, die Bronislawa. Ich hab' ihr schwer gedroht, ich bring' sie um, aber sie hatte recht, als sie in all' ihrer Angst mich fragte, was sie ihm wohl hätte erzählen können. Sie weiß ja einen Quark von unseren Geschäften. Dann ist er zu dem Schmied Pjessewodski hinübergegangen; der alte Esel dachte wunder wie klug er ist, machte hinter sich die Tür zu. Hätte er sie offen gelassen, hätte ich mich nicht `ranschleichen können. Da hat dein Bruder schon mehr erfahren. Zum Beispiel, daß ein großer Teil unserer Waren durch die Hand von dem Zaborowski geht. Der alte Schleicher, der Schmied, wird ja seinen Denkzettel dafür kriegen, dein Bruder aber ging quer übers Feld nach dem See zu. Da sagte ich mir, Herr Leutnantchen, du weißt schon zu viel, man muß dir beibringen, daß es bei uns vom Bruchhofe nicht gut ist, mit dem Löffel in unserem Buchweizenbrei zu rühren. Ich nach Hause und mit der Büchse in den Kahn, ein Weilchen später hatte ich's spitz, wo er saß. Dann ich zu Fuß am Ufer lang hinter den Weidenbüschen, strich an einem Ast an und setzte ihm die Kugel zehn Zoll über den Kopf in die alte Kiefer. Er fällt vornüber, ich krieg' einen Schreck, die Büchse schießt nicht mehr genau, oder ich bin zu tief abgekommen. Also, wie sich eine Weile lang nichts gerührt hatte, ich auf Nachsuche, überlegte, was da zu machen wär'. Ausreden wegen Verwechslung mit einem Stück Wild, oder vom Hof einen Sack holen mit eiserner Kette, Steine `rein und fort mit ihm in die Prawdawoller Bucht, hundert Fuß tief. Auf einmal — ich denk', mich soll die Ameis' beißen — ist er von hinten her über mir, ich krieg eins gegen die Schläfe, weiß nichts von mir. Wie ich wieder ein bißchen zu mir komm', hör' ich, daß er zu sich selber sagt, er wird mich schlagen, daß ich vier Wochen nicht soll sitzen können. Die Schande fraß mir am Herzen, aber ich hatte noch keine Kraft, und er schlug zu wie auf kalt' Eisen. Erst vor'm dritten Hieb konnte ich mich, Kopf voran, zwischen die kleinen Fichten werfen. Und die zwei Streiche — hab' ich mir geschworen — kriegt er noch heute vormittag mit Zinseszinsen wieder. Auch wenn er kugelfest sein sollte, das wird ihm wenig helfen, denn ich greif' mir ihn mit einem Strick!“

Karl Baginski war aufgesprungen, hämmerte sich die Fäuste gegen die Stirn.

„Du Rindvieh, du vermaledeites, wenn du dir's bloß abgewöhnen wolltest, nach deinem Spatzengehirn zu handeln! Hast du denn `ne Ahnung, was du angerichtet hast? Das alles muß ihn doch mit der Nase drauf stoßen, daß wir hier Geschäfte treiben, bei denen es für uns um Kopf und Kragen geht! Glaubst du, das ist einer von unseren Bauern hier, die vor Angst in ein Mauseloch kriechen? Das ist ein preußischer Offizier, der sich vor so einem Dreck wie du nicht fürchtet. Und was hab' ich davon? Jetzt kann ich zu ihm `raufgehen ins Dorf, mit einem großen Stück Geld in der Hand, zusehen, ob ich wieder in Ordnung bringen kann, was du verpfuscht hast.“

„Herr“, erwiderte der Knecht trotzig, „wie sollen wir riechen, was du wirklich meinst? Erst schreist du um Hilfe, daß wir denken, dir schneidet dein Bruder den Hals ab, und hinterher sollen wir ihn wie ein rohes Ei behandeln?“

„Ihr sollt nicht riechen, auch nicht denken!“ schrie der Herr vom Bruchhofe, „sondern bloß das tun, was euch befohlen wird! Und jetzt vorwärts! Schick die Margellen ins Bruch mit irgendeiner Arbeit, und dann werden die Kisten aus der Scheune in die Kähne verladen. Nehmt die Netze, als wenn ihr fischen fahren wollt. Wenn ihr's ein bißchen geschickt anstellt, kann vom Dorf aus kein Mensch merken, was ihr wirklich treibt.“

„Und wohin mit den Waren? Wo auf der anderen Seite kein Mensch Bescheid weiß!“

„Ist auch nicht nötig! Wenn ihr so weit draußen seid, daß vom Ufer niemand merken kann, was ihr da macht, geht alles über Bord.“

Ludjich Sareyka warf den Kopf in den Nacken zurück:

„Das tu ich nicht! Das wär' ja eine Sünde vor Gott, das schöne Geld im Wasser zu ersäufen!“

Karl Baginski trat auf ihn zu, zischte ihn an: „Was nimmst du dir heraus, du Lümmel? Du Lausangel, die ich von der Straße aufgelesen hab'? Wer hat hier auf dem Hof `was zu befehlen? Du oder ich?“

„Du, Herr! Aber wenn etwas gegen allen Sinn und Verstand geht? Und wie steht's mit meinen Prozenten? Soll ich mir die vielleicht aus dem Wasser fischen?“

Da hielt der andere es für geraten, einzulenken. Aber zum erstenmal kam ihm zum Bewußtsein, wie sehr er mit seinem Schicksal dem Knechte da verstrickt war. „Deine Prozente kriegst du“, sagte er halblaut, „aber hast du eine Ahnung, was heute nacht in der Stadt passiert ist? Papiere sind uns gestohlen worden, der Teufel mag wissen, was drin steht, und ob die Deutschen die Geheimschrift nicht doch `rauskriegen. Vorhin hab' ich's auf die leichte Schulter genommen, aber jetzt ist's mir mit einemmal kalt über den Rücken gefahren. Noch mindestens vier Tage müßten wir die Kisten bei uns in der Scheune behalten, und wie ist's, wenn in dieser Zeit die Gendarmen kommen? Meinst du, die gehen hier bloß `mal so über den Hof, statt das Oberste zu unterst zu kehren?“

Ludjich Sareyka rückte die Mütze.

„Es ist gut, Herr! Wenn einem erklärt wird, daß es um unsere heilige Sache geht, spuckt man auf seine Prozente.“ Und er rief laut zu dem Obstgarten hinüber, in dem die beiden anderen Knechte den Hund begruben: „Vorwärts, Michalski und Kuligowski! Hier gibt's eiligere Arbeit...“

Karl Baginski aber schritt zum Hause zurück, empfand es als eine Demütigung, daß er sich vor seinem Vertrauten zu einer langen Erklärung hatte herbeilassen müssen. Und ihm wollte scheinen, es sei an der Zeit, sich aus diesen gefährlichen Geschäften zurückzuziehen. Wenn alles ruhig blieb, war der Verkauf des Bruchhofes eine Arbeit von vierzehn Tagen. Aber auch so hatte er schon Geld genug, um im Auslande ein gutes Leben zu führen... Und plötzlich sprangen ihn die zwei Worte an: „Aber allein — — —“

Auf der rechten Seite des Hauses wurde ein Fensterflügel aufgerissen, die Tarrasczinska schrie gellend: „Karol, komm! rasch, unser Kind liegt im Sterben...“

„Na, na, na“, rief er zurück, „wird so schlimm nicht sein“, begann aber zu laufen.

Im Schlafzimmer schaukelte seine Mutter den Kleinen in den Armen. Er lag regungslos, nur von Zeit zu Zeit zog sich das Körperchen im Krampf zusammen, von den Augen war bloß noch das Weiße zu sehen.

Karl Baginski erschrak bis ins innerste Herz.

„Um Gottes willen, Mutter, was ist da passiert? Vor `ner Viertelstunde war er doch noch ganz gesund?“

Die alte Frau zuckte weinend die Achseln, Jelena schrie, daß es durch das ganze Haus schallte: „Was passiert ist? Verhext hat ihn die Kanaille da drüben! Aber bei meinem Seelenheil schwör' ich, wenn er mir stirbt, stirbt sie auch!“

Anna trat über die Schwelle, schrie zurück: „Weib, du bist ja so dumm, wie du dick bist! Wenn ich hexen könnte, hättest du längst schon den Aussatz am ganzen Leib, würdest vor den Menschen stinken wie ein Aas. Du selbst hast dein Kind gemordet! Langsam, Tag für Tag. Aber sollt ich dich vielleicht klug machen, dir sagen, stopf es nicht immer mit Süßigkeiten voll bis an den Hals?“ Und zu ihrem Manne gewandt, fuhr sie erregt fort: „Sieh dir deinen Jungen doch `mal an mit seinem unförmlich dicken Bauch und den krummen Beinchen! Rachitisch von oben bis unten, Zahnkrämpfe hat er, und wenn nicht bald `was geschieht, bleibt er euch unter den Händen weg...“

Dem Herrn vom Bruchhofe war es, als würgte ihn einer am Halse. Er brachte die Worte nur stoßweise hervor: „Anna... wenn du irgendein Mittel weißt... oder sonst `was... hilf...“

Sie reckte den Kopf vor, starrte ihn an: „Ich...? Euch...?“

Der Kleine schrie auf, sein Körperchen krümmte sich in einem neuen Krampf. Da fuhr sie sich mit der Hand über die Augen, herrschte die Tarrasczinska an: „Rasch her mit der Badewanne, und du, Mutter, spring! Vorhin hab' ich in unserer Küche einen großen Grapen aufgesetzt zum Fischkochen für die Leute... Das Wasser wird jetzt gerade recht sein...“

Ein paar Minuten später war der Kleine in einem lauwarmen Bade. Die Krämpfe ließen nach, und als er schließlich zu Bett gebracht war, lag er ruhig da, kleine Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Anna streifte die Ärmel an ihrer Bluse wieder hinab, atmete tief auf: „So! Und jetzt holt den Arzt! Laßt euch von ihm sagen, wie man kleine Kinder ernährt...“

Sie wandte sich zur Tür, ihr Mann wollte auf sie zutreten, sie hob die Hand: „Laß! Kein Wort! Das hier eben...“ Sie schluchzte plötzlich auf und ging weinend hinaus: „Bei unserem süßen Jungen damals war niemand...“

Die Tarrasczinska hatte sich vor dem Bett des Kleinen auf die Knie geworfen, durch ihre Hände lief der Rosenkranz, ihre Lippen murmelten Gebete. Karl Baginski ging ruhelos auf und ab, endlich blieb er stehen: „Jelena, schließlich hättest du ihr doch wenigstens ein Wort sagen können?!...“

Die Tarrasczinska fuhr herum. Die Tränen hatten auf ihrem schon für den Tag zurechtgemachten Gesicht schmutzige Streifen gezogen.

„Ich? Wofür? Ich schwör dir beim blutenden Mutterherzen der heiligen Jungfrau, sie hat ihn doch behext! Wenn sie jetzt den Zauber zurückgenommen hat... also, da wollte sie sich bei dir bloß wieder einschmeicheln...“

Er starrte sie an, als hätte er sie zum ersten Male richtig gesehen. „Weib“, sagte er, „weißt du, was du mir bist? Zum Ekel!“ Er ging hinaus. Wenn er nicht Angst gehabt hätte, das schlafende Kind zu wecken, hätte er hinter sich die Tür ins Schloß geschmettert. Und auf dem Wege zum Dorfe flog ihm ein Wort durch den Sinn, das irgendwann einmal seine Frau gesprochen hatte. Bedauert hatte sie, daß es unmöglich sei, sein Leben noch einmal von vorne anzufangen. Wenn das zu machen wäre, hätte er sich in manchem vielleicht auch anders eingerichtet... Aber solche Regungen hatten bei dem Herrn vom Bruchhofe keinen langen Bestand.

***

Im Dorfkruge rieb man sich gerade den Schlaf aus den Augen. Ein barfüßiges Mädel in Hemd und Unterrock fegte das große Schänkzimmer aus, Herr Zaborowski stand ohne Rock und Weste in heruntergetretenen Latschen vor dem geöffneten Schrank mit den bunt beklebten Flaschen, überlegte, welcher von den Schnäpsen wohl am geeignetsten sei, die Flaue in seinem Magen zu bekämpfen. Ein Übel, an dem er jeden Morgen litt, bis er nach dem zweiten oder dritten Gläschen innerlich wieder der Held war, der sich hier in dem elenden masurischen Dorf leider hinter der Maske eines gewöhnlichen Schankwirtes verstecken mußte.

Die neue Kellnerin wusch in einer großen Blechschüssel Gläser aus, war trotz der frühen Morgenstunde schon fertig angezogen, sah mit ihrer frisch geplätteten Haarschleife sauber und appetitlich aus, wie aus einem Ei geschält. Herr Zaborowski hätte sich ihr gerne mit einer handgreiflichen Liebkosung genähert, aber das eifersüchtige Dienstmädchen paßte leider auf. Und ein Gast, der sich schon seit mehr als acht Tagen nicht hatte sehen lassen, betrat die Stube. Der Wirt eilte ihm entgegen, begrüßte ihn mit tiefer Verneigung: „Karluschek! Schon am frühen Morgen eine solche Ehre für meine erbärmliche Hütte?“

„Laß die Redensarten“, erwiderte der Herr vom Bruchhofe, „ich bin nicht in der Laune. Ist mein Bruder noch hier?“

„Aber natürlich! Spring, Bronislawa, klopf an seine Tür! Sein Herr Bruder wünscht ihn zu sprechen. Wie ich ihm gestern vorausgesagt habe.“

Karl Baginski sah dem davoneilenden Mädel mit glitzernden Augen nach, und ihm wollte scheinen, sie habe dicht vor der Tür nicht umsonst den kurzen Rock so geschwenkt, daß die wohlgeformten, schlanken Beine bis weit über die roten Strumpfbänder sichtbar wurden. Er zog den Spitzbart durch die Hand: „Donnerwetter, Casimir, wo hast du das da aufgegabelt?“

Herr Zaborowski küßte seine Fingerspitzen.

„Nicht wahr? Zucker! Aber spröd wie Tannenholz. Außerdem: der Sareyka ist ihr Bräutigam. Wenn da wer versuchen wollte, sich `ranzumachen, dem bricht er die Knochen.“

Der Herr vom Bruchhofe lächelte.

„Der Sareyka? Der bellt wohl, aber beißt nur dort, wo er beißen darf. Und wie ist er zu dem bildhübschen Ding gekommen?“

„Vor ungefähr einer Woche hat er sie aus Sczuczin gebracht. Sie ist ihm gefolgt, weil sie nicht aus noch ein wußte. Ihre Schwester in Warschau ist gestorben... vielleicht besinnst du dich, die berühmte Stanislaw aus der Maison d'Or in der Miodowa?...“

„Aber natürlich! Erst vor acht Wochen ungefähr, als ich zum letzten Male drüben war! Da haben wir im Europeiski soupiert, in Damengesellschaft natürlich... Wieso aber hat das Mädel nicht die Karriere ihrer Schwester eingeschlagen?“

„Weil die Stanislawa sie hat schwören lassen! Zum Kabarett sollte sie gehen, vielleicht auch später zur Operette. Als die Schwester starb, war alles vorbei, und wo sollte sich in dem Lausenest Sczuczin ein reicher Freund finden, der für die Ausbildung zahlte? Aber Talent hat das Mädel, tanzt wie eine Puppe, und neulich hat sie meiner Frau und mir vorgesungen. Lustiges und Trauriges, all unsere herrlichen Lieder. Bei `Weißer Adler, spann die Flügel' hat sich mein altes Kriegerherz in der Brust gebäumt wie ein Hengst...“

Bronislawa kehrte zurück, schlug schauspielernd die Hände zusammen: „Denken Sie sich bloß, Herr, unser Gast oben ist schon fort! Sein Koffer ist noch da, er selbst aber nicht mehr!“

„Unsinn, du hast dich bloß versehen!“

„Nein, Herr, das Bett ist leer, auch schon kalt. Und im Vorbeigehen hab' ich bemerkt, auch das Fahrrad unten ist verschwunden. Gestern abend stand es noch da!“

„Zum Teufel noch mal!“ schrie Herr Zaborowski. „Du schläfst doch selbst oben! Schon an der krachenden Treppe hättest du hören müssen, daß er sich davonmachte?!“

Die hübsche Kellnerin hob die Schulter.

„Die Treppe hab' ich gehört, aber ich hab' gedacht, der Herr steigt wieder mal `rauf zur Mädchenkammer...“

Der Wirt bekam einen roten Kopf, schlug sich zornig gegen die Brust.

„Wer? Ich? Ein polnischer Edelmann, der seine Frau Gemahlin betrügt? Scher dich `raus, du freches Frauenzimmer!“

Karl Baginski legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm: „Reg' dich nicht auf, Casimir, wer deine Frau Gemahlin kennt, wird dir's nicht verdenken. Aber daß mein Bruder sich bei Nacht und Nebel davongemacht hat, kann man so oder so auslegen. Hast du noch Waren im Keller? Wenn du's nicht ganz genau weißt, sieh lieber nach, ob nicht irgendwo in einem Winkel noch was steht!“

„Alles wie blank gefegt! Aber hast du denn Angst vor einer Durchsuchung?“

„Jetzt nicht mehr! Was man bei mir hätte finden können, liegt jetzt schon fünfzig Fuß tief im See. Aber wir werden ein paar Wochen lang den Betrieb einstellen müssen, bis alles wieder ruhig geworden ist. Und wem verdanken wir das alles? Nur dem Lümmel Sareyka! Hätte er nicht den Blödsinn begangen, auf meinen Bruder gestern zu schießen, wär' ich mit dem hier in einer Viertelstunde in Ordnung gekommen. Man darf Knechte nicht zu selbständig werden lassen, es ist Zeit, daß ich den Sareyka mal für `ne Weile nach drüben in Stellung bringe. Jetzt aber hol' `ne kalte Flasche `rauf aus dem Keller, mach ein paar Büchsen auf mit den pikanten Fischchen! Nach all den Aufregungen von heute nacht hab' ich einen Geschmack im Mund, als hätt' ich vierzehn Tage lang nichts als rohe Kartoffeln gefressen…“

„Soll ich auch das hübsche Mädel einladen zu `nem Glas von dem Brausewein?“ fragte Herr Zaborowski scheinbar harmlos. „Ich zieh' das Grammophon auf, und du als Kenner kannst dein sachverständiges Urteil abgeben, ob sie wirklich was von Tanzen versteht…“

„Meinetwegen“, gab der Herr vom Bruchhofe gleichgültig zurück. „Aber schließ' vorn die Tür ab! Es ist nicht nötig, daß sich die Bauern wieder mal das Maul zerreißen, ich würd' schon am hellen Vormittag Gelage feiern!“

Da stieg der Held Zaborowski eilfertig die Kellertreppe hinab, um ein paar der silberhalsigen Flaschen heraufzuholen. Und ihm schwante, der Knecht Sareyka würde recht bald eine gut bezahlte Stellung finden, weit drüben in Polen. Aber nicht wegen des Schusses, mit dem er den Bruder des Herrn vom Bruchhofe geschreckt hatte — — —

7

Hans Baginski hatte sich bei dem Oberkellner des Hotels „Königlicher Hof“ nach einem zuverlässigen deutschen Rechtsanwalt erkundigt. Auch in diesen Stand hatten sich schon vereinzelt polnisch gesinnte Elemente gedrängt, die Gefahr lag nahe, daß er mit seinem Anliegen an einen geriet, der im feindlichen Lager stand. Der „Ober“ verwies ihn an einen Doktor Barczewski, Führer der deutschen Stadtverordneten.

Auf den Namen besann sich Hans noch von seiner Schulzeit her. Ein Barczewski hatte anderthalb Jahre vor ihm das Abiturientenexamen gemacht. Auch später hatte er ihn noch öfter gesehen, wenn er während der Universitätsferien den weißen Stürmer des alten Studentenkorps der Königsberger Balten in den Straßen des Städtchens renommierend spazieren führte oder herablassend einen „Pennäler“, der vielleicht als „Spefuchs“ in Frage kam, durch eine Ansprache auszeichnete. Wenn aus diesem deutschen Korpsstudenten der Anwalt geworden war, den der Oberkellner genannt hatte, konnte er sich ihm ruhig anvertrauen.

Die Vermutung stimmte. Schon nach kurzem Warten wurde er trotz der frühen Morgenstunde von einem noch jugendlichen Herrn empfangen, in dem er den ehemaligen Mitschüler erkannte. Und das Erkennen war gegenseitig. „Verzeihung, Herr Doktor“, sagte er, „wenn ich jetzt schon störe...“

„Was denn“, erwiderte der Anwalt jovial, „Herr Doktor? Die Mode wollen wir in Ordensburg doch nicht einführen, Wenn man sich ziemlich gleichzeitig auf derselben Penne ein paar Dutzend Hosenböden durchgescheuert hat! Aber entschuldige, wenn ich bitte, dich kurz zu fassen. Ich hab' um neun Uhr einen Termin vorm Landgericht, zu dem ich nicht zu spät kommen darf.“

„Also ganz kurz: Ich habe gegen meinen Bruder Karl in Baginsken eine Forderung von fünfzehntausend Mark. Der Rest meines Erbteiles, an erster Stelle eingetragen als Hypothek. Zurückgezahlt während der Inflation mit ungefähr achtzig Goldpfennigen. Der Antrag auf Wiederaufwertung ist von mir rechtzeitig gestellt worden, und hier sind meine Papiere. Jetzt möchte ich die Forderung verkaufen, denn ich brauche Geld.“

„Hast du dich darüber informiert“, fragte der Anwalt, „ob das Grundstück inzwischen an erster Stelle neu belastet ist?“

„Ich bin erst gestern angekommen, habe mit meinem Bruder nur eine ganz kurze Unterredung gehabt.“

„Bei der er sich natürlich geweigert hat, auch nur einen Pfennig `rauszurücken! Ich kenn' meine Bauern. Selbst wenn sie rechtskräftig verdonnert sind, machen sie den Beutel nicht eher auf, als bis ihnen der Gerichtsvollzieher den ganzen Hof mit blauen Vögeln beklebt hat. Aber die Frage, ob deine Hypothek noch immer an erster Stelle steht, werden wir gleich spitz haben...“ Er griff nach dem Telephonhörer auf dem Schreibtische, drückte auf einen Knopf und gab seinem Bürovorsteher den Auftrag, durch sofortige Anfrage beim Grundbuchamte die Belastung des dem Besitzer Karl Baginski in Baginsken gehörenden Hofes festzustellen. In der Pause bis zum Eintreffen der Antwort blätterte er in einem Aktenstück, richtete an seinen Klienten ein paar zerstreute Fragen. Wie es der Industrie ginge im Reich, denn — soweit ihm erinnerlich — sei sein ehemaliger Mitschüler Ingenieur... Hans erwiderte mit einigen Gemeinplätzen, die Unterhaltung schleppte sich hin, bis der Bürovorsteher meldete, nach Auskunft des Grundbuchamtes sei der Hof des Karl Baginski bis auf eine zur Aufwertung angemeldete Erbschaftshypothek von fünfzehntausend Mark unbelastet.

„So“, sagte der Doktor Barczewski, „dann steht deine Angelegenheit um eine Kleinigkeit günstiger, als ich zuerst gedacht hatte. Aber darf ich über deinen Bruder jetzt mal ganz frei von der Leber weg sprechen?“

„So frei wie über einen Wildfremden!“

„Na denn, er genießt hier in der Stadt keinen guten Leumund. Ich habe in meinem Beruf mit vielen Besitzern im Kreise zu tun, aber ich muß gestehen, so ein Musterexemplar von Liederjahn ist mir noch nicht vorgekommen. Mir ist glaubwürdig berichtet worden, er hat vor nicht zu langer Zeit bei einem Jahrmarkt an die Königsberger Viehhändler und andere Raubritter, die sich zu solchen Gelegenheiten einfinden... ja also, da hat er hier in einer berüchtigten Winkelkneipe sein ganzes bares Geld verspielt. Als ihm niemand mehr was borgen wollte, hat er auf einen Schlag Pferd und Wagen gesetzt. Gegen zweitausend Mark von der anderen Seite. Und als die Karte gegen ihn fiel, hat er nur gelacht, sich das Mietsauto vom Hotel bestellt, weil er nicht zu Fuß nach Hause gehen wollte. Da fürchte ich, wirst du bei einem Verkauf deiner Hypothek wenig kriegen. Jeder, den man drum angehen könnte, muß sich doch sagen, wenn dein Bruder so weiterwirtschaftet, bleibt bis zur Fälligkeit von dem Hof nur noch der blanke Acker übrig!“

„Mag sein“, erwiderte Hans, „aber das sind immerhin achthundert Morgen Land, wenn auch ein Teil davon Bruch und Torf ist. Da dürfte sich doch vielleicht jemand finden, der mir meinen Anspruch für — sagen wir mal — die Hälfte des Wertes abkauft.“

Der Anwalt machte ein bedenkliches Gesicht.

„Für die Hälfte? Das möchte ich doch nicht so als ganz sicher hinstellen. Da spricht nämlich noch etwas anderes mit. Wer sagt uns denn, ob wir hier zu der Zeit, wenn die Hypothek fällig ist, nicht schon alle polnisch sind?“

„Na, na, na, damit hat's doch wohl noch gute Wege...“

„Vielleicht“, erwiderte der Doktor Barczewski. „Vielleicht sehe ich schwärzer als andere Leute. Jedenfalls ist es mir, als machten wir jetzt schon fast ähnliche Zeiten durch wie in den letzten Jahren vor dem großen Krieg. Damals aus Angst vor den Russen, jetzt vor den Polen. Wer ein paar Groschen bares Geld hat, legt sie nicht hier in zweifelhaften Werten an, sondern schafft sie ins Reich, sucht sie dort zu verwerten.“

Der Bürovorsteher steckte den Kopf zur Tür herein: „Herr Doktor, es ist höchste Zeit für den Termin. Die dritte Kammer ist mit einem Versäumnisurteil rasch bei der Hand...“

Der Anwalt raffte ein paar auf dem Tische liegende Aktenbündel zusammen, griff nach seinem Hut.

„Also wie ist's nun, Baginski, willst du wegen des Verkaufes deiner Hypothek in einigen Tagen noch mal vorsprechen, oder soll ich dir irgendwohin Nachricht geben?“

„Ich weiß nicht, ob ich länger als heute hierbleibe...“

„Ja, so rasch ist eine schwierige Angelegenheit nicht zu deichseln. Also gib meinem Bürovorsteher deine Adresse auf. Und jetzt entschuldige mich... bei dem Termin geht's nicht bloß um einen Quark...“

Der Anwalt verabschiedete sich mit einem eiligen Händedruck. Hans Baginski teilte dem Bürovorsteher mit, Zuschriften würden ihm vom Oberamtmann Schrötter in Rakowen nachgeschickt werden, und ging in schweren Gedanken über die Worte des Rechtsanwalts zum Hotel zurück...

Im Hotel schrieb er einen wohlüberlegten Brief.

„Liebe Mutter!

Es tut mir innig leid, daß ich ohne rechten Abschied von Dir die Reise ins Ausland antreten muß. Ich hatte nicht geglaubt, daß der Haß meines Bruders so weit geht, daß er seine Knechte zu Attentaten gegen mich anstiftet. Wenn ich in der Heimat nicht einmal meines Lebens mehr sicher bin, ziehe ich's vor, die letzten Tage in Berlin zu verbringen. Wegen der Erbschaft wird Karl von meinem Anwalt Mitteilung bekommen. Von Rosario aus gebe ich nähere Nachricht. Solltest Du durch die irrsinnige Wirtschaft Deines, immer so bevorzugten, Jüngsten in Not geraten, so weißt Du wohl, daß ich nicht nachtragend bin. Ich hoffe, drüben so viel zu verdienen, daß ich für Dich sorgen kann. Auch für Anna, wenn sie das Leben an der Seite dieses schamlosen Ehebrechers satt hat. Immer mit treuen Grüßen

Dein heimatloser Sohn Hans.“

Den Umschlag schloß er ohne besondere Sorgfalt, versah ihn mit der Aufschrift: „An Wwe. Frau Auguste Baginski, nur persönlich abzugeben“, rief den Kellner.

„Herr Ober, haben Sie einen zuverlässigen deutschen Menschen, dem man einen nicht ganz einfachen Auftrag anvertrauen kann?“

„Unseren Hausdiener. Vorhin, wie Sie kamen, hat er gesagt, er kennt Sie. Er hat zusammen mit Ihnen den Krieg mitgemacht.“

„Und er heißt?“

„Wassilewski, glaub' ich. Aber hier im Hotel werden die Hausdiener nur mit Friedrich angeredet.“

„Wenn's mein früherer Gefreiter Wassilewski ist, schicken Sie ihn mir, bitte, her!“

Ein paar Minuten später nahm der Gerufene vor seinem ehemaligen Vorgesetzten die Hacken zusammen, fragte mit strahlendem Gesicht: „Herr Leutnant befehlen?“

Hans stand auf, schüttelte dem Kriegskameraden die Hand: „Ich befehle gar nichts, mein alter Wassilewski, aber ich habe ein Anliegen, zu besten Ausführung ein gewitzter und zuverlässiger Mann gehört.“

„Ich glaube, Herr Leutnant können sich da noch von früher her auf mich verlassen!“

„Habe ich mir auch gedacht. Also nehmen Sie mal erst hier diesen Brief! Wissen Sie, wo der Bruchhof in Baginsken liegt?“

„Nein, Herr Leutnant, aber ich werd' mich durchfragen.“

„Schön, dann geben Sie den Brief auf der rechten Seite des Hauses ab. Wohlverstanden, auf der rechten! Egal wem, trotz der Adresse, die drauf steht. Dann nehmen Sie das hier im Flur stehende Fahrrad und mieten in der Stadt einen Einspänner. Das Rad geben Sie in der Baginsker Gastwirtschaft ab, bitten dafür um meinen zurückgelassenen Koffer. Den bringen Sie auf dem Rückweg zum Herrn Oberamtmann Schrötter in Rakowen. Im übrigen lassen Sie sich auf keinerlei Unterhaltungen ein, Sie wissen von mir nur, daß ich mit dem Vormittagszug nach Berlin abgefahren bin, und daß Sie mir den Koffer per Eilgut nach Bahnhof Friedrichstraße nachschicken sollen. Haben Sie den ganzen Senf behalten?“

„Befehl, Herr Leutnant! Soll ich wiederholen?“

„Nicht nötig, wir haben vor jenen Jahren ja schon schwierigere Sachen gedreht. Hier sind dreißig Mark, die werden wohl für die Auslagen reichen, Sie müssen nämlich für mich auch noch das Nachtlager in dem Dorfkrug bezahlen. Und jetzt los! Hauptsache, Sie wissen von mir gar nichts, als daß ich schon abgereist bin. Im übrigen markieren Sie den Dusseligen, je dammliger, desto besser. Verstanden?“

„Befehl, Herr Leutnant!“

Der ehemalige Gefreite im Regiment Masuren machte stramm kehrt, Hans Baginski hielt endlich die Zeit für gekommen, sich ein ordentliches Frühstück zu gönnen. Seine Spur war nach menschlicher Voraussicht verwischt, er konnte in aller Ruhe an sein Werk gehen. Die Domäne Rakowen lag durch einen fast zwei Meilen breiten Waldgürtel von Baginsken getrennt, es war anzunehmen, daß er bei seinem alten Regimentskameraden Schrötter eine Weile lang unerkannt in der Verborgenheit hausen dürfte. Der einen, mit der er in Verbindung bleiben mußte, konnte er durch die Gattin seines Freundes heimliche Botschaft schicken. Er hatte ja erst gestern hier auf dem Markt gehört, daß die Frau Oberamtmann mit der Frau seines Bruders wohl noch von früher her einen freundschaftlichen Verkehr aufrechterhielt...

Eine halbe Stunde später fuhr er auf einem neu gekauften Rade zum deutschen Tor des Städtchens hinaus, machte einen weiten Umweg, um schließlich über ein Gestell des Beldahner Waldes die Rakower Chaussee zu erreichen. Ein ganzes Ende hinter der Stelle, an der sie sich von der nach Baginsken führenden abzweigte. Die Vorsicht mochte übertrieben sein, aber sicher war sicher. Der Zufall konnte es fügen, daß irgend jemand vom Bruchhofe zur Stadt fuhr, und die Begegnung hätte dann schlecht zu der Nachricht gestimmt, die er über seinen Verbleib dem Bruder hatte zukommen lassen. Nicht umsonst hatte er seinem Kriegskameraden den Auftrag erteilt, den Brief unter allen Umständen auf der rechten Seite des Hauses abzugeben. Dort wurde er mit leichter Mühe geöffnet, gelesen und, sorgfältig wieder verschlossen, der Mutter ausgehändigt. Der Zweck des einfachen Manövers aber war erreicht.

Ein leichter Wind hatte sich aufgemacht, der Morgennebel war strahlendem Sonnenschein gewichen. Nur zwischen den grauroten Stämmen der Kiefern zu beiden Seiten des Weges zogen sich noch dünne, bleiche Schleier dahin, wickelten sich dichter um krause Fichtenzweige, wenn es ab und zu im Hochwalde eine mit Jungholz bestandene Lichtung gab. Heimliche Wiesenschlenken öffneten sich mit friedlich äsendem Rehwild, kleine Seeaugen, die den blauen Frühlingshimmel widerspiegelten, blickten durch die lichtstehenden Stämme zu dem an der Berglehne entlangziehenden Wege empor. Der aber, der mit eilig tretenden Füßen und unfrohem Herzen auf der einsamen Straße dahinfuhr, hatte für die Schönheiten seiner Heimat wenig Sinn. Und hinter finster zusammengezogener Stirn wälzte er schwere Gedanken...

Wie immer nach starken Erregungen, war eine tiefe Niedergeschlagenheit über ihn gekommen. Er war kein Mann des Hasses auf lange Sicht. Und bei all seinen Entschlüssen und Plänen fiel es ihm lähmend in den Arm, daß es dabei um den eigenen Bruder ging. Der sture und robuste Bauernsinn, der selbst den nächsten Anverwandten rücksichtslos auf die Anklagebank brachte, wenn der heilige Begriff des Eigentums angetastet wurde, war ihm abhanden gekommen. Dafür hatte er zu lange unter andersartigen Menschen gelebt, war einen Bildungsweg gegangen, der ihn weitab von den einfachen Anschauungen derer geführt hatte, denen er durch Geburt und Herkunft angehörte. Wie hatte die Schwägerin von ihm gesagt? „Fliegst auf wie Pulver, und wenn dir jemand ein paar gute Worte gibt, ist alles wieder vorbei.“ Das traf nur einen Teil seines Wesens. Den anderen hatte er sich vielleicht selbst anerzogen: eine Art übertriebenen Gerechtigkeitsgefühles, das jedes Ding von zwei Seiten ansah und bei Entschlüssen, die in das Schicksal anderer eingriffen, die Beweggründe in der eigenen Brust auf ihre unanfechtbare Lauterkeit hin prüfte. Da war es ihm beim Grübeln schwer aufs Herz geschlagen: was war die letzte Triebfeder bei seinem Vorgehen gegen den Bruder? Nur das Begehren nach dem diesem gehörenden, von den Eltern rechtmäßig ererbten Hof! Alles übrige waren Ausreden und Beschönigungen...

Weit vor ihm auf der Chaussee ging eine Frauengestalt, schob neben sich mit der Rechten ein Fahrrad. Beim Näherkommen erkannte er an der eleganten Kleidung, daß es sich anscheinend um eine junge Dame handelte; vielleicht um eine Angehörige einer der Gutsbesitzerfamilien der Nachbarschaft, die mit der ganzen Unbekümmertheit dieser Landfräuleins mitten durch die nicht ganz ungefährliche masurische Waldeinsamkeit pilgerte... Eine schlanke Figur hatte die junge Dame, trug ein geschmackvolles Sportkostüm und auf blondem Haar ein Lodenhütchen mit kecker Spielhahnfeder. Auf sein warnendes Klingelzeichen blieb sie stehen, wandte sich um. Über ihr hübsches Gesicht flog ein freudiger Schimmer, sie hob die Hand. Er sprang ab: „Wünschen Sie irgendwas, mein Fräulein?“

„Ach Gott ja, Herr Baginski“, erwiderte sie, „Sie schickt mir der Himmel! Falls Sie nämlich eine Pumpe und Flickmaterial bei sich haben. Ich leichtsinniges Huhn bin ohne alles von Hause fortgefahren, erwischte natürlich unterwegs einen spitzen Nagel, und jetzt krebse ich schon fast eine Stunde zu Fuß neben meinem Rad.“

„Eine Fahrradpumpe hab' ich“, gab er erstaunt zurück, „erst vor einer Stunde neu gekauft. Aber entschuldigen Sie gütigst, woher kennen Sie mich denn?“

Die junge Dame lächelte.

„Na, denn raten Sie mal!“

„Würde wenig helfen! Ich bin schon so lange von der Heimat weg... Als ich zum letztenmal hier war, können Sie doch höchstens zehn Jahre alt gewesen sein...“

„Ich war zwar schon zwölf“, erwiderte sie mit lustigen Augen, „hatte mich zu Ihrem Besuch auch sehr fein gemacht, aber jetzt erst sehe ich richtig ein, wie sehr ich damals mit meiner Eifersucht recht hatte. Sie waren Leutnant mit einer wunderschönen Uniform und auf Urlaub zu Hause. Da sind Sie zu meinem Vater herübergekommen, auch per Rad, um ihm Ihr frisch verdientes E.K. I. zu zeigen.“

Er suchte vergebens in seinem Gedächtnis, auf das hübsche Gesicht mit den blonden Augen und einem schmalen Sattel von Sommersprossen über dem wohlgebildeten Naschen konnte er sich beim besten Willen nicht besinnen. Er hatte damals zahlreiche Besuche in der weitverzweigten bäuerlichen Verwandtschaft machen müssen, bei denen ihm allerhand halbwüchsiges Geflügel über den Weg gelaufen sein mochte.

Sie seufzte komisch auf: „So wird man von Größenwahn kuriert! Fränze Podleschny heiß ich!“

„Aber natürlich“, erwiderte er, „jetzt entsinne ich mich genau...“

„Nee“, sagte sie trocken, „Sie schwindeln! Sie hatten damals ja auch nur Augen für eine andere. Für eine, die `zufällig' am selben Nachmittag zu uns auf Besuch gekommen war. Auch per Rad, und Sie fuhren mit ihr zusammen nach Hause. Weil sie allein auf dem Weg durch den Wald Angst hatte. Ich stand tief beleidigt hinterm Zaun und sah Ihnen nach. So seht ihr aus, dachte ich, mit eurem zufälligen Zusammentreffen und der Angst! Verabredet habt ihr euch und bildet euch ein, andere Leute sind zu dumm, das zu merken!“

Über sein Gesicht zog ein Schatten.

„Auch darauf besinne ich mich nicht mehr. Es ist ja auch schon so lange her... Aber darf ich jetzt mal nach dem Schaden an Ihrem Fahrrad sehen?“

„O Gott“, sagte sie bedauernd, streckte ihm die Hand entgegen. „Ich hatte geglaubt, Sie wären schon längst darüber... und ich hab' in meiner Dummheit da an `was gerührt...“

„Ja“, ergänzte er, „was besser unbesprochen bleibt...“ Er entnahm der Tasche seines Rades die notwendigen Werkzeuge, machte sich an das Flicken und Aufpumpen des beschädigten Reifens. Und beim emsigen Arbeiten fragte er: „Jetzt erklären Sie mir mal aber, wie Sie hier auf den Weg nach Rakowen kommen! Ihr väterlicher Hof liegt doch auf der anderen Seite vom Städtchen, in Lipinsken?“

„Sehr einfach“, erwiderte sie, „ich war für einen Tag mit Urlaub zu Hause. Ich bin nämlich Kochstudent bei der Frau Oberamtmann Schrötter. Mit engstem Familienanschluß natürlich. Mein sehr ehrgeiziger Papa — meine liebe Mutti ist nämlich schon seit sechs Jahren tot, und er hat bloß meinetwegen nicht zum zweiten Male geheiratet —, ja, also, der will durchaus ein Musterexemplar sämtlicher weiblicher Tugenden aus mir machen. Da hab' ich mich durch das Ordensburger Lyzeum bis zur Selekta quälen müssen, Musik dabei und Malen, obwohl ich zu beidem noch weniger Talent hatte als zur höheren Mathematik... Wissen Sie, Herr Baginski, da hab' ich immer ein leeres Heft abgegeben. Und wenn mich das Fräulein Oberlehrer zur Rede stellte, hab' ich gesagt, tut mir leid, das ist für meinen masurischen Bauernschädel zu hoch! Hat auch gar keinen Sinn, liebes Fräulein, denn ich heirat` doch mal todsicher einen Landwirt. Glauben Sie, daß unsere Kühe dann mehr Milch geben, wenn ich sie ins Quadrat erhebe und aus dem Futter die Kubikwurzel ziehe? Da strafte sie mich mit wissenschaftlicher Verachtung, und als ich endlich dachte, jetzt bin ich die Quengelei glücklich los, werd' meinem Vater die Wirtschaft führen, da hatte ich die Rechnung leider ohne seinen Ehrgeiz gemacht. Er besteht durchaus darauf, daß ich neben der feinen Küche bei der Frau Oberamtmann auch das noch feinere Benehmen der vornehmen Kreise lerne. Für den Prinzen wahrscheinlich, der eines Tages in einer Glaskutsche ankommen wird, um ausgerechnet die Tochter des Bauern Podleschny aus Lipinsken auf sein Schloß zu führen.“ Und mit einem drolligen Seufzer fügte sie hinzu: „Auch der Frau Oberamtmann mach' ich noch vielen Kummer, daß ihr Unterricht so wenig anschlägt. Ich taper' immer noch `raus, was mir so durch den Kopf schießt...“

Bei dem unbefangenen Geplauder war es ihm warm ums Herz geworden. „Ja, wie ist das nun eigentlich?“ fragte er. „Soweit ich mich besinne, sind die Podleschny und Baginski doch Verwandtschaft?“­

„Aber natürlich“, versetzte sie eifrig, „sogar sehr nahe Verwandtschaft! Meine Urgroßmutter war eine Rasum aus Dlugossen und deren Tante eine Baginski vom Bruchhofe. Aber ich weiß jetzt nicht recht, sind wir Onkel und Nichte oder umgekehrt Tante und Neffe oder bloß Kusin und Kusine?“

Hans Baginski mußte herzlich auflachen.

„Ich glaube, das rechnen wir besser mal bei Gelegenheit in aller Ruhe aus. Für heut genügt es wohl, wenn Sie mir nach altmasurischer Sitte erlauben, du auf Sie zu sagen!“

„O Gott“, erwiderte sie mit schalkhafter Bescheidenheit, „welche Ehre! Ich hätte ja gleich von vornherein vorn Recht der Verwandtschaft Gebrauch gemacht, aber wie predigt die Frau Oberamtmann immer? `Mehr Zurückhaltung, Fräulein Fränze!' In unserem Falle aber hatte auch ich gewisse Bedenken. Wenn jemand Oberingenieur geworden ist und auf seine Visitenkarte schreiben darf: Leutnant der Reserve im Regiment Masuren?...“

„Der Leutnant der Reserve gilt nichts mehr“, gab er zurück, „und der Oberingenieur ist fast noch weniger wert, denn er ist stellungslos. Aber jetzt, scheint mir, der Schaden ist geheilt — wir können wieder losfahren nach Rakowen!“

„Was, Sie... oder vielmehr, du auch?“

„Mein alter Regimentskamerad hat mich eingeladen. Wie lange ich bleiben muß oder darf, weiß ich noch nicht. Ich habe hier in der Heimat verschiedenes zu erledigen.“

„Wenn's auf die beiden prächtigen Menschen ankommt, den Oberamtmann und seine Frau, werden sie dich noch nicht mal nach'm halben Jahr fragen: `Herr Baginski, wie lange gedenken Sie noch bei uns zu bleiben?' Sie sind ja so gastfrei… zwei aus Polen vertriebene deutsche Ansiedlerfamilien beherbergen sie schon seit Monaten, trotzdem sie selbst es doch nicht allzu dick haben... Und es wär' wundervoll, wenn du wenigstens ein paar Wochen bleiben würdest! Außer mir ist ja noch ein Kochstudent da, Malchen Schneidereit aus der Pillkaller Gegend. Aber um neun Uhr abends setzt sich der Oberamtmann über seine Wirtschaftsbücher, die Frau geht schlafen, weil sie vom vielen Herumhantieren müde ist — sie ist ja auch nur ein zarter, kleiner Spatz, hat in elf Jahren sechs Kinder gekriegt — ja, und ich kletter' mit dem Malchen in unser Mädchenstübchen `rauf. Zum Auswachsen ist das, denn dann öffnet sie die Schleusen ihrer Beredsamkeit und erzählt und erzählt und erzählt! Wovon? Von dem Herrlichsten von allen, ihrem Bräutigam. Malen könnte ich den Kerl, so oft hat sie ihn mir schon beschrieben! Und den Roman, der — man denke: wie ungewöhnlich und romantisch! — mit einem Vielliebchen angefangen hat, bis er mit einem richtigen Kniefall im schwiegerväterlichen Kuhstall zum vorläufigen Abschluß gekommen ist, könnte ich auf Verlangen von rückwärts aufsagen. Besonders rührend ist es, wenn das Malchen erzählt, wie sie nach dem beseligenden ersten Kusse ihre Lieblingskuh um den Hals genommen hat: `Nicht wahr, Buntchen, du erzählst keinem Menschen, was du eben gesehen hast?' Die Verlobung soll nämlich noch ein `Weilutschchen' heimlich bleiben... Zum Aufdiewändeklettern ist das! Namentlich, wenn man selbst noch keinen hat. Aber ich will nichts verleben. Vielleicht, wenn ich erst meinen Kellmigkeit hab', daß ich dann auch im Pillkaller `Dialäckt' deklamiere: `Seeit ich ihn chesehen, glaaub' ich blind zu seein…“

So ging ihr Plappermäulchen, während sie auf der ebenen Straße Rad an Rad gemächlich dahinfuhren. Erst als sie aus dem Walde auf freies Feld kamen, schwieg sie ein Teilchen. Als aber hinter einer Berglehne die Turmspitze des vor der Domäne liegenden Kirchdorfes Rakowen herübergrüßte, gab sie sich eine Art von Ruck, atmete tief auf.

„Ich kann mir nicht helfen; ich muß noch mal von dem anfangen, wovon wir zuerst gesprochen haben. Ich weiß nicht, ob wir später noch dazu kommen, und mir vergeht sonst der Wuchs, oder es drückt mir das Herz ab...“

„Um Gottes willen“, erwiderte er lächelnd, „die Verantwortung für so ein Unglück möchte ich doch nicht übernehmen .“

„Na denn... aber du mußt ein bißchen Nachsicht haben, weil... also das alles ist nicht so einfach, gerade für mich nicht, und ich mochte um alles in der Welt nicht, daß du...“ Sie brach ab, wurde rot, und es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie freier fortfuhr: „Also ist dir bekannt, daß bei euch im Baginsker Bruch mit der Torfstechmaschine ein — wie sagt man da gleich? — also ein prähistorischer Mensch ausgegraben worden ist?“

„Keine Ahnung! Wann soll das denn gewesen sein?“

„Kurz vor dem furchtbaren Unglück mit Annas Kind. Von der Leiche kamen nur ein paar Stücke an die Oberfläche, so wie die Maschine sie abgeschnitten hatte, sie sollen auch schon fast vertorft gewesen sein, aber eine Hand war noch deutlich zu erkennen, auch Stücke von einem groben Gewebe, die an der Luft wie Zunder zerfielen. Dein Bruder Karl ließ die Kaule sofort wieder zuschütten, verbot auch den Arbeitern, darüber zu sprechen, aber die hielten natürlich nicht dicht, und da kam wieder das Gerede auf von dem Fluch, der auf dem Bruchhof liegen soll. Keine Frau wär' dort bisher glücklich geworden, entweder hätte es mit dem Mann ein Unglück gegeben oder mit den Kindern. Und wo jetzt die Bruchmahr aus ihrer Ruhe gestört wär', würde es wieder losgehen mit dem Fluch... Da könnte es einen fast gruseln, wie buchstäblich er in Erfüllung gegangen ist. Die Anna ertränkt in einem Ohnmachtsanfall ihr eigenes Kind... ich war bei dem Begräbnis. Der Baginsker Pfarrer hielt eine so rührende Predigt, daß ich aus dem Heulen nicht `rauskam. Mit dem Titel der berühmten Stormschen Novelle fing er an, `Aquis submersus`, und die hatte ich gerade kurz vorher gelesen... also ich war fassungslos! Drei Tage später muß die arme Mutter in die Heilanstalt gebracht werden; wie sie nach einem Jahr wieder `rauskommt, hat sich ihr Mann anderweitig versorgt! Zum Skandal der ganzen Gegend, aber es scheint, er ist so abgebrüht, daß er sich nichts daraus macht. Alles in der Verwandtschaft hat sich darüber gewundert, daß die Anna sich nicht scheiden ließ, auch ich hab' sie mal daraufhin gestellt, sie sagte aber nur ganz kurz: `Du als junges Mädchen verstehst so `was nicht!' Ich fand das lächerlich, denn wir sind heutzutage doch bedeutend aufgeklärter als unsere Großmütter in unserem Alter. Ganz abgesehen davon, daß ich todsicher davon überzeugt bin, auch die taten nur so, namentlich, wenn sie auf dem Land aufgewachsen waren. Es gehörte eben damals zum guten Ton, den Schürzenzipfel in den Mund zu nehmen und rot zu werden, wenn in der Unterhaltung der Älteren mal ein verfängliches Wort fiel...

Also gestern treffe ich die Anna auf dem Markt, erzähl' ihr, ich hätte dich kurz vorher gesehen, natürlich, ohne von dir überhaupt nur beachtet zu werden! Ich war sehr erschrocken, wie elend sie geworden war, denn wir hatten uns monatelang nicht getroffen, aber da bekam sie mit einem Male Farbe ins Gesicht, wäre mir vor Freude unter allen fremden Menschen fast um den Hals gefallen. Und gleich darauf rannte sie weiter, dich zu suchen…“

„Und was folgt daraus?“ fragte er, trotzdem er ganz genau fühlte, worauf die ganze Erzählung hinaussollte...

Sie sah ihn verdutzt an: „Wieso? Was heißt das: was folgt daraus?“ Und nach einer kleinen Pause fuhr sie in einer Art von Trotz fort: „Das ist doch in der ganzen Verwandtschaft bekannt, weshalb du nicht geheiratet hast! Manche haben darüber gelacht, ich nicht. Ich bin nicht überspannt, weiß Gott nicht, aber ich kann es verstehen, daß man von gewissen Dingen sein ganzes Leben lang nicht loskommt. Und weil du vorhin selbst gesagt hast, du hättest hier zu Hause verschiedenes zu erledigen, und weil du dazu nicht auf dem Bruchhof Quartier genommen hast, also da dachte ich mir... ja, da dachte ich mir, die arme Anna wird sich endlich scheiden lassen und das Glück finden, das sie schon einmal von sich…“ Sie brach ab, wurde rot bis hinter die kleinen Ohren, tat so, als wenn auf dem Wege ihrem Rade etwas in die Quere gekommen wäre, dem sie im Bogen ausweichen müßte. Auch ihr Begleiter fuhr schweigend dahin. Was sollte er dem Mädel da antworten? Etwa, daß zwischen ihm und der Frau seines Bruders gestern von allem anderen die Rede gewesen sei, nur nicht von einem Liebesbund für die Zukunft? Oder daß ihm ein schwarzer Wurm über das Köstlichste gekrochen sei, was er von Jugendzeiten her im Herzen bewahrte: den Glauben, daß seine heimlich Verlobte ihm die Treue gehalten hätte, wenn sie nicht durch die bittere Not ihrer Allernächsten gezwungen worden wäre, den reicheren Bewerber zu heiraten...? Vielleicht, wenn er nicht ein so miserabler Frauenkenner gewesen wäre, daß ihm eine Ahnung gedämmert hätte, daß auch das liebreizende Mädel da an seiner Seite eine Jugenderinnerung hatte, von der es nicht loskam... Aber da er fühlte, daß es doch nicht anginge, die ganze Auseinandersetzung mit hartnäckigem Schweigen zu beenden, erwiderte er schließlich: „Der Fluch, der angeblich auf dem Bruchhof liegen soll, erfüllt sich vielleicht noch anders. Es kann sein, daß einer, der auf unseren alten Namen bisher nichts als Schande gebracht hat, sich ganz von selbst das Genick bricht, auch ohne die in ihrer Ruhe gestörte Bruchmahr. Alles übrige aber, was man sich über meine Heimkehr zusammen phantasieren mag, ist aufgelegter Unsinn. Ich bin ein stellungsloser armer Teufel, der Not hat, sich selbst zu ernähren, geschweige denn noch dazu eine Frau. Ich bin nach Hause gekommen, um mich mit meinem Bruder Karl über mein Erbteil auseinanderzusetzen. Er zahlt natürlich nicht, und da habe ich heute früh den Versuch gemacht, in der Stadt meine Forderung zu verkaufen. Der Rechtsanwalt aber, bei dem ich war, machte mir herzlich schlechte Aussichten. Da werde ich also wohl bald nach Berlin zurückfahren müssen, um wieder auf die Suche nach einer Stellung zu gehen...“

Diese Antwort schien Fräulein Fränze merkwürdigerweise sehr zu befriedigen. Sie atmete tief auf und bemerkte: „Das wär' ja noch schöner, wenn ein Baginski in Berlin stellungslos `rumlaufen müßte! Da gibt es doch noch Leute, die helfen könnten. Zum Beispiel den lieben alten Bauer in Lipinsken. Aber der will genommen sein! Wenn du zu ihm kämst, würde er stöhnen, er hätte nicht den Tag zu leben. Aber wenn ich mich ihm auf den Schoß setz', ihm am Kinn krabbel' und sag': Komm her, alter Pappusch, wir wollen jetzt mal nachsehen, was in der großen Eisenkiste unter deinem Bett alles drin ist...“

„Da sei Gott vor“, erwiderte er, „daß ich auf eine so unsichere Sache hin dein Erbteil...“ Aber er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Sie waren in die Dorfstraße eingefahren, in allen Gehöften bellten die Hunde, rissen an den Ketten oder sprangen kläffend gegen die Zäune...

***

Der Oberamtmann Schrötter stand in dem weiten, von massiven Scheunen eingerahmten Viereck des Domänenhofes neben dem Fohlenauslauf, beaufsichtigte seinen Kutscher, der einen jungen Trakehnerhengst mit Peitsche und langer Leine trainierte, damit er beim Traben die Vorderhand schlanker und bester herausbekäme. Als er den schon ungeduldig erwarteten Gast mit einem der Kochstudenten seiner Frau zu Rade durchs Tor kommen sah, ging er den beiden entgegen. Und er wunderte sich nicht wenig, daß Fräulein Fränze Podleschny sich von ihrem Begleiter mit kräftigem Händedruck und einem „Auf Wiedersehen, Hans“ verabschiedete. Da lachte er nach der Begrüßung herzlich auf: „So ist's richtig! Heute früh zerbricht sich meine Frau noch mit mir den Kopf, wie wir Sie am besten mit dem kleinen Goldfisch da zusammenbringen, und jetzt duzen Sie sich schon mit ihm?“

„Masurische Verwandtschaft“, erwiderte Hans, „aber ich möchte doch sagen...“

Der Oberamtmann schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung die Rede ab.

„Das denn? Hat sie Ihnen nicht gefallen? Ich bin ein alter Ehekrüppel, aber auch mir geht das Herz auf, wenn sie in ihrer drolligen Art kleine Unglaublichkeiten produziert, manchmal auch sehr verständige Sachen. Und ich sag' meiner Frau immer: Dokter an dem prächtigen Mädel nicht zu sehr herum, schneid' nicht zu viel von dem weg, was jetzt wie Wildholz aussieht! Auch das setzt bei der später mal Frucht an…“

„Glaub' ich, lieber Schrötter, aber ich möchte doch bemerken…“

Der Oberamtmann pflanzte seine stämmige Gestalt vor dem Gaste auf, der ihn gut um eine Kopflänge überragte, und faßte ihn beim Rockknopf.

„Bemerken Sie mal `ne ganze Weile lang gar nichts, sondern hören Sie einem verständigen Menschen ruhig zu! Also Ihre sogenannte Herzensgeschichte kenn' ich. Den ersten Teil von Ihnen selbst, den zweiten von meiner Frau. Besinnen Sie sich noch auf die Nacht, wo wir im Morast der Podlesie lagen, fürs erste Morgengrauen den Angriff der Russen erwarteten? Und uns mehr voreinander ausschlossen, als unter gewöhnlichen Umständen zwischen Männern üblich? Da sagte ich Ihnen schon damals: Sie sind ein Wolkenschieber, mein lieber Baginski, und das alles ist sehr ideal gedacht, aber ein frischer junger Kerl, der vorwärts will, soll sich nicht mit überflüssigem Gefühlsballast den Sinn beschweren. Daß Sie meinem guten Rate — fast möchte ich sagen — natürlich nicht gefolgt sind, weiß ich von meiner Frau. Sie ist eine geborene Danielski aus Widminnen, auch Pastorstochter. Auf der Ordensburger höheren Töchterschule hat sie mit Ihrer Schwägerin Freundschaft geschlossen, ist ihre Vertraute geblieben bis auf den heutigen Tag. Sie hat alles getreulich mit ihr durchgemacht, war Gast bei der Hochzeit, hat den kleinen Jungen über die Taufe gehalten, der kurz danach so trostlos verunglückte, hat die Anna Lehnert in der Irrenanstalt gesehen, fährt noch jetzt manchmal nach Baginsken hinüber, trotzdem sie von jedem dieser Besuche immer wie zerschlagen vor Aufregung nach Hause zurückkommt. Heute früh, als ich erzählte, ich hätte Sie nach langer Zeit auf dem Ordensburger Jahrmarkt getroffen und zu uns eingeladen, haben wir den ganzen Fall noch einmal durchgesprochen.“

„Lieber Schrötter“, erwiderte Hans gequält, „wenn Sie wüßten, wie furchtbar mir das alles ist! Ich hab' erst gestern das ganze Elend auf dem Bruchhofe mit eigenen Augen gesehen…“

Der Domänenpächter schüttelte hartnäckig den Kopf.

„Nee, mein Lieber! Wenn ich mir mal was vorgenommen hab', mache ich keine halbe Arbeit. Ich selbst versteh' von diesen psychologischen oder psychopathischen Finessen nicht die Bohne, aber meine Frau hat es mir erklärt. Ihre Schwägerin ist wohl so ziemlich das Hysterischste, was man sich vorstellen kann. Einmal entwickelt sie vor meiner Frau die wildesten Pläne gegen ihren Mann und seine Konkubine, und bei einem anderen Besuch jammert sie, wenn er sie noch einmal zur Mutter machen würde, wäre alles wieder gut. Da kann man Mitleid haben, aber helfen ist ausgeschlossen. Und jetzt kommen Sie, ich werde Ihnen zeigen, wofür ich mich plage, um bei jedem Jahresabschluß immer tiefer in Schulden drinzusitzen. Dabei können Sie verarbeiten, was ich Ihnen gesagt habe, und nach dem Mittagessen sprechen wir weiter...“

Der Oberamtmann Schrötter führte seinen Gast durch die Ställe mit auserlesenem Milchvieh Holländer Abstammung, an den vollbesetzten Schweinebuchten vorbei und bewies ihm mit unanfechtbaren Zahlen, wie die ostpreußische Landwirtschaft unweigerlich Bankerott machen müsse. Bei den unerträglichen Verhältnissen, die durch den Polnischen Korridor geschaffen worden seien, müßten trotz allem Fleiß und trotz modernster, intensivster Betriebsführung die Unkosten immer höher bleiben als der höchstmögliche Gewinn. Hans Baginski aber hörte ihm nur mit halbem Ohre zu. Was hieß das, er solle verarbeiten, was er soeben gehört habe? Er selbst wußte am besten, was ihn von der Jugendliebe schied. Da kam kein Mann drüber weg... Aber fast wie ein Schreck überfiel es ihn: wann hatte er in diesen letzten Stunden an die Unglückliche auf dem Bruchhofe gedacht...? Erst wieder, als die andern von ihr zu sprechen anfingen — — —

8

Nach dem frugalen Mittagessen, das zu Ehren des Besuches durch eine von den beiden Kochstudenten hergestellte süße Nachspeise einen üppigeren Abschluß gefunden hatte als sonst, führte der Oberamtmann seinen Gast in das Herrenzimmer. Und als dieser die kapitalen Rehgehörne und Hirschgeweihe, die in dem behaglichen Raume neben einigen Jagd- und Sportbildern fast die ganzen Wände einnahmen, gebührend und sachverständig bewunderte, bemerkte er grimmig: „Mein bester Hirsch hängt leider woanders an einer Wand! Bei einem infamen Kerl von Wilddieb! Sie als Jäger werden mir's nachfühlen, daß mich noch heute die Wut packt, wenn ich bloß daran denke...!“

Er stellte sich vor seinem Gaste auf, reckte beide Arme nach oben: „So ein Geweih, Baginski, das heißt, nach der Dicke gerechnet, und fast doppelt so hoch als meine Arme reichen! Ein klobiger Vierzehnender, wie ihn Ostpreußen vielleicht seit fünfzig Jahren nicht hervorgebracht hat. Dabei von einer Regelmäßigkeit der Stangen- und Endenbildung, als hätte ihn ein Drechsler mit Winkelmaß und Zirkel gearbeitet... Zweimal hatte ich ihn in der Feistzeit auf hundert Schritt vor mir, und ich kann Ihnen die Versicherung geben, es hat beide Male einen harten Kampf gekostet, bis in meinem alten Jägerherzen der Weidmann und Heger über den habgierigen Schießer siegte. Aber ich hätte mich ja vor mir selbst und meiner ganzen weidgerechten Nachbarschaft versündigt, wenn ich den Kapitalen vor der Brunft auf die Decke gelegt hätte! So ein Kerl wie der trieb sich doch ein Nudel von mindestens zwölf Stück Mutterwild zusammen, es mußte eine Nachzucht geben, daß einem das Herz im Leibe lachte. Und er stand vollkommen sicher bei mir in einer Kiefernschonung, wechselte von dort über ein kleines Bruch mit Suhlen in meinen Hafer, später in die Kartoffeln. Mit meinen beiden Grenznachbarn aber, dem Herrn von Brinckenwurff in Orlowen und dem Forstmeister Eilers in Neuendorf, hatte ich mich geeinigt. Wenn der Hirsch sich zur Brunft etwa umstellte, sollte er feierlich ausgeknobelt werden. Egal, in welchem Revier er stand — wer von uns dreien ihn gewann, durfte ihn umlegen, zehn Tage nach dem ersten Schrei. Aber es kam anders. Anfang September mußte ich eine halbe Woche verreisen, am Morgen nach meiner Heimkehr reit' ich in den Betrieb und spür' dabei so nebenher meine Feldkante ab. Am Abend vorher hatte es eine halbe Stunde geregnet, die Wildfährten standen in dem feuchten Boden so klar wie in Siegellack abgedrückt. Allerhand Kroppzeug ist zu spüren, auch ein paar mir natürlich schon längst bekannte Hirsche dazwischen, mein Vierzehnender fehlt! Ich sag': `Nanu, zum Donnerwetter!' kehr' um und spüre ganz sorgfältig — mein Hirsch ist weg! Ich stelle meinen alten Förster, er kratzt sich den Kopf, weiß von nichts. Ich hätte ihm ja auch verboten, dem Kapitalen allzu oft über den Wechsel zu laufen. Ich telephoniere Orlowen und Neuendorf an, mittags krieg' ich die Meldungen zurück, die ganze Jägerei wär' unterwegs gewesen, von dem Vierzehnender nichts zu spüren! Da machte ich mich mit aller Vorsicht daran, die Suhlen in dem kleinen Bruch abzusuchen. Es konnte ja auch sein, daß der Hirsch vor dem Austreten irgendwas übelgenommen, sich für die eine Nacht mit Heidekrautäsung begnügt hatte. An einer kleinen Birke fand ich die Bescherung: eine Unmasse Haar und — leicht eingebuddelt — vier abgehackte Läufe mit dem Kopf, natürlich ohne Geweih. Mich würgte der Zorn fast ab, aber was sollte ich machen? Meinem Beamten den Kopf abreißen, weil er von dem Wilddieb nicht mal den Schuß gehört hatte? Der Mann ist siebzig Jahre alt, ich hab' ihn pensioniert, ihm einen schneidigen jungen Nachfolger gegeben, der sozusagen Tag und Nacht im Revier liegt. Seit der Zeit ist bei mir alles ruhig geblieben, nur in Orlowen hat der Wilddieb sich im Laufe des Winters noch einen, beim Forstmeister Eilers aber sogar zwei gute Hirsche geholt.“

Hans hätte seinen Gastfreund aufklären können, wo das Geweih des Vierzehnenders hängen mochte, aber mit dem Schuldigen gab es wohl bald eine Abrechnung, die um mehr ging als einen gewilderten Hirsch...

„Hat man denn keine Vermutung“, fragte er, „wer der Wilddieb sein mag?“

„Vermutungen genug, bloß noch keine Gewißheit. Ein Kerl, wie eine Katze so schlau, aber er muß noch einen Helfershelfer haben. Einen Burschen, der ihm Kundschafterdienste leistet, der ihm Nachricht zuträgt, an welchen Tagen ein Revier ohne Aufsicht ist, der Belaufsbeamte etwa für kurze Zeit beurlaubt ist oder in der Stadt dienstlich zu tun hat. Ich tippe auf irgendeinen unserer Großbauern in der Umgegend, denn dem Masuren steckt das Wildern im Blut. Und ich bin geduldig. Je mehr Erfolge so ein Kerl hat, desto verwegener und frecher wird er. Eines Tages ereilt ihn sein Schicksal. Nicht lange mehr, und unsere besten Rehböcke haben gefegt. Ich hab' sogar einen ganz kapitalen, der sein vorjähriges Gehörn überhaupt nicht abgeworfen hat, wahrscheinlich wegen irgendeiner leichten Verletzung. Odds möchte ich darauf legen, unser Wilddieb kennt ihn ebensogut wie ich und läuft bei ihm an. Er soll einen warmen Empfang finden, denn mein junger Förster schießt eine saubere Kugel, und ich hab' ihn zweckentsprechend ausgerüstet. Pferd, Gewehr und Frau soll man nach dem alten Sprichwort eigentlich nicht verborgen, aber ihm hab' ich meine Siebenmillimeterbüchse anvertraut, mit Fernrohr. Sie schießt selbst in tiefer Dämmerung auf zweihundert Meter Fleck!“

So schloß der Oberamtmann mit ingrimmiger Vorfreude, seinem Gast liefen die Frieseln über den Nacken... Vielleicht aber war es die beste Lösung, wenn der Jüngere unter der Kugel eines Forstbeamten das Wildererende fand. Auch alles andere wurde dann mit ihm sechs Fuß tief unter der Erde begraben, was beim Ruchbarwerden den fleckenlosen Namen des alten Bauerngeschlechts mit unauslöschlicher Schande bedecken mußte...

Fräulein Fränze Podleschny erschien mit einem Kaffeegeschirr aus feinem Porzellan, schenkte zwei Täßchen voll und wollte sich nach einem „Wohl bekomm's“ mit einem Knicks entfernen. Der Oberamtmann hielt sie zurück.

„Studentlein“, sagte er, „Sie haben mir ja noch gar nicht erzählt, wie es dem alten Papa in Lipinsken geht!“

„Ach Gott, Herr Oberamtmann“, erwiderte sie mit einem neuen Knicks, „er läßt natürlich schön grüßen und ist wieder Mal in großer Sorge. Wegen seiner Eisenkiste. Ein aus der Gegend von Kolno vertriebener deutscher Ansiedler hat ihm Angst gemacht. Die Polen hetzten gegen uns, daß es schon gar nicht mehr schön wär'. In Versammlungen behaupten sie, Deutschland beabsichtige, ihnen den Krieg zu erklären, und die wenigen Deutschen, die noch drüben bleiben müssen, weil sie ihre paar Pfennige Ablösung nicht gekriegt haben, getrauen sich kaum, sich bei Tag auf der Straße sehen zu lassen. Da wollte mein lieber guter Alter mich gestern schon gar nicht mehr fortlassen, mit mir nach Berlin abdampfen. Und ich sollte Sie fragen, ob er sein Geld auch richtig wieberbekäm', wenn er's in Ordensburg auf die Sparkasse bringen würde mit der Anweisung, es ihm bei der Berliner Sparkasse in bar auszuzahlen.“

Der Oberamtmann nötigte sich ein Lächeln ab.

„Schreiben Sie Ihrem Papa, ich ließ' ihn schön grüßen, und er müßte nun doch auch schon allmählich daran gewöhnt sein, daß drüben von unverantwortlichen Hetzern die sogenannte Volksseele dauernd im Kochen gehalten wird, aber bis der Kessel überläuft, hat's wohl noch gute Wege. Ich komme in den nächsten Wochen mal zu ihm `rüber, werde ihm ganz genau sagen, wie er's mit diesen vertrackten Bankgeschichten anfangen soll, damit Ihre Mitgift nicht verplempert wird.“

„Heißen Dank“, erwiderte Fränze, „aber Sie täten mir einen großen Gefallen, wenn Sie ihm das recht bald auseinandersetzen wollten. Der gute Alte kriegt es sonst fertig, mich am Schlafittchen zu nehmen und mit mir vierter Klasse nach Berlin abzufahren. Weil er sich dabei auf seine geliebte Kiste `raufsetzen könnte.“

Sie ging lachend hinaus, der Oberamtmann sah ihr wohlgefällig nach.

„Ein Prachtmädel, wie es dem lieben Gott nur alle Jubeljahre einmal gelingt! Und der Papa? Einer von unseren wenigen `Strumpfbauern`, wie ich sie immer nenne. Seit Generationen bienenfleißig und sparsam, aber mißtrauisch gegen alle modernen Einrichtungen wie Banken oder ähnliche Kreditinstitute. Auch kein Papiergeld in die Hand, sondern nur blankes Gold, und das, fein säuberlich in Muckers baumwollenen Strümpfen in die schwere Eisenkiste unterm Bett. Und diese Kiste hatte der alte Podleschny in stichdunkler Nacht mitten in seinem Acker eingebuddelt, als wir im Sommer vor den Russen ausrücken mußten. Da hat er in der Flüchtlingszeit in Berlin vor Angst Blut und Wasser geschwitzt, wenn er daran dachte, einer dieser vertrackten Schützengräben könnte ausgerechnet über seinem Schatz angelegt worden sein! Und nach der Heimkehr ging die Angst erst recht los, weil die Richtlinien nicht mehr da waren, den Kirchturm hatten die Russen eingeschossen, die beiden Scheunen waren abgebrannt. Da hat der alte Podleschny vier Wochen lang mit seiner Frau gegraben, die ganze Umgegend machte sich schon darüber lustig, zuletzt aber hat der Bauer gelacht. Er fand seine Eisenkiste wieder, und, als er den Spaten `runterschob, um sie anzuwuchten, stieß er auf Holz. Bei einem Stein hätte er sich nicht gewundert, denn davon haben wir in Masuren bekanntlich so viele im Acker, daß wir eine Straße um die Welt damit pflastern könnten. Da grub er weiter und fand — was? Einen Riesenkasten aus Eichenholz mit Silbergeschirr und Geld aus der Ordenszeit. Einen Teil hatte er abliefern müssen an das Museum in Königsberg, den Rest hat er teuer verkauft. Wenn einer Glück haben soll, ferkeln ihm die Kühe, bringen statt einem zehn Kälber, wie eine alte Muttersau. Fräulein Fränze aber hat schon mit ihrem sechzehnten Jahr anfangen müssen, Körbe auszuteilen. Wie glaubhaft versichert wird, selbst an einige junge Herren aus unseren ersten Familien. Die waren mit einem Male sehr leutselig geworden, sollen bereit gewesen sein, neben dem hübschen Mädel und der Eisenkiste auch den alten masurischen Bauer mit in Kauf zu nehmen, der wochentags noch in Holzpantinen über seinen Hof geht. Aber die Tochter hat bis jetzt immer abgewinkt. Sie meint wohl, nicht mit Unrecht, nach der Hochzeit würde so ein vornehmer junger Herr versuchen, seinem Schwiegerpapa Lackstiebel anzuziehen und ihn im Weigerungsfalle ganz abzuschaffen.“

Hans Baginski mußte unwillkürlich auflachen.

„Lieber Schrötter, Sie haben mir ja schon gleich bei der Begrüßung gesagt, Sie hätten mit Ihrer Frau Gemahlin die freundliche Absicht, sich an der jungen Dame und mir einen Kuppelpelz zu verdienen!“

Der Oberamtmann tat erstaunt.

„So, habe ich das? Na schon, es gibt gewisse Dinge, die man gar nicht oft genug sagen kann, namentlich, wenn der andere ein bißchen schwer von Begriff zu sein scheint. Aber jetzt wollen wir uns mal ansehen, was mir — wie es manchmal in den Zeitungen heißt — ein günstiger Wind auf den Redaktionstisch geweht hat.“ Er holte aus dem in der Ecke stehenden Geldschranke ein ganzes Bündel von Papieren, fragte schmunzelnd: „Was würden Sie darum geben, Baginski, wenn der oberschlesische Spitzel, der Ihnen gestern leider entwischt ist, doch noch seine gehörige Tracht Prügel gekriegt hätte?“

„Ich würde maßlos bedauern, nicht dabei gewesen zu sein.“

„Beruhigen Sie sich, ich glaube, Ihr Stellvertreter ist mit ihm auch nicht gerade sänftiglich umgegangen! Besinnen Sie sich, daß ich Ihnen gestern sagte, mir wär' die Anwesenheit verschiedener verdächtiger Persönlichkeiten aus der Allenberger Gegend unter den Marktbesuchern aufgefallen?“

„Allerdings! Aber ich bin jetzt so lange von der Heimat fort, daß ich mir von der Art dieser Leute keine Vorstellung machen kann.“

„Kann ich verstehen. Das ist's ja, daß man anderswo keine Ahnung davon hat, was sich seit Jahr und Tag hier abspielt, was für ein unterirdischer Kampf um die Seelen und um die Scholle mit allen erlaubten und weniger erlaubten Mitteln geführt wird. Das klingt ja alles furchtbar harmlos: `Masurenbund', `Masuren den Masuren!' Masuren sind wir alle, warum sollen wir da nicht auch einen `Bund' gründen? Und `Masuren den Masuren?' Ganz recht, aber was steckt hinter der schönen Firma und ihrem noch schöneren Aushängeschild? Das soll besagen, ausschließlich masurische Richter, Verwaltungsbeamte und masurische Unterrichtssprache in den Schulen. Das soll in Wirklichkeit heißen, aus den deutschen Masuren eine polnische Minderheit im fremden Volk, nämlich im deutschen Volk, zu machen. Gut, sag' ich, diese Ziele sind bekannt, und man kann sie bekämpfen. Aber wie mit den verborgenen Methoden und Systemen fertig werden, die die in alter Verschwörerpraxis großgewordenen Geheimorganisationen zu finden wissen? Wo sie nie klar ausgesprochene und doch mit Händen zu greifende Zwecke verfolgen? Die Leute, die nicht sehen wollen, berufen sich immer auf die glorreiche Abstimmung von 1920, wo sich ganz Masuren wie ein Mann zum Deutschtum bekannt hat. Sie übersehen dabei nur, daß Masuren seit damals eine Zeit wirtschaftlicher Not durchgemacht hat, von der die Not im Reiche nur ein schwacher Abglanz ist. Und daß auch die Vaterlandsliebe zum Teil durch den Magen geht. Wer will es da einem kleinen masurischen Bäuerlein verdenken, wenn es in höchster Not zu einer der polnischen Darlehnskassen schleicht und dort einen Wechsel querschreibt? Zugleich mit der Verpflichtung, bei der nächsten Wahl für den polnischen Kandidaten zu stimmen oder beim Vorhandensein der durch Gesetz vorgeschriebenen Mindestzahl von Kindern in einem Dorfe den Antrag auf Einrichtung einer polnischen Schulklasse zu unterzeichnen? Unsere Behörden unterschätzen auch diese Gefahr, sie taxieren die Wirksamkeit der polnischen Banken nur nach den Eintragungen von Hypotheken bei den Grundbuchämtern. Wenn man so was hört, könnte man geradezu verzweifeln! Als wenn es keine Verträge vor polnischen Notaren gäbe, bei denen das Bauerchen sich — vorbehaltlich späterer Eintragung — verpflichten muß, die erste Stelle in seinem Grundbuche offenzuhalten...?!“

Der Oberamtmann Schrötter steckte sich in sichtlicher Erregung seine beim Sprechen ausgegangene Zigarre wieder an: „Und diese Geheimorganisationen arbeiten jetzt seit Jahren an der unterirdischen Eroberung Ostpreußens. Ganz natürlich von ihrem Standpunkt aus, denn wir haben alles, was ihnen fehlt. Vor allem den nach modernsten Anforderungen ausgebauten Hafen von Königsberg. Der soll ihnen wie eine reife Frucht in den Schoß fallen, wenn Landwirtschaft, Handel und Industrie bei uns durch den Korridor so zermürbt sind, daß sie sich wie Insassen einer ausgehungerten Festung auf Gnade oder Ungnade ergeben...“

„Aber um endlich wieder auf Ihren `Oberschlesier' zurückzukommen — also ich laufe sofort nach Ihrem mißglückten Zusammenstoß zu unserem öberschten Polizeigewaltigen: `Herr Bürgermeister, die gleichzeitige Anwesenheit eines polnischen Geheimagenten und verschiedener, von mir persönlich festgestellter verdächtiger Elemente aus der Allenberger Gegend läßt darauf schließen, daß hier bei uns heute eine höchst wichtige Versammlung stattfinden soll. Wenn wir also etwa um zehn Uhr abends den Palazzo des Herrn Zapietznik umstellen und die im Hinterzimmer tagenden Herrschaften ausheben, kriegen wir mit Sicherheit einige sehr interessante Papiere in die Hand...!`“

„Der alte Herr faßt sich an den Kopf: `Um Himmels willen, Herr Oberamtmann, zu einem solchen Vorgehen fehlt mir nach deutschem Gesetz doch jede Handhabe...!'“

„Der einzige Erfolg meines Vorschlages war, daß der Bürgermeister mir seinerseits einen längeren Vertrag hielt, wieso, warum und auf Grund welcher Verordnungen er nichts unternehmen könne. Also ich zog recht beteppert von dannen, treffe zufällig meinen Inspektor Kreschinski, den Sie ja vorhin bei Tisch kennengelernt haben, erwähn' so nebenher und ohne jede Absicht, wie ich bei dem alten Herrn in der Bürgermeisterei abgefallen bin. Ich erledige meine Besorgungen, lasse mich im `Königlichen Hof' mit einigen Mitagrariern zu einem langentbehrten Dauerskat nieder, der unter freundlicher Duldung des Herrn Oberkellners weit über die Polizeistunde ausgedehnt wurde. Plötzlich, so gegen halb zwei Uhr nachts, geht die Tür auf, und wer erscheint? Mein Inspektor Kreschinski! Ich frag' verwundert: `Nanu, zum Deuwel, was machen Sie noch hier? Ich denk', Sie sind schon längst zu Hause?' — `Herr Oberamtmann werden verzeihen,' entschuldigt er sich ziemlich aufgeregt, `Ich war noch mit einigen Kollegen und Freunden bei einem Glas Bier zusammen, und wie wir ganz harmlos aus unserem Lokal in der Seestraße herauskommen, kriegen wir Krakeel mit einer Gesellschaft von Polen. Ein Wort gab das andere, und wie das manchmal so geht, eins, zwei, drei, war die schönste Keilerei im Gange. Die Kerle rissen aus wie Schafleder, wir schrien ihnen noch nach: He, ihr habt ja `ne ganze Masse Papiere verstreut! Aber sie hörten nicht drauf. Da mußten wir uns dranmachen, das Zeug von der Straße aufzulesen, und hier ist es!' Legt mir, bems, hier das ganze Paket auf den Tisch! `Zum Donnerwetter, Kreschinski,' sag ich, `Sie sind ja ein unverbesserlicher Skandalmacher! Wenn da nun ein paar hohe Tiere dazwischen waren, sagen wir mal der polnische Generalkonsul aus Allenberg, und der beschwert sich hinterher, ja, da können Sie doch die größten Unannehmlichkeiten kriegen!' — `I wo doch, Herr Oberamtmann,' sagte er, `der war nicht darunter. Zufällig nämlich war auch der Provisor aus der Kronenapotheke in unserer Gesellschaft, und der hat mit einer von den polnischen Kellnerinnen bei dem Zapietznik ein — entschuldigen Sie, Herr Oberamtmann — also ein Verhältnis. Da wußten wir schon am Abend, wer alles in dem geheimen Hinterzimmer sitzt. Ein paar genügend Bekannte aus der Allenberger und Heinrichsburger Gegend, ein Herr aus Oberschlesien und der polnische Gemeindevorstand aus Prawdawola. Die beiden haben ja nun merkwürdigerweise die meisten Prügel gekriegt, aber ich schätze, sie gerade haben selbst so viel Butter auf dem Kopf, daß sie nicht daran denken werden, sich zu beschweren. Froh werden sie sein, wenn's nicht an die große Glocke kommt, daß sie hier an einer heimlichen Versammlung teilgenommen haben!' — `Kreschinski,' sag' ich mißbilligend, `die ganze Sache steht mir verdammt nach einem planmäßigen Überfall aus, und Sie müßten allmählich doch wissen, wie sehr gerade ich alle Gewalttätigkeiten verabscheue. Ich wasche jedenfalls meine Hände in Unschuld, und jetzt lassen Sie anspannen, damit wir endlich nach Hause kommen!' Ob er sich die Vermahnung nun zu Herzen genommen hat, weiß ich nicht“, schloß der Oberamtmann seinen Bericht, „jedenfalls hab ich schon heute früh eine ganze Weile lang über dem Kram hier gesessen, ohne was Besonderes herauszukriegen.“

Hans Baginski hatte bei der scheinheilig-humoristischen Schilderung seines Freundes nicht lachen können. Das an Gewißheit grenzende Vorgefühl, daß eine genaue Durchsicht der auf dem Tische liegenden Aktenstücke schon in den nächsten Minuten den Beweis für hochverräterische Verbindungen seines Bruders bringen müsse, drückte ihm schwer aufs Herz. Und er atmete ein wenig erleichtert auf, als eine nähere Prüfung der Papiere ergab, daß sie bis auf eine recht umfangreiche Liste von Mitgliedern polnischer Organisationen der verschiedenen masurischen Landkreise in einer Art von Geheimschrift abgefaßt waren.

„Ja“, sagte er endlich, „da bin ich auch nicht klüger als Sie, lieber Schrötter, — ich war zwar ein paarmal bei unseren Funkern in Lötzen zu Besuch, hab mir auch erklären lassen, wie sie es anstellen, die aufgefangenen russischen Nachrichten zu entziffern, aber davon ist wenig hängengeblieben. Polnisch ist es auf jeden Fall, aber wie soll man den Schlüssel finden?“

Der Oberamtmann lachte kurz auf.

„Daß es nicht Chinesisch ist, konnte ich mir ungefähr auch denken, lieber Baginski! Aber die Liste allein ist schon hundert Dahler wert — da habe ich nämlich verschiedene Kerle darauf gefunden, die eingeschriebene Mitglieder deutscher Parteien sind und denen ich bei passender Gelegenheit sehr eklig auf den Zahn fühlen werde. Den übrigen Schwamm schicke ich nach Berlin. Da wird man schon `rauskriegen, was drinsteht. Aber hier habe ich noch einen leeren weißen Zettel, der mir besonders verdächtig vorkommt. Ich habe ihn schon gegen die Fensterscheibe gehalten, auch festgestellt, daß auf dem Papier Kratzer wie von einer Feder zu sehen sind, aber wie man die Schrift wieder vorzaubert — keine Ahnung! Bloß ich kann mir nicht denken, daß es Leute gibt, die zu geheimen Versammlungen fahren, nur um ein unbeschriebenes Blatt mit sich zu nehmen!“

Jetzt, fühlte Hans genau, nahte die Entscheidung. Nur, wie durfte er sie als Deutscher aufhalten? Sein Schicksal hatte der jüngere Bruder selbst verschuldet, kein rechtlich denkender Mensch konnte gegen ihn, als den nächsten Blutsverwandten, den Vorwurf erheben, er habe sich von persönlichen Rachegefühlen leiten lassen... Vielleicht aber war der alte Regimentskamerad und Freund einer Bitte zugänglich, die Schande nicht ruchbar werden zu lassen, dem Schuldigen ein heimliches Verschwinden über die Grenze zu gewähren... Die Hand bebte ihm ein wenig, als er das Blatt ergriff, und seine Stimme klang heiser: „Solche Zettel sind während des oberschlesischen Aufstandes bei Insurgenten oft gefunden worden. In der ersten Zeit waren sie kinderleicht zu entziffern. Man brauchte sie nur zu erwärmen, und die Schrift trat deutlich zutage. Später hatten sie eine Art von photographischem Verfahren, aber auch das half ihnen wenig. Unsere Chemiker lachten nur darüber...“

„Na, dann vorwärts, los!“ rief der Oberamtmann eifrig, „da wollen wir die Geschichte mal erst auf dem warmen Weg probieren!“ Er drückte auf die Klingel, befahl dem eintretenden Stubenmädchen, mit größter Beschleunigung aus dem Kinderzimmer den Spirituskocher und aus der Küche irgendeinen sauberen Blechdeckel herbeizubringen. In der Zeit bis zur Ausführung ging er mit großen Schritten im Zimmer umher, rieb sich aufgeregt die Hände: „Wissen Sie, wie mir zumute ist, Baginski? Wie vor einer verschlossenen Tür, hinter der ein Geheimnis lauert. Gott allein weiß, welcher Schweinerei wir da auf die Spur kommen werden. Sokols, Pfadfinder und ein halbes Dutzend andere Vereine haben wir schon in Masuren, die mit ihren Gesinnungsgenossen auf der anderen Seite der Grenze unterirdische Fühlung halten. Für die Existenz des gefährlichsten von allen habe ich leider noch keinen ganz schlüssigen Beweis...“ Er mußte abbrechen, denn das Stubenmädchen brachte den verlangten Kocher und ein sauber abgewischtes Kuchenblech.

Der Spiritus brannte mit hellblauer Flamme, das Papier begann sich gelb zu färben, und deutlich traten bräunliche Schriftzüge hervor. Vier Augen hefteten sich in äußerster Spannung auf das Blatt, lasen gleichzeitig im Anfang einer Reihe von Namen:

Organysacia:

Baginsken:

Baginski, Karol,

Zaborowski, Casimir...

Hinter dem Namen des Krugwirtes war noch ein Zeichen M erkennen, das sich wie ein Stern ausnahm.

Der Oberamtmann hatte sich in den Stuhl zurückfallen lassen, sagte halblaut: „Also es ist richtig, auch diese Pest haben wir schon im Lande! Und es ist furchtbar: Wer steht an der Spitze? Ihr Bruder, Herr Baginski!“

Hans nickte bloß. Was sollte er dazu sagen? Das da eben war ja nur die Bestätigung eines Verdachtes, der sich ihm schon vor vielen Stunden aufgedrängt hatte...

Das Papier auf dem überhitzten Bleche flammte hell auf, wurde zu einem Häuflein grauer Asche. Herr Schrötter versuchte noch zuzugreifen, aber es war schon zu spät.

„Na, schön“, sagte er in plötzlich ausbrechendem Zorn, „wir haben es ja beide mit unseren sichtigen Augen gelesen! Für einen ausgemachten Lorbaß hab ich Ihren Bruder schon immer gehalten, Baginski, für einen Kerl, der wie ein Wildschwein ins eigene und in das Leben seiner Mitmenschen hineinhaust, aber das da eben hab ich ihm doch nicht zugetraut! Sein Vater und Großvater waren Vorbilder deutscher Gesinnung in Masuren, und er? Verschreibt sich der polnischen Kampforganisation, die sich die gewaltsame Eroberung Ostpreußens als letztes Ziel gesetzt hat! Aber wir werden dem Burschen bald auf die Sprünge kommen! Zunächst muß er mal `runter vom Bruchhof; seine Sauwirtschaft ist ja im ganzen Kreis bekannt. Morgen früh fahr' ich zum Landrat, und dann wird das Enteignungsverfahren eingeleitet. Ich selbst hab' hier auf dem Hofe schon zwei arme Teufel von vertriebenen Deutschen, denen das Almosennehmen bis an den Hals steht und die froh sein werden, wenn sie wieder ein paar Morgen Land unter die Pflugschar kriegen!“ So schloß er in starker Erregung. Hans Baginski hob die Hand.

„Einen Augenblick, lieber Schrötter! Was wurden Sie tun, wenn Ihnen etwas so Furchtbares mit Ihrem Bruder passieren würde?“

Der Oberamtmann sah ihn betroffen an.

„Erstens hab' ich keinen Bruder“, erwiderte er nach kleiner Pause, „zweitens aber würde ich ihn ganz glatt über die Klinge springen lassen.“

„Wenn aber dabei noch einige Komplikationen vorhanden wären? Daß Sie z. B. in den Verdacht geraten könnten, Sie gierten nach seinem Hof — oder der Frau, die er Ihnen ebenso hinterlistig abgejagt hat, wie er's bei den Eltern durchgesetzt hat, daß Sie als der Ältere mit einem Bettel von Erbteil abgefunden wurden? Würden Sie da nicht vielleicht an den — vorläufig — einzigen Mitwisser die Bitte richten: überlaß mir den Mann? Ich mache mich anheischig, ihm in nicht allzu langer Frist nachzuweisen, daß er noch Schlimmeres auf dem Kerbholz hat als die Zugehörigkeit zu einer polnischen Kampforganisation? Und ihn dann weiter zu nötigen, außer Landes zu gehen, damit auf den anständigen Namen Schrötter nicht ein für alle Zeiten untilgbarer Makel fällt?“

In dem von Wind und Sonne braungebeizten Gesicht des Oberamtmanns arbeitete es... „Hol' mich der Deuwel, Baginski“, sagte er endlich, streckte seinem Gast die Hand entgegen, „du bist so ziemlich das Vornehmste von Kerl, das mir bisher über den Weg gelaufen ist! Das Getränk können wir heute abend nachholen — also, ich bitte um die Erlaubnis, auf dich du sagen zu dürfen!“

Hans schüttelte die dargebotene Hand, die Augen wurden ihm feucht, aber er wußte im Augenblick nichts anderes, als das banale Wort „Gemacht!“ zu erwidern. Und danach setzten sie sich zusammen; er erzählte, was ihm gestern alles auf dem Bruchhofe geschehen sei, und sie erörterten gemeinschaftlich die Maßnahmen, die zu ergreifen seien, um den dort offenbar betriebenen Waffenschmuggel einwandfrei festzustellen. Der Oberamtmann schlug vor, dem Freunde seinen jungen Förster als Helfer beizugeben, Hans Baginski aber lehnte ab. Er getraue sich, mit seiner Aufgabe allein fertigzuwerden, dürfe auch keinen Dritten ins Vertrauen ziehen. Nur in einem kamen sie überein, daß nämlich der Gast unerkannt und unter fremdem Namen in Rakowen sausen müsse. Das Hausgesinde wußte ohnedies noch nicht, wie er hieß, den beiden Kochstudenten und dem Beamten wurde strengstes Stillschweigen auferlegt. Für die Arbeiterschaft aber fand sich ein anderes Auskunftsmittel. Der Gast war Ingenieur einer Königsberger Fabrik, unter dessen Aufsicht von Schmied und Stellmacher die landwirtschaftlichen Maschinen des Hofes gründlich durchgesehen würden! Daraufhin steckte sich der Oberamtmann Schrötter befriedigt eine neue Zigarre an; bei seinem sanguinischen Temperament sah er in dem Vorsatz zur Tat schon den Erfolg. Und mit einem kurzen Auflachen erklärte er: „Glück muß der Mensch haben! So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. Meinem Trecker, den Selbstbindern und Sämaschinen tat es schon lange not, daß sie mal unter die Augen eines Sachverständigen gerieten! Aber bei der Berechnung deines Honorars, lieber Hans, nimm Rücksicht auf meine sechs unversorgten Kinder...“

***

Nach dem Abendbrot wollte sich der Hausherr mit seinem mittlerweile zu einem Ingenieur Neumann von der Königsberger Landmaschinenfabrik ernannten Gaste wieder ins Herrenzimmer zurückziehen, die kleine Frau Oberamtmann aber durchschaute rechtzeitig seine Absicht.

„Warum denn immer gleich nach dem Essen `masurische Kirche'?“ bemerkte sie mit einem listigen Seitenblick auf Fränze Podleschny. „Männer und Frauen möglichst weit auseinander, weil sie sich sonst vielleicht beißen könnten? Wenn ich mich recht entsinne, hast du mir erzählt, Herr Neumann sei letzthin einige Zeit in Berlin gewesen. Da wär' es uns armen Würmern doch zu gönnen, wenn wir einmal was Neues hören würden...“

„Ach so“, sagte Herr Schrötter; er hatte verstanden. Die am Vormittag lang und breit erörterte Absicht, seinen alten Kameraden mit dem reichen Erbtöchterchen zusammenzubringen, war ihm im politischen Übereifer aus dem Gedächtnis geraten. Sein Gast schien ihm über die polnischen Umtriebe in Masuren so wenig unterrichtet zu sein, daß er's für unbedingt nötig gehalten hatte, ihm unter vier Augen die ganze Lage noch einmal gründlich auseinanderzusetzen. Und er fügte ein wenig sauersüß hinzu: „Herzlich gerne, liebes Lottchen, wenn du uns erlaubst, in deinem Allerheiligsten eine Zigarre zu rauchen und unser Tulpchen Grog zu trinken!“

„Wird bewilligt“, erwiderte die kleine Frau, die trotz ihrer sechs Kinder noch immer eine Mädchenfigur hatte. „Aber nur unter einer Bedingung: Kein Wort über Polen oder die Anklage der Landwirtschaft!“ Und zu Hans gewandt fuhr sie fort: „Wenn Sie wüßten, Herr Bag... ach so, also Herr Neumann, wie satt wir armen Frauen diese beiden Themen haben!“

„Na, und worüber unterhaltet ihr euch denn, wenn ihr allein seid?“ knurrte der Hausherr. „Über die Unzuverlässigkeit eurer Mamsellen, darüber, ob die Röcke eine Handbreit länger oder kürzer getragen werden, und — wenn's hochkommt — prahlt ihr euch gegenseitig mit besonders feinen Kochrezepten oder der Zahl von Gläsern an, die ihr, mit allerhand Gemüsen eingeweckt, in der Speisekammer stehen habt!“

„Genau so, wie ihr Herren mit euren Kartoffelernten“, gab die Hausfrau schlagfertig zurück. „Und wenn ihr auseinandergeht, denkt ihr jedesmal: `Was haben mir die Kerle bloß wieder die Hucke vollgelogen! Ich selbst hab' schon zwanzig Zentner pro Morgen draufgeschlagen, aber die anderen? Das grenzt ja fast schon an den berühmten Buchweizen von Ohm Bräsig, der bekanntlich mit Axt und Säge geerntet werden mußte!“

Man setzte sich lachend um den runden Tisch in dem behaglich eingerichteten Wohnzimmer. Die Frau Oberamtmann hatte es geschickt eingerichtet, daß der Gast neben Fräulein Fränze seinen Platz bekam. Die leise surrende Spiritusglühlampe zeichnete auf dem weißen Tischtuche einen hellen Kreis, die Damen machten Handarbeiten, und die Herren präparierten gewissenhaft ihren Grog. Wobei der Hausherr das alte ostpreußische Originalrezept vorschlug: „Rum muß drin sein, Zucker darf drin sein, Wasser ist nicht unbedingt notwendig!“ Nach diesem Scherz aber hielt er sich der Pflicht zur weiteren Unterhaltung der Tafelrunde für enthoben, versank in Grübeleien, was die noch nicht entzifferten und sorgfältig wieder im Geldschrank verschlossenen Papiere an Geheimnissen wohl enthalten mochten...

Fränze Podleschny strickte an einem derbwollenen Männerstrumpf, von dem sie auf Befragen erklärte, er sei für ihren Vater bestimmt, weil er in seinen Holzschuhen keine dünneren Strümpfe tragen könne. Das quabbelig dicke Malchen Schneidereit rümpfte ein wenig die kurze Stupsnase. Ihr Papa hatte zwar keine Eisenkiste unterm Bett, aber er war dafür auch nicht bloß gewöhnlicher Bauer, sondern „Rittergutsbesitzer“ auf elfhundert Morgen. Wenn diese elfhundert Morgen auch reichlich mit Schulden bepflastert waren. Und sie stichelte mit farbiger Seide und gezierter Handhaltung an einer besonders feinen Arbeit. An einer großen Leinentasche mit zwei vorgezeichneten, sich schnäbelnden Tauben und einem Monogramm. Hans Baginski erkundigte sich, was das werden solle, und erhielt die unter tiefem Erröten gehauchte Antwort: „Ein Etui für die Nachthämden meines Bräutigams...“

„Ach nee“, sagte Fränze mit unschuldigem Gesicht, „werden in der Pillkaller Gegend denn überhaupt welche getragen?“ Woraus hervorzugehen schien, daß zwischen den beiden Kochstudenten der Frau Oberamtmann kein allzu herzliches Einvernehmen herrschte. Fräulein Malchen revanchierte sich mit einem ironischen „Ihre geschmackvollen Bemärkungen, Freilein Podleschny!“ und beschloß, die bäuerliche Kollegin in der Unterhaltung ihre überlegene Bildung fühlen zu lassen. Zwei Jahre war sie in einem der vornehmsten Pensionate Königsbergs gewesen, während die andere nur das einfache Ordensburger Lyzeum besucht hatte...

„Was dänken Sie über das Keenigsbärger Stadttheater, Herr Ingenieur?“ fragte sie zur Einleitung eines Gespräches, in dem sie zu zeigen gedachte, wie sehr sie literarisch und gesellschaftlich gebildet sei. Hans war über die plötzliche Frage so verdutzt, daß er nur mit einem „Leider gar nichts“ antworten konnte. Und erst nach einer kleinen Pause fügte er zur Erklärung hinzu: „Ich bin nämlich nie drin gewesen.“

„Aber neein“, sagte Fräulein Malchen bedauernd, „sollte man so `was für meeglich halten! Ich war nämlich zwei volle Jahre in dem beriehmten Institut der Schwestern von Gercke — außer mir nur lauter adelige junge Damen, mit den meeisten steh' ich noch heite in Korrespondänz! Da sind wir in der Woche zweimal im Theater gewesen, haben alle Opern geheert und alle klassischen Schauspiele gesehen. Da, finde ich, kann man sich auch später in der ländlichen Einsamkeeit nie langweilen. Man schwällcht in seinen Erinnerungen, dänkt bei irgendeiner prosaischen Beschäftigung zum Beispiel an den wundervollen Monolog der Johanna, `eilende Wolken, Segler der Lifte', ja, und ist fier den ganzen Tach weihevoll und frehlich gestimmt!“

„Das hat zwar eine gewisse Maria Stuart gesagt“, bemerkte Fränze trocken, „aber bei welchen prosaischen Beschäftigungen deklamieren Sie solche Verse, Fräulein Schneidereit? Etwa beim Schlachten und Wurstmachen?“

„Eine Rittergutsbesitzertochter“, gab das rundliche Malchen von oben herab zurück, „wird wohl immer in der Lage sein, sich fier solche Arbeeiten eine Mamsäll zu halten!“ Und jetzt spielte sie ihren höchsten Trumpf aus: „Meine Hochzeitsreise aber mache ich nach Bärrlin! Wänn Sie, Herr Ingenieur, mir da außer Oper und Schauspielhaus noch einige Theater empfehlen könnten, wo eine junge Frau mit ihrem Mann ohne Verlätzung ihres Schamgefühls hingehen darf?!“

„Tut mir leid“, erwiderte Hans, „außer einer Revue hab' ich in Berlin nichts gesehen!“

„O Chott, o Chott nein“, entrüstete sich Fräulein Malchen, „da sollen die jungen Meedchen ja fast gännzlich unbekleidet auf der Biehne `rumhopsen! Da fiehr' ich meinen Mann unter keinen Umständen hin!“

„Würde ich an Ihrer Stelle auch nicht tun“, bemerkte Fränze scheinbar harmlos, „diese Mädchen, die da `herumhopsen', sollen nämlich geradezu blendend gewachsen sein!“

Die Frau Oberamtmann teilte ihren beiden Studenten ein paar verweisende Blicke aus, der Hausherr lachte gutmütig auf.

„Einigen wir uns darauf, meine Damen, daß die Geschmäcker, gottlob verschieden sind. Dem einen gefallen die Dünnen, dem anderen die Völligen. Machen Sie uns vor dem Schlafengehen lieber noch ein bißchen Musik!“

Fräulein Malchen war sofort dazu bereit, weil sie im Augenblick für die impertinente Bauerntochter keine schlagfertige Antwort wußte. Sie öffnete das Klavier und spielte mit viel Geläufigkeit, aber wenig Ausdruck, das Stück, an dem sie schon seit Beginn ihrer Pensionszeit geübt hatte, Webers „Aufforderung zum Tanz“. Als sie aber am Schlüsse bemerken mußte, daß der Hausherr sanft eingeschlafen war, stand sie gekränkt auf, erklärte, sie müsse noch ihren täglichen Brief an den Bräutigam schreiben, und ging nach oben.

Der Oberamtmann hatte bei der plötzlich eingetretenen Stille wieder die Augen geöffnet, sah sich verwundert um.

„Ach so“, entschuldigte er sich, „ich werd' ihr morgen ein gutes Wort sagen, sie soll sich `was Neues einpauken! Diese Sache, die immer so aussieht, als sollte es einen Walzer geben, aber nachher doch keiner wird, die hab' ich schon zu oft von ihr gehört. Und jetzt, Fräulein Fränze, singen Sie mir zum Abschluß unseres sogenannten Unterhaltungsabends, von dem kein Mensch behaupten kann, wir hätten durch die Vereinigung der Geschlechter `was Besonderes profitiert — ja also, ich bitte um mein Leib- und Magenlied. Da liegt Schwung drin, und man kann sich dabei doch was denken...“

„Weiß schon“, sagte Fränze lächelnd, setzte sich ans Klavier und sang nach kurzem Vorspiel mit kleiner, aber wohllautender Stimme frisch drauf los:

„An der Grenze fern im Osten

Hält ein Reiter still auf Posten,

Späht hinaus ins weite Feld.

Drüben fahren auf Kanonen,

Sammeln sich Schwadronen

In dem weiten, weiten Feld.

Braunes Mädchen kam gegangen,

Hob die Augen mit Verlangen:

'Reitersmann, schenk mir die Stund'!'

'Geh du nur deiner Straßen,

Ich muß auf Feinde passen,

Was nutzt mich da ein roter Mund?'

In Rußland sieht ein Kiefernbaum,

Hat wohl für ein Grab noch Raum,

Fern vom lieben Elternhaus...

Die Artrll'rie fängt an zu schießen,

Mein Schatz, ich tu' dich grüßen,

Such' dir `nen andern aus...“

Bei der letzten Strophe waren der Frau Oberamtmann die Augen feucht geworden. Ihr einziger, vor Wilna gefallener Bruder schlief „fern im Osten“ den letzten langen Schlaf irgendwo unter einem jetzt wohl schon längst verwitterten Kreuz... Der Hausherr rührte nachdenklich in seinem frisch gefüllten Grogglase:

„`Drüben fahren auf Kanonen, sammeln sich Schwadronen…` — helf uns Gott, daß es nie wieder dazu kommt! Nur wenige im Reich wissen, wie dicht wir — es ist noch gar nicht so lange her — also, wie dicht wir davor standen, daß die Polen sich mit Gewalt holten, was sie trotz allen Drängens in Versailles nicht hatten erreichen können. Wer oder was sie damals abgepfiffen hat, kann so ein kümmerliches altes Frontschwein wie unsereins nicht beurteilen. Eins aber weiß ich genau: sollten sie es noch mal versuchen, fängt die ganze Welt wieder zu brennen an.“

Die Hausfrau seufzte leicht auf.

„Gott sei's geklagt, jetzt reitet er wieder auf seinem Polenschimmel...“

„Ja, liebes Lottchen“, erwiderte der Oberamtmann, ein wenig gereizt, „wovon sollen wir denn sprechen? Vielleicht wieder von den Genüssen, die das Fräulein Schneidereit im Königsberger Stadttheater gehabt hat? Die Polenfrage ist doch das, was uns hier in Ostpreußen am schärfsten auf den Nageln brennt, uns, sozusagen, im Schlafen und Wachen beschäftigt. Wenn du dir's recht überlegst, kannst du dir nicht mal ein Päckchen Stecknadeln kaufen, ohne daß die ungeklärte Polenfrage dabei mitspricht, weil nämlich die unsinnige Korridorfracht den Preis verteuert! Und ebenso geht es mit allem übrigen. Die Herrschaften im Reich — möchte ich fast sagen — sitzen in der Etappe. Daß sie alle Tage Schweinebraten essen, möchte ich nicht behaupten, sie haben auch ihr Päckchen zu tragen. Jedenfalls aber geht es ihnen nicht so koddrig wie uns, und da krieg' ich's immer mit der stillen Wut, wenn sie uns zurufen: `Ihr müßt eben durchhalten und warten!' Worauf, frag' ich? Vielleicht auf ein Wunder? Wunder gibt's heutzutage nicht mehr! Also, zum Donnerwetter, setzt euch doch endlich mit den Polen zusammen an einen Tisch und sucht einen tragbaren Ausgleich! Einen aber, der nicht zugunsten der Industrie wieder mal auf dem Rücken der Landwirtschaft abgeschlossen wird! Die auf der anderen Seite der Grenze drückt die schwarze Kuh ja genau so wie uns, da werden sie von ihren überspannten Forderungen auch ein gut Teil nachlassen. Und wenn's uns dann in Masuren wirtschaftlich wieder ein bißchen besser geht, werden wir auch mit der unterirdischen Wühlarbeit fertig werden. Nur in einem halb verhungerten und geschwächten Körper setzen sich die Krankheitserreger fest...“

„Na, Alterchen“, fragte die Hausfrau lächelnd, „ist dir jetzt leichter? Wo du dir deine Polen wieder mal von der Seele geredet hast?“

„Für heute ja“, erwiderte der Oberamtmann gutmütig. „Unser Gast bleibt ja länger hier, da werd' ich wohl noch öfter Gelegenheit haben, ihn zu beknien.“

„Schön, aber jetzt muß ich dich für ein Viertelstündchen der Gesellschaft entführen. Ich hab' nämlich etwas sehr Dringliches mit dir zu besprechen.“

„Hat das nicht Zeit bis morgen?“

„Leider nein! Wo soll ich dich denn morgen erwischen, wenn du von fünf Uhr in der Früh' in der Wirtschaft `rumrennst?“

„Da hast du recht“, versetzte der Hausherr, denn ein mahnender Blick seiner Gattin hatte ihm klargemacht, daß sie es für nötig hielt, die beiden, zwischen denen sie eine Ehe zu stiften gedachte, ein Weilchen allein zu lassen.

Auch Fräulein Fränze schien eine Ahnung zu haben, was das taktische Manöver der Frau Oberamtmann bedeutete. Nach dem Fortgang des Ehepaars wurde sie zuerst ein wenig rot, tat so, als wenn sie bei ihrem Strickzeug sorgfältig die auf eine Nadel gereihten Maschen zählen müsse. Aber schon nach kurzer Frist hatte sie in ihrer resoluten Art die Verlegenheit überwunden.

„Hans“, fragte sie, „weshalb hältst du dich hier unter falschem Namen auf?“

„Weil's nötig ist“, erwiderte er. Aber da er fühlte, daß die kurzangebundene Antwort verletzend wirken müsse, fügte er hinzu: „Den eigentlichen Grund kann ich dir leider nicht erklären.“

„Weil ihr Männer euch immer einbildet, Frauen können nicht verschwiegen sein. Habt ihr eine Ahnung, wie sehr wir euch darin überlegen sind, wenn wir wirklich wollen! Aber ich will mich nicht in dein Vertrauen drängen. Nur bitten mochte ich dich...“ Sie brach plötzlich ab, beugte sich von neuem über ihr Strickzeug.

„Na, um was denn?“ drängte er. Aber es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie wieder freier sprechen konnte.

„Also, um was es geht, braucht mir niemand zu sagen. Um deinen Bruder. Wenn's bloß der Streit um dein Erbteil wäre, wozu dann die Heimlichkeit? Und über deinen Bruder weiß ich besser Bescheid als hier der Herr Oberamtmann. Zwischen den Großagrariern und Bauern steht immer eine Wand, über die sie nicht hinwegkönnen. Ich glaube, hier in der Nachbarschaft ist kaum ein Bauer, der nicht wüßte, daß dein Bruder es mit den Polen hält. Im stillen verachten sie ihn, aber äußerlich gehen sie ihm aus dem Weg oder tun sogar freundlich, weil sie genau wissen, er ist nachtragend und rächt sich, wenn's der andere am wenigsten vermutet. Und viele sind ihm auch verschuldet. Da willst du etwas gegen deinen Bruder unternehmen? Und da meine ich... ja, da meine ich, wenn jemand das große Glück gehabt hat, aus dem Krieg gesund zurückzukommen, weshalb soll er sich da ohne Not wieder in Gefahr begeben?“

„Ohne Not?“ wiederholte er. „Mein liebes Kusinchen, wenn du wüßtest, wie nahe ich daran war, ebenso zu denken wie du! In der Zwischenzeit aber ist einiges geschehen... Ja, und da spreche ich Wohl besser mit dir ganz offen, im Vertrauen auf deine Verschwiegenheit...“

Sie hob die Hand: „Da kannst du dich draus verlassen...“

„Also dann, wie würde dir zumute sein, wenn du deinen Namen nennst, und der andere denkt: `Wie ist denn das? Habe ich nicht unlängst gehört oder gelesen, daß ein Baginski wegen Landesverrats ins Zuchthaus gekommen ist?“

„Um Gottes willen“, sagte sie erschreckt, „hast du denn dafür Beweise?“

„Vorläufig nur ein verbranntes Stück Papier und eine Vermutung, die an Gewißheit grenzt. Den Beweis, daß sie richtig ist, hoffe ich in den nächsten Nächten zu erbringen. Dann stellt ihm mein Freund Schrötter hier noch eine kurze Gnadenfrist, für immer zu verschwinden. Wenn er sie nicht ausnützt, kommt er vor den Richter. Mir aber kann kein Mensch den Vorwurf machen, ich hätte nicht alles getan, um unseren Namen vor Schande zu bewahren. So ist's zwischen mir und dem Oberamtmann abgesprochen, und dabei bleibt es! Da ist nun nichts mehr daran zu ändern!“

„Furchtbar ist das alles“, erwiderte Fränze, mußte sich plötzlich das Naschen schnauben. „Wenn ihr Männer es mit der `Ehre' kriegt, ist mit euch kein vernünftiges Wort mehr zu reden! Ich als Frau würde mich aus den Standpunkt stellen: `Soll ich meines Bruders Hüter sein?' Bist du dadurch etwa geschändet, wenn er ein Verbrecher ist? Und kennst du die drei berüchtigten Kerle, die er als Knechte auf seinem Hofe hat?“

Hans Baginski lachte kurz auf.

„Ich möchte eher sagen, sie kennen mich! Wenigstens einer von ihnen, der Sareyka. Bloß die Prügel, die er gestern abend von mir gekriegt hat, waren noch nicht reichlich genug. Aber das läßt sich ja nachholen...“

Sie sah ihn aus entsetzten Augen an.

„Um Himmels willen, hast du denn vor, gegen deinen Bruder irgend etwas mit Gewalt zu unternehmen?“

„Ja, glaubst du vielleicht, er wird mir gutwillig erzählen, was er treibt, wenn er mit seinen Knechten nachts unterwegs ist?“

„Laß dir doch vernünftig zureden, Hans“, bat sie. „Es sind doch immer vier gegen einen, und als aufgeklärter Mensch soll man nicht abergläubisch sein, aber wo der `Fluch des Bruchhofes' bisher so buchstäblich eingetroffen ist... und kennst du die Prophezeiung der alten Jendrzeiska?“

„Ich hab' von der alten Hexe gehört“, erwiderte er lächelnd. „Gegen ausreichende Bezahlung prophezeit sie, was ihre Kundschaft haben will.“

„Lach' nicht“, versetzte Fränze ernsthaft, „aus der ganzen Umgegend kommen die Leute zu ihr, lassen sich die Karten legen. Auch ich war einmal heimlich bei ihr, und bisher ist buchstäblich eingetroffen, was sie mir vorausgesagt hat!“

„Das kann wohl nicht allzuviel gewesen sein“, sagte er mit einem gutmütigen Auflachen. „Was soll einem reichen und wohlbehüteten Haustöchterlein denn Großes passieren? Es teilt Körbe aus, bis der Richtige kommt, und den wird es sich selbst aussuchen, weil es ein paar helle Augen hat, die Echtes von Falschem unterscheiden...“

Fräulein Fränze schüttelte den Kopf.

„Mein Leben ist ja noch nicht zu Ende!“ Und mit starkem Erröten fügte sie hinzu: „Wie die Alte nun dazu kam, mein Schicksal mit dem Bruchhof in Verbindung zu bringen, weiß ich nicht, aber sie sagte auf einmal: `Zwei Brüder sind da, einer von ihnen wird sterben. Die Todeskarte liegt genau zwischen ihnen, es kann den einen so gut treffen wie den anderen.` Und das ist schon lange her, daß sie das sagte. Da hatte ich schon längst die Hoffnung... das heißt, wollte ich sagen, kein Mensch hat mehr daran gedacht, daß du noch einmal nach Hause kommen würdest...“

Das war so deutlich, daß es auch einer begreifen mußte, der seit Jahren jeder Art von Liebeshandel aus dem Weg gegangen war. Während er draußen der Vergangenheit nachtrauerte, hatte in der Heimat die lachende Zukunft auf ihn gewartet... Vielleicht aus einer kindlichen Erinnerung heraus an einen stattlichen jungen Mann in besonders kleidsamer Uniform... aber wo lagen letzten Endes die willigen Ursachen, die Menschenschicksale keimen und werden ließen...? Er legte dem hübschen jungen Mädchen die breite Hand über die emsig strickenden Finger, tat endlich die Frage, die bei ähnlicher Veranlassung zwischen Menschen zweierlei Geschlechtes wohl schon Hunderttausende von Malen gestellt worden war: „Würde es dir denn ein bißchen leid tun, wenn mich das von der alten Jendrzeiska vorausgesagte Schicksal treffen würde?“

„Geh, frag' nicht so dumm“, erwiderte sie. Die Antwort sollte lachend gegeben werden, statt dessen kamen Tränen. Er aber atmete nur tief auf, statt das frische junge Ding in die Arme zu nehmen.

„Hab Dank, liebe Fränze“, sagte er in seiner unbeholfenen Art, „ich weiß jetzt, daß sich eins um mich sorgt. Aber du mußt entschuldigen, daß ich im Augenblick zu weit gegangen bin. Wie darf ich das Schicksal eines jungen Mädchens an mich binden, wo ich selbst nicht weiß, was aus mir schon in den nächsten Tagen wird? Vielleicht schon heute nacht, denn in einer halben Stunde nehm' ich mein Rad und fahr' los nach dem Bruchhof...“

Sir wischte sich die Tränen ab, stand auf.

„Wem nicht zu raten, dem ist nicht zu helfen! Aber das andere eben war nur ein Mißverständnis. Ich bin seit einiger Zeit so nervös, daß mir bei jeder Kleinigkeit gleich das Wasser in die Augen schießt. Da darfst du dir nichts darauf einbilden... Na, denn gute Nacht...“ Sie nahm ihr auf der Kredenz bereitstehendes Licht, ging hinaus, ohne ihm die Hand zu reichen. Von der anderen Seite kam der Oberamtmann herein, entschuldigte seine Gattin, die sich bereits zu ihren Kindern zurückgezogen habe. Er prüfte den Wasserstand im Grogkessel, schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Es reicht leider nicht mehr, und der Spiritus ist auch schon alle. Also müssen wir wohl oder übel schlafen gehen.“ Und als er im Oberstock dem Gast die Tür zu seinem Zimmer wies, sagte er: „Du mußt entschuldigen, Baginski, die Besprechung mit meiner Frau war früher zu Ende, als wir gedacht hatten. Da stand ich schon, um nicht zu stören, ein paar Minuten als unfreiwilliger Zuschauer hinter der Glasscheibe im dunklen Nebenzimmer, beobachtete die Pantomime, die sich vor meinen Augen abspielte. Ich präparierte schon einen gerührten Segen, überlegte, ob ich die obligate Flasche Sekt vorher oder nachher aus dem Keller `raufholen sollte, da gab's statt eines Kusses eine längere Predigt, und alles war wieder Essig. Also, gute Nacht, Wolkenschieber bleibt Wolkenschieber!“

Hans Baginski schüttelte den Kopf.

„Ich erklär' dir's morgen, weshalb ich nicht anders handeln konnte. Leid tut mir nur, daß ich ihr gesagt habe, ich fahre schon heute nacht hinüber zum Bruchhof.“

Dem Oberamtmann verschlug es fast die Rede.

„Mensch, bei dem Wetter? Das stürmt und schlackt ja draußen, daß ein anständiger Hausvater nicht Mal seinen Hund vor die Tür jagen würde! Schlaf dich doch erst aus, und morgen reden wir weiter!“

„Nein, gerade heute nacht! Mein Zeug hab' ich mir schon zurechtgelegt, zieh mich nur um, und dann geht's los. Das muß man sich bei ein bißchen Nachdenken doch ganz von selbst sagen, daß es mir gerade heute glücken muß. Gestern war der Überfall in der Stadt — wenn mein Bruder noch irgendwas auf dem Hofe hat, schafft er's heute über den See nach Polen. Wer weiß, vielleicht komme ich schon zu spät!“

„Hans... Baginski... ich hab's vorhin auch mit meiner Frau besprochen... das ist doch gelinde gesagt, verdreht... sie hat noch ein viel gröberes Wort gebraucht... Führ' du als Schwiegersohn dem alten Bauer in Lipinsken die Wirtschaft und laß deinen Bruder sich ganz von allein das Genick brechen! Ich hab' dir ja heute nachmittag den Weg gezeigt, wie wir ihn vom Bruchhof herunterbringen...“

„Und ich hab' dir erklärt, weshalb ich diesen Weg nicht gehen kann...“

Der Oberamtmann atmete auf.

„Na schön, gegen so einen Dickkopf ist nichts zu wollen! Aber wenn du bis morgen früh nicht zurück bist, komm ich mit zehn Knechten und dem Gendarm deinem Bruder auf den Hals! Und überhaupt, hast du dir denn schon irgendeinen Plan zurechtgelegt?“

„O ja, und zwar einen sehr einfachen. Gerade wie heute der Wind steht, muß er glücken. Den See kenn' ich wie meine tägliche Waschschüssel — bis zur Rostker Spitze müssen sie staken, können von dort an erst die Segel ausspannen. Können auch nicht nebeneinander fahren, denn hinter einem schmalen Rohrgürtel geht's gleich steil in die Tiefe. Da mach' ich mich über den Kerl im letzten Kahn her, stak' noch ein Ende weit mit, wenn ich ihn überwältigt habe, na, und das übrige muß sich dann eben irgendwie finden...“

„Hoffentlich! Na denn: Weidmannsheil...!“

„Weidmannsdank!“

Der Oberamtmann begab sich kopfschüttelnd in sein Zimmer. Bei einem, der so fest entschlossen war, gab es kein Abreden. Aber er hatte die Zuversicht, sein alter Kamerad werde von seinem gefährlichen Unternehmen heil zurückkehren... Er hatte ja im Krieg einige an Tollkühnheit grenzende Stücklein ausgeführt, die ebenfalls gut abgelaufen waren...

Das Regiment lag vor Smorgon, ein Flieger hatte die Meldung gebracht, bei den Russen drüben habe es einen Zuzug frischer Truppen gegeben. Vom A.O.K. war der Befehl gekommen, unter allen Umständen festzustellen, aus welchen Regimentern sich drüben der Nachschub zusammensetze. Zwei Patrouillen schon waren nicht zurückgekehrt, den Russen in die Hände gefallen. Da hatte sich der damals neu gebackene Leutnant Baginski aufgemacht, in einer ähnlich stichdunklen Nacht wie heute. Zwei Stunden später kam er mit einem gefangenen Sibirier wieder... Er hatte den Kerl fünfzig Schritte vor dem russischen Graben beim Kartoffelbuddeln still angepürscht und niedergeschlagen. Weil aber die ganze Geschichte keinen Sinn gehabt hätte, wenn dem Gefangenen daheim in der deutschen Stellung nicht alles abgequetscht wurde, was er an Kenntnissen bei sich hatte, nahm er ihn kurzerhand auf die starken Schultern, schleppte ihn die tausend Meter bis zum eigenen Graben... Der Oberamtmann sah die Szene ordentlich vor sich, wie der von seinen Truppen verehrte Kommandierende General dem jungen Helden mit kernigen Worten das E.K. I. an die Brust heftete, indessen der schlitzäugige Gefangene mit zufriedenem Grinsen, sozusagen als Corpus delicti, daneben stand, weil für ihn der Krieg zu Ende war...

Da drehte der Hausherr sich mit einer gewissen Beruhigung auf die andere Seite und blies sein Licht aus. Die sicherste Gewähr für eine heile Wiederkehr des Gastes schien ihm aber darin zu liegen, daß niemand wohl sein Leben mit Mutwillen aufs Spiel setzte, der da wußte, daß ihm ein sauberes Mädchenherz gehörte — — —

9

Der Herr des Bruchhofes war erst gegen drei Uhr nachmittags aus dem Dorfkruge nach Hause zurückgekehrt, die Tarrasczinska empfing ihn mit Vorwürfen. Das Essen sei in der Wärmeröhre ungenießbar geworben, dem Kleinen gehe es wieder schlechter, und sie wisse wohl, welche Art von „Besprechungen“ ihn so lange bei seinem Freund Zaborowski zurückgehalten hätte. Von den Scharwerksmädchen sei ihr ja schon längst zugetragen worden, was für eine hübsche Person der gemeine Kerl neuerdings als Kellnerin engagiert habe.

Karl Baginski hatte den Teller mit dem gewärmten Essen zurückgeschoben, trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

„Bist du endlich fertig?“ fragte er gereizt.

„Ja! Bis auf ein einziges Wort: Ich nehm' mir das Leben, wenn du mich betrügst!“

„Lächerlich! Hab' ich das schon jemals getan, seit wir uns kennen?“

„Alles, was recht ist, nein. Wäre ja auch ein Verbrechen vor Gott, wo ich dir meine ganze Zukunft geopfert habe! Aber wer so wahrhaft liebt wie ich, ist auch eifersüchtig, Und da frage ich mich, weshalb hat der Zaborowski dieses hübsche Frauenzimmer hergeholt? Vielleicht für die Bauern, die bei ihm des Abends — wenn's hoch kommt — für zwanzig Pfennige Schnaps verzehren?“

Er zwang sich zu einer Zärtlichkeit, zog sie an sich: „Geh, sei nicht albern! Ich hatte mit dem Zaborowski so wichtige Dinge zu verhandeln, daß ich jetzt nicht einmal mehr weiß, wer uns bedient hat, seine Frau oder die Kellnerin. Und traust du dem Herrn vom Bruchhof zu, daß er so wenig Stolz besitzt, sich zu der Braut eines seiner Knechte herabzulassen?“

„Eines Knechtes?“ fragte sie erstaunt.

Da lachte er auf.

„Ja“, haben dir das deine Kundschafterinnen denn nicht zugetragen, daß der Sareyka diese Kellnerin hergebracht hat? Weil er mit ihr verlobt ist und sie unter Aufsicht haben will, bis er heiraten kann? Er verdient ja so viel, daß es zu einem kleinen Bauernhof bald reichen wird. Und — wer weiß — wo er das Geschäft gelernt hat, vielleicht macht er mir sogar Konkurrenz?“

So schloß er mit einem Scherz, die Tarrasczinska war wieder beruhigt. Nicht zum wenigsten, weil sie den rachsüchtigen Knecht kannte. Selbst dem Herrn, an dem er hing, wäre es nicht ratsam gewesen, die Hand nach einem Mädchen auszustrecken, das ihm gehörte... Sie küßte ihren Geliebten vorsichtig auf den Scheitel, um die dick aufgelegte Lippenschminke nicht zu verderben, faßte ihn zärtlich bei der Hand.

„Ich glaube dir, Karluschek! Jetzt aber komm! Zu dem herzigen Unterpfand unserer Liebe. Es steht nicht so schlimm mit ihm wie heute früh, aber ich hab' doch große Angst...“

Er wußte genau, weshalb ihm das süßliche Getue mit einem Male widerwärtig geworden war, aber er tat so, als wenn er mit ängstlicher Bereitwilligkeit folgte. An ein Paar Lippen mußte er denken, die er nur mit Gewalt an die seinen gezwungen hatte, bis sie ihm endlich in einer Art von Wehrlosigkeit den Kuß zurückgegeben hatten, der ihm noch jetzt irr den Adern brannte...

Der Kleine lag mit hochrotem Gesicht in seinem Bettchen, bis an den Hals in dicke Kissen gepackt. Die Augen waren geschlossen, im Munde steckte ihm ein kleiner Leinenbeutel. Von Zeit zu Zeit zogen sich die fahlen, dünnen Lippen zu einer saugenden Bewegung zusammen.

Das leidende Kind rührte ihm doch ans Herz. Er deutete auf den Leinenbeutel: „Was habt ihr ihm denn da gegeben?“

„Gequetschte Mohnkörner mit einem Tröpfchen Kognak“, erwiderte die Tarrasczinska. „In meiner Angst hab' ich die alte Jendrzeiska rufen lassen, und die meinte, darauf würd' er sich beruhigen. Gegen die Krämpfe aber müßten wir ihm ein Krähenherz auf die Brust legen, bloß, wo sollte ich eins herkriegen? Du warst bei deinen Geschäften und der Sareyka mit den anderen Knechten noch nicht zurück von seiner Fahrt auf den See.“

Karl Baginski fuhr unwillig auf.

„Jelena, du bist ja ganz verrückt! Wie kannst du auf solches Altweibergeschwätz hören! Natürlich, daß er vom Mohnsaft betäubt und vom Schnaps betrunken wird, aber geht davon seine Krankheit fort? Weshalb hast du denn nicht den Arzt angerufen? Aufs Geld kommt es doch nicht an, und in einer Stunde wär' er mit seinem Auto hier draußen gewesen!“

Die Tarrasczinska machte eine verächtliche Handbewegung.

„Ist so ein Doktor vielleicht klüger als die alte Jendrzeiska? Wo sie erst gestern bei dem Bauer Grizan im Dorf ein Kind mit bloßem Handauflegen wieder gesund gemacht hat? Und versteh' ich etwa mit dem kleinen Kasten, der in deiner Stube an der Wand hängt, umzugehen? Ich hab's ja schon ein paarmal versucht, wenn ich dich in der Stadt erreichen wollte, aber die Kanaille auf der Post sagt immer, sie versteht kein Polnisch.“

„Zum Teufel noch mal, da hättest du doch die Anna rufen können! Wo sie sich heute früh so um das Kind bemüht hat, hätte sie dir vielleicht auch diesmal geholfen!“

Sie sprühte ihn aus den schwarzen Augen zornig an.

„Ich die noch einmal zu meinem Kind lassen? Darüber hab' ich dir ja schon heute früh meine Meinung gesagt! Weshalb war unser süßer Kleiner denn bis gestern gesund? Weil ich ihn ängstlich vor ihren Augen behütet habe. Gestern aber hab' ich ihn in der Überraschung zu spät an mich gerissen, sie hatte schon Zeit gefunden, ihm mit dem bösen Blick ins Gesicht zu sehen. Aber sie weiß ja, was ich ihr zugeschworen hab', wenn mein Teuerstes nicht am Leben bleibt. Also geh zu ihr `rüber, sag ihr, was ihr bevorsteht, und sie soll den Zauber wieder zurücknehmen, wenn sie nicht will, daß ich sie mit diesen meinen Händen abwürge wie eine junge Katze…“

Er deutete nur mit dem Finger auf seine Stirn; gegen so viel abergläubischen Unverstand war mit Vernunftgründen nicht anzukommen. Er ging in sein Zimmer zurück, ließ sich telephonisch mit dem gesuchtesten Arzt der Stadt verbinden, und als er die Zusicherung erhalten hatte, der Doktor werde sich sofort auf den Weg machen, hing er beruhigt den Hörer wieder an. Die Tarrasczinska war ihm gefolgt, schmiegte sich an ihn.

„Karluschek, und wenn der liebe Gott unseren süßen Kleinen zu sich nimmt in sein himmlisches Reich, was wird aus mir?“

Er sah sie mit verquerem Blick an, hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken. Wenn das Kind starb, was verband ihn da noch mit dem Weibe, das ihm seit gestern widerwärtig geworden war? Fett war sie geworden in ihrer grenzenlosen Trägheit wie eine Kuh, die man für den Fleischer auf Mast gestellt hatte, während die andere schlanke Glieder hatte wie ein zweijähriges Stutfohlen aus edelstem Blut... Und er wich der Frage aus.

„Was für dumme Redereien! Was soll aus dir denn werden? Und weshalb besprichst du fortwährend den Tod von dem Kind? Du rufst ihn ja selbst herbei!“

Sie umschlang ihn, drängte sich ganz nahe an seinen Leib.

„Nein, du sollst mir bei deiner Seele Seligkeit schwören, daß ich bleibe, was ich war! Ich fühle genau, es ist etwas Neues in dir, und davor hab' ich Angst!“

Er strich ihr beruhigend über das sorgfältig frisierte Haar.

„Unsinn, weshalb soll ich mich denn geändert haben? Und Gott behüte, daß unser liebes Kindchen stirbt! Aber wir sind beide ja noch jung, weshalb sollen wir da nicht ein neues kriegen?“

„Nein, du sollst schwören“, drängte sie.

„Also gut, ich schwöre“, sagte er, hob die Hand. In seinen Augenwinkeln aber stand ein böses Lächeln. Das konnte er mit gutem Gewissen selbst bei seiner ewigen Seligkeit beeiden, daß sie bleiben sollte, was sie gewesen war! Woher hatte er sie denn geholt? Aus einem schlecht berufenen Haus, bei dessen Besitzer sie angeblich vor den Verfolgungen der Feinde ihres Vaters Schutz gesucht hatte. Dorthin konnte sie wieder zurückkehren mit einem Stück Geld in der Hand. Wenn sie aufbegehrte, gab man ihr zur Antwort: „Und wo sind die Beweise für deine vornehme Abstammung? Wo die Papiere, daß dein Vater wirklich ein hoher Offizier gewesen ist? Immer versprochen, aber mit tausend Ausreden nie beigebracht...?“

Die Tarrasczinska schien zufriedengestellt, holte unter der Tischdecke einen Brief hervor.

„Das da ist gekommen, während du oben im Dorf beim Zaborowski warst. Ich hab' den Umschlag schon vorsichtig aufgemacht, aber deutsche Buchstaben kann ich nicht lesen. Ein Hausknecht aus der Stadt hat ihn gebracht, und er hat gesagt, der Brief kommt von deinem Bruder.“

Karl Baginski griff hastig nach dem Schreiben, überflog es mit eiligen Augen und lachte höhnisch auf.

„Der Herr Leutnant! Angst hat er gekriegt, reißt aus und wird mit mir nur noch durch seinen Rechtsanwalt verkehren! Kann er haben — ich nehm' mir einen anderen, und dann soll der Prozeß meinetwegen zwei Jahre dauern...“

Die Tarrasczinska schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht recht, weshalb, aber ich bin mißtrauisch. Willst du so gut sein, mir den Brief auf polnisch vorzulesen?“

Da übersetzte er ihr das Schreiben, und als er an die Stelle kam, sein Bruder sei bereit, auch für die Schwägerin zu sorgen, falls sie das Leben an der Seite des „schamlosen Ehebrechers“ satt habe, lachte auch sie schallend auf.

„Das ist keine Verstellung, das ist echt! Der ganze Brief ist ja bloß wegen dieser Erklärung geschrieben, daß er sie noch immer liebt! Also vorwärts, mach' ihn wieder zu und bring' ihn auf die andere Seite! Biet' ihr ein ordentliches Stück Geld und ihm sein volles Erbteil... schwör' ihr zu, daß du dich nie von mir trennen wirst — vielleicht kriegt sie da ein Einsehen, reist ihm nach...“

„Ich kann's ja versuchen“, erwiderte er, klebte den Umschlag sorgfältig wieder zu. „Am ärgerlichsten aber bei der ganzen Geschichte ist, daß ich mich hab' ins Bockshorn jagen lassen. Zweitausend Mark hätte ich an dem Transport verdient, und die liegen jetzt im Wasser!“

Die Tarrasczinska begehrte auf.

„`Versuchen und immer wieder versuchen'! Wie lange soll das noch dauern, bis du mich und unser Kind endlich ehrlich machst? Das Weib da drüben kann ja achtzig Jahre alt werden, und wenn sie bei ihrer Weigerung bleibt, sich scheiden zu lassen.

„Müssen wir eben so lange warten“, gab er mit einem Achselzucken zurück, stand auf, um den Brief auf die andere Seite des Hauses zu tragen. Sie vertrat ihm mit zornigen Augen den Weg.

„Ist das eine Antwort für eine Frau wie mich? Edelleute hätte ich haben können, hohe Beamte, sogar der Starost von Sczuczin wollte mich heiraten. Ich bin dir gefolgt, aus reiner Liebe, und weil du mir gesagt hattest, es dauert keine drei Monate, bis du von deiner Frau geschieden bist...“

„Kann ich `was dafür, daß sie wieder gesund geworden ist?“

„Nein, aber ein anderer hätte sie längst dahin gebracht, wo er sie haben will! Einmal hast du den Versuch gemacht, sie für ihre Gemeinheiten zu prügeln...“

„Ist mir auch danach bekommen“, warf er ein.

„Weil du ein Feigling bist!“ schrie sie. „Und weshalb hast du mir hinterher verboten, mich mit ihr immerfort zu zanken, damit sie endlich mürbe wird? Das ist ja das Neue, was ich in dir spüre, und ich lese in deiner Brust wie in einem aufgeschlagenen Buch: weil du immer noch `was für sie übrig hast! Und weshalb rennt sie dir bei jeder Gelegenheit über den Weg, dreht sich vor dir in ihrer raffiniert einfachen Kleidung? Nur, weil sie weiß, wie gut ihr das steht, und weil sie hofft, du wirst doch noch `mal den Weg in ihre Schlafkammer finden...!“

Er lachte gezwungen auf.

„Jelena, jetzt müßte ich eigentlich zu dir sagen, du gehörst in ein Narrenhaus! Zuerst bist du eifersüchtig auf eine gewöhnliche kleine Kellnerin und in gleichem Atem auf meine Frau? Da muß ich dir erklären, dies Gekeife vertrag' ich nicht! Das ist nicht der richtige Weg, meine Liebe zurückzugewinnen!“

Sie starrte ihn entsetzt an.

„Was hast du eben gesagt? Zu—rück—gewinnen? Also hätte ich deine Liebe schon verloren...?“

„Das ist natürlich Unsinn“, entschuldigte er sich, „ich hab' mich nur versprochen.“ Zugleich aber schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihn im Augenblick des Entstehens geradezu mit Stolz auf seine Geschicklichkeit und Klugheit erfüllte. Wo gab es ein besseres Mittel, die Frau hier von der richtigen Fährte abzubringen, als wenn er ihre Eifersucht auf eine falsche Bahn lenkte? Und ohne merkliche Pause fuhr er fort: „Du selbst bringst einen ja auf solche Gedanken! Seit ein paar Monaten bemalst du dich, daß man Angst hat, dir einen Kuß zu geben, sie aber hat eine Haut wie ein reifer Apfel. Und wozu hab' ich dich in mein Haus geholt? Um meine Lust an dir zu haben! Was hab' ich dir damals immer gesagt, weshalb ich dich so liebe? Weil du einen Körper hattest wie eine Eidechse. Jetzt stell dich vor den Spiegel und sieh, was aus dir geworden ist!“

„Karol“, schrie sie auf, „das sagst du mir heute? Wo ich mich für dich geradezu gemästet habe? Weil du immer gesagt hast, du kannst diese mageren, klapperigen Gestelle nicht leiden?“

„Stimmt“, erwiderte er barsch, „damit aber hab' ich nicht gemeint, daß du auseinandergehen sollst wie ein Fladen!“ Und mit gemachtem Zorn fügte er hinzu: „Jetzt ist's aber genug mit dem Geflenn und deinen Predigten! Wenn das so weitergeht, krieg' ich euch beide satt! Die drüben mit ihrem Haß und dich mit deiner eifersüchtigen Liebe. Zum Speien hab' ich diese Weibergeschichten, und es lockt mich schon lange, mein Geld wo anders zu verzehren. In einem fernen Land, wo immer Sommer ist, wo man Jagd haben kann, ohne daß die Förster hinter einem her sind, und Weiber... jeden Tag eine andere!“

Sie warf sich auf die Diele, reckte die Arme nach ihm, er ging hinaus, ohne sich umzusehen. Sie aber starrte ihm nach, rutschte auf den Knien zu dem Muttergottesbilde an der Wand mit dem darunter hängenden Weihwassergefäß. Sie tauchte die Hand ins Wasser, machte über Gesicht und Brust das Zeichen des Kreuzes und netzte die Stirn. Dann aber versank sie in inbrünstiges Gebet, wiederholte aus heißem Herzen all' die Gelübde, die sie schon oftmals abgelegt hatte. Flehte zu der schmerzensreichen Jungfrau, sie möge die schwarzen Pläne der Nebenbuhlerin zu Schanden machen, das Leben des kleinen Sohnes erhalten. Sechs schwere Kerzen versprach sie dem wundertätigen Bilde in der Ostra Brama zu Wilna, wenn ihr Gebet erhört würde. Schrie und weinte, ihre Hingabe dürfte doch nicht mit schnödem Undank belohnt werden. Sechs Kerzen aber gelobte sie auch, wenn die Himmlische in unerforschlichem Ratschluß es anders beschlossen haben sollte. Für den Fall flehte sie um Kraft, daß ihr Arm nicht erlahme, wenn sie an einer verruchten Hexe Rache nähme...

Der Herr des Bruchhofes hatte unterdessen auf der anderen Seite des Hauses den Brief abgegeben. Die beiden Frauen saßen beim Nachmittagskaffee, die Mutter las ein Gebet aus ihrem Gesangbuche vor, Anna stopfte mit Nadel und Twist an einem schadhaft gewordenen Laken.

„Da, Mutter“, sagte er, „ein Brief, der aus Versehen uns drüben ausgehändigt worden ist. Nach der Handschrift vermute ich, er stammt von deinem Sohn Hans, und es würde mich doch interessieren…“

„Was denn?“ fiel Anna höhnisch ein. „Vielleicht, was drinsteht? Ich glaube, das hast du schon so oft gelesen, daß du uns den Inhalt Wort für Wort wiedererzählen könntest!“

„Glaub', was du willst“, erwiderte er zornig, „das ist mir so viel wert, als wenn oben im Dorf ein kleiner Hund bellt! Aber auch ohne den Brief da kann ich dir sagen, der tapfere Held, den du dir zu Hilfe herbeigerufen hast, ist heute nacht vor Angst feige ausgerissen. Ich war vorhin im Krug, wollte mich mit ihm auseinandersetzen. Da stellte sich heraus, er hat dort ein Fahrrad gestohlen, ist heimlich weggefahren..“

Die Mutter hatte den Umschlag geöffnet, die Brille zurechtgerückt und den Brief laut vorgelesen. Als sie an die letzten Worte kam, brach ihr die Stimme, sie schluchzte laut auf: „Immer mit treuen Grüßen dein heimatloser Sohn Hans…“

Karl Baginski stand mit finsterem Gesicht daneben, hatte die Spitze seines kurzen Schnurrbartes zwischen die Zähne geklemmt. Er fühlte genau, wie seine Frau ihn beobachtete, mußte sich gewaltsam zusammennehmen, um mit keinem Wimperzucken zu verraten, daß er den Inhalt des Briefes schon kannte. Als die Mutter geendet hatte, nötigte er sich ein bitteres Lachen ab.

„So ist's richtig! Fein versteht er seine Worte zu drechseln, der studierte Herr! Wer nicht weiß, wie alles hier gekommen ist, muß mich für den größten Schuft auf dieser Erde halten. Hab' ich ihn vielleicht eingeladen, die hohe Schule zu besuchen und auf den Hof zu verzichten? Und `schamloser Ehebrecher'? Konnte ich's denn riechen, daß eine Frau, die man in der Anstalt fast ein ganzes Jahr lang für unheilbar gehalten hatte, mit einem Male für gesund erklärt wurde? Sollte ich da die Frau, die mir den Hoferben geboren hatte, wie eine räudige Hündin auf die Straße jagen?“

Die Mutter machte eine hilflose Handbewegung, die junge Frau blickte angestrengt auf ihre Arbeit. Nur an einem leichten Beben ihrer Schultern wäre zu erkennen gewesen, daß sie innerlich einen schweren Kampf ausfocht. Als sie merkte, daß ihr Mann die Stube verlassen wollte, hob sie den Kopf.

„Noch einen Augenblick, Karl! Du hast mir heute früh ein Wort gesagt, das ich nicht wieder loswerden kann...“

„Und das wäre?“

„Du besinnst dich noch genau so darauf wie ich. Und ich habe nur eine Frage an dich zu richten. Was wird, wenn das arme Kind da drüben stirbt?“

Er schrak unwillkürlich zusammen: „Da sei Gott vor...“

„Ich glaube“, erwiderte Anna, und in ihrer Stimme war deutlich ein gewisses Mitleiden zu hören, „da hat der liebe Gott schon längst sein Urteil gesprochen. Heute früh hab' ich das von der eigenen Mutter im Unverstand zu Tode verpäppelte Würmchen noch `mal ins Leben zurückgerufen. Ich sage dir jetzt, es wird morgen nicht mehr die Sonne aufgehen sehen. Vorhin schlich drüben die alte Jendrzeiska heraus. Ich hielt sie an: `Na, wie steht's?' Sie legte nur die Zeigefinger überkreuz und schüttelte den Kopf. Da wußte ich Bescheid.“

Der Herr des Bruchhofes senkte ein Dutzend Herzschläge lang das Gesicht zu Boden. Ein maßloses Erstaunen kam über ihn, daß die Frau da ihm anscheinend auf halbem Wege zur Versöhnung entgegenkam. Die Erkenntnis flog ihn an, daß die Eifersüchtige auf der anderen Seite des Hauses wohl richtig gesehen hatte, wenn sie behauptete, die hier trachte bei allem Haß nur danach, ihm zu gefallen es — — war zu spät. Seit Stunden schon kreiste ihm etwas Neues in den Adern, eine Leidenschaft, wie er sie in seinem Leben noch nie empfunden hatte. Da vermochte er den beiden Frauen hier im Bruchhofe nicht zu helfen, er mußte den Weg gehen, den sein wildes Blut ihm vorschrieb... Und was konnte er dafür, daß eine böse Fee ihm als Patengeschenk in die Wiege gelegt hatte, einen Bauernhof zu erben, aber nach einem Leben zu gieren, wie ein Herr...?

Er hob den Kopf, gab sich Mühe, so ruhig zu antworten wie nur möglich:

„Über den Aberglauben, du könntest das Kind behext haben, bin ich natürlich erhaben. Aber nur für dich könnte sich `was ändern, wenn es wirklich sterben sollte. Da tätest du gut, dich noch heute in Sicherheit zu bringen, vielleicht für ein paar Wochen nach Königsberg zu verreisen. Die Tarrasczinska hat bei allem, was ihr heilig ist, geschworen, sie erschlägt dich in derselben Stunde!“

„Weiberschwüre!“ sagte die junge Frau verächtlich. „Grüß sie von mir und zeig' ihr deine rechte Hand mit der Narbe. Aus der Zeit, wo du über `Aberglauben' noch nicht `erhaben' warst!“ Und plötzlich schrie sie auf: „Aber, worauf das hinaus soll, braucht mir kein Mensch zu sagen. Aus dem Haus wollt ihr mich haben, weil ihr denkt, wenn ich erst draußen bin, gewöhn' ich mich dran, geb' ich dich frei! Nie, sag' ich dir, nie!“ Sie schlug die Hände vor's Gesicht, stürzte, laut aufschluchzend, aus dem Zimmer.

Karl Baginski zuckte die Achseln.

„Verstehst du das, Mutter? Zuerst erinnert sie mich daran, daß ich ihr heute früh gesagt hab', wir müßten uns irgendwie auseinandersetzen, und jetzt schreit sie mich an?“

Die Mutter hob die tränenüberströmten Augen.

„Wenn du nur wolltest, würdest du sie schon verstehen! Der liebe Gott hebt ja selbst die Hand auf, um dir den rechten Weg zu zeigen. Und noch ist es Zeit. Schick das Weib drüben fort und geh' auf Ostern mit deiner Frau still in die Kirche zum Abendmahl. Leg all' deine Sünden unserem Herrn und Heiland zu Füßen — vielleicht vergibt er dir auch die schwerste von allen, daß du dich um die dir geschenkte Erde nicht gekümmert hast! Dann kehrt auch der Segen zurück in dies verfluchte Haus, und meine alten Augen sehen vielleicht noch Enkelkinder, die nicht in der Schande geboren sind...“

Karl Baginski war zum Fenster gegangen, vor seine Augen trat ein Bild, wie es auf dem Hofe da draußen aussehen könnte, wenn der fromme Wunsch der Mutter in Erfüllung gehen würde... Schwer beladene Erntewagen schwankten zum Tor herein, gezogen von kräftigen Pferden, der Hirt trieb die satte Herde von der Weide heim, den Kühen strotzten die Euter von Milch, der ganze Hof dampfte ordentlich von dem Schweiß emsig arbeitender Tiere und Menschen... er mitten dazwischen, anfeuernd und selbst schaffend... in der Haustür stand eine Frau mit einem gesunden Kind auf dem Arm, lachte ihn an... Er fuhr sich mit der Hand über die Augen: die Frau trug die Züge des Mädchens, das er vor wenigen Stunden zum ersten Male gesehen hatte und nach dessen Besitz er sich, wo er ging und stand, verzehrte...

Da trat er zu der Mutter hinüber, strich ihr über den Scheitel.

„Ich weiß, du meinst es mit mir am besten von allen. Nur es hilft nichts, für ein ruhiges Bauernleben bin ich verdorben für alle Zeiten. Aber in einem kann ich dir die Sorge von der Seele nehmen: die gefährlichen Grenzgeschäfte geb' ich auf! Was dann weiter kommt, wird sich finden...“

Damit ging er hinaus, hatte das Bewußtsein, die Mutter nicht belogen zu haben, so daß ihm an diesem Tage, wenn's nach dem alten Kinderglauben ging, eigentlich nichts mißlingen konnte...

***

Das Wetter hatte sich geändert, nach der Grenze zu stand eine blauschwarze Wolkenwand am Himmel, es war empfindlich kühl geworden. Kurze Böen fegten von Zeit zu Zeit über den See, rauhten das Wasser auf, so daß die kurzen, kleinen Wellen sich ausnahmen wie Frieseln auf einer Menschenhaut. Wenn die Wand höher stieg und der Wind sich nicht drehte, gab es zur Nacht schweren Sturm und Regen. Zu solcher Zeit auf dem See unterwegs zu sein, war kein Vergnügen...

Mit einer gewissen Erleichterung dachte der Herr des Bruchhofes daran, daß nach aller Voraussicht die sauere Arbeit für immer vorbei war. Geld hatte sie genug gebracht, aber auch Gefahr und Anstrengungen, von denen einer, der nie einen acht Meter langen Eichenkahn gegen Wind gerudert hatte, keine Ahnung hatte... Und der Teufel mochte wissen, woran es liegen mochte, daß gerade in den für einen Grenztransport günstigsten dunklen Nächten der Sturm aus Nordwesten kam. Als wenn der Himmel dort oben ein Loch hatte, durch das alle Luft auf den See gejagt wurde... Erst von der Rostker Ecke an konnte man dann die Segel spannen, bis dahin aber mußte man den schweren Kahn unter dem Schutz des hohen Ufers durch's Schilf staken, fast eine geschlagene Stunde lang. Die Knechte verrichteten die Arbeit spielend, er war immer naß vor Schweiß, wie aus dem Wasser gezogen, schlief hinterher jedesmal drüben in Polen ein paar Stunden wie ein Toter.

Er war an den Bootssteg gegangen, spähte hinaus, aber so weit er zu sehen vermochte, waren weder Segel noch Boote zu erblicken. Da überfiel ihn die Unruhe, die Knechte könnten vielleicht einen Zusammenstoß mit deutschen Zollwächtern gehabt haben. Wenn sie den Befehl ausgeführt hatten, den er ihnen am frühen Morgen gegeben hatte, hätten sie schon seit Stunden zurück sein müssen. Und die Möglichkeit lag vor, daß der alte Krümper von Grenzaufseher in Dlugossen krank war, sein Vertreter sich in dem Dienstboot auf dem See mausig machte... Die günstigste Erklärung war noch, daß der Lümmel Sareyka wieder einmal auf eigenen Kopf gehandelt, die Ladung in einem Zug nach Prawdawola hinübergeschafft hatte, weil es ihm zu schade erschienen war, das schöne Geld nutzlos im Wasser zu ersäufen... Dafür gedachte er ihn nach der Rückkehr gründlich zu beuteln, denn Befehl war Befehl. Und er begann von neuem, über einen glaubwürdigen Vorwand zu grübeln, den Unbequemen für einige Wochen über die Grenze zu schicken... Das Mädel im Dorfe da oben zitterte ja vor Angst, wenn es nur den Namen dieses gewalttätigen Kerls aussprach...

Alles übrige hatte er sich schon auf dem Heimwege vom Kruge genau überlegt. Die Polen drüben gierten ja geradezu nach seinem Hof. Vierhundert Mark hatte er für den Morgen verlangt, in deutschem Gelde, bar auf den Tisch. Auch der unverdächtige Strohmann stand schon bereit, der für die Polen den Kaufkontrakt abschloß, damit die deutschen Behörden bei der Auflassung keine Schwierigkeiten bereiteten. Wenn er dazu sein Guthaben von der Bank erhob, war er ein schwerreicher Mann, konnte in die lockende Weite hinausfahren, wohin es ihm beliebte. Aber nicht allein...

Gar nicht erklären konnte er's sich, wie die Leidenschaft für das braune Mädel da oben im Dorfkruge so plötzlich über ihn gekommen war. Getanzt hatte sie vor ihm, nicht gespart mit den schlanken Beinen, auch gesungen hatte sie mit einer Stimme, die sich ihm süß und wohllautend ins Ohr schmeichelte, aber Ähnliches hatte er schon oft genug gehabt.

Die Tarrasczinska war ja eine dumme Gans, wenn sie sich einbildete, er hätte sie nie betrogen. Fast jedesmal, so oft er in Warschau war. Das gehörte da drüben ja gewissermaßen zum Geschäft. So hatte er auch den Frühtrunk im Dorfkruge zu beendigen gehofft. Sein Freund Zaborowski war bei der zweiten Flasche mit kupplerischem Augenzwinkern aufgestanden, weil er draußen in der Wirtschaft zu tun habe. Da hatte er gedacht, das Mädel nach oben ins Fremdenzimmer des Kruges zu führen, es dort zu nehmen. Aber er war auf einen Widerstand von einer Art gestoßen, auf die er nicht gerechnet hatte. Sie ließ die Arme sinken, saß da wie ein flügellahmer Vogel, und in ihren großen braunen Augen standen Tränen...

„Daß du stärker bist als ich, Herr“, sprach sie auf polnisch, „weiß ich. Auch, daß alle in dieser Räuberhöhle hier so tun werden, als hörten sie nichts, wenn ich schreie und du mich nach oben schleppst. Aber als du hier in die Stube tratst, glaubte ich, es kommt ein Edelmann. Jetzt sehe ich, du bist ein Bauernkerl wie alle übrigen, aber wenn du mir das einzige nimmst, was ich habe, töte ich mich!“

„Na, na, na“, sagte er begütigend, „wird so schlimm nicht werden! Und da müßtest du wohl schon längst im Sarg liegen.“

„Probier's doch“, schrie sie plötzlich auf, stemmte die Hände auf die Hüften. „Ein Dreck liegt mir an meinem Leben, so oft hab' ich's schon verflucht in diesen Tagen. Bin ich denn ein herrenloses Stück Vieh, weil meine Schwester in einem öffentlichen Haus war? Rein und sauber bin ich, hab' ihr geschworen, nur dem Manne zu folgen, den ich liebe. Soll ich da vielleicht mit dem erstbesten betrunkenen Bauer' gehen, der die Hand nach mir ausstreckt?“

Er griff zornig nach ihrem Arm.

„Das Wort nimmst du zurück! Ich bin kein Bauer, ich bin ein Herr!“

„Dann benimm dich auch wie ein Herr!“ schrie sie zurück, „wirb um ein Mädel, wenn du's gewinnen willst! Wenn du's anders haben willst: auf in die Stadt! Da kannst du genug von der Sorte haben, die du meinst!“

Er riß sie an sich, versuchte sie mit Gewalt zu küssen, aber sie rang mit ihm, bis sie plötzlich in einer Art von Erschlaffung in seinen Armen hing und seine Küsse erwiderte. Da hielt er sein Spiel schon für gewonnen, aber sie entwand sich ihm, und ehe er wieder zugreifen konnte, war sie mit wirbelnden Röcken aus dem Zimmer gerannt.

Der Wirt kam zurück, wunderte sich, seinen Freund allein zu finden. „Na“, fragte er, „abgefallen?“

Noch etwas außer Atem erwiderte er: „Ich glaube, das ist das raffinierteste kleine Aas, das mir je vorgekommen ist!“

Herr Zaborowski nahm einen tiefen Schluck, zog den mächtigen Schnurrbart schlürfend zwischen die Lippen.

„Soll ich dir ein Geständnis machen, Bruder Karol? Ich hab' schon auf jeder Backe eine Ohrfeige brennen, weil ich ebenso gedacht hatte wie du. Das Mädel spart sich auf, bis der Richtige kommt.“

„Und der Sareyka? Kauft der vielleicht die Katz' im Sack, wenn er sich verlobt?“

„Der Sareyka hat vor mir hier schon in der Besoffenheit geweint, daß sie ihm noch nicht erlaubt hat, ihr ans Strumpfband zu fassen. Aber sie hat einen Vogel, und an dem ist sie zu nehmen. Ihren Puschel, durchaus Künstlerin zu werden. Also miet' sie irgendwo auswärts ein, halt ihr einen Lehrer zum Singen und einen zum Tanzen! Was kosten schon solche Hungerleider?“

„Mir zu unbequem, der Sareyka spürt ihr nach.“

Herr Zaborowski lächelte.

„Wenn ich mich recht entsinne, hattest du ihm sowieso schon eine längere Beschäftigung drüben in Polen zugedacht?! Was uns beide aber angeht, Karluschek: Wegen der letzten Abrechnung sind wir noch um fünfhundert Mark auseinander. Wenn du mir da entgegenkommst, wird die Bronislawa eines Nachts heimlich abfahren — nur du allein wirst wissen, wohin…“

„Na, das muß ich mir denn doch noch überlegen“, hatte er erwidert, obwohl er schon in jener Minute lichterloh brannte... Und auch jetzt faßte ihn wieder ein unsinniges Begehren, wenn er daran dachte, wie sie sich mit ihrem schlanken Körper beim Küssen an ihn geschmiegt hatte — — —

Die Hunde im Zwinger schlugen an, ein Auto kam auf den Hof gefahren. Karl Baginski ging ihm entgegen, zu seiner Verwunderung aber stieg nicht der erwartete Arzt aus, sondern sein Freund und Parteigenosse Zapietznik, Obmann der engeren Organisation.

„Nanu, zum Donnerwetter“, fragte er nicht ohne Besorgnis, „ist denn irgendwas passiert, daß du dich so aus heiler Haut zu mir auf den Weg gemacht hast?“

Der Gastwirt schlug mit einem Blick auf den Chauffeur des Mietsautos einen jovialen Ton an.

„Wundert's dich, daß ein Weinhändler seine Kundschaft besucht? Ich muß `mal deinen Keller revidieren, ob du mir nicht etwa untreu geworden bist.“ Und als sie außer Hörweite waren, sagte er halblaut: „Du mußt noch heute nacht mit einem Transport über die Grenze!“

„Ich denk' ja nicht d'ran!“ erwiderte er, denn er lauerte ja nur darauf, daß er nach dem Abendbrot unter irgendeinem Vorwand wieder in den Dorfkrug gehen konnte. Wenn er sich auch dort der anderen Gäste wegen zurückhalten mußte, aber sehen konnte er wenigstens das Mädel...

Der Pole sah ihn erstaunt an.

„Was soll das heißen?“

„Daß ich den ganzen Kram satt habe! Das Geschäft wird mir auf die Dauer zu gefährlich. Man sitzt ja wie auf einem Pulverfaß — wenn man hochgeht, fliegt man geradeswegs ins Zuchthaus. Und ich meine, nachgerade hab' ich euch lange genug geholfen!“

„Uns?“ gab der andere bedeutungsvoll zurück. „Gehörst du denn nicht mehr zur Organisation? Muß ich dich an den Eid erinnern, den du geschworen hast? Oder an die Strafen, die dem Lästigen und Abtrünnigen drohen? Mein Lieber, da müßtest du schon recht weit wegreisen, damit der lange Arm der Mächtigen, die über uns sind, dich nicht erreicht!“

Karl Baginski sah ein, daß er sich übereilt hatte. Noch war es zu früh, sich hier von allem loszumachen. Erst wenn ihm die Polen das bare Geld für seinen Hof auf den Tisch gezählt hatten, war es an der Zeit, sich mit dem Mädel auf die Bahn zu setzen, um in irgendeiner Großstadt unterzutauchen, wo ihm die ganze Organisation gewogen bleiben konnte... Da setzte er schauspielerisch eine unwirsche Miene auf.

„Herrgott noch `mal, ihr müßt doch nicht gleich jedes Wort auf die Goldwage legen! Mein Kind ist krank, die Knechte haben den weiten Weg heute schon einmal gemacht. Und pressiert's denn so mit dem Transport?“

„Er darf diese Nacht nicht mehr diesseits der Grenze bleiben. Die Polizei hat heute vormittag bei mir Haussuchung gehalten!“

„Um Gottes willen...“

„Das ganze Nest ist in Aufregung. Weil es herausgekommen ist, daß gestern in der Versammlung auch Polen von jenseits der Grenze dabei gewesen sind. Da hat der Rechtsanwalt Barczewski die Stadtverordneten zusammengerufen, ist mächtig gegen den Bürgermeister losgegangen, weil er die Versammlung nicht aufgehoben hat.“

„Und hat die Polizei bei dir etwas gefunden?“

Herr Zapietznik zog mit überlegenem Lächeln den langen Schnurrbart durch die Finger.

„Bei mir? Mein lieber Karol, ich stand schon im Dienste der Organisation, als unser freies Polen noch ein unerfüllbarer Traum schien. Mein Haus ist gut gebaut, da müßte die Polizei es schon abreißen, wenn sie etwas finden wollte. Aber, als wenn ich's in den Knochen gespürt hätte: Schon acht Tage lang hatte ich nach und nach die dreißig `Weinkisten' zu unserem Vertrauensmann Olschewski nach Abbau Schikorren bringen lassen.“

„Dreißig Kisten?“ wiederholte Baginski mit langem Gesicht. Im stillen hatte er immer noch gehofft, der Transport werde so klein sein, daß ihn die drei Knechte allein bewältigen könnten. Aber zu dreißig Kisten gehörten vier Kähne, er mußte mit...

Fern am Horizont tauchten drei Segel auf, gleich danach setzte eine Hagelbö ein, daß er mit seinem Besucher unter das Dach des Holzschuppens flüchten mußte, vor dem sie standen.

Herr Zapietznik schüttelte sich lachend die Hagelkörner vom Mantel.

„Ein Wetterchen, wie für uns gemacht...“

„Ja“, erwiderte der Herr des Bruchhofes übellaunig, „namentlich für den, der in der warmen Stube sitzt, wenn die anderen sich draußen auf dem See den letzten Hauch Atem aus dem Leib pumpen müssen!“

„Na, tröst' dich, Bruderherz, es ist für lange Zeit das letztemal. Der Herr Gerlitzki hat die Nachricht mitgebracht, die Transporte sollen nicht bloß bei uns eingestellt werden. In Warschau herrscht wieder einmal ein anderer Wind, sie haben dort, wie es scheint, auch mit sich selbst zu tun. Der Gerlitzki wollte ja nicht recht mit der Sprache heraus, aber ich weiß ja auch so ungefähr, wo die Glocken hängen. Der Marschall rührt sich wieder, und wie der gegen die Deutschen gesonnen ist, wissen wir ja. Da wird's wohl wieder heißen, wir selbst brauchen keinen Finger zu rühren, eine ausgehungerte Festung fällt von selbst. Von unserem früheren Generalkonsul in Königsberg, Sosnosky, ist da eine sehr interessante Broschüre erschienen. Ich hab' sie dir mitgebracht. Wenn du sie mit Verstand durchliest, wirst du begreifen: So viel Geld haben die Deutschen nicht, wie sie in Ostpreußen hineinstopfen müßten, um es zu halten.“

„Vielen Dank“, sagte er, hatte Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Wenn in Warschau ein „anderer Wind“ herrschte, hatten die Polen wohl auch kein Interesse mehr, seinen Hof zu kaufen... Dann aber mußte er versuchen, ihn auf dem deutschen Gütermarkt loszuwerden. Bloß es war ein gewaltiger Unterschied dabei. Keine hundertzwanzig Mark bekam er für den Morgen bei dem zerrütteten Stand seiner Wirtschaft...

Die Bö hatte sich zum Sturm gesteigert, von den schadhaften Strohdächern flogen Fetzen, trockene Äste von den alten Linden vor dem Haus wirbelten durch die Luft. Die Wellen drückten das Uferschilf flach auf's Wasser hinab, überspülten den Bootssteg; der Hagel hatte sich in schüttenden Regen gewandelt, wie eine graue Mauer stand er vor der Tür des Schuppens, sperrte die Aussicht.

„Unmöglich“, sagte Karl Baginski fröstelnd, „die Boote gegen den Sturm vorwärts zu bringen. Also laß die Kisten, wo sie sind... morgen ist auch noch ein Tag!“

„Geht nicht, mein Lieber, die Fuhrwerke hat der Olschewski schon zusammengebracht, um zehn Uhr abends sind sie bei dir. Und ich möchte dich warnen. Man ist hellhörig geworden. Der Rechtsanwalt Barczewski hat in der Stadtverordnetenversammlung geschrien, wenn die Ordensburger Polizei weiter so schlafmützig wär', würde er sich auf eigene Kosten einen Detektiv aus Königsberg kommen lassen. Da müssen wir für die nächste Zeit hier reine Hände haben!“

Ein geschlossenes Auto kam in den Hof gefahren. Ein noch jugendlicher Herr stieg aus, sah sich suchend um. Der Wirt Zapietznik spähte durch eine Spalte der Bretterwand hinaus, konnte aber im strömenden Regen die Persönlichkeit nicht erkennen.

„Nanu“, fragte er besorgt, „was ist denn das für ein Besuch?“

„Nur der Doktor für mein krankes Kind“, erwiderte der Herr des Bruchhofes, schlug den Kragen hoch und eilte hinaus, den Arzt ins Haus zu führen. „Dann halt dich nicht zu lange mit ihm auf!“ rief ihm Zapietznik nach, „ich hab' dir noch `ne ganze Masse sehr interessante Neuigkeiten mitzuteilen!“ Karl Baginski aber fluchte im Laufen laut vor sich hin. Von diesen `interessanten Neuigkeiten' hatte er schon nach der ersten Probe genug, und der Teufel hatte ihn geritten, sich mit der Organisation einzulassen! Bei einem harmlosen Schmuggelgeschäft mit Spiritus, Rauschgiften und ähnlichem Kram hätte er ebensoviel verdient. Nur die Aussicht, den Hof zu einem Phantasiepreis zu verkaufen, hatte ihn verlockt, und damit war's jetzt wahrscheinlich Essig bei der Unzuverlässigkeit dieser Bande — — —

Der Arzt hatte sich erst sorgfältig die Hände gewärmt, ehe er sich an die Untersuchung des Kindes machte. Die Tarrasczinska stand mit höhnischem Gesicht dabei, als er schließlich das Hörrohr auf die kleine Brust setzte. Sie war felsenfest entschlossen, nicht eine einzige der Anordnungen zu befolgen, die er treffen würde. Als der Doktor sich endlich wieder aufrichtete, war in sein schmissebedecktes Gesicht ein ernster Ausdruck getreten.

„Herr Baginski, darf ich vor Ihnen und der Mutter ganz offen sprechen?“

„Bitte...“

„Sie hätten mich schon vor Monaten rufen müssen! Der Kleine ist durch eine falsche Ernährung — fast möchte ich sagen — systematisch vergiftet worden. Aber noch wollen wir die Hoffnung nicht ganz aufgeben. Hätten Sie mir vorhin durch's Telephon den Zustand einigermaßen beschrieben, hätte ich ein Mittel, die Tätigkeit des kleinen Herzens anzuregen, gleich mitgebracht. So muß ich Sie bitten, sofort einen reitenden Boten in die Stadt zu jagen, um das Rezept, das ich aufschreiben werde, mit größter Beschleunigung anfertigen zu lassen.“

„Rezept, Rezept!“ schrie die Tarrasczinska gellend auf. „Verhext ist das Kind, und so lange die Kanaille da drüben den Zauber nicht zurücknimmt, kann es nicht wieder gesund werden.“

Der Arzt sah sie betroffen an, Karl Baginski zog ihn am Arm aus dem Zimmer.

„Entschuldigen Sie, Herr Doktor, die Frau ist Polin. Totschlagen würde sie sich eher lassen, als den Aberglauben aufgeben. Aber einen Boten hab' ich leider nicht. Würden Sie so gut sein, mir die Arznei sofort nach Ihrer Rückkehr durch Ihr Auto herauszuschicken? Was es kostet, bezahle ich...“

„Wenn Sie mir garantieren, daß dem Kind die Medizin auch wirklich eingegeben wird, herzlich gerne. Ich habe in meiner bäuerlichen Praxis ja schon mancherlei erlebt, aber so etwas... na schon, eine Kritik steht mir nicht zu.“

„Glauben Sie, Herr Doktor“, fragte er heiser, „daß das Kind am Leben bleiben kann?“

Der Arzt zuckte mit den Achseln.

„Da fragen Sie mich zu viel, Herr Baginski. Wenn es uns gelingt, das kleine Herz in Tätigkeit zu halten, hoffentlich. Vor allem aber müßte das Kind in die Hand einer vernünftigen Pflegerin kommen, die es genau nach der Vorschrift ernährt, die ich Ihnen zugleich mit der Medizin durch meinen Chauffeur herausschicken werde...“

„Vielen, vielen Dank einstweilen“, sagte er, geleitete den Arzt zu seinem Wagen. Und als das Auto zum Tor hinausfuhr, lachte er ingrimmig auf. Eine vernünftige Pflegerin war hier schon im Haus, aber zu der gab es keinen Weg... Er stürzte in das Kinderzimmer zurück, die Tarrasczinska hatte den Kleinen in die dicken Kisten gepackt, steckte ihm wieder den Leinenbeutel mit gequetschtem Mohn in das Mäulchen. Da faßte ihn ein maßloser Zorn, er schrie sie an: „Weib, ich hab' dein Gesicht gesehen, vorhin, als der Doktor das Kind untersuchte. Wenn du nicht alles so befolgst, wie er es vorschreibt, dann — bei Gott — schlage ich dich, daß die Hunde das Blut von dir lecken sollen!“

Sie warf sich über das kleine Bett wie ein Tier, das sein Junges verteidigt.

„Nein“, schrie sie zurück, „ich liefer' ihn euch nicht aus! Vergiften wollt ihr ihn, weil er euch im Weg ist, dir und der anderen. Geh doch `rüber zu ihr, mach mit ihr ein neues Kind, aber verlaß dich d'rauf, sie wird nicht dazu kommen, es auszutragen.“

Ein paar Augenblicke lang stand er unschlüssig, rang mit sich, ob er ihr nicht das Kind entreißen sollte, um es mit einer inständigen Bitte auf die andere Seite des Hauses zu tragen. Da aber sprang ihn ein Gedanke an, wie eine giftige Schlange. Weshalb hatte er sich denn so um das mißratene Klümpchen Menschenfleisch da in dem kleinen Bette? Noch ein paar Tage oder Stunden, und es atmete nicht mehr. Die beiden Weiber aber? Was konnte ihm denn Besseres passieren, als wenn dieses unvernünftige Tier die andere umbrachte und hinterher ins Gefängnis kam oder über die Grenze fliehen mußte...? Er selbst war dann frei, konnte ohne jede Hemmnisse ein neues Leben anfangen...

Ein Frösteln zog ihm über den Rücken, fast hätte er sich als Evangelischer nach Art der katholischen Tarrasczinska bekreuzigt. Aber Gedanken waren ja keine Taten, und er entsann sich eines Artikels, den er mal in der Zeitung gelesen hatte. Ein berühmter Seelenarzt hatte da geschrieben, wenn all' die Menschen eingesperrt werden sollten, die zu irgendeiner Zeit Mordgedanken im Hirn gewälzt hätten, müßte die ganze Welt ein Zuchthaus sein. Er aber dachte ja nicht an Mord, hatte vielmehr alles getan, ihn zu verhindern... Und er nahm sich vor, die Tarrasczinska noch einmal nachdrücklich zu bedrohen, der anderen kein Leid zuzufügen. Sie mußte schließlich so vernünftig sein, einzusehen, daß sie damit ihr eigenes Schicksal verwirkte...

Die Regenbö war vorübergerauscht, aus einem Fleck blauen Himmels lachte wieder die Sonne. Die drei Kähne kamen mit prallen Segeln angefahren, das Wasser schäumte vor ihrem Bug. Hundert Schritte vor dem Steg ließen die Knechte fast gleichzeitig die Schotenleinen fahren, die losen Segel schlugen und knallten im Winde. Ein paar Augenblicke später waren sie um die tannenen Mastbäume gerollt, die Boote machten, mit dem Stern voran, am Stege fest.

Wie ein gut eingeübtes Manöver nahm es sich aus. Die drei Knechte stiegen aus, naß, wie gebadete Katzen, aber gut gelaunt. Anscheinend hatten sie auf die gelungene Fahrt drüben in Polen einen gehörigen getrunken. Und Ludjich Sareyka wartete die Vorwürfe erst gar nicht ab.

„Herr, schimpf nicht“, sagte er lachend, „wenn du dabei gewesen wärst, hättest du es ebenso gemacht. Ein paar tausend Schläge hatten wir gerudert, mit einemmal wird es mir kühl im Genick, ich dreh' mich um, kommt da ein Südwindchen angetanzt wie ein junges Füllen. Hei, rufe ich den beiden anderen zu, wenn ihr so denkt wie ich, probieren wir's! Auf mit den Segeln und durch nach Prawdawola! Wenn sich was Verdächtiges zeigt, ist immer noch Zeit, so zu tun, als legten wir Netze aus, und dabei die Kisten ins Wasser zu lassen. Und hinter der Linie können die Deutschen uns sonst was, aber nicht in den Kähnen `rumschnüffeln! Da haben wir nicht lange gefackelt als fixe Kerle, die wir sind, Segel hoch, und es ging wie geschmiert. Drüben aber haben wir uns vor Freude einen Kleinen angesoffen und gedacht, wo wir dem Herrn ein so schönes Stück Geld gerettet haben, wird er sich mit einem ordentlichen Trinkgeld auch nicht lumpen lassen!“

Der Wirt Zapietznik war ebenfalls zum Bootssteg hinuntergekommen.

„Jungens“, sagte er, „ihr müßt heute nacht nochmal hinüber!“

Ludjich Sareyka schüttelte den Kopf.

„Geht nicht, Herr! Wenn man einmal Glück gehabt hat am Tag, soll man's nicht zum zweitenmal herausfordern!“

„Es muß aber sein! Unter allen Umständen!“

Der Knecht schob die Mühe zur Seite, kratzte sich hinter'm Ohr.

„Herr, warst du schon mal draußen auf dem See, wenn er brüllt, daß du dein eigenes Wort nicht verstehen kannst? Der Sturm jetzt ist ja bloß ein leichtes Schlabberwindchen gegen das, was die Nacht uns bringt. Die dunkle Wand da drüben steigt immer höher, und — glaub mir — von der Rostker Ecke an geht's mit den schwer beladenen Kähnen ums liebe Leben. Der Topjelec tanzt auf den Wellenkämmen, fletscht die Zähne und lauert bloß darauf, daß dir der Kahn voll Wasser schlägt und versackt. So lange noch Holz ist zwischen dir und ihm, kann er dir nichts tun. Aber im Wasser hat er über dich Gewalt...“

„Unsinn“, erwiderte der Gastwirt, „es ist Befehl, die Kisten müssen noch heute nacht hinüber. Und ich zahl euch jedem zwanzig Mark vorweg auf die Hand, hab' auch drei Flaschen feinen Aquavit mitgebracht; wenn ihr von dem ein paar Gläschen trinkt, werdet ihr wieder stark wie Löwen!“

Ludjich Sareyka tauschte mit den anderen Knechten einen Blick.

„Also gut, Herr, wir wollen's versuchen! Wann kommen die Kisten?“

„Gegen zehn Uhr abends.“

„Na, dann geht's! Da können wir uns noch ein paar Stunden ins Stroh schieben, und wenn wir so ein feines einfüllen können, werden unsere drei Herzenslämpchen wohl diese Nacht durch noch brennen...“

Die drei Knechte entfernten sich lachend; ein Spaßmacher war dieser Sareyka, wußte immer das richtige Wort zu finden! Herr Zapietznik aber atmete erleichtert aus.

„Gott sei Dank, die Hälfte ist — unberufen — geschafft. Und jetzt komm, Karol, noch auf ein Stündchen hinauf in den Krug zum Zaborowski. Wo du ein krankes Kind im Hause hast, möchte ich nicht stören. Sonst hätte ich mich deiner schönen Herrin gerne zu Füßen gelegt. Auf eine erfreuliche Mitteilung aber will ich dich nicht länger warten lassen: `Man' ist drüben fest entschlossen, dein Grundstück zu kaufen — der `Wind' kann sich ja vielleicht wieder drehen! Bloß der Preis ist zu unverschämt! Hundert Mark pro Morgen müßtest du nachlassen!“

Der Herr des Bruchhofes mußte sich zusammennehmen, seine Freude nicht allzu deutlich zu zeigen. Aber er hätte im Augenblick wohl kaum selbst sagen können, worüber er sich mehr freute. Über den unter immer noch günstigen Bedingungen bevorstehenden Verkaufsabschluß oder die Aussicht, in kurzer Zeit auf so unauffällige Art das braune Mädel wiederzusehen, um das unablässig seine Sehnsucht kreiste. Aber da er ein geschickter Händler war, erwiderte er gedehnt: „Bloß dreihundert Mark für den Morgen? Nein, mein Lieber, das ist mit mir nicht zu machen!“

Herr Zapietznik stieß ihn vertraulich in die Seite: „Für manche Geschäfte ist es gut, die `maßgebenden Stellen' zu interessieren! In diesem Falle Herrn Gerlitzki und mich. Wenn du uns zusammen mit — sagen wir mal — zwanzigtausend Mark `interessierst', kann ich dir im Vertrauen verraten, daß ich Vollmacht habe, alleräußerst bis dreihundertsechzig zu gehen.“ Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: „Unsere heilige Sache in Ehren, aber wenn man Tag und Nacht mit einem Fuß im Gefängnis steht, möchte man doch was haben für all die ausgestandene Angst. Und auch ich möchte mich bald zur Ruhe setzen, mein gefährliches Geschäft einem gut zahlenden Nachfolger überlassen...“

Da schüttelten die beiden sich lachend die Hände, der Herr des Bruchhofes eilte nur rasch ins Haus, um der Tarrasczinska mitzuteilen, daß ihn eine dringende Besprechung in Parteiangelegenheiten mit seinem Freunde Zapietznik in den Dorfkrug rufe...

10

Im offenen Gelände hatte Hans Baginski alle Kraft aufzubieten müssen, sein Rad gegen den Sturm vorwärts zu bringen. Im Schutz des Waldes ging es leichter, da raste die Windsbraut nur oben durch die Kronen, zauste die Äste und riß alles mit sich, was morsch und überständig war. Als er aber in die Nähe des Bruches kam, mußte er die Laterne löschen und absteigen. Das weithin leuchtende Licht hätte ihn verraten können. Von da an fühlte er sich nur mit tastendem Fuße auf dem hartgetretenen Stege weiter, der sich an der moorigen Straße entlangzog. Wenn wieder einmal eine der Regenböen vorüberbrauste, war es so dunkel, daß man die ausgestreckte Hand nicht vor den Augen erkennen konnte. Hätte er den Weg in seiner Jugend nicht Hunderte von Malen zu jeder Tages- und Nachtzeit begangen, hätte er sich wohl kaum zurechtgefunden. Aber er fühlte genau, die Jahre des Stadtlebens hatten in ihm etwas verdorben. Die eisernen Nerven von früher hatte er nicht mehr.

Durchnäßt war er vom Regen bis auf die Haut, der eisige Wind drang erkältend durch den dünnen Werkstättenanzug, den er zu der Fahrt angelegt hatte. Und vom Bruche her kamen Stimmen, die in ihrer Unheimlichkeit auch einem Unerschrockenen die Frieseln über den Nacken jagten. Der bei jeder neuen Regenbö frisch einsehende Sturm heulte über den Erlen und Weidenbüschen des Moors auf wie eine ganze Rotte hungriger Wölfe, kollerndes Lachen der Waldeulen klang dazwischen, ein aufgescheuchtes Schof Enten sauste dem einsamen Nachtwanderer so dicht über den Kopf, daß er den Luftdruck der Flügelschläge spürte. Und aus dem Hochwalde kam zuweilen ein schmetterndes Krachen wie vom Einschlag schwerer Geschosse, jedesmal, wenn die Windsbraut über einen der hundertjährigen Kiefernstämme die Oberhand gewonnen, ihn mit langhin streckendem Wurf samt den Wurzeln aus der haltenden Erde gerissen hatte. Da war er nahe davor, sich selbst die Entschuldigung zurechtzumachen, der Sturm sei so stark, daß die auf dem Bruchhofe es gar nicht wagen könnten, die Fahrt über den See zu unternehmen. Und an die Weissagung mußte er unwillkürlich denken, die das liebe blonde Mädel in Rakowen ihm erzählt hatte: einem der beiden Söhne des Bruchhofes sei es bestimmt, eines gewaltsamen Todes zu sterben...

Während er so mit sich rang, vernahm er plötzlich einen Laut, der ihn zuerst zusammenfahren ließ, dann aber alle Sehnen seines Körpers straffte. Das prustende Schnauben eines Pferdes war es, und zwar so dicht hinter ihm, daß er gerade noch Zeit fand, mit seinem Rade hinter einem am Bruchrande stehenden Erlenbusche Deckung zu nehmen. Der Wagen hielt an, einige andere rückten auf.

„Was ist denn los?“ rief eine Männerstimme auf polnisch aus dem Dunkel. „Weshalb bleibst du auf einmal stehen, Woytek?“

„Kommt mal alle her!“ schrie der Führer des ersten Wagens nach rückwärts, „wir müssen hier das Stück Bruch absuchen. Mein Wallach hat eben einen Menschen gerochen!“

„Unsinn“, antwortete die erste Stimme, „er wird auf ein Stück Wild geschnaubt haben! Und wir müssen voranmachen, wir sind schon sowieso verspätet...“

Da griff Hans nach seiner Waffe, aber er konnte sie in der Tasche lassen, die Fuhrwerke zogen weiter. Sechs Wagen vermochte er an den Zurufen der einzelnen Führer festzustellen, und die Genugtuung füllte sein Herz, daß er sich nicht umsonst auf den Weg gemacht hatte, denn der nächtliche Transport zog zum Bruchhofe. Auch die bange Stimmung war wie fortgeweht, jene fast fröhliche Entschlossenheit überkam ihn, mit der er im Feldzuge seine Kompagnie oft genug zum Sturme geführt hatte. Mehr als das bißchen Leben konnte er auch heute nicht verlieren, wenn er aber gewann, winkte ihm ein ganz besonders feiner Lohn... Eins nur reute ihn: er hatte vor der Abfahrt seinen Plan nicht genau genug überdacht. Den Führer des letzten Kahnes mußte er überfallen, knebeln und binden. Wie aber schaffte er das Faß oder die schwere Kiste fort, die er als Beweismittel in seinen Besitz bringen mußte? Dazu gehörte ein zweiter Mann und ein Fuhrwerk... Doch auch dafür war vielleicht Rat zu finden... Auf halbem Wege vom Bruchhofe zur Rostker Ecke saß auf einsamem Abbaugehöft der Kleinbauer Zündler. Nicht nur deutschen Namens, sondern auch von echter deutscher Gesinnung. Dessen Einziger war vor Mlawa geblieben, er hatte als Kompagnieführer die traurige Pflicht gehabt, dem Vater die Nachricht vom Heldentode des Sohnes mitzuteilen. Und der Alte hatte zurückgeschrieben, das Herz täte ihm weh, aber wenn der Junge sein Scherflein beigetragen hätte zum Siege Deutschlands, müßte er sich damit abfinden... Die Wagen waren vorübergezogen, Hans Baginski überquerte die Straße, nahm seinen Weg, so gut und eilig es ging, durch den stöhnenden und ächzenden Hochwald. Im alten Hause des Bruchhofes waren einige Fenster hell, eine Laterne schwankte zum Bootsstege hinab — Anzeichen, daß man dort den Transport erwartete. Er umschlug das Feld, und als er die nach Polen führende Chaussee erreicht hatte, gelang es ihm, die Lampe seines Rades wieder anzustecken. Nach kaum zehn Minuten Fahrt war er zu dem einsam liegenden Gehöft gekommen, aber ein gegen die Gartentür stürmender großer Hund wehrte ihm den Eintritt, so daß er sich von der Straße aus durch lautes Rufen bemerkbar machen mußte. Im Hause öffnete sich endlich ein dunkles Fenster.

„Ist da wer draußen?“ schrie eine Männerstimme durch den Sturm.

Hans richtete das Licht seines Fahrrades auf das eigene Gesicht, gab sich zu erkennen.

„Rufen Sie den Hund ab, Vater Zündler, und kommen Sie auf `nen Augenblick heraus! Ich hab' etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.“

„Gut, Herr, ich muß bloß in die Kleider fahren, war schon im Bett...“

Eine Minute später stand der Alte barbeinig am Zaun, hatte über das Hemd in der Eile nur den Schafpelz gezogen.

„Also, Herr Baginski, was gibt's?“

„Eine Arbeit, die ich leider nicht allein schaffen kann. Aber geben Sie mir mal erst die Hand, daß es bei Gott nur zwischen uns beiden bleibt, was ich Ihnen jetzt anvertrauen werde.“

„Wenn's nichts Unrechtes ist, können Sie sich darauf verlassen!“

„Gut! Dann schirren Sie Ihr Pferd an, machen den Wagen zurecht, in einer Stunde ungefähr — es kann auch ein Weilchen länger dauern — hol' ich Sie wieder ab. Sie müssen mir helfen, eine Kiste oder vielleicht auch ein Faß das steile Ufer `raufzuschleppen, und dann ab damit nach Rakowen!“

Der Bauer kratzte sich den weißen Kopf.

„Herr Baginski, meine Schwiegertochter — sie führt mir nach dem Tode meines Jungen die Wirtschaft — ja also, sie brachte schon gestern aus dem Dorf die Nachricht nach Hause, daß es auf dem Bruchhof toll hergegangen wär'. Mit Schießen und Schlagen. Wenn das, was Sie vorhaben, also jetzt gegen Ihren Bruder geht, kann ich Ihnen nicht helfen. Das Geld für die Feuerversicherung kann ich nicht zusammenkratzen, und wenn es in den nächsten Monaten `zufällig' bei mir brennen sollte, bin ich ein ruinierter Mann!“

„Wenn der liebe Gott mir hilft“, erwiderte Hans, „wird's mit dieser Pest hier bald vorbei sein! Und es handelt sich im letzten Grunde um nicht viel weniger als das, wofür Ihr Einziger bei meiner Kompagnie vor Mlawa sein Leben hingegeben hat!“

Der Alte atmete auf.

„Es ist gut, Herr Leutnant! Ihr Brief hängt eingerahmt neben seinem Bild und dem Eisernen Kreuz. Der Herr sei mit Ihnen, ich werde mich bereithalten.“

Eine halbe Stunde später stand Hans im Schutze des Steilufers am See auf dem Wege zur Rostker Ecke. Vier Kähne waren abgefahren, das hatte er gleich hinter dem Bruchhofe festgestellt. Dann war er vorausgeeilt bis zu der Stelle, die ihm für den Überfall am günstigsten erschien. Eine kleine Einbuchtung war es, in der die Schaarkante gleich hinter dem schmalen Schilfgürtel entlangzog. Keine fünf Schritte vom Ufer ging es steil in die Tiefe, „wie vom Ofen herunter auf Kopf...“ Wenn es nur ein bißchen glückte, konnte er dem Führer des letzten Kahnes mit einem Satz in den Nacken springen. Und selbst wenn der Kerl in der Überraschung laut aufschrie, war kein Mißlingen zu befürchten. Da hätten die vier Boote schon unmittelbar hintereinander fahren müssen, aber das war nur bei stillem Wasser möglich. Bei dem wilden See hatte jeder der Ruderer beim Staken so viel mit dem eigenen Kahn zu tun, daß er auf die anderen nicht achten konnte. Und einen Schrei verwehte der Sturm...

Die Geduld des Wartenden wurde auf eine ziemlich lange Probe gestellt. Unter dem Druck des Sturmes peitschte ihm der Regen den Nacken, in den schlanken Birken am hohen Uferrand spielte die Windsbraut wie auf einer Harfe ihre heulende Melodie. Das Schilf lag fast platt auf dem Wasser, und dunkel war es wie in einem Sack. Nur ahnen konnte man, wie hoch die Wellen im freien Wasser sich türmen und überstürzen mochten...

„Wolkenschieber“, mußte Hans unwillkürlich denken, hatte der Freund in Rakowen ihn genannt. Von Wolken war nichts zu sehen, Himmel und Wasser schienen eins. Das Wort aber sollte wohl nicht nur einen besonders ideal angelegten Menschen bezeichnen, hatte auch noch eine Art von mitleidiger Nebenbedeutung. Für einen, der es vom Dorfschuljungen zum Offizier gebracht hatte und nun diesem Stande schuldig zu sein glaubte, in allen Fragen persönlicher Ehre einen besonderen Übereifer an den Tag zu legen. Wenn er sich auf Herz und Nieren prüfte, traf es zu. Wäre er nicht in einem Bauernhause zur Welt gekommen, hätte er vielleicht den bequemeren Weg gewählt, dem Bruder das Handwerk zu legen... Vielleicht auch, wenn er sich vor dem blonden Mädel seines gefährlichen Vorhabens nicht gerühmt hätte... Aber der Teufel sollte das ewige Grübeln holen, die Zeit des Handelns war gekommen...!

Der erste Kahn schob sich schwerfällig vorüber, kaum, daß der hinter einem niedrigen Kiefernbusch am Ufer Kauernde den Umriß gegen das um eine Schattierung hellere Schilf erkennen konnte. Nach kurzer Pause kam der zweite und dritte, dann aber dauerte es eine ganze Weile, bis er den vierten vernahm. Er watete einen Schritt ins Wasser, machte sich, ins Schilf geduckt, zum Zusprung bereit, hörte deutlich eine fluchende Stimme: „Verdammte Schweinerei!“ schrie der Mann im Stern des Bootes, „ihr da vorn, haltet an, ich hab's satt...!“

Da stockte er einen verhängnisvollen Augenblick lang, die Stimme kannte er nur zu gut. Aber es half nichts, er mußte vorwärts. Dem anderen sollte ja auch nichts weiter geschehen, als daß er ihn band und knebelte... Er machte einen Schritt nach vorn, sein rechter Fuß hatte hinter eine Schilfwurzel, der im Boot schrie auf in jähem Schreck und schlug zu mit dem eisenbeschlagenen Ruder... Hans Baginski sank lautlos zurück, vor seinen Augen brannten flammende Sonnen...

Die kurze Zeit, in der der Herr des Bruchhofes das stakende Ruder zum Schlage aus dem Wasser hob, hatte hingereicht, daß der von oben herabdrückende Sturm sein Boot mit dem Hinterende voran in den offenen See hinaustrieb. Und er brauchte eine ganze Weile, um sich von der Angst, die ihm lähmend in die Glieder gefahren war, zu erholen. Als er aber merkte, daß sein Kahn anfing, Wasser überzunehmen, legte er sich mit den letzten Kräften ins Ruder, um das schützende Ufer wiederzugewinnen.

Zwei der Knechte hatten ein paar hundert Schritte weiter ihre Kähne auf's Ufer geschoben. Und sie fluchten laut: Das kam von dem faulen Leben und Saufen, daß ihrem Herrn das Mark in den Knochen zum Mithalten fehlte! Ludjich Sareyka aber kehrte mit seinem Boote um: „Herr, was ist das heute mit dir, daß du so weit zurückbleibst?“

„Ein Kerl wollte zu mir in den Kahn springen, aber ich hab' ihn mit dem Ruder auf den Kopf geschlagen!“

„Na, dann auf, daß wir ihn ganz kaltmachen und im See versenken!“

„Du bist wohl verrückt!“ schrie sein Herr zurück. „Das kann doch nur ein Zollwächter gewesen sein! Schon als der Zapietznik kam, hab ich's gespürt, die Kerle werden uns auflauern. Und sie gehen doch nie allein, da rennen wir den anderen am Ufer geradezu ins Feuer…“

„Kannst recht haben, Herr, also dann vorwärts nach drüben...! Aber wir wollen uns von jetzt an mehr zusammenhalten, damit einer dem anderen zu Hilfe kommen kann!“

Von da an ging die Fahrt ungestört vonstatten. Auch der Sturm hatte ein wenig nachgelassen, zwischen den am Himmel jagenden Wolken blinkte schon ab und zu ein Stern auf. An der Rostker Ecke konnten die Segel gespannt werden, zwei Stunden nach Mitternacht landeten die vier Boote am Steg in Prawdawola. Karl Baginski aber überließ den Knechten das Ausladen. Er selbst streckte sich in der Schenke auf eine Bank. Die Glieder waren ihm schwer wie Blei vor Müdigkeit, und halb im Einschlafen leistete er sich einen heiligen Eid: Das eben war seine letzte Fahrt über den See gewesen...

***

Im Bruchhofe wanderte unterdessen die Tarrasczinska zwischen dem Bette ihres kleinen Sohnes und dem Muttergottesbilde im Schlafzimmer ruhelos auf und ab. Bald lag sie vor dem Bilde auf den Knien, bald vor dem Bettchen, in dem das fiebernde Kind lag. Die geschwollenen Händchen griffen unruhig auf der Decke umher, aber sie nahm es für ein Zeichen der Besserung, steckte ihm die Rassel zwischen die Finger, denn er hatte offenbar schon wieder Lust zum Spielen. Auch das mit ihr wachende Polenmädchen freute sich.

„Herrin, man merkt es ordentlich, wie er munter wird. Und wie recht hattest du, daß du ihm diese deutsche Medizin nicht gegeben hast!“

„Sag' lieber Gift“, erwiderte die Tarrasczinska zufrieden. „Ich weiß schon, was ich tue! Nur mein Gebet zur heiligen Jungfrau hat geholfen, und morgen laß ich noch einmal die Jendrzeiska kommen, daß sie ihn wieder bespricht, das dicke Bäuchelchen mit Dachsfett einreibt, damit die Geschwulst zurückgeht. Und jetzt: ich kann kaum noch stehen vor Müdigkeit. Nur ein Viertelstündchen muß ich mich hinlegen. Du aber weckst mich sofort, wenn er seine lieben Guckäugelchen aufmacht...“

„Gewiß, Herrin“, erwiderte das Mädchen, „du darfst ruhig schlafen, ich werde nichts versäumen!“

Da drückte die Tarrasczinska ihrem kleinen Sohne einen Kuß auf die Stirn, machte über ihm das Zeichen des Kreuzes, neigte sich noch einmal in dankbarer Demut vor dem wundertätigen Bilde an der Wand und streckte sich in Kleidern auf ihr Bett. Nur ausruhen wollte sie sich ein Weilchen, aber sie mußte vor Übermüdung wohl fest eingeschlafen sein, denn sie spürte plötzlich, daß sie hart am Arm gerüttelt wurde. Noch schlaftrunken öffnete sie die Augen, durch die Fenster schien schon das graue Licht des nahenden Morgens.

„Was ist denn los?“ fragte sie.

„Herrin, komm rasch... Der Karluschek hat sich eben ganz lang ausgestreckt, und jetzt rührt er sich nicht mehr... Ich möchte sagen, ich habe gesehen, wie das kleine Seelchen als ein weißes Engelchen zu seinem Mäulchen heraus zum Himmel emporgeflogen ist...“

Noch ein paar Augenblicke dauerte es, bis die Tarrasczinska begriffen hatte. Sie brüllte auf wie ein wildes Tier, stürzte ins Nebenzimmer, hob den Kleinen aus dem Bettchen, schaukelte ihn in den Armen hin und her und gab ihm tausend Kosenamen. Aber die erloschenen Augen blieben starr, und so oft sie eins der geschwollenen Händchen anhob, fiel es schlaff wieder zurück. Da wollte sie die Totenklage schreien, aber beim ersten Laut schon hielt sie inne, stopfte sich ein Tuch in den Mund und stöhnte nur leise vor sich hin. Wenn die Hexe auf der anderen Seite des Hauses erfuhr, was sich hier zugetragen hatte, war sie ja gewarnt, konnte sich in Sicherheit bringen. Und das durfte nicht geschehen, daß eine solche Ruchlosigkeit wie der Mord an einem unschuldigen kleinen Kinde ohne Sühne blieb...

Das Mädchen hatte sich die Augen getrocknet, ging zur Tür. Die Tarrasczinska sprang aus, ergriff sie beim Rock.

„Wo willst du hin?“

„Die anderen Mädchen zusammenrufen, Herrin, daß sie beten helfen. Und auch in den Ställen ansagen, daß der kleine Hoferbe gestorben ist.“

Die Tarrasczinska bedrohte sie mit geballter Faust.

„Zu Brei zerschlag' ich dich, wenn du dich in den nächsten Stunden hier aus der Stube rührst! Den Tod sag' ich selber an, du aber hilf mir beim Waschen und, wenn dir dein Leben lieb ist, fing dabei ein Kinderlied...“

Das Mädchen starrte die Herrin entsetzt an, aber Menschen, die offenbar den Verstand verloren hatten, durfte man nicht widersprechen. Da half sie den kleinen Leichnam waschen und frisch betten, sang dabei das lustige Lied von dem Hunde, der zum Walde fuhr, um Holz zu holen, dabei aber den Wagen zerbrach und die Axt verlor, weil ihm ein Hase über den Weg lief. Sie sang mit heller Stimme, aber nach jeder Strophe mußte sie die Tränen runterschlucken, die ihr aus den Augen in den Mund rannen...

Die Tarrasczinska zog sich um und machte sich für den Tag zurecht wie sonst. Sie hatte durchaus nicht die Absicht, bei der Erfüllung ihres Gelübdes das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Die Wege, die ihre Feindin frühmorgens in der Wirtschaft ging, kannte sie, wußte auch die Stelle, wo sie ihr am besten auflauern konnte. Nach geschehener Tat aber ließ sie sich über den See nach Polen bringen, und der Herr mußte ihr nach dem Verkaufe des Hofes folgen. Sie wußte viel zu viel von ihm, als daß er's hätte wagen können, sie im Stich zu lassen...

Mit dem Beil unter der Schürze begegnete sie auf dem Flur der alten Frau Baginski. „Na“, sagte die, „ich hörte vorhin die Annuschka singen. Da geht's dem Kleinen wohl wieder besser?“

„Ja“, erwiderte sie mit fester Stimme, „es geht ihm sehr gut. Und jetzt schläft er...“ Wie absichtslos schlenderte sie über den Hof, blickte in den Kuhstall, und als ihre Feindin, an jedem Arm einen gefüllten Milcheimer, sich dem Ausgange näherte, stellte sie sich hinter die Tür. Aber sie hatte die Entfernung nicht richtig bemessen, der erste Hieb streifte nur leicht den Arm. Und ehe sie zum zweiten Male ausholen konnte, hatte die andere die Eimer fallen lassen, rannte laut um Hilfe schreiend dem Steg am Wasser zu. Ein Boot lag noch da; wenn es ihr gelang, die nur lose um einen Pfahl geschlungene Kette abzuwickeln, war sie gerettet... Aber die Verfolgerin war fast ebenso rasch wie sie. Da wandte die junge Frau sich um, den ersten Schlag unterlief sie, griff mit der Rechten der Tarrasczinska nach dem Halse und krallte die Linke ihr ins Haar... Die Scharwerksmädel stürzten aus den Stalltüren, aber wie es gekommen war, daß die beiden Frauen in enger Umklammerung ins tiefe Wasser gerieten, wußte später keine zu sagen...

Der Herr des Bruchhofes kam mit seinen Knechten von Polen zurück. Der Michalski und Kuligowski segelten einzeln, er selbst hatte sich zum Sareyka gesetzt, sein eigener Kahn folgte im Schlepptau. Und er war sehr guter Laune. Die Fahrt hatte ein schönes Stück Geld gebracht, im Dösen beim Segeln war ihm auch endlich der glaubwürdige Vorwand eingefallen, den unbequemen Knecht für Wochen zu entfernen. Den Weg dazu hatte ihm eigentlich sein Freund Zapietznik gewiesen. Wenn's mit dem bisherigen Betrieb vorbei war, mußte eben ein neuer mit anderen Waren aufgenommen werden. Um die für ein solches Geschäft nötigen Verbindungen anzuknüpfen, ging Ludjich Sareyka bis Warschau hinunter auf die Reise, war sicherlich sehr stolz darauf, mit einem so lohnenden Vertrauen beehrt zu werden. Er selbst aber gedachte, schon in wenigen Tagen mit seinem braunen Mädchen in Berlin zu sitzen. Der Krugwirt hatte ihm ja schon gestern vertraulich zugeblinzelt, die Angelegenheit mit der kleinen Bronislawa sei in Ordnung. Seiner Überredungskunst sei es gelungen, sie davon zu überzeugen, daß sie an der Seite seines Freundes Baginski einem geradezu glänzenden Leben entgegengehen werde...

„Wo war das eigentlich genau, Herr“, fragte Sareyka, „wo der Kerl ins Boot springen wollte?“

„Da drüben in der kleinen Bucht, ziemlich unterhalb von dem Zündlerschen Gehöft.“

„Schön, dann werde ich nachher den Lyß nehmen und unauffällig das Ufer abspüren. Er arbeitet ja lange nicht so gut wie mein armer Gilk, aber irgend was wird sich schon finden...“

Die beiden anderen Knechte waren ein paar Kahnlängen voraus, der Kuligowski rief lachend zurück: „Herr, sich mal nach dem Bootssteg hinüber! Da find sich zwei von den Scharwerksmargellen in die Haare geraten...“

Ludjich Sareyka beugte sich nach vorn, um unter dem Segel hinausblicken zu können. Seine Augen waren schärfer als die seines Genossen.

„Herr und Heiland hilf“, sagte er bloß, „daß wir noch zur Zeit kommen!“ Mit raschem Schnitt kappte er das Schlepptau zum zweiten Boote, legte sich gewaltig ins Ruder, um den segelnden Kahn in der Fahrt zu unterstützen.

„Was hast du dich bloß so um die beiden Margellen?“ fragte Karl Baginski lachend.

„Margellen, Herr? Deine Frau und die Tarrasczinska ringen im See... und da... jetzt... sind sie weg…“

Der Bauer hatte das zweite Ruder ergriffen, aber seine Arme waren wie gelähmt, er konnte wenig helfen. Als sie endlich am Steg anlegten, war von den beiden Frauen schon lange nichts mehr zu sehen. Die Mädchen rannten schreiend am Ufer umher, Sareyka sprang mit Kleidern ins Wasser, tauchte mit offenen Augen. Als er mit triefenden Haaren wieder hochkam, rief er: „Hier unten liegen sie, eine an die andere geklammert, aber es ist vorbei mit ihnen, sie rühren sich nicht mehr…“

Ein paar Minuten später waren die Leichen ans Ufer geschafft. Die junge Frau hatte eine klaffende Wunde in der Schulter, ihre linke Hand aber war in die Haare der Tarrasczinska gekrallt, die Finger mußten mit Gewalt aufgebrochen werden. Die alte Frau Baginski warf sich schluchzend über ihre Schwiegertochter, der Herr des Bruchhofes stand fassungslos daneben. Nur einen einzigen Gedanken im Hirn: er selbst hatte das Unglück mit heimlichem Wunsche beschrien...

Ludjich Sareyka rührte ihn am Arm.

„Herr, nimm dich zusammen! Wenn das Gericht kommt, wird hier alles aufgerührt wie Moorwasser. Zunächst einmal müssen die Margellen über die Grenze fort. So ein Staatsanwalt kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Zuletzt fragt er, was hat denn der Herr mit seinen Knechten auf dem See getrieben, während das Unglück passierte?“

Karl Baginski fuhr sich mit der Hand über die Augen: „Gut, gib jeder von ihnen ein ordentliches Stück Geld! Aber was willst du denn sagen, weshalb sie fort sind?“

„Ja, Herr, eigentlich geht es mir auch gegen den Strich, denn mit solchen Dingen soll man nicht seinen Spaß treiben. Aber ich werd' mit dem Kuligowski und Michalski aussagen, die Bruchmahr hat sich schon seit Wochen nachts immer auf dem Hof gezeigt, die Weiber sind halbtoll vor Angst gewesen. Und nach dem Unglück sind sie wie die Verrückten fortgerannt.“

Eine halbe Stunde nach dem Landen der Leichen war die Nachricht ins Dorf hinausgeflogen, als hätte der Wind sie hingetragen. Die Straße war schwarz von Menschen. An der Spitze schritt der Gemeindevorsteher Bogdan mit dem Amtsstabe. Er schüttelte dem Herrn des Bruchhofes die Hand, sorgte sodann dafür, daß der Schauplatz bis zum Eintreffen der Gerichtskommission durch die Schöffen abgesperrt wurde. Die Menge stand dicht gedrängt vor dem geschlossenen Hoftore, und all die dunklen Sagen gingen wieder von Mund zu Mund, die sich seit alters her um den Bruchhof spannen...

11

Fränze Podleschny hatte nicht schlafen können. Alle halbe Stunde machte sie Licht, um nach der Uhr zu sehen, so daß ihre Zimmergefährtin Malchen sich wegen der fortgesetzten Störungen ihrer Nachtruhe schließlich ärgerlich beschwerte. Fränze aber machte sich bittere Vorwürfe, daß sie gestern abend so kurz angebunden gewesen war. Nicht einmal die Hand hatte sie ihm zum Abschied gereicht, war beleidigt nach oben gegangen. Und worüber eigentlich? fragte sie sich jetzt. Daß er ihr nicht gleich um den Hals gefallen war...? Wenn sie gerecht sein wollte, mußte sie sogar zugestehen, daß er aus einer sehr edlen Empfindung heraus gehandelt hatte. „Wie darf ich das Schicksal eines jungen Mädchens an mich binden“, hatte er gesagt, „wo ich selbst nicht weiß, was aus mir schon in den nächsten Tagen wird?“ Daraus ging doch klar hervor, daß auch sie ihm zum mindesten nicht gleichgültig war, und da hätte sie ihn eben beim Kopf kriegen müssen: „Das laß gefälligst meine Sorge sein!“ Da wäre er ganz von selbst zu Hause geblieben... Statt dessen hatte sie sich zimperlich benommen wie die fette kleine Pute, die da drüben an der anderen Wand des Zimmers schnarchte wie ein alter Grobschmied! Noch auf dem Korridor hätte sie ihn anhalten müssen, als sie an den knarrenden Dielen hörte, daß er sich fortmachte. In einem Wetter, bei dem er sich den Tod holen konnte, auch ohne daß er den Knechten des Bruchhofes in die Hände geriet... Und jetzt war er immer noch nicht zurück, trotzdem sich am Fenster schon der erste bleiche Schein des nahenden Morgens zeigte. Wenn er gekommen wäre, hätte sie es genau so gut hören müssen wie sein Fortgehen. Da blieb ihr vor Angst fast das Herz stehen, aber dafür hatte sie nicht all die Jahre auf ihn gewartet, um jetzt weinerlich im Bett liegenzubleiben, wenn noch irgendeine Möglichkeit bestand, ihm vielleicht zu helfen... Sie stand auf, zog sich an.

Fräulein Schneidereit wachte wieder einmal auf, hob den mit einem koketten Nachthäubchen bekleideten Kopf aus den Kissen.

„Jetzt heert sich aber wirklich die Gemietlichkeit auf! Was ist dänn heite nacht mit Ihnen bloß los, Freilein Podleschny? Und Ihr Radlerkostiem haben Sie angezogen? Wollen Sie dänn wechfahren?“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, ja“, erwiderte sie kurz, ging hinaus. In dem Verschlag unter der Hintertreppe stand nur ihr Rad allein. Da wußte sie ganz genau, daß Hans Baginski noch nicht zurückgekehrt war, fuhr mit aller Kraft los auf dem Wege, der nach dem Bruchhofe führte. Wie sie ihm dort helfen sollte, wenn er in Gefahr geraten war, wußte sie selbst noch nicht. Vielleicht genügte es schon, daß sie in der Nähe war, um ein Verbrechen zu verhindern. Nur eins hatte sie sich zurechtgelegt, als sie aufs Rad stieg: die Worte nämlich, die sie ihm zu sagen gedachte, wenn er ihr heil auf dem Wege begegnete. Wenn er sie dann erstaunt fragte: „Nanu, Fränze, was suchst du denn hier in aller Herrgottsfrühe?“ — antwortete sie einfach: „Meinen Bräutigam!“ Dann war alles auf die einfachste Art erledigt, er holte die gestern versäumte Umarmung nach, und sie fuhren selig wieder nach Rakowen zurück...

Der Wind hatte merklich nachgelassen, auch die Regenböen kamen seltener, nur im Walde war es noch immer so dunkel, daß sie bei der eiligen Fahrt scharf aufpassen mußte, den schmalen Weg neben der unwegsamen Straße nicht zu verlieren.

Im Bruchhofe war alles ruhig, nur als sie die um das Gehöft führende Straße entlang fuhr, schlugen die Hunde an, und aus einem Fenster auf der rechten Seite des Hauses blinzelte ein Licht. Da radelte sie noch ein Ende weiter, als sie aber die Berghöhe über dem See erreicht hatte, hielt sie unschlüssig an. Nichts auf dem Bruchhofe deutete darauf hin, daß dort in der Nacht irgend etwas Besonderes geschehen sei. Und die Möglichkeit lag vor, daß auch Hans Baginski zu derselben Einsicht gekommen war, beim Rückweg ein Quergestell des Waldes eingeschlagen hatte, jetzt schon längst in Rakowen in seinem Bett lag. Da stieg es ihr heiß in den Wangen empor, daß sie doch eigentlich eine recht komische Figur machte, wenn sie heimkehrte. Daß Fräulein Schneidereit über die merkwürdige nächtliche Ausfahrt nicht reinen Mund halten würde, lag klar auf der Hand...

Sie entsann sich, auf halbem Wege zum Grenzdorfe Rostken lag ein einsames Gehöft. Bis dorthin wollte sie noch in Gottes Namen fahren, wenn sich jedoch auch da nichts zeigte, kehrte sie um. Aber nicht mehr nach Rakowen, sondern geradeswegs nach Lipinsken zu ihrem Vater. Von dort konnte er sie ja holen kommen, wenn er wollte... Der, um den sie sich vor aller Welt so heillos lächerlich gemacht hatte...

In dem Hause brannte Licht, der Bauer stand vor dem Hoftor. Als sie den Mann erblickte, fiel ihr auch sein Name wieder ein.

„Guten Morgen, Herr Zündler!“ rief sie. „Schon so früh zu Wege?“

„Ich seh' mal nach dem Wetter. Und Sie?“

Da faßte sie sich ein Herz. Der Mann mußte irgend etwas wissen, denn so früh stand ein Bauer ohne Not nicht auf. Noch anderthalb Stunden ungefähr war es hin, bis es an der Zeit war, den Pferden das erste Futter zu schütten und das Vieh zu versorgen...

„Ich?“ gab sie zurück. „Also ich bin die Tochter des Bauern Podleschny aus Lipinsken, und ich suche einen, der gestern aus Rakowen fortgefahren, bis jetzt aber noch nicht zurückgekehrt ist.“

„Aus Rakowen?“ fragte der Alte vorsichtig, „und hat er vielleicht was mit dem Bruchhofe zu tun?“

„Ja, aber nicht im Guten.“

„Dann kann ich Ihnen wohl Bescheid geben. Ich warte auch auf ihn. Aber die Zeit, wo er zurück sein wollte vom See, ist schon längst vorbei...“

„Um Gottes willen“, schrie sie auf, „und da sind Sie nicht schon längst unterwegs, ihn zu suchen?“

„Mein liebes Fräulein“, erwiderte er, „was ich ihm beim Andenken an meinen Einzigen versprochen hatte, halt' ich. Ich warte auf ihn. Aber mehr auch keinen Schritt. Wenn Sie die Leute auf dem Bruchhofe kennen, brauch' ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen weshalb.“

Fränze Podleschny richtete sich auf.

„Sie kennen meinen Vater?“

„O ja, sogar sehr gut...“

„Dann werden Sie auch wissen, es ist kein leeres Wort, wenn ich als seine einzige Tochter Ihnen sage, ich ersetze Ihnen jeden Schaden, baue Ihnen meinetwegen die plundrigen Holzkabachen da aus Ziegelsteinen wieder auf, falls es bei Ihnen brennen sollte! Und jetzt vorwärts, wohin ist er gegangen?“

Sie hatte den Bauer ungestüm beim Arm ergriffen, zog ihn über den Steg hinaus, der übers freie Feld zum See führte.

„Dorthin, wo Sie mich selbst hinführen“, erwiderte der Alte. „Und denn meinetwegen los in Gottes Namen...“ Aber er mußte es bald aufgeben, mit dem jungen Mädchen gleichen Schritt zu halten. Sie lief, als wenn es um ihr eigenes Leben ginge. Und zwischen den Birken am Rande des Abhanges sah er, wie sie die Arme hob, sich gleich einer Unsinnigen vornüber stürzte. Als er endlich nachgekommen war, saß sie schon im seichten Wasser, hielt den Kopf des Verunglückten im Schoß.

„Lebt er?“ schrie er vom halben Steilufer hinab.

Sie schüttelte nur den Kopf, sah mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihm auf. Da hastete er hinunter, so rasch es mit seinen alten Füßen ging, faßte zu, um den schweren Körper ganz aufs Trockene zu ziehen. Er legte ihm das Ohr auf die Brust, richtete sich wieder auf.

„Noch schlägt das Herz! Und wie haben Sie ihn denn gefunden?“

„Den Körper im Wasser, aber den Kopf auf einer Schilfkaupe, und die Wellen gingen ihm immerfort übers Gesicht weg. Aber, um Himmelswillen, sehen Sie sich doch bloß den furchtbaren Hieb über den Kopf an! Das ist ja wie von einer Axt...“

„Oder von einem eisenbeschlagenen Ruder! Aber jetzt bleiben Sie hier bei ihm sitzen, zu zweit bringen wir ihn nicht das steile Ufer hinauf. Ich hol' meine Schwiegertochter, und der Enkelsohn kommt mit dem Fuhrwerk. Da werden wir's schon schaffen...“

Das junge Mädchen saß allein bei dem Gefällten. Die Tränen verdunkelten ihr den Blick, und in der Brust war es ihr so weh, daß sie wußte, sie würde ihres Lebens nicht mehr froh werden. Sie allein trug ja nur die Schuld, weil sie sich so maßlos albern gehabt hatte. Neunundneunzig Schritte war sie ihm entgegengekommen, da hätte sie — weiß Gott — auch den hundertsten und letzten gehen können...! Und jetzt war es zu spät. Daß das Herz noch immer schlug, war ein schwacher Trost. Mehr als ein halb Dutzend Male hatte sie ihn laut angerufen, aber zwischen den blau gefärbten Lippen war keine Antwort zurückgekommen... Und mit einer so furchtbaren Wunde konnte ein Mensch doch nicht am Leben bleiben! Der Hieb saß auf der rechten Seite des Kopfes, schien am Schädelknochen weit nach unten zu gehen, denn sogar das Ohr hatte seine Lage verändert, stand schief...

Sie hatte ihre Jacke zusammengerollt, über ein Schilfbündel gelegt und seinen Kopf darauf gebettet. Eine Weile hatte sie sich davor gescheut, die Wunde näher zu untersuchen, aus Angst, sie könne irgend etwas verderben. Dann aber faßte sie behutsam die Haare und hob den dicken Fleischlappen an. Schrecklich sah es darunter aus von einem Gemisch aus geronnenem Blut und grünlichem Schlamm... Gott allein mochte wissen, wieviel Tausende von diesen giftigen kleinen Biestern, den Bakterien, da schon am unheilvollen Werke waren, so daß später zu der Wunde der Brand schlug... Oder gar der Starrkrampf, dessen Erreger, wie sie in der Schule gelernt hatte, ja fast überall Hausen sollten. ... Also die Wunde mußte gereinigt werden, aber das Wasser in der Nähe des Ufers war vom Wellenschlag trübe und schlammig; sie mußte schon fast bis unter die Achseln in den See hinauswaten, um reines zu finden. Damit füllte sie ihren Hut, machte den Weg Wohl ein Dutzend Male, bis sie die Wunde bis ins letzte Eckchen sauber gespült hatte. Und weil zu einer Wunde doch ein Verband gehörte, sie aber außer einem jener lächerlich kleinen Taschentücher nichts bei sich hatte, riß sie mit Händen und Zähnen den zähen Stoff ihrer Sportjacke in lange Streifen, brachte das Ohr in seine einigermaßen richtige Lage zurück und wickelte es samt dem Hautlappen so fest an den Kopf, als das Zeug nur halten wollte. Wie ein unförmlicher Helm nahm sich der Verband aus, aber es schien, als sei die mühevolle Arbeit umsonst gewesen. Der Verwundete regte sich nicht, seine Augen blieben geschlossen. Da saß sie hoffnungslos und in ihren nassen Kleidern erbärmlich frierend neben ihm, bis der Bauer Zündler mit seiner Schwiegertochter endlich zurückkehrte. Die groß gewachsene Frau, die Hände hatte wie ein Mann, strich ihr Und über den nassen Scheitel.

„Weiß Gott, Fräuleinchen“, sagte sie mit gutmütigem Scherz, „wenn jemals ein Mädchen sich seinen Zukünftigen sauer verdient hat, dann sind Sie es...“

Eine halbe Stunde später lag Hans Baginski in dem frisch bezogenen Bett des Bauern Zündler, aber auch das vor Frost am ganzen Leibe zitternde Fräulein hatte es sich gefallen lassen müssen, unter einen Berg von Kissen gepackt zu werden. Als die Frau mit einer Abkochung von Lindenblüten und Essig zurückkehrte, um den ihr so plötzlich ins Haus geschneiten jungen Gast durch eine gründliche Schwitzkur vor den Folgen der Erkältung zu bewahren, fand sie ihn aus Erschöpfung fest eingeschlafen. Da ging sie mit ihrem Topfe still wieder hinaus. Was weiter wurde, mußte abgewartet werden. Der Junge war mit dem Fuhrwerk zum Arzt unterwegs, hatte einen Zettel in der Tasche, den er auf dem Rückwege auf dem Domänenhofe von Rakowen abgeben sollte. Als sie sich aber wieder an ihre tägliche Arbeit machte, zog es ihr wie eine Art Neid durchs Herz. Selbst wenn der reichen Erbtochter da der Liebste starb, hatte sie immer noch das Glück, ihm die Augen zudrücken zu dürfen. Sie aber? Einen ganzen Tag lang hatte ihr Mann mit dem Bauchschuß zwischen der deutschen und der russischen Stellung gelegen, bis er endlich begraben werden konnte... „Heldentod fürs Vaterland“ stand in dem Briefe, der in der guten Stube eingerahmt unter seinem Bilde hing. Gott allein wußte, wie oft er den Krieg verflucht und nach Frau und Kind geschrien haben mochte, bis er von seinen Qualen erlöst wurde — — —

***

Auf dem Bruchhofe hatte der Kreisphysikus die beiden Frauenleichen nur oberflächlich untersucht. Eine Sektion konnte unterbleiben, denn der Fall lag ja vollkommen klar. Die unverehelichte Tarrasczinska, die mit dem Besitzer des Hofes in wilder Ehe lebte, hatte auf die rechtmäßige Frau einen Mordanschlag verübt, war mit ihr beim Ringen auf dem Bootssteg ins tiefe Wasser geraten und mitertrunken, weil die Überfallene sich fest an sie geklammert hatte. So hatte sie den Lohn für ihre Freveltat weg, war der irdischen Gerechtigkeit entzogen.

Die alte Mutter war so niedergebrochen, daß sie keine drei zusammenhängenden Worte hervorbringen konnte; ihr Sohn, als der moralisch Schuldige, schien zwar einen gewissen Schmerz zu empfinden, aber im großen und ganzen war seine Haltung recht gefaßt.

„Was soll ich da viel sagen, Herr Richter“, erklärte er bei seiner Vernehmung, „meine Frau war in der Irrenanstalt, unheilbar. Da hatte ich die Scheidung beantragt, wollte mich mit der Tarrasczinska verheiraten. Und — wie das bei uns Bauern so ist — wir lebten schon vor der Hochzeit zusammen, das Kind war unterwegs. Da kommt auf einmal meine Frau nach Hause zurück, wie die Herren Doktoren behaupteten, sozusagen von einem Tag auf den anderen gesund geworden! Was sollte ich da machen? Meine Verlobte vom Hof herunterjagen oder meine Frau rauswerfen, weil sie sich nicht scheiden lassen wollte? Ich kann Ihnen sagen, Herr Richter, ich hab' ein Leben geführt zwischen den beiden Frauen wie in der Hölle. Und die Tarrasczinska hatte den Aberglauben, ihr Kind wäre von meiner Frau behext. Wie es starb, hatte sie sich rächen wollen. Aber meine Mutter ist Zeugin, ich hab' noch gestern meine Frau gewarnt, sie soll wegreisen, nach Königsberg. Bloß sie hat nicht auf mich gehört...“

Die alte Frau nickte zustimmend, und ihr Sohn fuhr fort: „Auch die Tarrasczinska hab' ich schwer bedroht, sie soll sich nicht an meiner Frau vergreifen. Darüber bitte ich, das Kindermädchen Annuschka als Zeugin zu vernehmen.“

„Herr Bogdan“, sagte der Richter zu dem Ortsschulzen, „führen Sie, bitte, das Mädchen vor!“

Der Bauer kehrte nach kurzer Pause mit der Meldung zurück, von dem ganzen weiblichen Hofgesinde sei keine Spur mehr zu finden. Schon am frühen Morgen seien die Mädchen laut schreiend mit ihren wenigen Habseligkeiten fortgerannt. Wahrscheinlich zurück nach Polen, denn von dort stammten sie her.

„Sehr auffällig“, bemerkte der Richter. „Können Sie mir dafür eine Erklärung geben, Herr Baginski?“

Der Herr des Bruchhofes zuckte mit den Achseln: „Wie soll ich wissen, was die Treiber sich in ihren Strohköpfen gedacht haben?!“ Diesen Teil der Aussage hatte nach sorgfältiger Absprache ein anderer übernommen, griff auch prompt ein. Ludjich Sareyka drängte sich vor, rief laut in seinem gebrochenen Deutsch: „Pan Starosta, ich kann sagen! Dumme Margellen haben gehabt Angst vor tote Weib in Bruch. Sie schon immer wollten ausreisen, weil tote Weib geworfen mit seine Knochen, hat geheult in Scheune und Schornstein, in Dunkel sie sich nich haben getraut, sich hinzusetzen hinter Stall — Pan Starosta schon werden wissen, wozu. Wie heute früh gewesen is das Unglück... also ich ein zu feine Mensch, für zu sagen, was dumme Weiber is passiert in ihre Angst...“

„Können Sie mir dafür eine Erklärung geben, Herr Bogdan?“ wandte sich der Richter an den Dorfschulzen. „Meint der Mann da ein Gespenst?“

Da kam sich der Bauer sehr wichtig vor, erzählte in aller Ausführlichkeit, wie schon seit jeher im Volke der Aberglaube geherrscht habe, auf dem Bruchhofe liege ein Fluch. Und seit man beim Torfstechen Teile einer, wohl schon vor Hunderten von Jahren im Moor versenkten Frau ausgegraben, habe sich der Fluch anscheinend erfüllt. Das Kind der rechtmäßigen Frau sei von ihr selbst in einem Anfall von Bewußtlosigkeit im See ertränkt worden, und die letzte Wirkung des Fluches habe sich heute gezeigt. Da sei es dem Besitzer des Bruchhofes unmöglich gewesen, Mädchen aus dem Dorfe zur Arbeit anzuwerben, weil alle sich vor der Bruchmahr fürchteten. Es sei ihm im Interesse seiner Wirtschaft nichts anderes übriggeblieben, als seine Scharwerkerinnen von der anderen Seite der Grenze zu holen. Diesen Satz aber fügte Herr Bogdan hinzu, weil er dem Herrn des Bruchhofes mit einigen hundert Talern verschuldet war und die Fälligkeit des Wechsels in den nächsten Tagen bevorstand.

„Nach Anhörung des sachverständigen Zeugen“, bemerkte der Richter, „kann man nur bedauern, daß in unseren Schulen immer noch nicht genug getan wird, um solchen törichten Aberglauben im Volke auszurotten. Aber noch eine Frage, Herr Baginski: Weshalb sind Sie gerade gestern nacht bei dem furchtbaren Sturm auf den See gefahren? Ich entsinne mich, ich kam gegen elf Uhr von einer Gesellschaft nach Hause, konnte nur mit größter Mühe meine Wohnung gewinnen.“

„Zum Fischen bin ich mit meinen drei Knechten hinausgefahren“, antwortete Karl Baginski.

„Ja, ist denn bei solchem Wetter ein Fischfang überhaupt möglich?“

„Gerade bei solchem Wetter! Dann ziehen sich die Bleie im Wellenschlag ans Ufer, merken nicht, wie sie mit den Netzen umstellt werden. Wenn sich der Herr Richter überzeugen wollen: Fast fünf Zentner haben wir in der Nacht gefangen. Sie stehen in den Hütekästen unten am Bootssteg.“ Zu dieser Besichtigung konnte er den Stadtherrn ruhig einladen. Daß die Fische schon seit einer Woche sich in den Haltern befanden, war ihnen nicht anzusehen.

„Äußern Sie sich dazu, Herr Bogdan“, bemerkte der Richter. Und der Dorfschulze dachte daran, daß er schon in wenigen Tagen seinen Nachbar Baginski um eine Verlängerung des Wechsels angehen müsse.

„Ja“, sagte er bedächtig, „wer was von Fischerei versteht, der kann nur sagen, es ist richtig. Es ist eine sauere Arbeit, mit den schweren Kähnen im Sturm, aber wenn sie sich lohnt, dann lohnt sie sich auch ordentlich.“

Da verzichtete der Richter auf die persönliche „Inaugenscheinnahme“, diktierte dem Schreiber ein langes Protokoll, gab die Leichen zur Beerdigung frei. Und als er mit den anderen Herren zur Rückfahrt ins Auto stieg, bemerkte er, es sei ihm doch sehr interessant gewesen, einen so tiefen Einblick in die masurische Volksseele zu gewinnen. Bloß der Mann schiene ihm doch ein recht roher Patron zu sein. Er habe seine Aussagen mit einer Kaltschnäuzigkeit gemacht, die bei dem furchtbaren Unglück geradezu abstoßend sei. Worauf der, ebenfalls aus dem „Reich“ stammende Herr Kreisphysikus erwiderte, er sei schon seit zwei Jahren im Kreise tätig, glaube, ein ganz genauer Kenner der Masuren zu sein. Und da müsse er sagen, sie gäben untereinander ihren Empfindungen wohl hemmungsloseren Ausdruck. Nur bei der Berührung mit amtlichen Stellen seien sie zugeknöpft bis an den Hals. Er aber als Psychiater habe dem Bauern die innere Bewegung, die er mit aller Energie niederkämpfte, wohl angemerkt...

Es ging gegen Abend, als der Herr des Bruchhofs sich nach dem Dorfkruge aufmachte, weil er's vor Sehnsucht nach dem braunen Mädel nicht aushielt. Die drei Knechte waren schon lange voraus. Und es graute ihm, allein im Hause zu bleiben. Rechts war die Tarrasczinska mit ihrem Kinde aufgebahrt, links seine Frau. Am Bette der zusammengebrochenen Mutter saß die alte Jendrzeiska, machte ihr Umschläge auf den Kopf und leierte Gebete. Wo sollte er da schlafen? Vielleicht wie ein Hund im Scheunenstroh?

Er wußte genau, der Gang ins Wirtshaus wurde ihm von den anderen Bauern im Dorf geradezu als Frevel ausgelegt, so lange die beiden Frauen noch über der Erde waren. Aber was lag ihm an dem Volk? Noch kurze Zeit, und der verfluchte Bruchhof sah ihn nie mehr wieder — — —

12

Mehr als acht Tage waren vergangen, Hans Baginski lag noch immer schwerkrank und bewußtlos im Hause des Kleinbauern Zündler. Der Arzt kam täglich zweimal, stellte als einzigen Trost immer wieder hin, daß das Herz normal arbeite, nach aller Voraussicht also auch durchhalten werde.

Nach der ersten Untersuchung hatte er die Verantwortung für eine Überführung ins städtische Krankenhaus oder nach Rakowen abgelehnt. Er befürchtete den Hinzutritt einer Lungenentzündung, die sich am nächsten Tage auch prompt eingestellt hatte, weil der Verwundete nach der Schilderung des Fräuleins Podleschny mehrere Stunden im eisigen Seewasser gelegen habe. Von dem ungefügen Verbände hatte er nur den obersten Teil entfernt und ihn durch Mullbinden ersetzt, nachdem er zu seiner Befriedigung festgestellt hatte, daß die unteren Lagen infolge einer neuen Blutung der Wunde sich mit Kopf und Haaren zu einer einzigen, fest getrockneten Masse zusammengeschlossen hatten. Das Fräulein Braut hatte wegen energischen und zweckmäßigen Eingreifens ein hohes Lob geerntet, und der Arzt war wieder fortgefahren, nachdem er alle nötigen Anordnungen getroffen hatte.

Eine halbe Stunde später war der Oberamtmann mit seiner Frau gekommen, beide ganz erschüttert von der Fülle tragischer Geschehnisse, die sich in der Nacht abgespielt hatten. Die Nachricht von dem Morde auf dem Bruchhofe war natürlich auch schon längst nach Rakowen gedrungen.

Herr Schrötter war so aufgeregt und empört, daß er den Bauer am liebsten sofort zur Rede gestellt hätte, aber Fränze bat dringend, einen solchen Schritt vorläufig zu unterlassen. Einmal, weil sie befürchtete, die Knechte des Bruchhofes könnten irgendeinen Racheakt unternehmen, zum zweiten aber, weil der Fall selbst noch nicht im geringsten geklärt sei. Ihr Bräutigam — sie wunderte sich selbst ein wenig, wie glatt ihr dies Wort nach dem Vorgang der anderen vom Munde ging — habe bei der Untersuchung durch den Arzt etwas vor sich hingemurmelt, was wie „verhakt und gefallen“ klang. Da sei also die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß er in der Dunkelheit vom Steilufer kopfüber in die Tiefe gestürzt sei und sich — etwa durch den Aufschlag auf einen der dort liegenden großen Steine — die schwere Verwundung selbst zugezogen habe.

Damit mußte der Oberamtmann sich vorläufig zufriedengeben, trotzdem ihm diese Erklärung reichlich unwahrscheinlich vorkam. Einer, der in seiner Jugend an den Steilhängen des Seeufers wer weiß wie oft herumgeklettert war, stürzte nicht so leicht. Er gedachte aber, dem nichtswürdigen Burschen auf dem Bruchhofe anders ans Leder zu gehen, dadurch nämlich, daß er bei der zuständigen Behörde mit größter Beschleunigung die Enteignung des Grundstückes wegen liederlicher Wirtschaftsführung beantragte. Es ging nicht an, daß fast sechshundert Morgen guten Ackers veraast und verquast wurden, während Tausende von fleißigen Landwirten hungrig auf ein Stückchen Boden lauerten! Für den Schutz gegen einen Überfall aber versprach er in der Art zu sorgen, daß er seinen energischen, jungen Förster auf dem Gehöft einquartierte. Danach waren die beiden Herrschaften wieder fortgefahren, nachdem sie zugesichert hatten, sie würden sofort nach ihrer Rückkehr an Stärkungsmitteln alles herausschicken, was auf dem Domänenhofe nur irgend vorhanden sei.

Fränze Podleschny hatte ihnen bis ans Hoftor das Geleit gegeben, war dann zu ihrem Patienten zurückgekehrt, fest entschlossen, den Kampf um sein Leben mit aller Entschlossenheit aufzunehmen. Zunächst bat sie den lieben Gott in einem kurzen, aber nachdrücklichen Gebet um seinen gnädigen Beistand, aber da man sich auf Beten nicht allein verlassen durfte, traf sie als ein praktisches Bauernmädel mit Ruhe und Umsicht alle Anordnungen, die ihr für die kommende schwere Zeit nötig erschienen.

Das einzige, in der Nähe erreichbare Telephon befand sich in dem Postamt des Dorfes Rostken. Dorthin schickte sie den Jungen des Zündlerhofes mit einem Zettel, auf dem genau verzeichnet stand, was das Mietsauto des Hotels zum Königlichen Hof aus der Stadt alles herauszubringen habe. Zunächst ihren Vater, den Bauer Podleschny aus Lipinsken, mit seinem Gewehr und fünfhundert Mark baren Geldes, Fleischextrakt, Sekt und Kognak, sodann aber habe der Chauffeur ohne Ansehung der entstehenden Kosten mit seinem Auto auf dem Gehöft des Bauern Zündler Station zu nehmen, um für eilige Fälle sofort zur Hand zu sein. Damit schien für den Augenblick alles getan, was irgendwie getan werden, konnte. Das übrige stand, wie der Arzt gesagt hatte, in Gottes Hand. Und die Genesung hing davon ab, daß das Herz durchhielt...

Dafür gedachte das tapfere Mädel mit allen verfügbaren Stärkungsmitteln zu sorgen. Und als sie sich in den breiten Großvaterstuhl des Bauern neben das Bett setzte, den sie in den nächsten Wochen wohl kaum einmal für ein paar Stunden verlassen durfte, tat sie es mit einer gewissen Zuversicht. Der liebe Gott mußte ihr in seiner Gerechtigkeit doch das Zeugnis ausstellen, daß sie im großen und ganzen immer brav und ordentlich gewesen sei, ihn auch nicht bei jedem Quark mit Bitten bequengelt und behelligt habe. Weshalb also sollte er so grausam sein, ihr den Mann wieder zu nehmen, auf den sie so lange gewartet hatte...? Zugleich aber fiel ihr ein, daß sie vergessen hatte, sechs Pfund Rindfleisch zu bestellen. Die daraus gekochte Jus war, wie sie schon oft gehört hatte, mit das Wichtigste, einen an Lungenentzündung Erkrankten bei Kräften zu erhalten. Da mußte der Junge des Zündlerhofes den Weg zum Rostker Postamt noch einmal machen, um den Vorsteher zu bitten, die vergessene Bestellung durch dringendes Gespräch nachzuholen...

***

Der Herr des Bruchhofes war sofort nach dem Begräbnis der beiden Frauen verreist. Wie er angab, in dringenden Geschäften. Welcher Art diese Geschäfte waren, hatte Ludjich Sareyka schon seit fünf Tagen herausgekriegt. Und seinen scharfen Augen entging es nicht, wie der Herr ordentlich erschrak, als er ihn bei der Rückkehr vor dem Bahnhof auf dem Bock des telegraphisch bestellten Wagens sitzen sah. Er nahm sich jedoch zusammen, fragte in möglichst harmlosem Tone: „Nanu, Ludjich, du noch hier? Ich dachte, du bist schon längst fleißig unterwegs bei unseren zukünftigen Geschäftsfreunden in Polen?“

Der Knecht verstaute dienstbeflissen den Handkoffer neben seinem Sitze.

„Ja, Herr, wie das so geht! Vor der Reise wollte ich von meiner Mutter Abschied nehmen in Schikorren, fand die alte Frau schwerkrank im Bett. Da dachte ich mir, du wirst mir's nicht übelnehmen, daß ich noch ein paar Tage mit der Reise wartete, bis sie wieder auf die Beine kam. Eine Mutter hat der Mensch doch nur...“

„Da hast du recht! Und wie geht's der meinigen?“

„Gut, Herr, gut! Sie hat sich schon wieder erholt von all den traurigen Geschichten, wirtschaftet wie früher. Auch die Scharwerksmädel sind wiedergekommen, lesen Pflanzkartoffeln aus, und ich bin mit Kuligowski und Michalski beim Hafersäen. Man muß doch wenigstens so tun vor der Nachbarschaft, denn, Herr, es ist immer noch viel Aufregung im Dorf. In der Schule ist neulich eine Versammlung der Jungburschen gewesen, und da haben sie beschlossen, sie werden auf's Landratsamt gehen, der Bruchhof soll aufgeteilt werden. Wir drei Knechte aber dürfen es gar nicht wagen, uns abends im Krug beim Zaborowski zu zeigen. Zu acht und zehn sitzen die Lümmel da, haben gedroht, sie warten nur darauf, uns krumm und lahm zu schlagen... Das wird sich auch wieder alles legen, man muß bloß ein bißchen Geduld haben. Ab und zu trifft man doch mal einen von diesen großschnäuzigen Jungen allein im Dunkeln. Dann kriegt er seine verdiente Tracht Prügel und wird wieder zahm.“

Da hielt Karl Baginski die Zeit für gekommen, an seinen Knecht die Frage zu stellen, von deren Beantwortung es abhing, ob er die paar Tage zu Hause sorglos verbringen durfte oder sich vor dem Kerl da auf dem Bock in acht nehmen mußte, wie vor einer aus dem Hinterhalt stechenden Viper. Er lachte auf: „Und deine Braut? Die läßt du allein zwischen den vielen jungen Bengeln im Krug? Wenn nun einer von ihnen sie dir abspenstig macht?“

Ludjich Sareyka drehte sich auf dem Bocke um, wandte seinem Herrn ein treuherzig lachendes Gesicht zu: „Braut? Hat sich was mit `Braut'! Ausgerissen ist das kleine Aas, Herr, in der Nacht, ehe du auf die Reise gingst! Einen Brief hatte sie für mich dagelassen, sie hätt' keine Lust, Kühe zu melken und Schweine zu füttern, sie wär' zu was Höherem geboren. Und sie hätt' eine Gelegenheit, in einem vornehmen Haus in Warschau unterzukommen. Da würd' sie wohl bald den reichen Freund finden, der bezahlt, daß sie weiter singen und tanzen lernen kann.“

„Da bist du wohl sehr traurig gewesen?“

„I bewahre, Herr, ich war froh, daß ich sie auf gute Manier und ohne Kosten los war, die überspannte Karline! Ich war bloß verrückt auf sie gewesen, wie ich sie aus Sczuczin mitbrachte. Jetzt, wenn ich auf der Reise nach Warschau komm', werd' ich nach deutschem Geld für fünf Mark haben, was das kleine Beest mir immer verwehrt hat, denn in welcher Straße das `vornehme Haus' liegt, kann ich mir schon denken. Und ich stand mir mit dieser `Brautschaft' ja selbst im Licht, ich Esel! Ich kann zum Beispiel in Lasken bei einer Witwe einheiraten. Vierzig Morgen Land, zwei Pferde, fünf Kühe, zwölf Schweine, darunter zwei Zuchtsauen mit Ferkeln. Eine schöne Wirtschaft, und mit meinem Ersparten könnten wir noch dreißig Morgen zukaufen. Aber vorläufig denk' ich noch nicht daran, ich bin doch ein forscher Kerl mit Geld, sind' schon noch was Besseres. Etwas, wo man sich jeden Tag über die feine Wirtschaft freut, aber nicht das Speien kriegt, wenn man daran denkt, daß man mit der Besitzerin auf den Abend schlafengehen soll. Und wir beide, Herr, wollen unser gutes Geschäft doch nicht sobald aufgeben?“

„Aber natürlich nicht“, gab Karl Baginski lachend zurück. „Wie ich gesonnen bin, soll's jetzt erst recht losgehen!“ Und er ließ, vollkommen beruhigt, das Fuhrwerk vor dem Restaurant Zapietznik halten, um mit dem Parteigenossen alles Nähere über die beim Verkauf des Bruchhofes noch nötigen letzten Formalitäten zu besprechen. Ludjich Sareyka aber saß geduldig auf dem Bock seines Wagens, spann immer wieder an dem einen einzigen Gedanken, der ihn schon seit Tagen und Nächten unausgesetzt beschäftigte: Wie sich an dem nichtswürdigen Verführer rächen, ohne das eigene, köstliche Leben zu gefährden...?

Wie er wirklich gesonnen war, wußte kein Mensch auf dieser Welt. Vor dem Wirt Zaborowski hatte er gelacht, als dieser ihm den Abschiedsbrief der Bronislawa vorlas, und ebenso vor seinem Mitknecht Kuligowski. Der hatte den Herrn zur Bahn gefahren, erzählte nach der Rückkehr, auf dem Bahnsteig habe ein verschleiertes Frauenzimmer gestanden, das nach der Figur der Kellnerin aus dem Dorfkruge verdammt ähnlich gesehen habe. Und sie sei mit dem Herrn in ein und denselben Wagen gestiegen...

Vor Schmerz und Gram und Zorn geheult hatte Ludjich Sareyka erst, als er tausend Schritte vom Hofe mitten im Bruche allein war. Da hatte er sich das Hemd aufgerissen, die Hände ins Moor gekrallt und vor Gott geschrien, ob denn diesem ruchlosen Lumpen jede Freveltat auf der Welt erlaubt sei! Sein widerhaariges, braunes Kätzchen hatte er ihm genommen mit seinem vielen Geld, sein wildes Vögelchen, dem er die kleinen scharfen Krallen mit der Zeit zu stutzen gedacht hatte, bis es endlich einsah, daß es keinen Treueren auf dieser Welt habe als den gering geachteten Knecht...

Ganz trübselig hatte der Bauer am Abend des Unglücks vor seinem Glas Bier im Herrenzimmer des Kruges gesessen, immer wieder geklagt, er graue sich davor, in das Haus zurückzukehren. Da hatte ihm der Kuppler Zaborowski laut vorgeschlagen, dafür gebe es doch den Ausweg, oben im Fremdenzimmer zu schlafen! Und in dieser Nacht schon war die Bronislawa zu ihm geschlichen, das hatte das Küchenmädchen des Kruges genau gehört. Zitternd vor Angst hatte das Frauenzimmer alles eingestanden, als Ludjich es heimlich im Stall erwischte und schwer mit dem Messer bedrohte... Von dieser Stunde an hatte er gegrübelt, gedacht und gesonnen, wie er es am geschicktesten anstellte, sich an dem Ruchlosen zu rächen, selbst aber ohne Strafe zu bleiben... Auf der Heimfahrt, als sie durch den Rakower Wald kamen, fiel es ihm endlich ein...

Auf der dluga Bjell genannten Wiesenschlenke, die schon im ersten kargen Grün stand, warf ein Rehbock beim Vorüberfahren des Wagens den Kopf auf. Mit einem Gehörn, wie es in dieser Stärke und Höhe wohl selten zu finden war. Ludjich ließ die Gäule in Schritt fahren, flüsterte nach rückwärts: „Herr, siehst du den Rehbock dort? Ich kenne ihn schon das ganze Frühjahr über, glaube, er trägt seine Hörner noch vom vorigen Jahr.“

„Kann sein“, erwiderte der Bauer. „Aber ich hab jetzt andere Sachen im Kopf als die Gier nach einem starken Gehörn.“

„Kann ich verstehen“, meinte Ludjich Sareyka zufrieden, denn er hatte es in den Augen seines Herrn beim Anblick des Bockes aufleuchten sehen. Und er brachte ihm unter den vielen Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, die er während der langen Fahrt erzählt hatte, die letzte und wichtigste bei, als sei sie ihm soeben erst eingefallen.

„Übrigens — fast hätte ich's vergessen — weißt du, Herr, wen du damals in der Nacht mit dem Ruder über den Kopf geschlagen hast? Deinen eigenen Bruder!“

„Red' keinen Mist — der war um die Zeit ja schon längst ausgerissen!“

„Hatte ich auch geglaubt, aber erst gestern hab ich alles richtig `rausgekriegt. Zum Narren hat er uns gehalten, aber du hast ihm einen Gehörigen ausgewischt. Er liegt noch immer ohne Bewußtsein, hat auch Lungenentzündung dazu gekriegt. Die Tochter von dem alten Podleschny in Lipinsken pflegt ihn, aber gestern hat der Doktor gesagt, er hofft bestimmt, ihn durchzubringen.“

„Das ist ja alles Unsinn! Wie soll er denn auf einmal nach Lipinsken kommen? Und wo willst du das erfahren haben?“

Ludjich Sareyka lachte auf.

„Wenn man's nur pfiffig anstellt, kriegt man alles raus! Alles, Herr! Dein Bruder liegt auch nicht in Lipinsken, sondern bei dem Bauer Zündler. Und ich hatte beobachtet, daß der Junge vom Hof am Tage ein paarmal aufs Postamt nach Rostken zum Telephon lief. Da setzte ich mich dort in den Krug, hatte bald alles spitz. Der Briefträger nämlich bringt jeden Abend als größte Neuigkeit mit, was bei dem Bauern Zündler tagsüber passiert ist. Und da liegt die Sache so. Die Tochter von dem Lipinsker Bauer lernt bei der Frau Oberamtmann in Rakowen kochen und sich benehmen wie ein feines Fräulein. Da hat sie sich mit deinem Bruder verlobt. Als er in der Nacht, wo er gegen uns auszog, nicht zurückkam, hat sie sich aufgemacht, ihn zu suchen. Sie fand ihn in der kleinen Bucht, die du mir gezeigt hast, hat ihn mit dem Zündler und seiner Schwiegertochter ins Haus geschafft. Jetzt aber kommt das Beste an der ganzen Geschichte: Sie haben dort vor uns eine mächtige Angst. Ich hab nur dazu gelacht. Wir machen das doch nicht so ungeschickt, daß wir gleich zuschlagen, wenn uns einer gekratzt hat! Aber die Braut hat nicht nachgelassen mit Bitten, bis der Rakower Oberamtmann ihr zum Schutz seinen jungen Förster in das Zündlersche Gehöft gesetzt hat. Jede Nacht schiebt er jetzt dort Wache, bei Tage schläft er...“

Bei den letzten Worten seines Knechtes sah der Herr des Bruchhofes sich unwillkürlich um. Nach der Wiese, auf der der Rehbock gestanden hatte... Ludjich aber hob nur kaum merklich die Lippe über den Zähnen. Die Vorfreude auf den Augenblick der Vergeltung sprengte ihm fast die Brust. Jetzt erst hatte der Bauer richtig angebissen, wo er erfahren hatte, das Rakower Revier sei ohne Schutz. Der Rehbock fiel noch heute abend, gleich danach aber der Jäger...

Die weiteren Neuigkeiten, die der Knecht zu erzählen wußte, interessierten seinen Herrn nicht mehr, die Jagdleidenschaft hatte ihn erfaßt wie ein hitziges Fieber. Nach flüchtiger Begrüßung der Mutter lungerte er zwecklos auf Hof und Feld umher, gegen 3 Uhr nachmittags riß es ihn schon förmlich nach der Waldwiese... Ludjich Sareyka trat zu ihm: „Herr, es ist so schönes, mildes Wetter. Ich glaube, heute abend werden in unserem Bruch diese Vögel herumfliegen mit den langen Schnäbeln.“

Karl Baginski lachte kurz auf: „Eigentlich hätte ich Lust auf etwas Besseres. Wo der Rakower Förster drüben bei dem Bauer Zündler sitzt...?!“

„Ach so, du meinst den Rehbock auf der dluga Bjell? Vorwärts, los! In einer Viertelstunde komm ich nach!“

„Wieso nicht gleich?“

„Ich muß erst den Margellen neue Arbeit einkeilen, für Kuligowski und Michalski Saatgut herausgeben. Wart auf mich bei den drei Birken an unserem Bruch, ich komm nach, sobald ich hier fertig bin!“

Da nahm der Bauer seine Büchse, ging voraus zu dem verabredeten Treffpunkte. Die Knechte und Mägde sahen ihn durchs Hoftor gehen, Ludjich Sareyka aber als Vorknecht keilte allen ihre Arbeit zu, erklärte, er selbst müsse seine schwerkranke Mutter in Schikorren besuchen. Als er nach einer halben Stunde den Hof verließ, merkte niemand, daß er das auseinandergenommene kurze Gewehr unter seinem Rock trug...

Sein Herr erwartete ihn schon ungeduldig.

„Wo steckst du denn so lange?“

„Keine Sorge, Herr! Bis zur Bjell haben wir eine Stunde Anmarsch. Der Bock ist vor sechs Uhr nicht wieder draußen — also für das, was wir vorhaben, noch Zeit genug.“

Von da an ging alles, wie er es sich ausgekocht hatte. Der Rehbock stand vertraut auf der Wiese, dicht neben dem Wall des tiefen Abzugsgrabens, der durch die Mitte ging. Ein Kinderspiel war es, zwischen den am Rande stehenden Kiefern auf hundert Schritte heranzukommen und ihm die Kugel anzutragen. Als der Schuß fiel, war der Bock verschwunden, als hätte ihn die Erde verschluckt. Der Bauer setzte die Büchse ab, atmete freudig auf: „Der liegt tot im Graben, wie hingespuckt!“

Der Knecht widersprach.

„Nein, Herr, ich hab ganz genau aufgepaßt, er hat die Kugel zu weit nach hinten gekriegt, denn er machte einen krummen Buckel. Er sitzt wohl im Graben, lebt aber noch.“

„Also gut, ich will nicht mit dir streiten. Da, nimm meine Büchse, lauf hin und gib ihm den Fangschuß!“

Ludjich Sareyka mußte sich gewaltsam zusammennehmen, daß ihm vor Freude nicht die Hände bebten, als er nach dem Gewehr griff. Es war gar nicht nötig gewesen, daß er die zweite Büchse unter dem Rock mitgeschleppt hatte, der seinem Schicksal Verfallene gab sich ihm ohne Kampf in die Hand. Jetzt war nur noch nötig, ihn auf die freie Wiese hinauszulocken, dann konnte er ihm sogar seine Gemeinheiten vorhalten, auch Zeit lassen, ein paar Worte Vaterunser zu beten...

Als er auf dem Wall des Grabens stand, rief er zum Waldrand hinüber: „Herr, komm rasch! So einen Riesenkerl von Bock wirst du in deinem Leben nie mehr wieder schießen! Aber allein kann ich ihn nicht aus dem Graben kriegen...“

„Du dummer Kerl, ich will doch bloß das Gehörn! Hast du denn nicht die kleine Säge mitgenommen?“

„Hab ich leider vergessen...“

Da setzte sich Karl Baginski schimpfend in Bewegung. Jeder unnütze Aufenthalt bei so gefährlichem Geschäft konnte verhängnisvolle Zwischenfälle bringen... Dreißig Schritte vor dem Graben schrie ihn der Knecht plötzlich mit schrecklicher Stimme an: „Bleib stehen, Bauer! Jetzt kriegst du deine Auszahlung für die Braut, die du mir gestohlen hast!“

Der Herr des Bruchhofes fühlte deutlich, wie ihm die Todesangst den Nacken hinaufkroch. Wie ein dummes Kalb, das vom Fleischer zur Schlachtbank geführt wird, hatte er sich von dem rachsüchtigen Kerl da an seiner Jagdleidenschaft ins Verderben ziehen lassen.

„Du bist wohl verrückt geworden“, schrie er mit weinerlicher Stimme zurück, „was hab ich mit deiner Braut zu tun?“ Zugleich erwog er die Möglichkeit, sich vor der drohenden Kugel durch die Flucht zu retten. Aber nach jeder Seite hin hatte er über die offene Wiese fast hundert Schritte zu laufen. Selbst wenn er rannte wie ein Hirsch, der Lümmel, der von ihm erst die Handhabung eines Gewehrs gelernt hatte, traf mit der Kugel, wenn's darauf ankam, selbst einen Hasen in der Flucht... Da beschloß er, sich aufs Handeln zu verlegen.

„Sei doch vernünftig, Ludjich“, rief er bittend, „ich bin dir doch immer ein guter Herr gewesen! Und was liegt schon viel an so einem Mädel? Fünftausend Mark zahl ich dir auf der Stelle, wenn du die Büchse aus der Hand legst... Auch zehntausend meinetwegen... das Geld hab ich bei mir...“

„Bin ich denn ein Schwein“, schrie der Knecht zurück, „daß ich fresse, was ein anderer bespuckt hat?“ Wie ein Stöhnen kam es aus seiner Brust: „Mein Mädchen, das ich gehütet hab wie meinen Augapfel, aber jetzt ist Schluß! Falt die Hände, Bauer, daß du nicht ganz verflucht nach oben kommst!“

Da sah der Herr des Bruchhofes ein, daß er verloren war. Einen verzweifelten Satz machte er noch zur Seite, den Hall des Schusses hörte er nicht mehr... Ludjich Sareyka aber traf kaltblütig alle Maßnahmen, die nötig waren, den Fall so darzustellen, als sei der Bauer beim Wildern von einem Forstbeamten erschossen worden. In das Magazin der Büchse füllte er noch eine Patrone, legte das Gewehr dem Toten in den Arm. Die eine Patrone aber war nötig, um den Beweis zu liefern, daß aus der voll geladenen Büchse nur ein einziger Schuß abgegeben worden war. Der zweite war eben aus dem Gewehr des Beamten gekommen. Ein Kaliber war nicht festzustellen, die Kugel hatte von halblinks das Herz gefaßt, war durch den ganzen Körper geschlagen und hatte rückwärts einen handtellergroßen Ausschuß gerissen. Von dem blutbefleckten Gelde in der dicken Brieftasche rührte er nichts an. Was er drüben in Polen hatte, reichte für ihn. Und er hatte den Bauer wegen seiner Freveltat gerichtet, aber er war kein Dieb. Zum Schluß sah er sich noch einmal prüfend um, ob auch alles so stimmte, wie er sich's zurechtgelegt hatte, machte sich im Trabe auf, um sich im Dorfkruge von Schikorren ein Alibi zu schaffen. Mit dem alten Witz der heimlich zurückgestellten Wanduhr...

Als er eine Stunde vor Mitternacht mit einem reichlichen Trunke im Leibe nach dem Bruchhofe zurückkehrte, hätte er am liebsten laut gesungen, wenn er nicht Angst gehabt hätte, sein Glück zu beschreien. Weit über Erwarten hinaus war ihm alles wohl gelungen. Er hatte seine Rache gehabt, wenn er in Verdacht geriet, mußte der Krugwirt in Schikorren beschworen, daß er vor sechs Uhr schon längst bei ihm vor seinem Achtelchen Schnaps gesessen hätte. Und nicht zuletzt: Auch mit der Krankheit der Mutter hatte es gestimmt! Die alte Frau lag, von schwerem Reißen geplagt, zu Bett, konnte vor Schmerzen kaum die Augen im Kopf bewegen...

So weit war alles in schönster Ordnung, nur er hatte seine Rechnung ohne den Oberamtmann Schrötter in Rakowen gemacht. Als er im Dunkeln die kleine Tür am Hoftor aufklinkte, wurde er hinterrücks von drei starken Männern zugleich überfallen. Er stieß, schlug und biß um sich, aber gegen drei kam er nicht auf. Nach kurzer Gegenwehr war er überwältigt, wurde in die Stube auf die Ofenbank geschleppt, zwei Landjäger setzten sich neben ihn. Der Dritte untersuchte seine Hände und Kleider, aber darüber lachte er nur innerlich. Die Hände hatte er gewaschen und die Kleider sorgfältig vor jeder Berührung mit Blut in acht genommen. Er lallte in der Art eines Betrunkenen, er müsse sich diese Mißhandlungen verbitten, der Landjäger lachte kurz auf: „Paß Achtung, mein Jungchen, wir werden mit dir noch ganz andere Töne reden!“

Auf den Hof kam ein Auto gefahren, ein paar Minuten später füllte die niedrige Stube sich mit den Herren der Gerichtskommission, die schon einmal hier ihres Amtes gewaltet hatte. Der Richter entschuldigte sein spätes Kommen mit einer dringlichen Untersuchung, die ihn bis in die Abendstunden in der Stadt zurückgehalten habe, setzte sich mit seinem Schreiber hinter den Sofatisch mit der brennenden Lampe. Der Kreisphysikus begab sich mit einem Lazarettgehilfen auf die andere Seite des Hauses hinüber, wo man den Toten in seinem früheren Schlafzimmer aufgebahrt hatte. Ludjich Sareyka aber atmete erleichtert auf. Diesen Stadtherren konnte man viel Wind vormachen, das hatte er ja beim letztenmal gesehen... Zunächst schlug er dieselbe Taktik ein, die er schon vor den Gendarmen beobachtet hatte: er stellte sich vollkommen betrunken, verstand kaum ein Wort Deutsch.

Der Richter hatte einen Meldezettel überflogen, wandte sich zu dem auf der Ofenbank sitzenden Knecht: „Stehen Sie mal auf und kommen Sie hierher vor den Tisch!“

Ludjich Sareyka machte den Versuch, sich zu erheben, fiel wieder auf die Bank zurück und lachte blöd vor sich hin.

Nie mozne, pjiany gorzalki…

„Was meint er?“ wandte sich der Richter an seinen der masurischen Sprache kundigen Schreiber.

„Er sagt, er kann nicht stehen, weil er zu viel Schnaps getrunken hat.“

„Dann soll er sitzen bleiben! Wir können ja inzwischen erst die Zeugen vernehmen, vielleicht wird er in der Zeit nüchterner.“ Er wandte sich an einen der Landjäger: „Rufen Sie, bitte, den Herrn Oberamtmann Schrötter herein!“

Bei diesem Namen wurde es dem Gefangenen unbehaglich zumute. Der Rakower Herr war einer jener ganz Gerissenen, die nicht leicht hinters Licht zu führen waren. Und von diesem Augenblick an sann Ludjich über Möglichkeiten zur Flucht.

Der Oberamtmann, der im Nebenzimmer, so gut es ging, an der fassungslos weinenden Mutter herumgetröstet hatte, betrat die Stube. Und nach kurzer Erledigung der üblichen Formalitäten sagte er aus:

„Also heute nachmittag erhielt ich die telephonische Mitteilung, das Befinden meines hier in der Nähe schwer darniederliegenden Freundes Hans Baginski habe sich in so überraschend erfreulicher Weise gebessert, daß ich ihn mit Erlaubnis des Arztes ein paar Minuten sprechen dürfe. Mein Fuhrwerk stand vor der Tür, ich hatte eigentlich in der Stadt zu tun, aber ich machte mich natürlich zuerst nach dem Gehöft des Bauern Zündler auf den Weg, weil ich mit dem genannten Herrn sehr befreundet bin. In der kurzen Unterredung, die der Arzt gestattete, erfuhr ich, daß Herr Hans Baginski bei dem Versuche, festzustellen, welcher Art die von seinem Bruder betriebenen Grenzgeschäfte wären, einen furchtbaren Hieb mit einem Ruder über den Kopf gekriegt habe. Wer den Schlag geführt habe, sei in der Dunkelheit nicht zu sehen gewesen. Damit mußte ich mich vorläufig zufriedengeben, machte mich auf den Weg nach der Stadt. Als ich noch etwa drei Kilometer von meiner Waldgrenze entfernt war, hörte ich zwei Büchsenschüsse fallen. Im Abstand von genau vier Minuten. Ich hatte sofort beim ersten Schusse nach der Uhr gesehen, es war zehn Minuten nach sechs, vier Minuten später folgte der zweite. Da es sich nur um einen Wilddieb handeln konnte, ließ ich zufahren, als ich aber an die Waldwiese kam, auf der meiner Ansicht nach die beiden Schüsse gefallen sein mußten, war es zu spät. Schon vom Waldrande aus sah ich etwa dreißig Schritte von dem Wiesengraben entfernt einen anscheinend toten Menschen liegen. Ich näherte mich mit aller gebotenen Vorsicht, erkannte in dem Erschossenen den Besitzer des Bruchhofes hier, Karl Baginski. Einen verendeten Rehbock entdeckte ich im Graben, stand ein paar Minuten lang geradezu vor einem Rätsel.

Meinen jungen Förster hatte ich vor kaum einer halben Stunde im Gehöft des Bauern Zündler persönlich gesprochen, mein pensionierter alter sitzt mit schwerer Gicht zu Hause, irgendein anderer Forstbeamter aus einem Nachbarreviere hätte sich niemals herausgenommen, ohne vorher eingeholte Erlaubnis meinen Wald mit einem Gewehr zu betreten. Mit einem Male fielen mir in dem feuchten Sande des Grabenwalles zwei nebeneinanderstehende Fußspuren auf, und zugleich kam mir die Erkenntnis, der Bauer konnte nur von seinem Begleiter erschossen worden sein. Da hielt ich mich mit weiteren Feststellungen nicht mehr auf, brauste mit meinem Gespann ab nach Neuendorf, so rasch, wie die beiden Trakehner nur laufen konnten, zu dem mir als besonders erfahren bekannten Oberlandjäger Werncke. Ich lud ihn auf, wir untersuchten den Tatort noch bei vollkommen ausreichendem Licht, und Herr Werncke nahm von den beiden Fußspuren einen Gipsabguß. Die inzwischen telephonisch alarmierte Landjägerei der näheren Umgebung trafen wir an der verabredeten Stelle, riegelten hier luftdicht das Gehöft ab. Der einzige, der vom ganzen Gesinde fehlte, war hier der verhaftete Knecht Sareyka.“

„Und worauf stützen Sie ihre Annahme, daß gerade er seinen Herrn erschossen haben sollte?“ fragte der Richter.

Ehe der Oberamtmann antworten konnte, betrat der Oberlandjäger Werncke das Zimmer, stand vor dem Sofatische stramm: „Hier, Herr Amtsgerichtsrat, das Protokoll über die von mir im Dorfkruge vorgenommenen Erhebungen.“

Ludjich Sareyka war den rasch vorgetragenen Ausführungen des Oberamtmanns leidlich gut gefolgt, vor Zorn gegen sich selbst quollen ihm fast die Augen aus dem Kopfe. An alles hatte er gedacht, nur das Wichtigste hatte er vergessen: seine Fußspuren mit einem Kiefernast zu verwischen! Wenn jetzt der Gipsabdruck herbeigeholt wurde, war er verloren, denn die Stiefel, in denen er die Tat ausgeführt hatte, trug er an seinen Füßen. Da war es an der Zeit, zur Vorbereitung der Flucht den epileptischen Anfall zu spielen. Er schrie plötzlich auf, fiel von der Bank aufs Gesicht. Weißlicher Schaum trat auf seine Lippen, der Oberkörper lag regungslos, nur die Beine zuckten...

„Um Himmelswillen“, rief der Richter, „der Mann hat einen Anfall gekriegt!“

„Ganz recht“, bemerkte der Oberamtmann sarkastisch, „aber wenn Sie die Freundlichkeit haben wollten, mich mit dem Kerl und meinem Krückstock nur fünf Minuten allein zu lassen, würde der Anfall in der gleichen Zeit vorüber sein.“ Er empfing dafür von dem humanen Richter einen verweisenden Blick, Ludjich Sareyka wurde wieder auf die Bank gehoben. Seine Knie zuckten noch immer, er brachte zwischen den schaumbedeckten Lippen mühsam das Wort „Woda“ hervor.

„Was meint er?“ fragte der Richter.

„Wasser“, erklärte der des Masurischen kundige Schreiber.

„Na, das wird hier doch zu haben sein? Und rufen Sie, bitte, den Herrn Kreisphysikus zur Untersuchung her...“

Als wenige Minuten später der Arzt sich über ihn beugte, hielt Ludjich Sareyka den richtigen Augenblick für gekommen. Und er lachte sich innerlich eins, daß der so „erfahrene“ Oberlandjäger Werncke sich vor die Tür gestellt hatte. Wofür gab es denn die Fenster, deren alte Kreuze so morsch waren, daß man das Holz mit dem Fingernagel herauspolken konnte...? Der Kreisphysikus erhielt plötzlich einen furchtbaren Stoß vor die Brust, der ihn durch das ganze Zimmer gegen den Sofatisch schleuderte. Tisch und Lampe stürzten um, den Bruchteil einer Sekunde später fuhr Ludjich Sareyka, den Kopf voran, in gewaltigem Hechtsprung durch das nächste Fenster... Draußen fiel er auf die Hände, raffte sich auf und rannte, rannte... Beim eiligen Klettern über den Drahtzaun riß er sich blutig, aber was lag daran? Er war frei! Bis zur Grenze hatte er quer durch Feld und Wald mehr als zwei Stunden zu laufen, wer aber um seinen Hals rannte, durfte keine müden Beine kennen...

Die umgeworfene Petroleumlampe war zum Glück nicht explodiert; als man endlich eine neue gebracht hatte, kehrten die zur Verfolgung hinausgeeilten Landjäger zurück. In der Dunkelheit war nicht einmal festzustellen gewesen, nach welcher Richtung sich der Kerl gewandt haben mochte...

Der Richter bemerkte nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, wenn auch die Schuld des Entflohenen noch nicht einwandfrei erwiesen sei, so werde er durch einen sofort zu erlassenden Steckbrief hoffentlich wohl bald zu ermitteln sein. Von dem neuen Einblick in die „masurische Volksseele“, den er soeben erhalten hatte, sprach er nicht.

Herr Schrötter tauschte mit dem Oberlandjäger einen vielsagenden Blick.

„Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht weiter bemühen, Herr Amtsgerichtsrat. Ehe der Morgen graut, ist der Kerl drüben in Polen, und da verschwindet er wie ein Haferkorn im Speicher. Wenn man sich die ganze Angelegenheit aber bei Licht besieht, hat er unserer deutschen Sache hier einen gewissen Dienst erwiesen. Der Tote da drüben stand im Begriff, seinen Hof an einen Polen zu verkaufen, und die Sache war so geschickt eingefädelt, daß kein Mensch ihn daran hätte hindern können. Jetzt hoffe ich, daß dies Stück Erde hier wieder deutsch wird! Empfehle mich gehorsamst...“

***

Es ging schon auf Pfingsten, als der langsam Genesene endlich vom Gehöft des Bauern Zündler seine erste Ausfahrt unternehmen durfte. Blaß und abgezehrt, um den Kopf unter weicher Mütze noch immer einen leichten Verband, denn die Wunde war noch nicht ganz zugeheilt. Seine Braut saß neben ihm. Auch sie war recht spitz im Gesicht geworden, denn die vielen Nachtwachen und die Anstrengungen einer mehr als sechswöchigen Krankenpflege hatten ihren kräftigen Körper arg mitgenommen. Aber ihre blauen Augen leuchteten vor Freude mit der strahlenden Sonne um die Wette... Jetzt hatte sie ihn endlich sicher, den Mann, auf den sie von ihrem zwölften Jahr an in gläubiger Liebe gewartet, den sie mit einer Aufopferung ohnegleichen gerettet und gesundgepflegt hatte.

In der letzten Woche hatte sie ihm allmählich beigebracht, was sich in der Zeit seiner Krankheit zugetragen hatte, es war ihm ohne sonderliche Erschütterungen eingegangen. Nur vor einem Wort hatte sie sich bisher gescheut. Weil sie gemerkt hatte, wie es in seinen Augen aufleuchtete, als sie erzählte, der Bruchhof sei nach dem Tode seines letzten Herrn wieder in die Hand der Mutter zurückgefallen...

Die Fahrt sollte zu dem Schwiegervater nach Lipinsken gehen, dem die alte Frau Baginski schon seit einigen Wochen die Wirtschaft führte. Auf der Höhe über dem Bruchhofe ließ Hans den Wagen halten. Er deutete mit der Hand nach unten: „Was ist denn da los? Da wird, wie mir scheint, auf sechs, acht verschiedenen Schlägen geackert? Auch gebaut wird an fast ebensoviel Stellen?“

Fränze Podleschny tat harmlos.

„Ja, hab ich dir denn noch nicht erzählt, daß deine Mutter den Hof an die Ansiedelungskommission verkauft hat?“

Er fuhr unwillig auf: „Ohne mich zu fragen?“

Da schlang sie ihm den Arm um den Nacken: „Jetzt werd ich dir die Wahrheit sagen. Mich hat sie gefragt, und ich hab ihr geantwortet: `Nicht ums Sterben zieh ich in das verfluchte Haus! Aber damit ihm die Wahl erspart wird zwischen mir und dem Hof, geh hin, Mutter, und schließ den Vertrag ab!`“

Er ließ sich in die Wagenpolster zurücksinken, deckte die Rechte über die Augen: „Der letzte Baginski, und der Bruchhof in fremder Hand...?!“

„Ja“, erwiderte sie nachdrücklich, „aber wieder in deutschen Händen! Zwischen die beiden Vertriebenen in Rakowen ist er aufgeteilt, auf den sechs anderen Stellen sitzen die tüchtigsten Jungbauern aus dem Dorf, haben endlich ein Stück eigenes Land unter den Füßen!“ Weil es aber dem frischen Mädel nicht gegeben war, pathetisch zu sprechen, fügte es lächelnd hinzu: „Ich hab mir dabei auch gedacht, wenn die Bruchmahr von jetzt an in acht Höfen zugleich spuken muß, wird ihr das bald über werden. Was aber den `letzten Baginski' angeht, so hoffe ich doch...“ Sie brach ab, und über ihr mager gewordenes Gesicht zog eine tiefe Röte...

Da nahm er sie ohne Rücksicht auf den vor ihnen sitzenden Kutscher in den Arm, küßte sie herzlich. Nur auf der Höhe vor dem Wald wandte sich Hans Baginski noch einmal um, grüßte mit einem letzten, abschiednehmenden Blick den Hof, auf dem sein Geschlecht seit unvordenklichen Zeiten gesessen hatte...

Topjelec“, wörtlich übersetzt der „Ertränker“, d. h. der Wassernix, der dem Volksglauben nach in jedem großen See Masurens haust.

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