Masurische Dorfgeschichten
von
Richard Skowronnek
Zweite vermehrte Auflage
Dresden und Leipzig
Verlag von Heinrich Minden
1897
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugter Nachdruck wird gerichtlich verfolgt.
Den Eltern daheim.
Polska Maria.
Lautlos glitt unser Schlitten auf dem schmalen Gestelle dahin, das sich geradlinig durch den schneebehangenen Kiefernwald zog, schier endlos, meilenweit, vor dem in die Ferne spähenden Auge sich immer wieder zusammenschließend. Die Luft war weich und still, wie vor dem Nahen des Thauwindes. In den struppigen Haaren der trabenden Gäule hing weißer Reif, und weiße Strahlen entströmten ihren schnaufenden Nüstern. Regungslos starrten die graurothen Kiefern zu beiden Seiten des Weges gen Himmel, die grünen Aeste schneeverhangen, und unten zwischen den Stämmen dehnte sich in weichen Wellenlinien die weiße Decke, aus der die krausen Spitzen des Tannenunterholzes hervorlugten, wie grüner Schaum aus weißen Wogenkämmen.
Kein lebendes Wesen ringsum, nur ab und zu lief die einreihige Fährte eines Fuchses quer über den Weg, oder die winklige Spur eines Hasen, der irgendwo unter schneeverwehter Tanne sein warmes Tageslager haben mochte.
Ludjich Mrowka, unser Pferdeknecht, ein altes, noch von den Großeltern überkommenes Hofinventar, saß zusammengekauert auf dem umfangreichen Futtersack im Vordertheil des Schlittens; die in strohgefütterten Holzschuhen wohlverwahrten Füße auf das Querholz der Deichsel gestemmt, sog er behaglich an der mit „Selbstgebautem“ gefüllten kurzen Tabakspfeife und unterhielt sich halblaut mit den Gäulen. „Lauf, Maruschka, mein altes fettes Schweinchen, wir müssen noch vor Abend wieder zu Haus sein. Sieh, wie zierlich und schnell die Trina ihre Beine setzt, wie ein junges Mädchen, das den Kosak tanzt, wenn es weiß, daß der Geliebte ihm auf die Füße sieht, hei, Maruschka, lauf!“
Auf der rechten Seite des Weges begann sich der Wald zu lichten, ein halbverwehter Weg zweigte sich ab, der nach einer kleinen Ansiedelung führte. Wie Rebhühner, die sich zur Winterszeit auf schneeigem Felde zusammendrängen, um sich aneinander zu erwärmen, lagen die niedrigen Hütten mit grauen Holzwänden da; nur der kerzengerade aus den Schornsteinen emporsteigende bläuliche Rauch verrieth, daß sie bewohnt waren.
Am Kreuzwege stand ein altes Mütterchen; den Rücken gekrümmt unter einer Last dürren Holzes, war sie aus dem Geleise getreten, um unsern Schlitten vorüber zu lassen. Sie hatte die zerfetzten Röcke bis über die Kniee geschürzt, ihre Füße waren zum Schutz gegen Kälte und Schnee dick mit Lumpen bewickelt. Als wir vorüberkamen, öffnete sie den zahnlosen Mund zum Gruße, uns aus blöden, wimperlosen Augen anstarrend.
Ludjich Mrowka hieb auf die Pferde ein, spie dreimal aus und, als wir ein Stück weit gefahren, begann er, rückwärts gewandt, auf die Alte zu schimpfen, die uns noch immer regungslos, auf einen abgebrochenen Kiefernast gestützt, nachsah.
„O Du Großmutter des lebendigen Satans, daß Dich ein heiliges Gewitter in den Boden verschlage! Was hab' ich gesagt, junger Herr, als wir von Hause fuhren? Ich hab's doch gewußt, daß uns diese Hexe mit dem bösen Blicke über den Weg laufen würde.“
„Hast Du denn Angst vor dem alten Weib, Ludjich?“ unterbrach ich ihn.
Ludjich machte ein verächtliches Gesicht. „Angst, junger Herr? Nein, aber die alte Hexe kann mehr als Brod essen. Fragen Sie, wen Sie wollen, Panitzku, jeder Mensch wird Ihnen sagen, daß sie schon viel Unglück in die Welt gebracht hat. Ich weiß, was ich weiß.“
Und nach einer Weile, da ich schwieg und ihn nicht weiter auszufragen suchte, wandte er sich wieder zu mir und begann, verlegen an seiner Pelzmütze rückend: „Ich weiß nicht, junger Herr Wohlthäter, ob Sie mir das übel nehmen würden, wenn ich Ihnen erzählte —“
Ich nickte, und unaufhaltsam, nur von einzelnen an die Gäule gerichteten Zurufen unterbrochen, ergoß sich der geschwätzige Strom seiner Erzählung.
„Sehen Sie, Panitzku.“ begann Ludjich Mrowka, nachdem er sich mit prüfendem Finger versichert, daß der Tabak in der Pfeife noch reichlich vorhanden, „sehen Sie, dort, wo jetzt die paar Chaluppen stehen, war einst ein großer Bauernhof. Wie lang es her ist, weiß ich nicht, aber ich war damals wohl ein paar Jährchen jünger als heute. Der Hof gehörte dem Vater der alten Hexe. die da am Wege stand, und ich diente dem alten Samiel Kudrizki als Zweiter bei den Pferden. Ich seh' ihn noch wie heute, den alten Bauer, groß wie Ihr Herr Vater und streng und böse, junger Herr — ich ging ihm immer hundert Schritte aus dem Wege, wenn ich seinen weißen Bart um die Ecke kommen sah. Die alte Maria war damals ein junges Mädchen, groß und schlank wie ein Birkenbaum, und ein weißes Gesicht hatte sie, wie ein Stadtfräulein. Sie war das einzige Kind und, da die Mutter schon lange gestorben war, hat sie ganz allein mit ein paar Mädchen die Wirthschaft geführt, aber ich hätt' lieber gewünscht, die alte Bäuerin wär noch am Leben gewesen, denn so milchig und gut das Frauenzimmer aussah, ein Satan war sie schon damals. Wie Hunde sind ihr die ledigen Bauernsöhne aus den Dörfern ringsum nachgelaufen, und manch einer hat Nachts an ihrem Fenster gestanden, bis sie ihm eine Schüssel mit Wasser über den Kopf goß und ihn mit Scheltworten wegtrieb. Auf den Tanzboden ist sie gar nicht gegangen, und die Leute haben den Kopf geschüttelt und nicht gewußt, was sie aus dem Mädchen machen sollten. Ich aber wußte es, ich ganz allein, aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, ehe ich zu einem Menschen ein Wort gesagt hütte. Sehen Sie, junger Herr, da diente auf dem Hofe ein Pole, ein noch junger Mensch, nicht viel älter als ich. Er war von jenseits der Grenze gekommen; ob er dort vielleicht Einen umgebracht hatte, oder ob er vom Militär fortgelaufen war — was weiß ich? Es war ein schlanker Mensch, mit schwarzen Augen, wie Kohlen, und einem dünnen, schwarzen Schnurrbart, in dem man die Haare zählen konnte. Hübsch war er nicht, junger Herr, aber wenn er Abends auf der Fiedel spielte oder seine Lieder sang, dann mußte man ihm gut sein, ob man wollte oder nicht. Damit muß er es auch der Maria angethan haben, oder es war vielleicht noch etwas Anderes dabei, denn richtig war es nicht mit ihm — wie hätte sie sonst ihr Herz an diesen hergelaufenen Landstreicher hängen können, von dem kein Mensch wußte, wer seine Eltern waren und woher er kam. Vor den Leuten hat sie zu ihm nicht anders gethan, wie zu dem andern Gesinde. Sie raffte hinter ihm den Roggen, stakte mit ihm das Heu ein und aß mit ihm an einem Tische wie mit uns Allen, und ich müßte lügen, junger Herr, wenn ich sagen wollte, ich hätte es gesehen, daß er seine Augen vor den Leuten zu ihr aufgehoben hätte. Eines Abends aber, der alte Bauer war schon schlafen gegangen, ich stand mit meiner Pfeife draußen an der Hofmauer und dachte, ob ich noch ins Dorf hinuntergehen sollte, da hörte ich hinter mir ein paar Stimmen leise flüstern. Halt, dachte ich, das ist die Anka, die bei den Kühen war, mit ihrem Schatz. Die wirst Du schön erschrecken.
Ich reckte mich leise über die Mauer herüber, aber ich muß doch wohl ein Geräusch gemacht haben, denn die unten fuhren auseinander; ein Frauenzimmer lief dem Hause zu — ich brauchte nur mit einem Auge hinzusehen, um zu wissen, daß es die Maria war — und ich sah in die funkelnden Augen des Polen.
„Hundsblut verdammtes, was suchst Du hier?“ zischte er mich an, ich aber ließ mich leise herunter und schlich auf die andere Seite des Weges in den Schatten, wo er mich nicht sehen konnte. Richtig, er kam gleich darauf aus dem Hofthor, ging an der Mauer entlang und sah sich nach allen Seiten um. Als er Niemanden fand, kehrte er wieder um.
Ein paar Tage vergingen, und ich merkte wohl, daß mich die Beiden mit argwöhnischen Augen ansahen, aber ich verrieth mich nicht.
Der Pole, Jan Larnicki nannte er sich, schlief mit mir in einer Kammer hinter dem Pferdestall. Bis jetzt hatte ich nicht darauf geachtet, wenn er des Nachts von seinem Lager aufstand. Denn er erzählte es Jedem, der es hören wollte, daß er in's Nachbardorf zu einer Käthnerstochter ginge, aber von dem Abend fing ich an, ihm auf seine Wege zu passen. Und es dauerte nicht lange, da wußte ich Alles. Eines Nachts stand er auf, bog sich über mich, um zu hören, ob ich schlafe, zog sich an und ging leise fort. Ich ihm nach, aber draußen war es so dunkel, daß man seine Hand nicht vor den Augen sehen konnte, und ich glaube, er hätte mich umgebracht, wenn er gemerkt hätte, daß ich ihm aufpaßte. Ich wartete also ein Weilchen und dann schlich ich mich auf bloßen Sohlen in den Garten, auf den das Kammerfenster der Maria ging. Hier drückte ich mich an den alten Birnbaum und wartete. Wohl eine oder auch zwei Stunden mochte ich gestanden haben, da hörte ich das Fenster öffnen, ein weißes Gesicht bog sich heraus und sah sich nach allen Seiten um — mir schlug das Herz bis in den Hals hinein und ich drückte mich fester an den Baum — dann kletterte der Pole wie eine Katze herauf und huschte um die Ecke. Ich blieb noch eine Weile stehen, dann kroch ich in der Scheune in's Stroh, aber ich konnte kein Auge zumachen, ich zitterte am ganzen Leibe.
Als es am Himmel anfing roth zu werden, ging ich in unsere Kammer zurück. Der Pole lag in seinem Bett auf dem Rücken, die Hände unter den Kopf geschlagen. Er war wach, und als ich hereintrat, richtete er seine trennenden Augen auf mich.
„Na, wo hast Du Dich herumgetrieben, Ludjich?“
Ich hatte mir schon einstudirt, junger Herr, was ich sagen wollte, denn so dumm war ich auch nicht, mich von dem Polen fangen zu lassen. Ich kratzte mir also hinters Ohr und sagte ärgerlich: „ich war unten im Dorf, aber die Thür wurde nicht aufgemacht!“
Da lachte der Pole, drehte sich auf die andere Seite und murmelte etwas zwischen den Zähnen, was ich nicht verstand.
Ein paar Tage waren vergangen, wir hatten den Roggen glücklich eingebracht und feierten den „Plon“ auf dem Hofe. Am Vormittag war der alte Gospodarz Soika, dessen zweiter Sohn schon lange ein Auge auf unsere Hoftochter geworfen hatte, dagewesen und hatte lange mit dem alten Bauer gesprochen. Dann hatten sie die Maria rufen lassen, und als sie wieder aus der Stube herauskam, war sie blaß wie der Tod, aber sie trug den Kopf hoch und war wie sonst. Des Abends kamen ein paar Bauernsöhne, der Fritz Soika war auch darunter, mit ein paar Mädchen herüber, Jan Larnicki spielte, und wir tanzten in der großen Stube unter dem am Balken hängenden Erntekranz.
Die Maria saß neben ihrem Vater hinter dem Eichentisch. Das Gesicht in die Hände gestützt sah sie dem Polen zu, wie er die Fiedel spielte, so lustig und traurig zugleich, daß man in einem Athem hätte lachen und weinen mögen. Da schritt der Fritz Soika auf den Tisch zu, der alte Bauer lachte ihn an und hielt ihm das Glas mit Schnaps entgegen. Er trank und faßte dann die Hände der Maria, um sie hinter dem Tisch zum Tanze hervorzuziehen. Sie riß sich zuerst los, dann aber ging sie aus der Bank heraus und trat mit ihm zum Tanze an. Doch als sie die ersten Schritte machten, hörte der Pole auf zu spielen.
Der alte Bauer stand hinter dem Tische auf und, roth im Gesicht vor Wuth, schrie er zu ihm herüber:
„Hundsblut verdammtes, weshalb spielst Du nicht, wenn Deine Herrentochter mit ihrem Bräutigam tanzen will?“
Jan Larnicki faßte seine Fiedel an beiden Enden, und sie über dem Knie zerbrechend, warf er die Stücke dem Paar vor die Füße:
„Wenn der Bräutigam tanzen will, dann mag er auch selber spielen!“
Der Bauer arbeitete sich hinter dem Tische hervor, der Pole hatte sich hoch aufgerichtet und schrie ihm entgegen:
„Bauer, wenn Du die Hochzeit Deiner Tochter feierst, dann kannst Du mich gleich zum Taufpathen laden; das Kind, das sie unterm Herzen trägt, gehört mir!“
Der alte Bauer taumelte, als hätte ihn Einer mit der Axt vor den Kopf geschlagen, dann brüllte er auf wie ein wildes Thier und stürzte vorwärts. Seine Tochter warf sich dazwischen, er faßte sie bei den Haaren und schleuderte sie in die Ecke, dann blieb er mit einem Male stehen, focht mit den Armen in der Luft und brach auf der Stelle zusammen, wie ein auf's Blatt geschossener Hirsch.
Wir hoben ihn auf und trugen ihn auf sein Bett. Er lag regungslos da. wie ein Stück Holz, nur ein leises Röcheln zeigte, daß er noch lebte.
Die Maria kam an das Lager gewankt und setzte sich zu Häupten desselben auf einen Schemel. Ohne sich zu bewegen, starrte sie auf das blaurothe Gesicht ihres Vaters. Sie weinte leise und von Zeit zu Zeit wischte sie mit der bloßen Hand sich das Blut aus der Stirne, das unter den Haaren hervorrieselte.
Die große Stube hatte sich mit Neugierigen gefüllt, die aus der Nachbarschaft herbeigelaufen waren. Eine alte Taglöhnerin drängte sich aus der Menge heraus mit einem nassen Tuche in der Hand, das sie dem Bauer auf die Stirne legte. Dann redete sie der Maria zu, sich zu verbinden und in ihre Kammer zu gehen.
Das Mädchen stand auf und folgte der Alten wie ein Kind, das keinen eigenen Willen hat. Die Leute wichen vor ihr zurück, als sie durch die Stube schritt. Sie schien dessen nicht zu achten, ihr Blick suchte unter den vielen Gesichtern nur eins; als sie an nur vorüberkam, trat ich an sie heran und flüsterte ihr zu: Er ist nicht mehr hier, den Du suchst. Er hat seine besten Sachen zusammengepackt und ein Junge hat ihn schon vor einer Weile fortreiten sehen auf der braunen Stute ohne Zaum und Sattel.
Ob die Maria meine Worte verstanden hatte, weiß ich nicht, sie wehrte mit der Hand ab, als wenn ihr eine Fliege um das Ohr summte, und ging in ihre Kammer.
Allmälig verliefen sich die Neugierigen, und wenn ich nicht dagewesen wäre, dann hätte der Bauer verlassen dagelegen, wie ein räudiger Hund. Ich setzte mich zu ihm und kühlte ihm die Stirn mit dem nassen Tuche. Gegen Morgen schlug er die Augen auf; er wollte sich bewegen, aber er konnte weder Hand noch Fuß rühren.
Und so ist es mit ihm auch geblieben. Er hatte die Sprache verloren, und der schwere starke Mann mußte abgewartet werden, wie ein kleines Kind.
Allmälig beruhigte man sich in der Nachbarschaft. Mit der Verlobung war es aus seit dem Abend. Der Fritz Soika hätte die Maria wohl auch noch genommen trotz Allem, was vorgefallen war, aber seine Verwandten ließen es nicht zu. Die Maria machte sich nichts aus dem Gerede der Leute; sie trug ihren Kopf eben so hoch wie früher, nur wenn einmal der Name zu ihren Ohren kam, den ihr die Leute gegeben hatten, dann hat sie die Hände geballt und ihre Augen haben gefunkelt, als wollte sie den umbringen, der diesen Namen erfunden. In der Wirthschaft war sie noch fleißiger, als früher, aber um ihren kranken Vater kümmerte sie sich wenig, kaum daß sie ab und zu einen Blick in die Kammer warf, wo er hilflos in seinem Bette lag.
Jan Larnicki blieb verschwunden. Wohin er gegangen, wußte kein Mensch zu sagen, wahrscheinlich war er nach Polen zurückgekehrt, wo sie wieder einmal angefangen hatten, mit den Russen Krieg zu führen.
Der Winter kam heran, und es war ein schlimmer Winter; bald hat es gefroren, bald hat es gethaut, die Saaten faulten auf den Feldern und böse Krankheiten herrschten im Dorfe.
An einem Abend, das Wetter war wieder umgeschlagen und draußen trieb der nasse Schnee gegen die Fenster, da saßen wir um das Herdfeuer herum, Jeder mit seiner Arbeit beschäftigt. Die Maria und die Mädchen spannen, der Hütejunge schälte Kartoffeln und — ich weiß es noch wie heute — ich schabte an einem Harkenstiel. Auf einmal geht die Thür auf und ein Mann tritt in die Stube, mit abgerissenen Kleidern, naß vom Kopf bis zu den Füßen und den Kopf mit einem blutigen Tuch verbunden.
Ich erkannte ihn zuerst, denn ich will nicht selig werden, wenn's nicht wahr ist. junger Herr, bei Gott dem Allmächtigen, ich hatte in diesem Augenblicke an ihn gedacht — es war der Pole.
Er mußte schnell gelaufen sein, denn sein Athem ging rasch, und er konnte sich kaum auf den Füßen halten.
Die Maria war aufgestanden und griff sich nach dem Kopfe, er warf sich vor ihr nieder, umklammerte ihre Knie und stammelte: „Maria, um Jesus und der heiligen Mutter willen, verbirg mich, die Straschniks sind hinter mir!
In dem Augenblicke, da er das sagte, sprang auch schon die Thür auf, und ein halbes Dutzend von den Kerlen drang in die Stube. Das war damals anders, wie heute, Panitzku, die Bande war frech und kam oft am hellen Tage in unser Dorf. Also sie stürzten in das Zimmer, und ehe noch einer von ihnen den Mund aufthun konnte, trat die Maria einen Schritt zurück, zeigte mit dem Finger auf den Polen und sagte mit heiserer Stimme: „Da steht er, den Ihr sucht!“ —
Junger Herr, und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, in meinem Leben werde ich den traurigen Blick nicht vergessen, den der arme Jan Larnicki dem Weibe zuwarf. Er sagte kein Wort, sondern hielt ruhig den Straschniks seine Hände hin. Sie banden ihn und dann trieben sie ihn hinaus wie ein Stück Vieh.
Kaum fünf Minuten hatte das Alles gedauert, es war wie ein böser Traum.
Als die Russen mit ihrem Gefangenen zur Thür hinaus waren, da lachte das Weib auf wie ein Satan. In derselben Nacht noch schenkte sie einem Kinde das Leben, aber der liebe Gott nahm das Würmchen bald zu sich; wer weiß, vielleicht hat sie es selbst noch umgebracht.
Ich hielt es nicht mehr auf dem Hofe aus, am nächsten Tage packte ich meine paar Sachen, ließ meinen Lohn und Alles im Stich und verdingte mich bei Ihrem Herrn Großvater selig, der gerade einen Knecht brauchte.“
„Und weiter?“ fragte ich.
„Weiter, Panitzku?“ erwiderte Ludjich Mrowka. „Weiter ist eigentlich nichts mehr zu erzählen. Mit der Maria ging es von diesem Tage bergab, der Hof brannte ab und der Grund und Boden kam unter die Gant, sie fing an, sich jeden Tag zu betrinken, so lange sie noch das Geld für den Schnaps hatte, und im Uebrigen, na, Sie haben sie ja heute gesehen, die Polska Maria, junger Herr!“
Und Ludwig Mrowka wandte sich ab und begann wieder das eintönige Zwiegespräch mit seinen Pferden.
Der Fischmeister.
„Pojechal, er ist abgefahren!“ so pflegte er zu sagen, wenn ihm beim Verlesen der Netze einer der glatten, silbergeschuppten Plötze aus den vor Kälte und Nässe starren Fingern entglitt und über den Bord des Kahnes in das Wasser zurückplumpte. Nun ist er auch „abgefahren“, der alte Augustin Stomber, abgefahren dorthin, von wannen es keine Wiederkehr gibt. Am letzten Sonntage haben sie ihn hinausgetragen auf den stillen Friedhof unter die alten grauen Kiefern, und da es unmöglich gewesen, den steinhart gefrorenen Boden mit Hacke und Spaten zu zwingen, haben sie den Sarg nur nothdürftig mit Erde bedeckt bis zum Eintritt des Frühjahres, wenn der Frost aus der Erde gewichen.
Nicht das schlechteste Stück meiner Knabenjahre steigt vor mir auf, wenn ich des Alten gedenke, und zum Greifen lebendig steht mir seine knorrige, untersetzte Gestalt vor den Augen, mit dem kleinen, von borstigen Haaren umgebenen Kopfe aus den breiten Schultern, dem bartlosen, pockennarbigen Gesicht, mit den gutmütigen, stets etwas wässerig schimmernden Augen und der von dem unvermeidlichen Schnapse dunkelroth gefärbten, stumpfen Nase. Wie manche dunkle Herbstnacht und manch' lieben Sommernachmittag habe ich mit ihm im schmalen Kahne auf dem Wasser verbracht, wenn wir auf der Chlapacka den schaarenweise an der Oberfläche springenden Plötzen nachstellten oder den im seichten Uferwasser sich sonnenden Hecht im Röhricht listig umgarnten.
Wie oft haben wir den letzten Bissen Brod oder den letzten Schluck aus der wärmenden Flasche getheilt, wenn wir nach einem glücklichen Zuge „aufs Begräbniß“ tranken, oder auf gutes Glück, wenn die Netze leer geblieben waren.
Er war mein Lehrmeister gewesen in jeglicher Art der Fischerei; zu welcher Jahres- und Tageszeit und bei welchem Wetter man den Schlei und den Hecht, den Barsch und den Bressem fangen könne und welch kräftiger Sprüchlein es bedürfe, um bei jeglicher Gattung nicht mit leeren Netzen heimzukommen. Er kannte die Gewässer der Heimath wie seine Tasche. Jeder Binsenhusch und jedes Geröhricht war ihm vertraut, und es geschah selten, daß er sich einmal beim Aussetzen der Netze um eine Ruderlänge verrechnete.
Als ich das letzte Mal mit ihm hinausfuhr — ich war Jahre lang nicht in der Heimath gewesen und hatte eben so lange kein Ruder mehr in der Hand gehabt — da geschah es, daß ich auf seine Anweisung, nach dem Kanini most zu rudern, nicht mehr wußte, welche Richtung ich zu nehmen hätte.
Mißbilligend schüttelte der Alte das Haupt und fragte verwundert, ob ich mich denn nicht mehr der Stelle erinnerte, wo wir „damals“ den großen Hecht gefangen, der uns fast die Netze zerriß. Er lebte und webte in seinem nassen Handwerke und fühlte sich nicht anders wohl, als wenn ihn nichts weiter wie der schmale Zoll Bootswand von seinem geliebten Wasser trennte. Er war in seiner Jugend weit herumgekommen und kannte auch die Fischerei auf der hohen See; er hatte derselben jedoch keinen rechten Geschmack abgewinnen können, denn wie er sagte, wäre es ihm zu einfältig vorgekommen, in das wüste große Wasser hinauszufahren und dort aufs Geratewohl die paar Angelschnüre auszuwerfen. Das habe ihm immer geschienen, als wenn man Bohnenstangen in die Luft steckte und nun dabei wartete, bis sich die Spatzen daran spießten.
Er pflegte gerne zu erzählen, wenn wir den Kahn aus dem Wasser treiben ließen, bis er die Netze für den nächsten Zug verlesen und die zappelnden Fische herausgenommen, und schließlich kannte ich seine Geschichten fast besser, als er selbst. Sonderlich Großes und Bemerkenswerthes hatte er just nicht erlebt, aber es war doch manches darunter, was in seiner schlichten Art des Wiedererzählens werth sein dürfte.
Ob es auf den Leser dieselbe Wirkung ausüben wird, wie damals auf mich, weiß ich nicht. Es gehört so mancherlei dazu, was sich mit der schwarzen Tinte auf dem nüchternen weißen Papier schlecht wiedergeben läßt; das traumhafte Dunkel der Nacht, das Flüstern und Rascheln des Schilfes, das leise Anschlagen der Wellen an den schwankenden Kahn…
„Es ist jetzt schon lange her, Panitzku, ich war noch ein junger Mensch, los und ledig, und eben vom Militär zurückgekommen, da zogen die Russen hier ins Dorf, diese Philipponen, die dort unten in der Johannisburger Haide in Onufrigowen, ihr eigenes Kloster und ihre Kirche haben, weil sie ihres Glaubens wegen aus Rußland vertrieben wurden. Es war damals mit einem Male beliebt worden, daß das liebe Gotteswasser nicht mehr allen Menschen gehören sollte, und daß nicht mehr Jeder, was er für seinen Tisch und Unterhalt brauchte, sich daraus holen durfte. Mit dem Walde hatte die Regierung es ja lange schon so gemacht, und bestrafte den, der sich ein paar Splitter daraus heimbrachte, wie einen Dieb, während der liebe Gott die Bäume und das Wasser und die Luft doch nicht für einen Menschen geschaffen hat, sondern für Alle. Also damals kamen die Philipponen, diese Heißwassertrinker, hier ins Dorf als Pächter von unserem See, bauten sich ein Haus und schleppten Tag aus Tag ein die schönen Fischchen aus dem See mit dem großen Niewod, gegen den unsere Netze wie Fliegenkäscher waren, und kein Mensch bekam im Dorf mehr einen Fisch zu sehen, denn sie brachten Alles nach Polen, wo es ja den Katholiken zu manchen Zeiten nicht erlaubt ist, etwas Anderes zu essen als Fische. Und ein Fischereiaufseher wurde auf dem andern Ende des Sees eingesetzt in Barannen, der die ganze Nacht auf dem Wasser lag und darauf paßte, daß Niemand das neue Verbot übertrete und sich ein paar Fische fange, wenn er nichts Anderes zu Hause hatte, als trockenes Brod und Kartoffeln. Aber es hals nichts, wir sind doch herausgefahren, nur war es schlimm mit dem Netzetrocknen. Wir mußten sie jedesmal hinterher weit in den Wald tragen, oder vor dem Herd trocknen, sonst hätten sie uns verrathen. Ein paar Mal hat der Aufseher uns auch gegriffen, und ich habe selbst einmal zu acht und ein anderes Mal zu vierzehn Tagen sitzen müssen „wegen unbefugter Ausübung der Fischerei in wiederholten Rückfalle“, wie der Richter in dem Erkenntniß geschrieben hatte. Na, ich hab' meine Strafe abgesessen, aber ich kann mir nicht denken, daß der liebe Gott das Unsereinem als Sünde anrechnen wird.
Der Oberste von den Philipponen, der eigentliche Pächter, war der Schlimmste von Allen. Lariwon Smirnow hieß er und war ein großgewachsener Mann mit einem rothen Bart, der ihm bis auf die Brust ging. Die Leute erzählten, daß er in Onufrigowen ein großes Hofgut haben sollte, aber ich sage Ihnen, Panitzku, der Mensch war schmutziger in seinem Geiz, als ein Gewürzkrämer. Er zählte beim Zuge förmlich die Stinte, und scharrte aus den Flügeln jeden Fisch, der doch eigentlich den Netzschleppern gehört, mit dem Käscher zurück in die große Wuhne, damit er in den Sack käme, und im Sommer und Herbst, da zog er mit dem Obstkarren im Lande umher und verhökerte die Aepfel und Birnen metzweise. Er war nicht verheirathet, sondern hielt sich eine Wirthschafterin, ein halbes Maid noch, die freilich in der Wirthschaft nichts weiter tat, als daß sie in ihren rothen Saffianstiefelchen ein paar mal in die Küche kam und das Essen schmeckte, das die alte Schaffarka gekocht hatte, oder des Abends aus dem Samowar den Thee einschenkte, wenn der Russ' mit seinen Spektores Sechsundsechzig spielte.
Jelonka hieß sie, oder vielmehr der Russe nannte sie so, weil sie solche braune Augen hatte, wie ein Hirschkalb; ihr eigentlicher Name war Refke, und sie war eine Jüdin, die Tochter von dem alten Jankel Tetenbaum, einem armen Hausirer, der seine müden Knochen mit dem Bündel von Dorf zu Dorf schleppte, um die paar Groschen zum Leben zu verdienen, während seine Tochter, wenn sie zur Stadt ging, sich herausputzte wie eine Gräfin. Denn so geizig der Russe sonst war, um das Frauenzimmer that er sich halb närrisch und behängte sie mit seidenen Kleidern und allerhand kostbarem Schmuck. Es hieß auch, daß er sie habe heirathen wollen, aber der Patriarch von dem Onufrigower Kloster habe es ihm nicht erlaubt, weil sie immer eine Unreine bliebe, auch wenn sie zu dem Glauben der Philipponen übertreten wollte. Es ist zum Lachen, Panitzku, aber diese Leute, die in ihren Häusern leben wie die Schweine, halten jeden anderen Menschen für unrein und die ganz Strenggläubigen räuchern ihre Wohnung mit Wachholder aus, wenn ein Jud oder ein Evangelischer darin gewesen ist.
Also heirathen durfte der Russe sie nicht, aber er hatte all seinen Leuten anbefohlen, sie zu behandeln, als wäre sie seine rechtmäßige Frau, und sie nicht anders anzureden, wie als „Frau Wohltäterin.“ Und das war sie auch wirklich, denn sie besaß ein weiches Herz und hat im Stillen den armen Weibern im Dorf Manches zugesteckt von ihrem Ueberflusse; sie hätte ihren Vater wohl auch nicht als Dorfgänger sich herumschleppen lassen und für ihn gesorgt, wenn er nur etwas von ihr hätte annehmen wollen. Aber der Alte wäre eher verhungert, als daß er von ihrer Hand ein Almosen genommen hätte, und jedesmal, wenn er ins Dorf kam, ging er um das Haus des Russen in weitem Bogen herum und spie aus, als wenn eine Aussätzige darin wohnte.
Unter den Spektores war nun auch ein Brudersohn des Russen, ein junger lustiger Mensch, den alle Leute im Dorfe gern hatten, weil er so ganz anders war, als die übrigen Philipponen. Er war gewachsen wie ein Licht, und hatte so ein Milchgesicht, in dem gerade die ersten Flaumhaare wuchsen. Er sang und lachte den ganzen Tag und arbeitete dabei für zwei, und des Abends, wenn die Anderen um den Tisch herumsaßen, und Karten spielten, dann trieb er mit der Jelonka allerhand dummes Zeug, verwickelte ihr das Garn am Strickzeuge, versuchte ihr unversehens einen ihrer Schuhe zu stehlen oder haschte sich mit ihr in der Stube — sie spielten miteinander, wie ein paar junge Hunde. Der Russe sah ab und zu vom Tische zu den Beiden herüber, wenn sie gar zu arge Possen trieben, aber er wehrte ihnen nicht, denn er liebte seinen Brudersohn auf seine Weise und dachte an nichts Schlimmes. Er hätte auch keinen Grund dazu gehabt, denn sie waren Beide ja noch halbe Kinder.
Aber wie das so zu gehen pflegt, aus dem Spiel wurde schließlich bitterer Ernst. Der junge Ridziwon hörte auf zu singen und zu lachen und trieb mit der Jelonka keine Possen mehr. Er vermied es, des Abends in die große Stube zu kommen und lag die halben Nächte im Wirthshaus, und wenn er einmal zu Hause blieb, dann lehnte er am Ofen, sah starr seinem Oheim über die Schultern in die Karten und sprach den ganzen Abend kein Wort.
Alle Welt merkte es, wie es um ihn stand, nur der Russe bekam keinen Argwohn. Er fragte ihn wohl einmal, was ihm denn in den Kopf gefahren sei, aber dachte nicht im Traume daran, daß der Junge sich in die Jelonka verliebt haben konnte.
Ich kam damals viel mit dem Ridziwon zusammen. Wir hatten Beide aneinander Gefallen gefunden, und es kam sogar soweit, daß er manchmal des Nachts mit mir zusammen zum Fischen hinausfuhr, und er freute sich wie ein Kind, wenn wir dem Fischereiaufseher einmal durch die Lappen brannten. Hier draußen auf dem See, da hat er es mir auch erzählt, daß er vor Liebe zu Jelonka ganz krank sei und nicht wisse, was er thun sollte. Da habe ich denn gelacht und ihn gefragt, ob er wirklich nicht wisse, was man zu thun habe, wenn man ein Mädchen gern habe. Er sah mich mit seinen großen blauen Augen an, als hätte er nicht verstanden, was ich meinte, dann sagte er langsam: „Aber mein Onkel“ —
„Nun, ist er denn etwa mit ihr vom Pfarrer in der Kirche getraut?“
Junger Herr, der Teufel hatte mir das Wort eingegeben, und so lange ich lebe, werde ich diese Sünde nicht abbüßen können. Ich habe mir damals nichts dabei gedacht, als ich es sagte, und wußte gar nicht, was ich für ein Unglück angerichtet hatte. Der Ridziwon lachte mit einem Male laut auf und sagte dann: „Du hast Recht, Bruderherz, es ist ja keine Sünde. Und wenn es auch eine wäre, — er begeht ja tagtäglich eine größere.“
Wir fuhren bald heimwärts, denn wir hatten in der Nacht kein Glück; wir hatten kaum einen halben Korb voll Uklei gefangen, und nach der Baranner Seite zu wollten wir nicht fahren, denn dort konnte irgendwo im Schilf der Aufseher mit seinem Kahne lauern und uns abfassen, ehe wir uns dessen versehen hätten. Der Ridziwon legte sich in die Schlagruder, daß der Kahn über das Wasser flog, wie ein Vogel, und wir sprachen Beide kein Wort auf der ganzen Heimfahrt. Er half mir noch, die nassen Netze nach oben zu schaffen, und als er mir zum Abschiede die Hand drückte, raunte er mir leise ins Ohr: „Erzähl es Keinem weiter, Augustin. Aber ich weiß, daß auch die Jelonka mich lieb hat. Ich war ein blinder Narr, daß ich's bis jetzt nicht gemerkt habe.“
Er schnappte übermüthig mit den Fingern in der Luft, und ehe ich ihn noch warnen konnte, denn mich reuten meine Worte längst, hatte er sich mit einem Satze über das verschlossene Hofthor geschwungen und war im Dunkel der Nacht verschwunden.
Es war das letzte Mal, daß ich mit ihm gesprochen. Am andern Morgen führten sie mich ab, damit ich meine vierzehn Tage absitzen sollte. Ich war schon lange dazu verurteilt, aber sie hatten mich freigelassen, weil im Gefängnis kein Platz war. Als die vierzehn Tage um waren und ich wieder herauskam aus dem „rothen Hause“, da war das Unglück schon geschehen, und ich konnte keinem Menschen ordentlich in die Augen sehen, denn mir wat es, als trüge ich an Allem die Schuld.
Was denn geschehen war? Ja, Panitzku, das hat eigentlich Niemand erfahren. Die alte Schaffarka, die Hexe, erzählte freilich eine ganze Räubergeschichte, aber wer konnte wissen, was wahr daran war und was falsch. Der Russe hatte die Jelonka eines Tages auf den Wagen gehoben und war mit ihr abgefahren, über die Grenze nach Grajewo. Sie hatte fortwährend still vor sich hin geweint, aber der Russe ließ sie nicht aus den Augen, so daß sie mit keinem Menschen ein Wort sprechen konnte.
Nach ein paar Tagen kam er wieder, allein.
Wo er das junge Mädchen gelassen hatte, wußte Niemand zu sagen. Die Einen meinten, er hätte sie umgebracht, Andere erzählten, daß sie da drüben in Polen in ein verrufenes Haus geraten sei, ein Dritter wollte sie wieder in Szuczin als Harfenistin gesehen haben auf dem Jahrmarkt — er selbst sprach nicht darüber, und ihr Name kam nie wieder über seine Lippen.
Ein paar Tage darauf war auch der Ridziwon verschwunden. Die alte Schaffarka wollte wissen, daß er zur Strafe dafür, daß er seine Hand nach der Geliebten seines Oheims ausgestreckt, von dem Patriarchen verurteilt worden sei, sieben Jahre lang vom Sonnenlicht geschieden zu sein, um im Klosterkeller unter allerhand Gewürm zu leben, und die Leute glaubten es, denn diese Philipponen haben wirklich vielerlei Gebräuche, die unter ihnen streng geheim gehalten werden. Sie rufen kein anderes Gericht an, als das ihrer Kirche und strafen auch das Schwerste selbst. Der Lariwon und seine Spektores wurden zwar vor das Kreisgericht geladen und ein paar Tage im Gefängnis behalten, auch hier im Dorfe hat der Richter eine Menge Leute verhört — aber es kam nichts heraus und schließlich wurden die Philipponen wieder freigelassen.
Allmählig verstummte das Gerede, der Sommer verging und der Winter kam, und es dachte wohl Niemand mehr an die ganze Geschichte. Ich hatte den Sommer über an der neuen Chaussee gearbeitet, und als die Russen anfingen, mit dem großen Niewod aus dem See zu fischen, da hab' ich mich ihnen verdungen und mitgeholfen beim Anlegen des Netzes. Es kannte ja Keiner von ihnen die Tiefen im See, so wie ich, und wir haben in dem Winter Glück gehabt; gleich auf den ersten Zug, den ich anlegte, fingen wir an vierzig Solanken Bressem und andere Fische. Der Russe ließ mich schließlich schalten und walten, wie es mir gefiel, denn er sah, daß er dabei seinen Vortheil hatte, nur wenn ich ihm davon sprach, doch auch die Baranner Bucht abzufischen, dann wollte er davon nichts wissen. Er sagte, es sei nicht gut, denn er wollte dort in der Laichzeit auf Schleie und Karrauschen Säcke stellen, aber das war ja der reine Unsinn, deshalb hätte er doch dort im Winter einen Zug thun können.
Ich weiß nicht, wie es kam, aber mit einem Male stieg mir in der Brust ein Argwohn aus, der mir Tag und Nacht keine Ruhe ließ, und ich redete immer wieder auf den Russen ein und sagte ihm, daß wir dort den größten Fang vom ganzen Winter thun müßten, weil sich die Fische alle nach dem ruhigen Wasser gezogen hätten, aber es half Alles nichts, er blieb bei seiner Weigerung.
Ich hatte mir die Sache aber nun einmal in den Kopf gesetzt, und ich grübelte fortwährend darüber, wie ich sie wider seinen Willen ausführen könnte. Es war unterdessen Frühling geworden.
Die Felder lagen kahl vom Schnee, und die Sonne brannte schon ordentlich. Das Eis auf dem See fing an, grau und morsch zu werden, und nur ganz früh des Morgens, wenn der Nachtfrost noch darinnen steckte, konnten wir es wagen, mit dem schweren Netze hinaufzugehen. An den Rändern stand schon das klare Wasser, und wir mußten Bretter und Balken legen, um überhaupt hinaufzukommen.
Ich besinne mich ganz genau noch auf den Tag, Panitzku, es war der Mittwoch in der letzten Fastenwoche, und wir sollten den nächsten Tag aufhören mit der Winterfischerei, denn die Leute hatten schon Angst, auf das türkische Eis zu gehen. Der Russe war des Morgens nicht gleich mitgekommen, er hatte in Geschäften nach der Stadt müssen, und wollte dann zu Fuß über das Eis zu uns herauskommen. Die beiden Spektores waren mit dem zweiten Garn auf den kleinen Selmentsee gegangen, und ich war allein mit den Netzschleppern, alles Leute aus dem Dorfe.
Als wir nun auf dem Eise waren, da stellte ich mich mitten unter sie, und sprach: „Brüder, ihr Alle wißt, daß der junge Ridziwon damals verschwunden ist, und kein Mensch hat erfahren, wohin er gekommen ist. Die Leute erzählen zwar, daß die Philipponen ihn in ihr Kloster gesperrt haben, aber ich glaube das nicht. Er ist gar nicht weit von hier, wir stehen mit den Füßen auf seinem Grabe“ Und dann erzählte ich ihnen, weshalb ich das glaubte, und forderte sie auf, trotz dem Verbote des Russen, einen Zug in der Baranner Bucht zu tun. Wenn der Leichnam dort auf dem Grunde läge, dann müßten wir ihn mit dem Garne herausbekommen und die Wahrheit an den Tag bringen.
Die Männer schwiegen erst eine Weile, dann trat der Jan Zech, der unter ihnen der Aelteste war, hervor und sagte: „Wenn Du das glaubst, Augustin Stomber, dann wollen wir Deinen Worten gehorchen, das Garn auslegen und Dich gegen den Russen in Schutz nehmen, bis der Zug heraus ist. Finden wir den Todten, dann ist es gut, finden wir ihn nicht, dann magst Du mit dem Russen Deine Sache allein abmachen.“
Die Anderen murmelten ihren Beifall, und wir machten uns im Trab auf nach der Baranner Bucht. Ich sage Ihnen, Panitzku, ich habe noch niemals ein Garn schneller auswerfen sehen, als jenes Mal; den Leuten flogen nur so die Hände, und ehe eine Stunde vergangen war, da hatten wir schon die Stricke unter dem Eise durchgezogen und schleppten an ihnen, daß uns der Schweiß von der Stirne rann.
Wir mochten auf der Hälfte des Zuges sein, schon wurden die Strohbündel in den Stricken immer dichter und dichter, als wir den Russen über das Eis kommen sahen. Er lief im Trab und schrie uns schon von Weitem an. Mir schlug das Herz bis in den Hals, und ich sah mich nach einer Eispike um, damit ich etwas in der Hand hätte, wenn er sich auf mich werfen wollte.
Als er endlich bei uns war, mußte er erst einen Augenblick Luft schöpfen. Die Augen quollen ihm fast aus dem rothen Gesichte, er brüllte wie ein wildes Thier, und er hätte sich auf mich gestürzt, wenn die Leute nicht zwischen uns getreten wären.
Dann befahl er, sofort mit dem Zuge aufzuhören, aber wenn es auch gegangen wäre, die Männer weigerten sich, und der alte Zech sagte ihm mit ruhigen Worten, was sie beschlossen hatten.
Da wurde er bleich, wie der Schnee, stützte sich auf den Käscher, den er in der Hand hielt, und sagte kein Wort, nur seine Augen funkelten von dem Einen zum Andern. Ich glaube, er hätte es in diesem Augenblicke am liebsten gesehen, wenn der See sich aufgetan und uns Alle verschluckt hätte.
Die Flügel des Netzes steckten voll von Fischen; ich habe mein Lebtag nicht mehr so viele gesehen, aber es nahm sich Niemand die Zeit, sie herauszulesen, wie sonst. Das Eis fing an, sich um die große Oluga, die Wuhne, herum zu senken unter dem Gewichte der vielen Menschen und dem schweren Netze; wir standen bis an die Knie im Wasser — endlich kam der Sack. Alles drängte sich nach vorn, aber es war in dem trüben Wasser nichts zu erkennen. Wir schleppten ihn ein Ende weit heraus auf's Eis — er war zum Platzen voll von Fischen. Mit zitternden Händen ging ich daran, am hintern Ende den Strick zu lösen — da sah ich unter dem zappelnden Haufen von Fischen etwas wie einen Menschenkörper. Zwanzig Hände griffen zu, das starke Netzgefüge riß in Stücke, die Fische schütteten sich nach allen Seiten auseinander und auf dem bloßen Eise lag der, den wir suchten. Von seinem hübschen Gesichtchen war wenig mehr zu kennen, aber es war kein Zweifel, es war der Körper des armen Jungen. Mit schlotternden Knieen stand der Russe daneben, seine Zähne schlugen aufeinander wie im Fieber. Der alte Zech trat auf ihn zu, legte ihm die schwere Hand auf die Schulter und sagte: „Lariwon Smirnow, Du wirst nicht versuchen, zu entfliehen. Es wäre auch nutzlos, denn wir sind unserer fünfundzwanzig und würden Dich einholen. Folge uns, wir ziehen vor den Richter. Bist Du unschuldig an dem Tode des Jungen, dann ist es gut für Dich, wir aber haben unsere Pflicht getan.“
Zwei von den Männern nahmen den Russen in die Mitte, wir ließen das Netz und die Fische auf dem Eise zurück, legten den Leichnam auf den Schlitten und zogen über das Eis nach der Stadt, vor den Richter.
Wie Ameisen schaarten sich die Menschen um uns, und wir hatten Mühe, den Russen zu schützen, damit er nicht auf der Straße von den Leuten todtgeschlagen wurde.
Wir wurden vor den Staatsanwalt geführt, und ich erzählte im Angesichte des Todten die ganze Geschichte, alles, was ich wußte. Dann wurden die Anderen vernommen, und schließlich entließ uns das Gericht. Der Russe aber wurde in's Gefängnis geworfen.
Als wir wieder auf die Straße kamen, da rissen sich die Leute um uns. Ich sage Ihnen, Panitzku, ich habe niemals mehr einen solchen Tag erlebt.
Wir wurden in alle Schänken geschleppt, und die feinsten Herren drängten sich um uns, und wir mußten immer und immer wieder erzählen, was wir wußten.
Wie ich an dem Tage nach Hause gekommen bin, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen. Ich weiß nur, daß ich vorher und nachher in meinem Leben nie so betrunken gewesen bin. Zwei Nächte und einen Tag habe ich geschlafen, und als ich endlich aufwachte, da hab ich gemeint, ich hätte meinen Kopf voll von Mäusen und Ratten. Na, ich habe mich wieder ausgenüchtert, und dann habe ich an fünf Mal noch vor den Richter kommen müssen und habe immer wieder Alles erzählen müssen. Der Russe blieb dabei, daß er nicht wisse, wie sein Brudersohn um's Leben gekommen sei, und es half auch nichts, daß das ganze Philipponendorf vor Gericht geladen wurde. Die Leute hängen zusammen wie die Kletten, und es war aus ihnen nichts herauszubekommen. Schließlich, nachdem fast ein halbes Jahr vergangen war, kam der Russe vor die Geschworenen. Sie sprachen ihn frei, da ihm nichts bewiesen werden konnte, außerdem hatten zwei von den Philipponen beschworen, daß der junge Ridziwon zu ihnen gesagt hätte, er wolle sich selber den Tod geben, da er um der Jelonka willen, das Leben nicht länger ertragen könne. Sie hatten leicht reden. Der Mund, der sie hätte widerlegen können, war ja stumm auf immer.“
Der Alte war mit dem Verlesen der Netze fertig. Er richtete sich auf und reckte die steifen Arme in die Luft. Mich fröstelte.
„Nun, und was ist aus dem Russen geworden?“ fragte ich.
Der alte Fischmeister griff nach dem Handruder und trieb den Kahn ein Stück weit auf dem Schilfe heraus in den silbernen Streifen, der vom Mondlicht auf dem Wasser zitterte.
„Ja, das weiß ich nicht, Panitzku. Als er aus dem Gefängnisse herauskam, hat ihn Niemand mehr hier gesehen. Einer von seinen Verwandten übernahm die Pachtung, er selbst soll, wie die Leute sagen, nach dem Oesterreichischen gegangen sein, wo ja auch ein Theil von diesen Philipponen leben soll.“
„Und die schöne Jelonka?“
„Der liebe Himmel mag wissen, was aus ihr geworden ist. Vielleicht ist sie schon gestorben, oder vielleicht lebt sie noch — ich hab nie mehr etwas von ihr gehört.“
Montechi und Capuletti.
Das kleine Häuschen, in dem sie zusammen wohnten, lag abseits von der staubigen Dorfstraße, hinter einem Wiesengrunde, dessen Mitte ein seichter Ententümpel bildete, überwachsen von Weidenbüschen und allerhand üppig wucherndem Unkraut. In den Spalten der vom Alter grau gebeizten Holzwände hatten sich allerhand Gräser eingenistet, und eine saftiggrüne Moosschicht bedeckte das um den Schornstein herum gesenkte Strohdach. Auf dem Firste desselben thronte ein mächtiges Storchnest, dessen Bewohner schon nach dem warmen Süden abgezogen waren. Unzählige Spatzenfamilien trieben jetzt ihr Wesen in dem kunstvoll gethürmten Bau, befreit von der Angst vor dem spitzen Schnabel der Gattin ihres Schirmherrn, die es liebte, sich die Langeweile des Brutgeschäftes von Zeit zu Zeit durch ein fettes Spätzlein zu kürzen.
Die schmalen, in allen Regenbogenfarben schillernden Fenster des kleinen Häuschens, hier und da an schadhaften Stellen mit Papier verklebt, schauten auf ein schlecht gepflegtes Gärtchen. Ein paar langgezogene Gemüsebeete, bestanden mit allerhand Kräutern und Unkräutern, füllten dasselbe aus. In einer Ecke fristete neben Levkoyen und Nelken ein verkümmerter Rosenstrauch sein Dasein, verschattet von einer Gruppe schlankgewachsener Sonnenblumen, die mit ihren großen gelben Gesichtern sich über den aus Tannenreisern geflochtenen Stakelzaun neigten.
Hier in diesem engen Anwesen hausten die zwei Familien schon seit Jahren zusammen. Die Männer betrieben ein und dasselbe Handwerk; sie waren Brettschneider und zogen nun schon so manches Jahr an derselben Säge, der Samiel Grizan oben auf dem langgelegten Baumstamm und der Fritz Pogoda unten. Die stets gleichförmige Beschäftigung hatte den beiden in ihrem Aeußeren einen ganz bestimmten Stempel aufgedrückt: der Eine ging mit gekrümmtem Rücken vornüber, als hinge ihm stets die schwere Säge in den Armen, der Andere trug den Kopf im Nacken, mit den halbgeschlossenen Augenlidern unablässig blinzelnd, wie zum Schutze gegen herabfallende Sägespähne. Sie verdienten schlecht und recht ihr Brod, und wenn es auch seit der Zeit, wo der Kaufmann Walindy bei der Stadt die große Sägemühle angelegt hatte, mit ihrem Verdienste etwas knapper ging, so kam doch noch immer soviel heraus, daß die beiden Familien gerade nicht Hunger zu leiden hatten.
Die beiden Frauen waren Geschwisterkinder und vertrugen sich, abgesehen von einzelnen kleinen Zwistigkeiten, wie sie ja selbst in den besten Familien vorkommen sollen, vortrefflich. Sie kochten an ein und demselben Herde in der „schwarzen Küche“, die zugleich den Flur des Hauses bildete, und halfen sich gegenseitig bereitwillig aus in den kleinen wirthschaftlichen Nöthen des Tages. Die zu den beiden Hausständen zugehörige Kinderschaar — es waren ihrer neun oder zehn blauäugige und flachshaarige Buben und Mädchen, vom Hemdenmatz bis zu den halb Erwachsenen — tummelte sich unterschiedslos in den beiden Stuben und auf dem neutralen Terrain der Küche, oder wanderte über die Straße herüber an den See, wo die Dorfjugend neben den großen Kähnen der Fischer eine Art von Amphibienleben führte. Sie wurden sozusagen gemeinschaftlich erzogen: betrug sich eins unnütz, so erhielt es die verwirkte handgreifliche Verwarnung von derjenigen mütterlichen Autorität, die just in der Nähe war, ohne daß sich um die Strafbefugniß zwischen den beiden zuständigen Mächten je Streitigkeiten erhoben hätten, und nur zur Essenszeit oder zum Schlafengehn sammelte jede Mutter die ihr Gehörigen aus der Schaar, wie eine Henne ihre Küchlein.
Die beiden Aeltesten waren schon flügge geworden und aus dem Hause. Der Ludjich Grizan lernte das Zimmerhandwerk bei dem alten Meister Weitkus, und die Sochia Pogoda diente als Magd auf dem Kruggrundstücke des Dorfes. Ludjich war ein großgewachsener, starkknochiger Bursche, dem zur vollständigen Zufriedenheit nur das Eine fehlte, daß man ihn nicht zu den Soldaten genommen hatte, wie seine Altersgenossen. Ihm war als kleinem Jungen einmal die Säge auf den Fuß gefallen, und seit der Zeit hinkte er ein wenig, was ihn aber an seiner waghalsigen Beschäftigung zwischen Balken und Sparren hoch oben auf dem Firste des Daches nicht sonderlich hinderte. Sein Herz hatte sich zwar des Oeftern schmerzhaft zusammengezogen, wenn er sehen mußte, wie die Mädchen des Dorfes seinen in zweierlei Tuch prangenden Altersgenossen zur Zeit des Urlaubes nachliefen und mit ihnen in der zum Tanzsaal umgewandelten Einfahrt des Wirthshauses sich im Reigen schwangen, aber er hatte sich getröstet, seit es ihm klar geworden, daß es doch noch Eine gab, der der Glanz der blanken Knöpfe und rothen Kragen nicht den Kopf verdreht hatte. Diese Eine war sein Bäschen, die Sochia Pogoda, ein zierliches Mädchen, klein und rundlich, das mit seinen hellblauen Augen unter blondem Kraushaar seelenvergnügt in die Welt blickte. Es war ihm vorher nicht im Traum eingefallen, sie mit anderen Augen anzusehen, als etwa ein Bruder die Schwester. Sie waren eben zusammen aufgewachsen, hatten zusammen im Sande gespielt, und sich wohl auch gezankt und geprügelt und wieder vertragen, daß er sie aber lieb hatte von jeher, das war ihm, wie es so zu gehen pflegt, erst mit einem Male klar geworden, als sie es ihm nämlich selbst gesagt hatte.
Eines Abends — es war Sonntag und im Kruge große Tanzmusik — hatte er so verloren in einer Ecke der großen Stube gestanden und mit den Alten zugesehen, wie sich die junge Welt in Staub und Hitze im Reigen drehte. Seine Lahmheit wurmte ihn mehr denn je, und er kam sich so recht vereinsamt und von Gott und Menschen verlassen vor, als mit einem Male die Sochia mit gerötheten Wangen auf ihn zutrat und fragte: „Wollen wir nicht ein wenig herausgehen?“
Es stieg ihm warm im Herzen empor, daß doch wenigstens Eine sich seiner erbarmte, und nun schritt er neben dem Mädchen her, das sich zutraulich in seinen Arm gehängt hatte. Sie schauten zu dem alten Monde in die Höhe, der vergnügt schmunzelnd auf die graue Dorfstraße hinabsah, und sprachen Beide kein Wort. Was hätten sie sich auch Besonderes zu sagen gehabt? Und über ein Nichts zu sprechen, das hatten sie Beide nicht gelernt.
Als sie nun so langsam dahingingen, kam ihnen Jemand hastig aus dem Tanzsaale nach. Es war einer von den Urlaubern, ein Maurergeselle aus der Stadt. Der faßte die Sochia an der Hand und forderte sie auf, mit ihm zum Tanz zurückzukehren.
Ludjich fühlte es heiß über den Rücken laufen. „Laß die Hand los!“ knurrte er feindselig zu dem Soldaten herüber, und als dieser ihm frech ins Gesicht lachte und antwortete, er könne sich ja unterdessen auf das gesunde Bein stellen und zusehen, wie sie Beide tanzten, da ergriff den Burschen eine namenlose Wuth. Mit einem Griffe hatte er den Maurer an der Kehle.
„Verdammtes Hundsblut, ich will Dir zeigen, daß ich gesunde Arme hab', ich will es Dir zeigen, zeigen, zeigen“, wiederholte er jedesmal, so oft seine grobe Faust wie ein Schmiedehammer auf den überraschten Gegner niedersauste. Er ließ nicht eher von ihm ab, als bis derselbe sich ihm heulend entwand und eilends fortstürzte, dann sah er sich mit blitzenden Augen nach der Sochia um. Die hatte unterdessen bei Seite gestanden, sich die Hüften gehalten und gelacht wie ein Kobold. Und noch immer lachend, warf sie sich dem großen Burschen an den Hals, biß ihn fast und küßte ihn und sagte: „Du Ungethüm, ich habe ja gar nicht gewußt, daß Du meinetwegen so zornig werden kannst.“
„Ich hab' es ja auch nicht gewußt“, gestand Ludjich kleinlaut, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich von der Ueberraschung über seinen eigenen Muth so weit erholt hatte, um die Küsse des jungen Mädchens herzhaft zu erwidern.
Und dann schritten sie weiter auf der Dorfstraße. Ihm schwoll das Herz von einem großen, ungekannten Wohlgefühl, das ihn halb traurig und halb lustig stimmte; er wollte alles Mögliche sagen, aber er kam über den Ansatz dazu niemals hinaus. Die Sochia hatte den linken Arm um ihn geschlungen und schmiegte ihr Köpfchen fest an seine breite Brust. Auch sie war still geworden und nur von Zeit zu Zeit kicherte sie leise auf in der Erinnerung an die komische Figur, die der Maurergeselle in dem eben stattgefundenen Kampfe gespielt hatte. Dann wurde sie mit einem Male ganz ernsthaft und fragte: „Du, Ludjich, aber was werden die Alten dazu sagen?“
„Ja, was werden sie sagen?!“ wiederholte er mechanisch.
Die Sochia seufzte tief auf und fuhr bekümmert fort: „Weißt Du, meine Mutter wird sehr böse sein. Denn sieh, ich habe mir in den drei Jahren doch an vierzig Thaler gespart, und wenn ich noch ein paar Jahre aushalte, dann habe ich doch ein ganz schönes Stück Geld beisammen.“ — „Ja, das hast Du!“ sagte der Ludjich verzagt. — „Na, und da wird die Mutter nicht wollen und sagen, ich könnte auch einen Andern bekommen, z. B. den Adam Gerlizki, dem sein Vater doch die Chaluppe und den ganzen Garten mit den vier Morgen Land verschreiben will.“
„Ja, das wird sie wohl sagen“, meinte Ludjich bekümmert.
Das junge Mädchen wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Augen. In dem jungen Burschen begann es jetzt mächtig zu arbeiten. Er setzte erst einige Male vergeblich an und rang danach, den in ihm durcheinander arbeitenden Gefühlen Worte zu verleihen, dann aber brach es unaufhaltsam hervor: „Du sollst nicht weinen, Sochia, ich kann das nicht mit ansehen. Ich will morgen selbst zu Deiner Mutter gehen und mit ihr sprechen. Noch ein Jahr. dann habe ich ausgelernt und dann verdiene ich mein Brod so gut, wie jeder Andere. Wir brauchen ja nicht hier zu bleiben, wir gehen nach der Stadt, oder sonst wohin, wo es Arbeit giebt, und wenn Deine Mutter mit diesem hochnäsigen Käthnerssohn kommt, dann sage ich Dir, ich schlage ihm alle Knochen windelweich, ehe er Dich auch nur mit einem Finger anrührt!“
Das junge Mädchen schmiegte sich fest an den großen Burschen an und sah unter Thränen lächelnd zu ihm auf. „Geh', Du bekämst es fertig, mit Deinen groben Fäusten Alles zu verderben. Kümmere Du Dich um gar nichts und laß mich mit der Mutter sprechen. Ich werde morgen in aller Frühe zu ihr herüber gehn und ihr sagen, daß wir uns versprochen haben und daß wir uns heirathen wollen, wenn Du ausgelernt hast. Und dann ist ja immer noch Zeit für Dich, ein Wort mitzusprechen. Und nun gute Nacht, ich muß zurück, sonst vermißt mich meine Herrschaft.“ Ludjich fühlte einen heißen Kuß auf seiner großen Nase und, ehe er es sich recht versah, stand er allein auf der Landstraße.
Am andern Morgen standen die beiden Frauen an dem gemeinschaftlichen Herde, um für die Männer die Morgensuppe zu kochen. Frau Pogoda war just nicht in rosiger Laune; ihr Herr Ehelichster war am Abend vorher mit einem recht ansehnlichen Rausche heimgekommen und weigerte sich unter den Nachwirkungen desselben ganz entschieden, sein schweres Haupt zur täglichen Arbeit zu erheben. Er behauptete, ob mit Recht oder Unrecht mag dahingestellt bleiben, er hätte in Folge der angestrengten Arbeit der letzten Woche es so schwer auf der Brust liegen, außerdem könne er heute nicht eine halbe Minute auf einen und denselben Fleck sehen, ohne daß ihm ganz krank zu Muthe würde. Es war zu einer scharfen Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf Herr Pogoda schließlich zu thatsächlichen Beweisen gegriffen hatte, kurz, es herrschte auf der einen Seite des Hauses eine ziemlich schwüle Atmosphäre.
Unter der Einwirkung derselben entspann sich nun auch am Herde eine gerade nicht freundliche Unterhaltung, die aus einem ganz unbedeutenden Anlasse — Frau Grizan hatte einem Pogoda'schen Topfe einen Sprung beigebracht — sich immer mehr zuspitzte und schließlich damit endigte, daß Frau Grizan mit ihrer Suppe sich grollend in ihre Gemächer zurückzog, nicht ohne hinter sich die Stubenthüre schmetternd in's Schloß geworfen zu haben.
Die arme Sochia hätte sich für ihr Anliegen keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. Sie hatte sich auf einen Augenblick von der Arbeit fortgestohlen und stand nun außer Athem und hochklopfenden Herzens vor ihrer Mutter. Mit fliegenden Worten erzählte sie, was gestern Abend zwischen ihr und Ludjich vorgefallen und schloß damit, daß sie sich fest versprochen hätten zu heirathen, wenn er seine Lehrzeit beendigt haben würde. „So“, sagte Frau Pogoda mit scheinbarer Ruhe, „also Ihr habt Euch das fest versprochen?“ Und mit immer sich steigernder Erregung fuhr sie fort: „Dann werdet Ihr ja wohl auch wissen, wie Ihr das ohne mich machen werdet. Meinst Du, ich hätte Deinen Lohn zusammengehalten und jeden Pfennig gespart, damit der lange Taugenichts sich davon mästen soll? Ich werd' Euch schon die Heirathsgedanken austreiben, und wenn Du nicht gleich machst, daß Du zu Deiner Herrschaft hinüberkommst und an Deine Arbeit gehst, dann werde ich Dich selbst an den Ohren hinüberführen, Du dumme Gans, Du!“ Die kleine Sochia wartete die Ausführung dieser Zwangsmaßregel nicht ab. Sie warf ihrer Mutter einen trotzigen Blick zu, wischte sich, so gut es ging, die Thränen aus den Augen und schlüpfte mit schnellen Füßen über den noch thaufeuchten Wiesenpfad nach dem Kruge zurück.
Frau Pogoda mußte sich einen Augenblick lang setzen; ihr war das eben Gehörte ordentlich in die Beine gefahren und sie bedurfte der Sammlung. Sie hatte mit dem alten Gerlizki in Betreff seines Adam und ihrer Sochia schon vor Monaten Alles haarklein abgesprochen, und nicht im Traume war es ihr eingefallen, daß das dumme Ding sich auf eigene Hand einen Bräutigam aussuchen würde. Und wenn es noch einer von den Besitzerssöhnen gewesen wäre, der etwas zuzubrocken gehabt, dann hätte sie vielleicht nichts dagegen gehabt. Nun kam aber dieser grüne Junge her, der noch nicht einmal sein Handwerk ausgelernt hatte und der offenbar nur auf die vierzig Thaler der Sochia spekulirte — na, sie würde es ihnen schon austreiben! Zunächst aber wollte sie einmal mit Ludjich's Mutter ein kräftiges Wörtlein reden.
Frau Grizan, die eben aus ihrer Stube trat, um am Herde die gebrauchten Frühstücksgeschirre zu reinigen, kam ihr gerade zur rechten Zeit in den Wurf. Sie erhob sich, stemmte die Arme in die Seiten und begann: „Du thust ja so, als wenn Dich die ganze Geschichte nichts anginge!“ „Was für eine Geschichte?“ fragte die Grizanka verwundert. Sie wußte wirklich nicht, um was es sich handelte. „Es ist wirklich zum Lachen! Als wenn Du nicht mit hinter dem großen Hinkebein stecktest und ihn angestiftet hättest, der dummen Margell den Kopf zu verdrehen. Ja, ich glaub's, das könnte Euch so passen, ihn mit unserm Gelde zu versorgen!“
Frau Grizan stand erst einen Augenblick sprachlos vor Staunen, dann brach sie los: „Weib, ich glaube, Du bist verrückt geworden. In meinem kleinen Finger habe ich nicht daran gedacht; da ist nur mein Junge viel zu schade dazu. Der bekommt noch eine ganz andere Frau, als Eure Vierzigthalerprinzessin. Ha ha, es ist zum Lachen!“ — „Lach' nur, alte Hexe, es kommt Dir doch nicht aus dem Herzen. Ihr hungerleiderisches Pack, Ihr wärt ja froh, wenn Ihr vierzig Pfennige im Sack hättet. Und wenn mein Mann Deinen Faulenzer nicht so mit durchschleppen würde, dann verdientet Ihr gar nichts!“ — „So, und wie steht es denn mit den zweiundzwanzig Groschen, die wir von Euch noch aus der letzten Abrechnung zu bekommen haben, he? Und was thut denn Dein Mann heute? Er will wohl das Bett mit herausnehmen auf den Sägeplatz?“
Frau Pogoda ließ es an einer passenden Erwiderung nicht fehlen, ebenso wenig Frau Grizan, und es wäre bei den bloßen Worten nicht geblieben, wenn nicht zur rechten Zeit die Männer auf dem Schauplatze erschienen wären und halb mit Gewalt den Ausbruch der thätlichen Feindseligkeiten verhindert hätten.
Die beiden Parteien zogen sich in ihre Stuben zurück, und hier gelang es den Frauen, auch ihren Männern die Köpfe so zu verdrehen, daß sie, statt gemeinschaftlich an die Arbeit zu gehn, zu Hause sitzen blieben und sich allmälig in eine gegenseitige Verbitterung hineinredeten, die den Riß nur noch erweiterte.
Gegen Mittag verließ Frau Pogoda, mit ihrem besten Kleide angethan, das Haus. Sie ging geraden Wegs zu dem alten Gerlizki, um mit ihm zu vereinbaren, den Adam mit der Sochia schon zum Herbste zusammenzugeben. Strahlend kam sie zurück und konnte sich das Vergnügen nicht versagen, der Grizanka durch die offene Stubenthür höhnisch zuzurufen, daß nun zwischen ihr und den Gerlizkis Alles in Ordnung sei.
Statt der Antwort kam durch die Thür eine Suppenschüssel geflogen, der Frau Pogoda nur mit genauer Noth entging. Sie zog sich laut schimpfend zurück, verbot unter Androhung schwerer Leibesstrafe ihren Kindern, mit den Grizan'schen noch ferner zu spielen, und stachelte ihren Mann auf, sich für seine Arbeit einen andern Genossen zu suchen.
So ziemlich das Gleiche fand auf der andern Seite des Flures statt, und so war denn das Haus mit einem Schlage in zwei feindliche Lager gespalten. Die beiden Männer, die Jahr für Jahr den Tag in gemeinschaftlicher Arbeit zugebracht hatten, gingen von nun an ihren eigenen Weg. Jeder von ihnen hatte zu einer anderen Beschäftigung greifen müssen, denn einmal war es bei ihrer Art der Thätigkeit nicht so leicht den zweiten unentbehrlichen Arbeitsgenossen zu finden, anderseits aber, und das war der schwerste Hinderungsgrund, gehörte die große Säge Beiden gemeinschaftlich. Die von der Pogoda'schen Seite angeknüpften Verhandlungen wegen Ueberlassung des Grizan'schen Antheils waren natürlich hohnlächelnd zurückgewiesen worden, und so war denn der Eine unter die Erdarbeiter an der neuen Chaussee gegangen und schob dort ächzend in der langen Reihe mit an den schweren mit Kies beladenen Karren, der Andere, Samiel Grizan, hatte auf dem Zimmerplatze des alten Meisters Weitkus eine Beschäftigung gefunden, die ihm freilich nicht die Hälfte seines sonstigen Verdienstes einbrachte.
Die gegenseitige Feindschaft wurde wenn möglich noch schlimmer, als eines Abends Frau Pogoda den Ludjich mit der Sochia traf, wie sie an der Ecke des Kruges einen Augenblick flüsternd zusammenstanden. Sie trieb die Beiden laut scheltend auseinander und ließ es bei ihrer Tochter sogar an einer handgreiflichen Zurechtweisung nicht fehlen.
Die Aufregung und der Aerger über den Trotz ihres pflichtvergessenen Kindes gaben der sonst so harten Frau einen gewaltigen Stoß. Als sie am andern Morgen aufstehen wollte, fühlte sie es wie Blei in den Gliedern, der Kopf brannte ihr wie Feuer, und nur mit Mühe schleppte sie sich zum Herde, um ihrem Manne und den Kindern das Frühstück zu bereiten. Dann legte sie sich wieder, um so bald nicht wieder aufzustehn.
Die beiden Nettesten von den Kindern hatten zur Schule gemußt, und weinend umstanden die drei Kleinen das Lager der vor Schmerzen laut stöhnenden Mutter, bis sich schließlich der Verständigste derselben ein Herz faßte und trotz des strengen Verbotes zu der Tante auf die andere Seite des Flures hinüberlief.
Die Grizanka kämpfte in ihrem Herzen zuerst einen schweren Kampf, aber am Ende dachte sie doch daran, daß es ihre Halbschwester war, die da drüben vielleicht auf den Tod krank lag, und sie entschloß sich Hinüberzugehen. Als sie die Thür zu der Pogoda'schen Wohnung öffnete, richtete sich die Kranke im Bette auf und schrie ihr entgegen: „Willst Du mich umbringen, alte Hexe? Wenn mich der Satan holen soll, dann brauchst Du wenigstens nicht dabei zu sein.“ Die Frau fühlte es bitter in ihrem Herzen aufsteigen, sie wollte ein böses Wort erwidern, aber sie bezwang sich, zog den Knaben mit heraus und schickte ihn zu der Sochia hinüber, damit er ihr sage. wie es um die Mutter stehe.
Und nun begann eine harte Zeit für die Pogoda'sche Familie. Die Frau hatt eine schwere Lungenentzündung bekommen und lag wochenlang darnieder. Der Arzt mußte fast täglich aus der Stadt geholt werden, und wenn der gute, alte Kreisphysikus von solchen Kranken auch kein Honorar beanspruchte, so mußte doch der theuere Apotheker bezahlt werden und auch das Fuhrwerk, das den Doctor aus der Stadt holte und wieder zurückbrachte. Der Verdienst des alten Pogoda war schmal und reichte nur gerade aus, um die fünf hungrigen Mäuler der Kleinen zu stopfen, und so mußte denn die Sochia ihr Erspartes darangeben. Groschenweise hatte sie es zurückgelegt und Thalerweise mußte sie es nun hervorholen. Als endlich die schlimmste Gefahr vorüber war, da hatten die vierzig Thaler so ziemlich ein Ende.
Mit der Wirthschaft fing es an, allmälig bergab zu gehen. Die Sochia konnte nur auf Augenblicke abkommen, und die Aelteste nach ihr war noch ein dummes Ding, das vom Haushalten und Kochen herzlich wenig verstand. Die Kleinen fingen an zu verwahrlosen und zu verlumpen, der alte Pogoda, der so wie so einen Hang zum Trinken hatte, kam fast jeden Abend mit einem Rausche heim, und die Mutter konnte noch immer nicht aus dem Bette heraus, um selbst nach dem Rechten zu sehen.
Bei den Grizans drüben war unterdeß Alles seinen gewöhnlichen Gang gegangen. In der ersten Zeit hatte die Frau so etwas wie Schadenfreude darüber empfunden, daß es den Nachbarn so schlecht ging, und sie hatte nach der ersten Abweisung keinen Finger gerührt, um helfend einzugreifen. Allmälig aber fing sie es doch an zu dauern, als sie die Kleinen beinahe im Schmutze vorkommen sah, und verstohlen nahm sie ab und zu eines derselben bei Seite, um es wenigstens vom Aergsten zu reinigen. Die Kinder hatten sich unter einander schon längst wieder vertragen. Sie hatten es nicht begreifen können, weshalb man ihnen untersagt hatte, mit einander zu spielen, wie sonst, und als Niemand sie daran hinderte, hatten sie sich bald wieder zusammengethan.
Eines Vormittags nun saß die Grizanka in dem kleinen Gärtchen auf der Bank unter dem Fenster. Sie hatte dem ältesten der Pogoda'schen Jungen den Kittel ausgezogen, um die klaffenden Löcher ein wenig mit Nadel und Faden zusammenzuziehen. Die Kinder spielten gemeinschaftlich unten auf der Wiese und tummelten sich auf dem weichen Boden nach Herzenslust. Plötzlich tönte von dem Ententümpel herüber lautes Geschrei, aber die Mutter hob kaum den Kopf darnach. Jedenfalls waren sich zwei von den Kleinen wieder einmal in die Haare gerathen, und da war es besser, sich gar nicht hineinzumischen. Als aber das älteste von ihren Kindern laut rufend zu dem Gärtchen gelaufen kam, legte sie doch die Arbeit bei Seite und eilte hinab, um zu sehen, was es gäbe.
Sie kam gerade noch zur rechten Zeit, um mit schnellem Griffe ein nacktes, zappelndes Beinchen zu erfassen, das zwischen dem grünen Schilfe aus dem modrigen Wasser herausragte. Sie warf den Buben — es war derselbe, dessen Wams sie gerade flickte — auf den Rasen und begann ihn hin- und herzurollen, damit er das untergeschluckte Wasser wieder von sich gebe. Dann nahm sie ihn auf den Arm, lief mit ihm nach dem Hause und steckte ihn in das warme Bett, damit er sich wieder erholte.
Die Kranke war unterdeß, durch das laute Kindergeschrei beunruhigt, mühsam aus dem Bette aufgestanden und hatte sich an der Wand zum Fenster hingetastet. Die Kniee zitterten ihr, als sie sah, wie ihre Todfeindin ihren von dem schwarzen Moorwasser wie einen kleinen Teufel gefärbten Jungen dem Hause zutrug, und sie mutzte sich fest an das Fensterbrett klammem, um nicht zusammenzubrechen. Unaufhaltsam rannen ihr die Thränen über die verhärmten Wangen und sie mußte sich erst eine ganze Weile ausweinen, ehe sie die Kraft fand, sich an der Wand weiter bis zur Thür zu tasten. Als sie dieselbe öffnete, stand die Grizanka schon am Herde und fachte das Feuer an, um dem Jungen einen warmen Fliederthee zu kochen.
„Maria!“ sagte sie leise und streckte die Arme nach ihr aus. Sie wankte und wäre gefallen, wenn ihr die Grizanka nicht noch rechtzeitig zu Hilfe gesprungen wäre. „Na, laß nun gut sein“, sagte diese rauh. „Dem Jungen ist weiter nichts passirt, als daß er ein bischen Wasser geschluckt hat. Und nun geh' hinüber in Dein Bett. Ich muß erst den Thee kochen, dann komme ich nach Dir sehen.“ —
Als die beiden Männer Mittags nach Hause kamen, fanden sie zu ihrem Erstaunen die Frauen Hand in Hand vor der Hausthür sitzen. Es dauerte nicht lange, bis auch sie sich wieder vertrugen. Eigentlich hatten sie sich schon lange danach gesehnt, denn die neue Beschäftigung war ihnen Beiden zuwider. Der Samiel Grizan holte die alte Säge aus der Ecke und strich liebkosend über ihre scharfen Zähne. „Sie ist eigentlich gar nicht verrostet, und wenn es Dir recht ist“, sagte er zu seinem alten Genossen, „dann sehen wir uns morgen danach um, ob wir nicht wieder etwas zu schneiden bekommen.“
„Ja, das können wir“, erwiderte Fritz Pogoda ernsthaft und hing die Pfeife in den linken Mundwinkel. „Und was den Ludjich und die Sochia betrifft.“
Ueber das harte Gesicht der Grizanka flog so etwas wie ein Lächeln, sie konnte sich den kleinen Stich nicht versagen und fiel ihm in's Wort — „Die können jetzt ruhig warten, bis die Sochia wieder ihre vierzig Thaler beisammen hat, und dann wird ja noch immer Zeit sein, darüber weiter zu reden.“
Der letzte Bauer von Romahnken.
Der Herbstwind pfiff über die Stoppeln und rüttelte an den schlecht verwahrten Fensterscheiben des alten Bauernhauses, das, nur von ein paar Hofgebäuden umgeben, einsam im Thale lag. Er schüttelte die nackten Zweige der halbverkümmerten Linden vor der Hausthür, bohrte sich in das Strohdach, warf mit den Thüren der Bodenluken und zauste das struppige Fell eines schwarzen Köters, der vergebens an der Hauswand Schutz suchte gegen Wind und Regen und sehnsüchtig nach dem Lichtscheine hinüberschielte, der aus den Fenstern hell auf den Hof fiel. Drinnen, da war es warm, da saßen Knechte und Mägde am lodernden Herdfeuer, während ihm, dem Wächter von Haus und Hof, hier draußen schier die Seele im Leibe erfror. Wie gerne wäre er auch da drinnen gewesen und hätte sich still unter die warme Ofenbank gedrückt, selbst auf die sichere Aussicht hin, von der dicken Trina mit einem Scheite über die dürren Lenden geschlagen, oder von den Holzpantoffeln des Knechtes getreten zu werden — beides Ereignisse, die mit seinem Erscheinen im Kreise des abendlichen Herdfeuers ziemlich regelmäßig zusammenzutreffen pflegten.
Ja, warm war es wohl in der großen Stube des Bauernhauses, dafür sorgte schon das stets durch neue Kiefernscheite genährte Feuer, um es da drinnen aber auch gemüthlich zu finden, dazu gehörte das genügsame Gemüth Slowik's, der wie alle masurischen Hofhunde die denkbar bescheidensten Ansprüche an das Leben stellte.
Das Abendessen war abgetragen, und der alte Bauer saß einsam und finster an dem schweren Eichentisch, einem Erbstück aus der Väter Zeit. — Hier saß er Abend für Abend, der Gospodarz Podleschny, vor sich die große grüne Flasche und daneben ein kleines Glas, dessen stets erneuter Inhalt in nicht allzulangen Zwischenräumen hinter dem wüsten, grauen Bartgestrüpp verschwand, das die untere Hälfte des Gesichtes fast vollständig bedeckte und mit der grauen Pelzmütze auf dem Kopfe in eins zusammenzufließen schien. Lange war es freilich noch nicht her, daß der alte Podleschny des Abends zu Hause saß und „nachdachte“, wie er seine schweigsame Beschäftigung mit der großen grünen Flasche zu nennen beliebte; in früheren Jahren hielt er mit der ihm in solchen Sachen eigenen Pünktlichkeit seine Denkübungen in der Karczma ab, dem Wirthshause des etwa eine halbe Wegstunde entfernten Kirchdorfes. Seit er aber auf dem Begräbnisse seiner geliebten und, ach! so oft geprügelten Maria sich so unsäglich betrunken, daß er aus dem Schlitten fiel und die ganze Nacht in dem kalten Schnee lag, seit er von dieser Nacht das Reißen in die Füße bekam, gab er schweren Herzens seine regelmäßigen Spaziergänge auf und blieb zu Hause.
Heute hatte nun der Bauer seinen extra schlimmen Tag. Nachmittags war der Steuereinnehmer dagewesen und hatte für ein Vierteljahr die Klassen- und Grundsteuer einkassirt. „Es ist hart, Herr Wohlthäter“, hatte der Bauer gesagt, „denn die Ernte ist schlecht gewesen, die Scheuem sind nur halb voll, und wo ich sonst Jahr für Jahr einen Stoggen zu stehen hatte, da pfeift heute der Wind über eine leere Stelle. Aber was hilft's? Unser Herr König, dem der liebe Gott Gesundheit schenken möge, braucht's, und woher sollte er es nehmen, wenn wir Bauern nicht bezahlten?“ Und seufzend hatte er den wollenen Strumpf seiner geliebten Maria, worin er seine Ersparnisse aufbewahrte, aus dem Himmelbette hervorgesucht und seufzend die schönen blanken Thaler auf den Tisch gezählt, einen neben den andern.
Das war es aber just noch nicht, was ihm die Laune so verdorben hatte, sondern ein anderer Besuch, der allerdings nicht ganz unerwartet seinem Hofe zu Theil wurde. Gleich nachdem der Steuereinnehmer fort gewesen, war eine zierliche Britschka mit zwei stolzen Braunen davor in's Hofthor eingebogen, der umständlich ein kleiner, behäbiger Mann entstieg. Mit aufdringlicher Freundlichkeit schüttelte er dem Bauern die Hand und überschüttete ihn mit einem Schwall von Begrüßungsworten.
„Guten Tag, mein lieber Herr Podleschny, wie geht's, wie steht's? Leben Sie überhaupt noch? Ich hab' geglaubt, Sie wären schon gestorben? Heute Mittag hat noch meine Frau gesagt: Du, Balk, was mag dem alten Herrn Podleschny fehlen, daß er sich gar nicht in der Stadt sehen läßt? Nun, hab' ich gesagt, was soll ihm fehlen? Er wird zu thun haben in der Wirthschaft. Aber da ich doch bei dem Nowajescher Amtmann zu thun habe, will ich einmal im Romahnker Hof vorsprechen. Ich hab' auch ein paar Pfund Kaffee und Zucker in den Wagen gepackt und Zeug' zu einem neuen Kleide für die Jungfer Anka.“
„Laßt die Waaren nur stecken, Herr“, entgegnete der Bauer finster, „ich hab' kein Geld, sie zu bezahlen.“
„Geld? Was brauchen Sie Geld, Panie Podleschny? Sind Sie nicht sicherer als Preußisch Courant?“ Der kleine Mann hatte den kostbaren Pelz auseinandergeschlagen, stemmte die fetten, mit Ringen geschmückten Hände auf die rundlichen Kniee und sah mit einem katzenfreundlichen Blicke zu dem Bauer hinüber, der unruhig in seiner Stube auf- und niederschritt.
„Herr, laßt die Redensarten“, sagte dieser kurz und trat dicht vor seinen Gast. „Wir wissen ja Beide, weshalb Ihr hier seid. Zieht die Papiere heraus und schreibt den neuen Wechsel.“
Der Bauer schritt in seine Schlafkammer und kramte lange in einem kleinen Wandschrank, schließlich kam er mit einem Tintenfäßchen und einer arg verrosteten Feder wieder; als er in die Stube trat, gerieth ihm Slowik aus Versehen unter die Füße. Mit einem ingrimmigen Fußtritte schleuderte er das Thier von sich, so daß es winselnd unter die Ofenbank kroch. Wohlwollend blinzelte Herr Balk zu dem Hunde hinüber, als wollte er sagen: „Tröste Dich, Dir hat der Tritt nicht gegolten“, und entnahm dann seiner umfangreichen Brieftasche ein Bündel schmutziger Papiere. „Ihr wißt, Panie Podleschny“, begann er in geschäftsmäßigem Tone, „daß morgen Euer Wechsel und die Zinsen für die Hypothek fällig sind. Ich brauche Geld und Ihr müßt bezahlen, in Baar, oder wenn ihr das nicht könnt, in Getreide!“
Der Bauer, der sich inzwischen damit beschäftigt hatte, das zugegossene Wasser in dem Fläschchen mit dem Reste halb eingetrockneter Tinte zu vermischen, sah halb erstaunt, halb erschrocken in das gleichmäßig glatte Gesicht seines Gastes.
„Herr, Ihr habt mir vor vierzehn Tagen doch noch hoch und heilig versprochen, mich mit dem Wechsel nicht zu drängen, sondern zu warten bis zum nächsten Herbst?“
„Ich habe Euch gar nichts versprochen, ich habe gesagt, wenn es mir möglich sein wird, werde ich warten.“
Dem alten Bauer stieg es dunkelroth im Gesichte empor; er schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten. „Verflucht sei der Tag, an dem Deine Mutter Dich geboren hat, verflucht der Tag, an dem ich Dir die Thür zu meinem Hause geöffnet habe! Du weißt so gut, wie ich, daß ich nichts habe, weder Geld noch Getreide, Du falscher ——“ der Rest erstarb in einem unverständlichen Grollen.
Giftig lächelnd packte Herr Balk seine Papiere zusammen. „Schön, mein lieber Herr Podleschny, Sie sagen, Sie haben kein Geld. Ich werde den Wechsel einklagen, vielleicht werden Sie dann bezahlen können.“
Finster blickte der alte Bauer auf die plumpen Finger des Kaufmannes, die geschäftig das Bündel Papiere in die Brieftasche packten, diese kurzen, brutalen Finger, die erbarmungslos festhielten, was sie einmal erfaßt hatten. Er wußte nur zu gut, daß es aus ihnen kein Entrinnen mehr gab — er hatte es ja sattsam mit angesehen und miterlebt bei seinen Nachbarn.
Noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren lag um den Hof des alten Podleschny ein wohlhabendes Dorf. Kleinere Besitzer und Tagelöhner — wo waren sie jetzt?
Die Tagelöhner und Instleute waren fortgezogen, als es nichts mehr zu arbeiten gab, die Besitzer waren zu Tagelöhnern geworden, oder fortgegangen in die weite Welt, um jenseits des Oceans ihr Glück zu versuchen. Und das Dorf und das Land, wo war es geblieben?
Dort in der Tasche jenes kleinen Mannes, der jetzt daran arbeitete, auch den letzten Bauer aus dem einst so blühenden Dorfe herauszutreiben.
Lange hatte es freilich gedauert, bis Herr Balk seinen Fuß über die Schwelle des alten Podleschny hatte setzen dürfen, aber der Augenblick war doch gekommen in einem Jahre, das nicht minder schlecht gewesen, wie das gegenwärtige, und wo Viehschaden und Hagelschlag den Wohlstand des Bauern fast vernichtet hatte. Da war der Herr Balk gekommen als Wohlthäter und hatte eine Hypothek von fünfhundert Thalern gegeben und dem „Herrn Gutsbesitzer Podleschny auf Romahnken“ eine Seite eröffnet in seinem großen, dicken Contobuch. Und dort wurde alles angeschrieben, was der Bauer sonst baar bezahlte, wenn er des Morgens mit seiner Getreidefuhre in die Stadt kam. Alles wurde angeschrieben, nichts durfte baar bezahlt werden —, es war ein prächtiger Mensch, dieser Herr Balk — und allerhand Sachen wurden gekauft, die sonst unter gewöhnlichen Umständen anzuschaffen dem Bauer nicht im Traume eingefallen wären.
Als dann das neue Jahr kam, betrug das Conto zusammen mit den Zinsen für die Hypothek rund hundert Thaler. So ein sieben bis acht Thälerchen fehlten zwar an der Summe, dafür nahm aber der „Herr Gutsbesitzer Podleschny“ einen amerikanischen Patentpflug — das Ding lag seitdem in einer Ecke des Hofes und wurde vom Roste zerfressen — und gab dem Herrn Balk einen Wechsel über hundert Thaler. Er hatte sich zwar Anfangs gesträubt, seinen Namen unter das schmale, mit allerhand geheimnißvollen Zeichen bedruckte Papier zu setzen, das ihm Mißtrauen einflößte, aber Herr Balk hatte ihn ausgelacht und gesagt, das sei nun einmal so Brauch, und so stand denn schließlich die Unterschrift des Bauern in großen, unbeholfenen Zügen auf dem Wechsel, wo sie sich neben der glatten, geleckten Handschrift des Kaufmanns freilich schnurrig genug ausnahm. Was waren denn für den Gospodarz Podleschny sechshundert Thaler? Ein gutes Jahr und die Schuld war getilgt. Dann kam das Frühjahr, und wer das fehlende Saatgetreide besorgte, war wieder der freundliche, gefällige Herr Balk. Und ein neues Contoblatt wurde angelegt und ein neuer Wechsel geschrieben — was that's? Wenn der Herbst kam, wurde ja Alles bezahlt. Der Herbst kam, die Ernte war aber nur mittelmäßig, und Wechsel und Contoblatt blieben. Seit dieser Zeit wartete der alte Podleschny Jahr aus Jahr ein auf ein „gutes Jahr“, es kam aber keins. Und fester und immer fester zog sich die Schlinge an seinem Halse zu, an der ihn, den Riesen, der kleine Wucherer eines Tages hinausführen würde aus dem Hofe seiner Väter.
„Nun, haben Sie sich besonnen? Wollen Sie jetzt bezahlen?“ fragte Herr Balk, indem er langsam seinen Pelz über den bereits in der Brusttasche befindlichen Papieren zuzuknöpfen begann. Es war ein feiner und theurer Pelz — von innen Wolf- und von außen feiner Krimmer-Schafpelz.
Hilflos blickte der Bauer seinen Peiniger an. „Ihr wißt, Herr, ich kann nicht zahlen; wenn ich es unter meiner Seele hervorholen müßte, ich würde es Euch geben — aber ich habe nichts. Ich will ja auch nicht haben, daß Ihr umsonst noch länger wartet, ich will noch höhere Zinsen zahlen — bleiben Sie doch sitzen, Herr Wohlthäter, die Anka wird ein Glas alten Meth aus dem Keller bringen.“
„Nun, Sie sollen mich vor den Leuten nicht als einen uncoulanten Menschen ausschreien dürfen. Lassen Sie den Meth kommen und dann wollen wir unsere Geschäfte abmachen.“
Der Meth, braunflüssig wie geschmolzenes Gold und süß wie Honig, stand bald auf dem Tische, und Herr Balk zog jetzt sein Notizbuch hervor, worin er sich Auszüge gemacht aus des „Herrn Gutsbesitzer Podleschny“ Conto. Und er begann zu addiren und zu rechnen und zu zählen, daß es dem Bauern sich im Kopfe herumdrehte, und er es aufgeben mußte, seinem im Rechnen fixeren Gläubiger zu folgen. Das Resultat — zweihundert Thaler — worin Alles inbegriffen war, — Conto, Zinsen für Hypothek und Wechsel, stimmte zwar nicht ganz mit dem Ueberschlag, den sich der Bauer gemacht hatte, aber der Herr Balk war ja ein ehrlicher Mann und hatte Alles aufgeschrieben in seinem großen dicken Buche, er oder seine Pomocniki, seine Commis. Und die alten Wechsel wurden prolongirt, über die neue Schuld ein neuer Wechsel ausgestellt. — und nun konnte es ja ein halbes Jahr wieder so weiter gehen. Freilich, das nächste Frühjahr brachte einen neuen Wechsel, oder vielleicht zog Herr Balk dann schon die Schlinge zu und „parcellirte“ im „freiwilligen Verkauf“ den Bauer von seinem Hofe herunter. Der Volksmund nannte die Procedur „abschlachten“ — parcelliren klingt aber viel feiner und reinlicher. Vorläufig aber war der Herr Balk noch sehr freundlich. Er geruhte ein Gläschen Meth zu trinken — „auf Ihr Wohl, Herr Podleschny!“ — und kniff beim Abschied der hübschen Anka in die rothen Backen. Dann war er gefahren, den Wechsel in der Tasche und eingehüllt in seinen warmen Pelz, von innen Wolf, von außen feiner Krimmer. Der alte Podleschny aber war an die Bettlade gegangen und hatte derselben einen weißgeschälten Weidenstab entnommen, der neben dem Strumpfe seiner seligen Maria feinen Platz hatte. Es war sein Notizbuch, und die verschiedenen Arten von Kerben nur ihm allein verständlich. Seufzend fügte er zu der stattlichen Anzahl zwei neue hinzu — war es da ein Wunder, daß er heute seinen schlimmen Tag hatte und die grüne Flasche noch schneller leer wurde wie sonst? —
Anka, die Tochter des Bauern, saß mit dem Gesinde um das Herdfeuer herum, das den großen Raum der Stube nur zum Theil erhellte. Sie spann, und eilfertig glitt der Faden zwischen ihren braunen Fingern hindurch, während die Mägde sammt dem Hütejungen Kartoffeln schälten für den nächsten Tag. Der Knecht besserte mit Pfriem und Faden an einem alten Pferdegeschirr und pfiff leise durch die Zähne eine Melodie, die er auf dem Jahrmärkte von einem Leierkasten gehört haben mochte.
Sonst ging es wohl munterer zu im Kreise des abendlichen Herdfeuers. Dann flogen oft derbe Scherzreden herüber und hinüber, oder die Anka erzählte ein Märchen, das sie als Kind von der Mutter gehört, oder die Mägde sangen ein Lied, wozu der Knecht die zweite Stimme pfiff mit allerhand wunderlichen Trillern und Schnörkeln. Heute aber war mit dem alten Bauer nicht zu spaßen, und die Unterhaltung bewegte sich nur im Flüsterton.
„Die Katze wäscht und striegelt sich“, sagte die dicke Trina, „es giebt noch heute Besuch!“
„Nun, ich dächte, davon hätten wir heute gerade genug gehabt“, versetzte der Knecht und stieß ingrimmig die Pfrieme ins Leder, als wäre es nicht gefühlloses Pferdeleder, sondern die Haut eines Menschen, den er ärger haßte als — nun er haßte eben nichts weiter auf der Welt, als etwa noch den Branntwein und diesen Menschen. Der Grund dieses Hasses lag vielleicht nur in einer fixen Idee, denn dieser Mensch — Herr Balk — verkehrte seinerseits sehr freundlich mit dem Knechte. So oft er ihn sah — und das geschah fast jeden Markttag — begrüßte er ihn auf's freundschaftlichste und fragte: „Wie geht's, mein lieber Panie Orzecha?“ und spielte und klimperte dabei mit den losen Thalern und dem Kleingeld in der Hosentasche. Das konnte nun der Knecht nicht anhören, er bildete sich dann immer ein, sein Grundstück, seine Pferde, Ochsen und Kühe, die alle einstmals in diese Tasche gewandert waren, klimperten darin gegeneinander. Es war, wie gesagt, nur eine fixe Idee.
„Besuch, sagst Du, Trina?“ versetzte Anka und ließ die fleißigen Hände für einen Augenblick in den Schooß sinken. „Wer sollte wohl heute noch durch Wind und Regen zu uns herauskommen?!“
Da schlug draußen der Hund an. Zuerst ein kurzes, wüthendes Bellen, dann aber ein wahnwitziges Freudengeheul, es klang fast wie Jauchzen aus Menschenbrust. Darauf ein sporenklirrender Tritt im Flure, ein fester Griff auf die Klinke — die Thür that sich auf und hereintrat ein hochgewachsener, in einen regennassen Mantel gehüllter Mann.
„Janie!“ schrie Anka auf und hing im nächsten Augenblicke unter Lachen und Weinen dem Eintretenden am Halse.
Der Knecht hatte seine Arbeit hingeworfen und fuhr sich mit dem Rücken der schwieligen Hand über die Augen — gewiß war ihm vom Herde etwas hineingeflogen.
„Willkommen, Janie, im Hause Deiner Eltern!“ sagte er mit zitternder Stimme, während seine Hand die Rechte des heimgekehrten Haussohnes faßte; „Du hast lange auf Dich warten lassen, und es war Zeit, daß Du kamst!“
***
Früh am andern Morgen, die Sonne stand noch nicht lange am Himmel, kehrte Jan bereits von einem Gange durch das Feld zurück. Was er dort und auf dem Hofe, in Stall und Scheune gesehen, war wenig geeignet, die Sorgen zu zerstreuen, die Anka's knappe und hier und da auch verworrene Mittheilungen ihm am vergangenen Abend auf's Herz gewälzt. Daß es mit des Vaters Wirthschaft bergab ging schon seit mehreren Jahren, wußte er wohl; es hatte in dem einzigen Briefe gestanden, den er während seiner ganzen Dienstzeit erhalten. Die Anka hatte ihm geschrieben als die Mutter starb, und ein Wunder war es gewesen, daß die Post trotz der mehr als mangelhaften Aufschrift den rechtmäßigen Empfänger, den Gefreiten Podleschny von den Wrangel-Kürassieren entdeckte. Damals hatte er lange geschwankt, ob er sich nicht durch den Vater als einzigen Sohn vom Militär losbitten lassen sollte, zumal da ihn noch etwas anderes nach Hause zog — ein Paar braune Augen, die der Bertha gehörten, des deutschen Kolonisten Berger einziger Tochter, und die in Thränen gestanden hatten, als er Abschied nahm — schließlich hatte er es aber auf die leichte Schulter genommen; wenn er den bunten Rock ausgezogen, war ja noch immer Zeit, sich mit Sorgen zu befassen. Vier Jahre waren aber ein langes Stück Zeit. Er hatte sie getreulich seinem König abgedient, manch' liebes Mal aber auch gedacht: wenn's doch erst ein Ende hätte! Und als es ein Ende hatte mit der Soldatenzeit. als er die Commißsachen auf der Kammer abgegeben und dem Herrn Rittmeister und dem Wachtmeister Adieu gesagt, da hatte er sich still in den Stall geschlichen, wie ein Dieb, und sich umgesehen, ob ihn auch Niemand bemerkte. Und dann hatte er den Kopf an den schlanken Hals seines Braunen gelegt und geweint wie ein kleines Kind. Als er sich endlich losgerissen und, nach der Thüre schreitend, sich noch zum letzten Male umgeschaut, da hatte das treue Thier ihm mit seinen klugen Augen nachgeblickt und dazu leise gewiehert, als hätte es verstanden, daß es den Abschied gälte von seinem Reiter, den Abschied auf Nimmerwiedersehen. Und da hätte es nicht viel gefehlt, daß der Gefreite Podleschny doch noch dem Herrn Rittmeister den Gefallen that, zu kapituliren. Es war nur die Regung eines Augenblicks, und sie ging vorüber bei dem Gedanken, daß er zu Hause nöthiger sei als hier. Und dann war er fortgewandert auf der Straße, die nach der Heimath führte — eine Eisenbahn gab es damals noch nicht in Masuren, streckenweise nicht mal eine Chaussee — fast eine Woche war er so fortgewandert, denn der Weg war weit, über dreißig Meilen. Fortwährend hatte er daran denken müssen, wie er es zu Hause finden würde; und nun war er zu Hause und wußte es, aber diese Gewißheit war trostlos genug. Aus dem blühenden Anwesen, wie es in seiner Erinnerung stand, war ein richtiger, herunter gewirthschafteter Bauernhof geworden — die Wirthschaftsgebäude halb verfallen, das Inventarium verlottert und die Felder in schlechter Kultur.
Das war anders gewesen, als die Mutter noch lebte, die nicht nur Küche und Keller in Ordnung hielt, sondern auch nach dem Rechten sah draußen in der Außenwirthschaft. Der Vater hatte sich von jeher nicht viel um die Wirthschaft gekümmert — aber auf welchem Bauernhöfe war das anders? Auf vielen that auch die Frau nichts, trank mit dem Manne um die Wette und ließ im klebrigen die Dinge gehen, wie sie gingen. Freilich die Mutter war eine Deutsche gewesen, und wenn sie ihre Muttersprache auch fast verlernt hatte, deutschen Fleiß und deutsche Pflichttreue hatte sie nicht verlernt, sondern die Hände geregt von früh bis spät.
Sie hatte es vorausgesehen, daß er sie bei seiner Rückkehr nicht mehr finden würde, und nur traurig mit dem Kopfe geschüttelt, als er es ihr auszureden versuchte.
„Nein, Janie, ich weiß es besser“, hatte sie damals gesagt, als er in früher Morgenstunde das Elternhaus verließ, um sich im Kirchdorfe dem Rekrutentransporte anzuschließen, „ich fühle es, daß meine Augen Dich heute zum letzten Male gesehen haben. Aber ich verlasse Euch beruhigt, denn ich habe Dich und die Anka zu guten, fleißigen Menschen erzogen und weiß, daß Ihr meine Lehren nicht vergessen werdet. Du gehst jetzt unter die Soldaten, und es ist gut, daß Du in die Welt hinauskommst und mehr lernst, als hinter den Ochsen herzugehen und Dich des Abends auf der Ofenbank herumzuräkeln. Halte Dich brav beim Militär, und wenn Du zurückkommst, dann suche Dir eine ordentliche Frau, nicht eine von diesen polakischen Margellen, sondern ein tüchtiges deutsches Mädchen. Du brauchst danach ja nicht weit zu suchen.“
Und dann hatte sie ihn zur Thür hinausgeschoben, als wollte sie seine Antwort auf das zuletzt Gesagte gar nicht hören, und die Anka hatte ihm den Strumpf nachgeworfen, an dem sie gerade strickte, der guten Vorbedeutung halber, damit er Glück habe auf seinem Wege.
Nun, das Nachwerfen hatte geholfen. Ueber Mangel an Glück hatte er sich bisher nicht zu beklagen gehabt, weshalb sollte es ihn jetzt verlassen, wo er es nöthiger gebrauchte denn je?
Mit einem gewissen Stolze sah er an seiner langen Gestalt herunter und reckte die Arme in die Luft: schwere Arbeit würde es ja setzen, aber dafür hatte ihm ja auch der liebe Gott die kräftigen und gesunden Gliedmaßen geschenkt. Und was den Punkt anbetraf wegen des ordentlichen deutschen Mädchens — darum brauchte er sich wahrlich den Kopf nicht erst lange zu zerbrechen. Wenn Alles so glatt ging, wie dies Geschäft — ein fröhliches Lächeln glitt über sein sonnengebräuntes Gesicht, und grüßend schwenkte er die Mütze nach dem Kirchdorfe hinüber, wo ein weißer Giebel zwischen röthlich gefärbten Lindenbäumen hervorschimmerte.
Da fingen drüben die Kirchenglocken zu läuten an, und hell tönte ihr Schall, vom Winde getragen, herüber.
„Eia, mein Schätzchen, lümmle Dich,
Flicht ein die braunen Locken,
Zum Kirchgang putz' und schmücke Dich,
Es rufen schon die Glocken —“
sang Jan mit heller Stimme in den Morgen hinaus. Ganz von selbst fügten sich ihm die Worte zum schmucklosen Reime und zu den Worten nach dem Klänge der Kirchenglocken die einfache Melodie — ein echtes Volkslied — im Augenblick geboren, im nächsten schon wieder vergessen.
Fröhlich und aller Sorgen ledig kehrte Jan auf den Hof zurück, wo der alte Knecht bereits den Wagen zur Kirchfahrt rüstete. Derb schlug er ihn auf die Schulter: „Nun, Ludjich, wie geht's?“
Verwundert schaute der also Angeredete von der Arbeit auf und in das lachende Gesicht Jan's.
„Bist Du auf dem Felde gewesen? Hast Du Dir die Wintersaat angesehen und weißt Du, daß gestern der Balk da war?“
Jan nickte lachend.
„Na, dann wundert's mich, daß Du so vergnügt bist!“ brummte Ludjich Orzecha und drehte die Schraubenmutter auf das Rad, dessen Achse er soeben geschmiert hatte.
„Ich weiß nicht, was Du willst“, entgegnete Jan verwundert. „Die paar hundert Thaler, die der Vater von ihm aufgenommen hat, werden uns das Genick nicht brechen.“
„Paar hundert Thaler, sagst Du? Nun, Gott gäbe es, daß es nur so viel wäre. Ich kann Dir aber sagen, daß es weit über tausend sind, jedenfalls so viel, daß er uns zum Frühjahr hier Alle herausjagen kann. Und er wird es thun, darauf kannst Du Dich verlassen. Wie, Du glaubst, er wird noch länger warten?“ fuhr der alte Knecht fast heftig auf, als Jan etwas erwidern wollte. „Du kennst den Mann nicht so, wie ich ihn kenne, und ich sage Dir, Dein Vater ist ihm verfallen mit Leib und Seele und wird auf seine alten Tage seine Füße noch unter fremder Leute Tisch strecken. Willst Du wissen, wie er es angefangen hat, daß die Leute ihn jetzt den Reichen nennen? Sein Vater war noch ein armer Dorfgänger, der mit seinem Bündel von Hof zu Hof zog. Seinen Vortheil hat er wahrgenommen, wo er es mit Rechtschaffenheit konnte, und seinem Worte durftest Du glauben, wie dem Evangelium. Ein so ehrlicher Mann der Vater war, solch' ein großer Spitzbube ist der Sohn.
Als er beim Kaufmanne ausgelernt hatte, heirathete er dessen Tochter; sie war älter als er, und schielte auf beiden Augen, aber sie bekam ein paar hundert Thaler mit, die der Vater bei der Hochzeit baar auszahlte. Damit richtete er eine Schänke ein, und ehe zwei Jahre vergingen, war er ein wohlhabender Mann geworden und zog nach der Stadt, wo er einen Laden aufmachte und uns Bauern erst recht das Fell über die Ohren zog.
Am Schnaps hat er es freilich nicht verdient in den zwei Jahren, auch nicht an den Heringen, er hat es anders angefangen. Damals kam das große Sterben in's Land, die schwarzen Blattern, — bei uns im Dorfe starben mehr als vierzig Menschen. Wenn nun ein Besitzer gestorben war, und die Kinder wollten sich in das Erbe theilen, dann kam der Balk bei der Auseinandersetzung, zeigte ein Papier vor und sagte: „Hier, dann und dann hat Euer Vater Geld von mir geliehen — 200 Thaler, oder auch 300 oder 500, je nachdem die Besitzung war — und hier ist die Unterschrift!“ Wer wollte da sagen, der Vater hat kein Geld aufgenommen, sonst müßten wir es doch wissen, oder das hat der Vater nicht geschrieben? Ein Bauer schreibt wie der andere, da ist kein Unterschied; beiden Stadtherren, die viel schreiben, ist das etwas Anderes. Oder wenn der Bauer nicht hatte schreiben können, dann waren da zwei Kerle, die den ganzen Tag in der Schänke lagen und dem Betrüger für den Schnaps ihre Seelen verkauft hatten. Die beschworen vor Gericht und sagten aus: Wir sind dabei gewesen, wie der Herr Balk dem Bauer das Geld gegeben hat, und vor unsern Augen hat dieser die drei Kreuze unter das Papier gemacht. Wer wollte ihnen beweisen, daß es nicht so war? Die Todten waren stumm, und der Richter mußte dem Spitzbuben Recht geben, ob er nun wollte oder nicht. Und wie er mit uns umgesprungen ist, als er erst Geld in Händen hatte, das brauche ich Dir ja nicht zu erzählen, das hast Du ja selbst mit angesehen, wenn Du es auch vielleicht damals noch nicht so verstanden hast. Wenn er einen Bauer soweit hatte, daß er ihn jeden Augenblick auf die Gant bringen konnte, dann kam der Nowajescher Amtmann, der mit ihm Maschkopie machte, weil ihm unsere Feldmark so bequem lag, bot dem Bauer etwas mehr, als die Balk'schen Wechsel und die Hypothek zusammen ausmachten, und der Bauer griff mit Freuden zu — in der Subhastation wäre ihm gar nichts geblieben. Das nannten sie dann „freiwilligen Verkauf“, und dieses Geschäft, wenn es auch etwas theurer war, war ihnen lieber als eine öffentliche Versteigerung, wegen des Geredes der Leute. So haben die Beiden der Reihe nach alle Bauern aus dem Dorfe herausgebracht, den Adam Soika, den Samel Rasum, den Grizan und wie sie alle heißen mochten. Und auch ich wäre nicht hier geblieben, sondern mit den Anderen fortgewandert, so weit mich meine Füße getragen hätten. Es hielt mich hier ja nichts — mein Weib war gestorben vor Gram und das Kind dazu, als sie uns das Haus über dem Kopfe verkauften — da kam aber Dein Vater und sagte: „Lucz Orzecha“, sagte er damals, und ich werde es ihm nicht vergessen, so lange ich lebe, „komm zu mir und hilf in meiner Wirthschaft. Knecht sollst Du gerade nicht sein, denn Du bist ja aus meiner Verwandtschaft, aber arbeiten mußt Du wie die Anderen auch. Da bin ich also damals zu Deinem Vater auf den Hof gezogen und wir sind in Frieden miteinander ausgekommen, bis zu dem Tage, da dieser Halsabschneider seinen Fuß über unsere Schwelle setzte. Auf den Knieen habe ich damals vor Deinem Vater gelegen und ihn gebeten, sich mit diesem Menschen nicht einzulassen, auch der alte Berger war hier und bot seine Hilfe an, obwohl sie ja in Feindschaft lebten schon seit dem Begräbnisse Deiner Mutter — da hat Dein Vater geschrieen, er habe es noch nicht nöthig, sich von solch einem zugewanderten Lumpen Geld auszuborgen, und hat uns fast aus dem Hause geworfen. Und noch am selben Tage fuhr er in die Stadt und nahm die Hypothek auf.“
Ludjich Orzecha schwieg und wischte sich den Schweiß aus der Stirne, als hätte er ein schweres Stück Arbeit verrichtet.
Jan sah bekümmert in das ehrliche Gesicht des Knechtes und streckte ihm die Hand entgegen. „Hab' Dank, Alter, für das, was Du mir gesagt hast. Es ist schlimm genug, aber wir wollen Beide ordentlich zusammenhalten und uns an die Arbeit machen — vielleicht glückt es uns doch noch, den Hof wieder in die Höhe zu bekommen.“
Ludjich schüttelte den Kopf. „Dafür ist es zu spät, mein Brüderchen. Aber eins will ich Dir sagen — ich habe es mir vor Gott zugeschworen und die Hand dazu in das geweihte Wasser gehalten — der Balk bekommt unsern Hof nicht! Der liebe Gott wird mir dereinst wohl nicht als eine zu schwere Sünde anrechnen, was ich vorhabe.“
Jan wandte sich, um in's Haus zu gehen, doch der Alte hielt ihn am Arme zurück.
„Noch eins, Janie“, begann er unsicher, „hat Dir die Anka etwas von Bergers erzählt?“
„Ja, daß die beiden Alten sich auf dem Begräbniß der Mutter selig fast geschlagen haben —“
„Und weiter nichts?“
„Nein“, entgegnete Jan verwundert.
„Nun, dann will ich es Dir sagen“, fuhr Ludjich Orzecha fort, „denn es ist besser, Du erfährst es durch mich, als daß Andere Dir es zutragen. Die Leute im Dorfe sprechen davon, daß Berger's Bertha nächstens Heimchen wird!“
Jan faßte in die Wagenleiter, daß die Sprossen krachten. „Heimchen?“ wiederholte er mit zuckender Lippe.
„Nun, vielleicht ist es auch noch nicht so weit“, meinte der Alte begütigend, „die Leute reden Manches, was hinterher nicht wahr ist. Aber so viel ist sicher, der Jäger aus dem königlichen Forst sitzt jeden Tag bei Bergers, und sie, die Alte, möchte ihn wohl zum Schwiegersohn haben, denn er ist ein Deutscher und Beamter. Sei zufrieden, Janie, daß es so gekommen ist — die Bertha wäre keine Frau geworden, wie Du sie brauchst. Sie liest in den Büchern, die der Jäger ihr bringt, und er hat sie auch gelehrt, auf einem Ding Musik zu machen, wozu sie dann Beide singen. Es sieht aus wie eine Fiedel, nur ist es größer und wird nicht mit dem Bogen gespielt, sondern mit den Fingern.“
„Es ist schon gut, Ludjich“, erwiderte Jan mit Mühe. „Ich habe das Mädchen sehr lieb gehabt, aber laß nur, es wird schon vorübergehn.“ Er brachte die Worte stoßweise hervor, als koste ihm jedes einzelne eine besondere Anstrengung. Nun wandte er sich ab und schritt schweren Schrittes dem Hause zu.
Mitleidig sah ihm der Alte nach. „Verfluchtes Weibsvolk!“ brummte er vor sich hin. „Erst, wie er fort war zum Militär, da that sie, als könne sie nicht leben ohne ihn, jeden Tag kam sie gelaufen, ob nicht eine Nachricht da wäre von ihm — und jetzt?“ Er spie verächtlich aus und nahm die unterbrochene Arbeit wieder auf.
Der Gottesdienst war zu Ende. Langsam schob sich der Strom der Andächtigen auf dem schmalen Gange zwischen den Kirchenstühlen hinaus, während oben auf dem Chor die Orgel unter den kunstfertigen Händen des alten Kantors brausend den Schlußaccord spielte. Vor der Kirchenthür bildeten sich einzelne Gruppen. Verwandte und Bekannte begrüßten sich, die Ortseingesessenen gingen nach Hause, die Auswärtigen meist noch auf einen kräftigen Steigbügeltrunk in das einladend herübergrüßende Wirthshaus mit seiner geräumigen Stube, den weißgescheuerten Tischen, dem süßlichen Schnapsgeruch und den unzähligen Fliegen.
Unter der alten Linde, dem bevorzugten Platze vor der Kirchenthür, stand die Berger'sche Sippe noch beisammen, als die Mehrzahl der Kirchenbesucher sich bereits zerstreut hatte. Sie schienen auf Jemand zu warten, denn der alte Berger, ein hochgewachsener, hagerer Mann mit starken offenen Gesichtszügen, sah des Oefteren nach der Kirchenthür hinüber, während seine rundliche Ehehälfte ihn ungeduldig am Rockärmel zupfte und zum Heimgange mahnte. Hinter ihnen stand ihre Tochter Bertha, ein frisches, blondhaariges Mädchen in städtischer Kleidung, daneben der Königliche Jäger, ein noch jugendlicher Mann und mit seinem schwarzen, aufgedrehten Schnurrbarte und der schmucken grünen Uniform eine nicht üble Erscheinung.
„Ich verstehe Dich nicht, Berger“, sagte die Schulzenfrau etwas erregt, „wie Du hier stehen kannst und auf die Leute warten. Wenn sie etwas von uns haben wollen, können sie ebensogut zu uns kommen.“
„Das verstehst Du nun wieder nicht, Frau“, entgegnete der alte Berger trocken. „Es sind meiner leiblichen Base Kinder und jetzt, wo der Jan vom Militär zurückgekommen, ist es meine Pflicht mit ihm zu sprechen und ihm meine Hilfe anzubieten, einerlei, ob ich mit dem Alten in Feindschaft lebe, oder nicht.“
„Aber Du vergißt ganz“ — hier hob Frau Berger ihren Mund zu dem Ohre ihres Gatten und sprach im Flüstertöne weiter — „daß es Herrn Fuchs doch gar nicht angenehm sein kann, mit dem jungen Podleschny zusammenzutreffen — na, Du weißt doch —“
„Ich weiß gar nichts“, erwiderte der alte Berger starrsinnig. „Im Uebrigen schweig' jetzt, denn dort kommen sie schon.“
Die beiden Geschwister traten Arm in Arm aus der Kirchenthür. Jan wollte mit kurzem Gruße vorüber, doch der alte Berger vertrat ihm den Weg, streckte ihm die Hand entgegen und sagte herzlich:
„Nun, Janie, das dürfte sich doch nicht passen, daß Du an Deinem Oheim so kurzer Hand vorübergehst, wo Du nach vier Jahren zum ersten Mal wieder in der Heimath bist.“
„Ich wollte mich Euch nicht aufdrängen, Oheim“, erwiderte der Angeredete ruhig, „ich wußte ja nicht, ob ich Euch willkommen sei.“ Das Herz zog sich ihm in der Brust zusammen, als er den Jäger an der Seite Bertha's erblickte, und ein bitteres Gefühl der Verachtung stieg in ihm empor gegen die, die ihn so leichten Herzens hatten missen können.
„Du und Deine Schwester, Ihr seid uns stets willkommen“, erwiderte der alte Berger einfach. „Wenn ich mit Eurem Vater Streit gehabt habe, so ist das seine und meine Sache, die keinen Dritten etwas angeht. Doch nun kommt, sonst wird die Gans kalt, die Mutter für uns gebraten hat.“
Damit griff er Jan unter den Arm und wollte ihn mit sich fortziehn, wurde daran jedoch von seiner Frau gehindert, die etwas pikirt versetzte: „Du vergißt ganz, lieber Berger, daß die beiden Herren sich noch nicht vorgestellt sind.“ Frau Berger hatte, wie sie selbst sagte, eine gute Erziehung genossen und hielt sehr viel auf alle Erfordernisse des guten Tones.
„Ach so“, erwiderte ihr Gatte gleichmüthig, „ich glaubte, die Beiden kennen sich schon. Nun also, dies ist mein Neffe Jan Podleschny und dies Herr Hülfsjäger Fuchs.“
„Unser — zukünftiger Schwiegersohn“, wollte Frau Berger zur vollständigen Klarlegung der Situation hinzufügen, ihr Gatte merkte jedoch die Absicht und schnitt ihr das Wort ab, indem er sagte, „unser lieber Freund, der meiner Familie fast seine ganze freie Zeit widmet.“
Die beiden Vorgestellten grüßten kurz, dann wandte sich Jan ab und schritt an der Seite des alten Berger die Dorfstraße hinunter. Herr Fuchs hatte der Frau Schwiegermama höflich den Arm geboten, die beiden jungen Mädchen folgten sittsam mit niedergeschlagenen Augen, die Gebetbücher mit den weißen Schnupftüchlein in der Hand.
„Seien Sie ganz ruhig, mein lieber Herr Fuchs“, sagte Frau Berger leise zu ihrem Kavalier. „Der Alte hat manchmal seine Schrullen, aber schließlich thut er doch, was ich will. Es war ja von jeher sein Lieblingsgedanke, die Bertha mit diesem Bauernjungen, an dem er geradezu einen Narren gefressen hat, zusammenzugeben. Aber lassen Sie mich es nur machen, das Mädchen liebt Sie, und Sie sollen sie haben.“
Herr Fuchs führte die rundliche Hand seiner Dame an die Lippen und sagte gefühlvoll: „Von meiner Gegenliebe dürfen Sie überzeugt sein, Frau Berger. Im Uebrigen glaube ich doch noch eine bessere Partie zu sein, als dieser Bauerntölpel.“
„Versteht sich, versteht sich, mein lieber Herr Fuchs“, versetzte Frau Berger überzeugt. „Sie sind königlicher Beamter und, was noch mehr sagen will, ein Mann von Bildung.“
Zwischen Jan und seinem Begleiter hatte sich unterdessen ein Gespräch ziemlich ähnlichen Inhalts entwickelt.
„Die Leute werden es Dir wohl schon zugetragen haben“, so hatte der alte Berger nach einer kurzen Pause, in der er einen schicklichen Anfang suchte, begonnen, „daß die Bertha sich mit diesem königlichen Jäger verloben soll, das ist wahr und auch wieder nicht wahr, wie man's nehmen will.
Die Mutter ist ja ganz närrisch mit diesem Menschen — ich kann ihn, offen gestanden, nicht leiden, denn ich halte ihn für falsch — wie es mit meiner Tochter steht, weiß ich nicht. Deine Mutter und ich, wir hatten es aber nun einmal ausgemacht, daß Ihr Beide ein Paar werden solltet, und Ihr wart damit ja, soviel ich weiß, auch stets einverstanden, also habe ich mich geweigert, mein letztes Wort in der Sache zu sprechen, ehe Du wieder vom Militär zurück warst. Es hat sich ja inzwischen leider so Manches geändert. Deine liebe Mutter ist gestorben, und Dein Vater ist ein alter Starrkopf geworden, der sich bei dem Wucherer bös hineingeritten hat. Das läßt sich aber Alles wieder gut machen, wenn Du auch vielleicht den größten Theil dessen wirst in das Grundstück hineinstecken müssen, was Dir die Bertha zubringt. Es liegt also blos an Dir, mein Junge, und wenn Du das Mädel noch so lieb hast wie früher, dann schlag' ein, und in sechs Wochen soll die Hochzeit sein.“
Jan schüttelte mit dem Kopfe. „Damit ist es aus und vorbei, lieber Ohm. Ich danke Dir für Dein Anerbieten, aber ich darf es nicht annehmen, denn die Bertha liebt mich nicht mehr.“
„Kommst Du mir auch mit dem Unsinn“, erwiderte der alte Berger ärgerlich. „Sie liebt mich nicht mehr!“ Als wenn das nöthig wäre, um eine rechtschaffene Ehe zu führen. „Und im Uebrigen wirst Du Dir wohl noch zutrauen, diesen Windbeutel von Jäger bei dem Mädchen auszustechen.“
„Das weiß ich nicht, Oheim“, entgegnete Jan ruhig, „ich will es auch gar nicht erst versuchen, denn —— nun, ich will eben nicht.“
„Wenn Du nicht willst, dann ist das etwas Anderes.“ erwiderte der alte Berger trocken. „Ich glaube aber, Du überlegst es Dir noch.“ —
Das Mittagsmahl verlief ziemlich einsilbig. Herr Fuchs trug fast allein die Kosten der Unterhaltung, indem er von seinen Erlebnissen während der Zeit erzählte, wo er am Gräflich Dohna'schen Hofe Leibjäger gewesen war. Nur Frau Berger hörte ihm aufmerksam zu und spendete seinen Erzählungen zuweilen eine beifällige Bemerkung, die Anderen verzehrten schweigsam und in sich gekehrt ihr Mahl.
Nach dem Essen wollten die Geschwister sich verabschieden, jetzt war es aber Frau Berger, die sie zurückhielt. Das schweigsame und gedrückte Wesen Jan's hatte sie mit großer Genugthuung erfüllt, nun wollte sie ihren Triumph auch ganz auskosten und ihm zeigen, was für ein gewöhnlicher und unbedeutender Mensch er im Vergleiche zu ihrem zukünftigen Schwiegersohne war. Hätte sie auf ihre Tochter etwas mehr Acht gegeben, so wären ihr doch vielleicht Bedenken aufgestiegen. Das junge Mädchen wurde bald blaß, bald roth und vermochte die Augen nicht empor zu schlagen. Sie hielt sich von Jan möglichst weit entfernt und vermied es ängstlich, seinem Blicke zu begegnen.
„Ach, Bertha“, begann jetzt Frau Berger, „spring' mal hinüber in Dein Zimmer und hole die Guitarre. Herr Fuchs wird so gut sein, uns ein paar seiner schönen Lieder vorzusingen.“
Die beiden jungen Mädchen eilten hinaus und kehrten nach kurzer Zeit mit dem Instrumente wieder. Herr Fuchs empfing es mit einem zärtlich gehauchten „merci“, dann setzte er sich in Positur und begann ein kunstvolles Vorspiel, dem er zunächst das gefühlvolle Lied „Des Polen Abschied“, sodann „Der Dreispann fuhr im leisen Trabe“ und schließlich „Fahr' mich hinüber, holder Schiffer“ folgen ließ. Er besaß eine wohllautende Stimme und sein Vortrug entbehrte nicht einer gewissen Wärme. Frau Berger lauschte in stummer Verzückung. Als er geendet, brach sie in laute Bewunderung aus. „Entzückend, ganz reizend, mein lieber Herr Fuchs, Sie sind ein wahrhaftiger Künstler. Aber wie wäre es nun, Kinder, wenn Ihr Beide zusammen unseren Gästen ein Duett vorsingen würdet.“
„Laß, mich Mama“, bat Bertha, „ich kann heute nicht.“
„Warum denn nicht, mein Kind?“ fragte Frau Berger etwas gereizt.
„Ich kann wirklich nicht“, erwiderte das junge Mädchen, „ich bin krank.“ Bei den letzten Worten hatte ihre Stimme zu zittern angefangen, mit einem Male brach sie in lautes Schluchzen aus, drückte das Tuch vor die Augen und eilte hinaus. Die Mutter ging ihr nach, aber schon nach wenigen Minuten kam sie hochrothen Antlitzes zurück und sagte mit schlecht verhehltem Zorne: „Ihr müßt es schon entschuldigen, sie ist wirklich krank. Es ist wieder einer ihrer nervösen Zufälle.“
Mit ein paar Worten des Bedauerns verabschiedeten sich die Geschwister und bestiegen den Wagen, auf dem Ludjich Orzecha schon seit einer geraumen Weile ungeduldig mit der Peitsche knallend saß. Der alte Berger gab ihnen das Geleite und schüttelte Jan kräftig die Hand: „Nur immer den Kopf hübsch oben behalten, mein Junge, dann wird noch Alles in die Reihe kommen.“
Als der Wagen anzog, klang oben ein Fenster. Jan wandte sich um und sah flüchtig ein Paar verweinte Augen in einem blassen Gesichte. Es wurde ihm ganz eigenthümlich zu Muth. Sollte der alte Berger doch Recht haben?
Klein Anka hatte sich schweigend in ihre Ecke gedrückt und mißmuthig die Unterlippe aufgesetzt. War es nicht zu dumm, daß Bergers Friedrich gerade heute die Remonten hatte nach dem Depot bringen müssen, wo sie sich schon die ganze Woche auf den Sonntag gefreut hatte?
Es war am andern Tage gegen Abend. Ludjich Orzecha, der seit gestern wie ausgewechselt schien, besserte mit dem vergnügtesten Gesichte von der Welt an dem schon arg verfallenen Hofthor und summte leise die Melodie eines halbvergessenen Liebesliedes vor sich hin, das aus der Zeit seiner Jugendjahre stammte, während Slowik ein paar Schritte davon auf der Straße lag und sich die letzten wärmenden Sonnenstrahlen behaglich auf den Pelz scheinen ließ. Plötzlich fing der Hund an zu knurren, Ludjich sah von der Arbeit auf und sein Gesicht nahm einen unendlich komischen Ausdruck an: „Ei, grüß Gott, Fräulein Bertha. Wie kommen wir zu der Ehre?“
Das junge Mädchen erröthete bis an die Haarwurzeln. „Ist die Anka zu Hause?“ fragte sie verlegen.
„Gehen Sie nur in die Stube, Fräulinko, dort werden Sie sie finden.“ Der alte Knecht pfiff leise durch die Zähne, während er dem jungen Mädchen nachschaute, das leichtfüßig über den Hof eilte. „Mich soll die Ameis beißen, wenn die der Anka wegen kommt!“
Kurze Zeit darauf, die Sonne war schon untergegangen, kehrte Jan mit den Pferden vom Felde zurück. Er hatte die Eggen auf dem Felde gelassen und saß bügellos und barfuß auf dem bloßen Rücken des Pferdes. Behend schwang er sich ab, gab seinem Reitthiere einen leichten Schlag mit der flachen Hand, der es dem offenen Stalle zutrieb, und wollte dann selbst nachgehen, um die Pferde zu versorgen, doch Ludjich vertrat ihm schmunzelnd den Weg: „Laß nur, Jan, ich werde ihnen die Sielen abnehmen und das Futter vorschütten — Du bist drinnen im Hause nöthiger, wie hier. Aber zieh' die Stiefel an und mach Dich fein, es ist Besuch da.“
„Was geht mich der Besuch an!“
„Nun, ich dächte doch, mein Brüderchen.“
„Wer ist es denn?“
„Von dort ist er gekommen“, sagte Ludjich mit verschmitztem Lächeln und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach der Richtung, in der das Kirchdorf lag.
„Dann ist es wohl der alte Berger?“ fragte ungeduldig Jan.
„Der alte Berger!“ wiederholte Ludjich fast verächtlich. „O Du Blinder, seine Tochter ist es, und wenn Du nicht machst, daß Du hineinkommst, dann geht sie fort, ohne daß Ihr Euch gesehen habt.“
Da öffnete sich das Stubenfenster und Anka's helle Stimme tönte über den Hof: „Ludjich, ist der Jan schon vom Felde zurück? Er soll das Fräulein nach Hause begleiten.“
„Ich komme schon“, rief Jan zurück, und war mit einem Satze in seiner Kammer, und ebenso schnell in den Stiefeln. Kurze Zeit darauf schritt er an der Seite Bertha's vom Hofe und mit ihnen Slowik, der lustig vor ihnen einhersprang und allerhand närrische Kapriolen trieb.
Ludjich Orzecha faltete die Hände über der abgenommenen Mütze und sah mit bittendem Blick zum Himmel auf: „Schenk' ihnen Verstand, Du lieber Gott, dann kann noch Alles wieder gut werden.“
Stumm schritten die beiden jungen Menschenkinder mit den übervollen Herzen neben einander her. Keines vermochte den passenden Anfang zu finden, zudem war der Weg uneben und voll tiefer Löcher, so daß man Acht geben mußte, um sich vor Schaden zu bewahren. Eine ganze Strecke weit waren sie schon so fortgewandert, als sich endlich die Lichter aus dem Kirchdorfe blitzten schon durch die Dunkelheit herüber — das junge Mädchen ein Herz faßte und mit einem ängstlichen Seitenblicke auf ihren Begleiter begann:
„Du wirst mir gewiß recht böse sein, Janie.“
„Ich Dir böse?“ versetzte dieser scheinbar gleichgültig, während es doch in seinem Innern arbeitete und wogte. „Ich wüßte wirklich nicht, weshalb.“
In Bertha's Stimme zitterte bereits das verhaltene Weinen, als sie zaghaft erwiderte: „Sei nicht so schlecht zu mir, ich habe es wirklich nicht verdient.“
„Ich schlecht zu Dir, da sei Gott davor!“ brach Jan los. „Ich habe Dich keinen Augenblick lang vergessen und bin Dir treu gewesen all die Jahre lang. Aber Du? Das Erste, was ich von Dir hörte, war, daß Du Dich mit diesem Jäger verloben würdest.“
„Aber das ist ja gar nicht wahr“, unterbrach ihn das junge Mädchen, leise vor sich hinweinend und sich die Thränen mit der Schürze trocknend. „Die Mutter ist allein an Allem schuld — ich mag ihn gar nicht leiden!“
Jan vermochte einen Augenblick lang das Gehörte nicht zu fassen, dann brach mit einem Male ein Jubelruf aus seiner Brust, er faßte das Mädchen um die Hüften und trug sie im Uebermaße seines Glückes ein Stück weit auf den Armen. Endlich ließ er sie auf den Boden nieder und sah ihr in die feuchten Augen: „Hast Du mich wirklich lieb, Mädchen?“
Bertha sah unter Thränen lächelnd zu dem Geliebten auf, schlang ihre Arme um seinen Hals: „Ich habe Dich ja immer lieb gehabt, Du großer, lieber, schlechter Mensch!“ flüsterte sie leise und barg ihr erröthendes Gesicht an seiner Brust.
***
Es versprach wieder einmal Frühling zu werden nach langer, schwerer Winterszeit, und wenn auf Seen und Feldern auch noch Eis und Schnee lag, hier und dort grüßte doch schon ein feuchter schwarzer Ackerstreifen unter dem weißen Linnentuche hervor, das unter dem warmen Hauche des nächsten Thauwindes ganz und gar dahin schwinden konnte.
Für Jan und Bertha war die Zeit unter Glück und Sorgen rasch vergangen. Den Widerstand der Mutter hatten sie mit Hilfe eines Machtwortes des alten Berger glücklich überwunden. Sie hatte ihren Lieblingsplan in Betreff der Zukunft Bertha's aufgegeben, wenngleich sie auch zu Zeiten in wehmüthigem Gedenken an den so schmählich aus dem Sattel gehobenen Herrn Fuchs sich der Befürchtung nicht erwehren konnte, daß Jan trotz ihrer häufigen Belehrungen den richtigen Schliff und die wahre Lebensart niemals erlernen würde. Herr Fuchs, der beides in so hohem Maße besessen, hatte sich ganz und gar zurückgezogen, nur seine Guitarre stand noch als einziges Erinnerungszeichen vergangener schöner Tage mit zersprungenen Saiten verstaubt in einer Ecke, während ihr Besitzer seine freie Zeit in der Schänke verbrachte, sich betrank und Drohungen gegen Jan ausstieß. Dieser hatte jedoch keine Zeit darauf zu achten, er hatte andere Sorgen im Kopfe.
Der Fälligkeitstermin der Schulden rückte näher und näher, ohne daß es ihm gelungen wäre, irgend einen Vollmachtstitel vom Vater zu erlangen, auf Grund dessen er mit dem Wucherer hätte verhandeln können. Auf das Ansinnen, sich auf's Altentheil zu geben und dem Sohne den Hof zu verschreiben, war der alte Bauer, der halb stumpfsinnig den ganzen Tag in seiner Ecke hinter der Flasche saß, zwar aufgefahren, aber nur um im kläglichen Tone die Frage zu stellen, ob ihnen schon die Zeit zu lang würde, bis er unter die Erde käme; ein Versuch, ihn auf gerichtlichem Wege zu entmündigen, war ohne Erfolg geblieben: der alte Kreisrichter hatte nur dazu gelacht und gemeint, dann müßte er alle seine Bauern unter Kuratel stellen, denn „saufen“ thäten sie alle.
So waren die Aussichten für die Zukunft recht trübe. Niemand wußte, wie groß die Schulden des alten Bauern waren, und wenn auch der alte Berger sich bereit erklärt hatte, das Geld schon vor der Hochzeit herzugeben, so war es doch nicht wahrscheinlich, daß der Wucherer seine Beute so einfachen Kaufes sich entreißen lassen würde.
Unter Bangen und Sorgen war schließlich der Tag herangekommen, an dem sich Alles entscheiden mußte. Es war ein trüber, feuchter Frühlingstag, der warme, starke Thauwind zog brausend über die Felder und zehrte den Schnee fast sichtlich auf. —
Der Hof lag wie ausgestorben, nur Ludjich Orzecha lehnte am Thore und spähte sorgenvollen Blickes die Straße hinab, auf welcher Jan, der schon seit gestern Abend vom Hause fort war, zurückkehren mußte. Der Alte hatte, obschon es ein Wochentag war, sein sonntägliches Gewand angelegt, ein Beil mit breiter Schneide steckte unter dem Rocke im Gürtel. Lachend hatte ihn die Anka im Vorbeigehen gefragt, ob er etwa damit Spatzen todtzuschlagen gedächte. „Das nicht“, hatte er bedeutsam geantwortet, „aber vielleicht einen Aasvogel.“
Ein ingrimmiges Lächeln flog über sein Gesicht, als er jetzt den leichten Wagen des Kaufmanns auf der Straße heranrollen sah, Bedächtig schloß er die Thorflügel und stellte sich breitbeinig dahinter auf, den kurzen Stiel des Beiles mit der Rechten fest umspannend. Jetzt hielt der Wagen, und der Gensdarm, den Herr Balk zu seiner persönlichen Sicherheit requirirt hatte, forderte mit strengem Amtsgesicht die Oeffnung der Einfahrt.
„Kommt Ihr wegen der Zinsen und der Wechsel?“ fragte Ludjich herüber, und als Herr Balk bejahte, fuhr er gelassen fort: „Nun dann geduldet Euch bis zur Mittagsstunde, wo Eure Wische fällig sind; vorher werdet Ihr unsern Hof nicht betreten.“
Der Gensdarm hatte blank gezogen: „Im Namen des Gesetzes, öffnet!“ wollte er sagen, doch lautes, von der Straße heraufschallendes Wehklagen unterbrach ihn. Eine schwarze Menschenschaar drängte sich dort heran, in ihrer Mitte schwankte, deutlich erkennbar, von vier Männern getragen, eine Leichenbahre. Dem alten Knechte war es als griff ihm der Tod mit eiskalter Hand an's Herz, mit aschfahlem Gesichte sah er dem unheimlichen Zuge entgegen. Jetzt war derselbe vor dem Hofe angelangt. Ludjich öffnete mit zitternden Händen und stürzte dem alten Berger entgegen, der tiefbekümmerten Antlitzes neben der Bahre einherschritt. Die Träger setzten ihre Last zur Erde, schweigend drängte sich die Menge auf den Hofraum, indeß der Gensdarm herübergeschritten kam, um zu erfragen, was denn eigentlich geschehen.
„Mord ist geschehen, feiger Meuchelmord“, sagte der alte Berger mit dumpfer Stimme und hob das verhüllende Tuch vom Antlitze des Todten. „Und wenn Sie thun wollen, was Ihres Amtes ist, dann gehen Sie hinunter in die Schänke, dort sitzt der Jäger Fuchs und rühmt sich laut seiner feigen That.“
„Sie brauchen mich an die Erfüllung meiner Pflicht nicht zu erinnern“, erwiderte der Beamte ruhig, „aber an Ihnen ist es, mich darin zu unterstützen.“
„Ich komme“, erwiderte der Schultheiß, und löste sich sanft von seiner Tochter, die fassungslos neben der Bahre zusammenbrach.
Da tönte vom Hause her herzzerreißendes Wehklagen. Mit fliegenden Haaren drängte sich Anka durch die Menge und warf sich laut weinend über den Todten: „Jan, mein Herzensbruder, wie bist Du so bleich! So öffne doch noch einmal Deine lieben, blauen Augen, oder sprich ein einziges Wort, Janie, wer hat Dir das gethan?“
Der alte Berger erzählte Ludjich indessen mit fliegenden Worten, was er von dem Unglücke wußte.
Sie hatten den ganzen Abend vergebens auf Jan gewartet, schließlich nahmen sie an, er werde abgehalten sein und am andern Morgen kommen. Und als er, der alte Berger, am Morgen in der Frühe vor die Thür getreten sei, da habe ihm der Nachbar über den Zaun zugerufen, ob er schon wüßte, daß die Schulkinder den Jan Podleschny vor dem Dorfe gefunden hätten, todt auf dem Gesichte liegend, mitten in einer großen Blutlache. Und als er hinausgeeilt sei, da hätte bereits das halbe Dorf um den Todten herumgestanden. Da habe er ihn auf die Tragbahre legen lassen und ihn hierher geschafft. „Und nun“, so schloß er, „übergebe ich ihn Dir, Ludjich Orzecha, sorge Du für ihn weiter, ich will hinunter, um den Mörder der Gerechtigkeit zu überliefern.“
Die Menge fing an sich zu zerstreuen und zog dem alten Berger sammt dem Gensdarmen nach, um das neue Schauspiel der Verhaftung nicht zu versäumen.
Der alte Bauer war unterdeß von dem Stimmengewirr auf dem Hofe an's Fenster gelockt worden. Blöde starrte er hinaus; erst als er das Balk'sche Fuhrwerk erblickte, ging ein Schimmer des Verständnisses durch sein umdüstertes Gehirn. Er schleppte sich mühsam zum Herde, ergriff einen Feuerbrand und trug ihn in die Kammer, wo Werg und Flachs in einem großen Haufen geschichtet lagen. Bedächtig schob er den lodernden Brand hinein und sah mit höhnischem Grinsen dem blitzähnlichen Weitergreifen des Feuers zu. Dann schleppte er sich zu seinem Platze zurück und sah von dort, wie die gierigen Flammenzungen am Bette in die Höhe leckten und sich bis zu den ausgetrockneten Balken der Decke hoben. Dichter Qualm erfüllte die Stube, der alte Bauer erhob sich, um zur Thür zu schreiten, doch mitten auf dem Wege verließen ihn die Kräfte, und lautlos brach er zusammen.
Ludjich Orzecha stand noch immer neben den beiden jungen Mädchen, die leise weinend zur Seite des Todten neben der Bahre knieten, und starrte fassungslos auf das bleiche Antlitz Jan's. „Kommt, Ihr Mädchen“, sagte er endlich, „wir wollen ihn in die Stube tragen.“
Da trat Herr Balk auf die Gruppe zu. „Was willst Du noch hier, Blutsauger?“ schrie Ludjich ihn an, „Hast Du noch nicht genug Unglück über dies Haus gebracht?“
„Gott behüte mich davor, daß dies Unglück mir zugeschrieben werde“, gab Balk mit bebenden Lippen zur Antwort. „Aber heute ist der Tag, wo die Wechsel fällig sind, und ich muß den alten Herrn Podleschny sprechen.“
Da sprangen am Hause mit lautem Klirren die überhitzten Fensterscheiben, dichter Qualm drang durch die Oeffnungen und eine mächtige Feuersäule schlug lohend und prasselnd zu dem Dache heraus.
Irren Blickes sah der alte Knecht um sich. Ein wilder Zug flog über sein Gesicht und gräßlich kam ein lautes Lachen aus seiner Brust. Mit einem tigerartigen Sprunge warf er sich auf den Wucherer, schlang seine Arme um ihn und trug ihn mit übermenschlicher Kraft dem brennenden Hause zu. „Da drinnen ist der alte Bauer, mein Brüderchen“, röchelte er während des Laufens, „eia, das wird ein warmer Empfang!“
Vergebens suchte Balk sich den ihn umklammernden Armen zu entwinden. Die Augen traten ihm aus dem Kopfe, seine Finger griffen in die Luft — noch ein Satz, ein Brechen und Krachen, und die glühende Lohe schlug über Ludjich Orzecha und seinem Opfer zusammen. —
Janek.
Der arme kleine Kerl ist jetzt schon lange todt und begraben; seine wenigen Zeitgenossen, die ihn kannten, haben ihn gewiß längst vergessen.
Weshalb mir gerade heute die Erinnerung an ihn wieder frisch wird und sein blasses Gesichtchen mit den weißblonden Haaren, den himmelblauen Augen und der kleinen, ewig schmutzigen Stumpfnase lebendig vor die Seele tritt? Ich weiß es nicht; vielleicht liegt es an dem nebligen, naßkalten Weihnachtswetter, das dies Jahr just dasselbe ist, wie damals, als ich ihn zuerst kennen lernte. Auch damals wollte es gar nicht Winter werden. Wenn es einmal fror, dann fehlte der Schnee, und wenn es wiederum schneite, dann war die Erde feucht und zehrte die fallenden Flocken auf, kaum, daß sie den Boden berührten. Der große See, der sonst um diese Zeit des Jahres längst eine fußdicke Eisdecke trug, wälzte nach wie vor ungefesselt seine blauen kalten Wogen, und die Weiden am Ufer streckten frierend ihre dürren Zweige in die neblig kalte Luft.
Ganz am untern Ende des Dorfes, fast schon am Rande des Waldes, lag eine halbverfallene strohgedeckte Hütte. Ihr Besitzer und einziger Bewohner war unser alter Holzmeister, Michalski, ein großgewachsener, hagerer Mann, nüchtern und fleißig, der trotz seiner siebenzig Jahre sein Tagewerk im Walde mit Axt und Säge rüstiger schaffte, als Mancher von den Jüngern, denen Allen der Schnaps am Marke zehrte und sie vor der Zeit schlapp und kraftlos machte.
Der einzige Raum, den die Hütte enthielt, war ordentlich und sauber gehalten, und als ich einmal den Alten fragte, weshalb er denn draußen nichts besserte und säuberte, antwortete er trocken, so lange er lebte, würden die Wände und das Dach wohl noch zusammenhalten; für die, die nach ihm darin wohnen wollten, habe er nicht zu sorgen.
Ein harter, unversöhnlicher Zug trat bei diesen Worten in seinem verwittertem Gesichte hervor und grollend fuhr er fort: „Junger Herr, es ist Alles umsonst. Ich kann nicht und will nicht vergessen. Wenn man mich einmal hinaustragen wird dort unter die Bäume auf dem Kirchhof, dann mag das Frauenzimmer mit ihrem Wechselbalg hier schalten, aber so lange ich lebe, setzt sie keinen Fuß über diese Schwelle. Ihre Frau Mutter, junger Herr, der liebe Gott mög' ihr Gesundheit schenken, hat mich oft genug für die Lowisa gebeten und hat mir mehr als einmal gesagt, ich sei ein schlechter Mensch, dem der Himmel die Strafe für seine Hartherzigkeit nicht schenken würde — aber wenn ich auch verdammt sein soll für ewige Zeiten, ich kann nicht vergessen! Sie ist mein einziges Kind, aber wenn sie damals nicht an ihren Vater gedacht hat, als er allein und krank dalag und sie ihrem Liebsten in die weite Welt nachgelaufen ist, dann wird sie auch jetzt wohl ohne mich auskommen!“
Das war jedesmal das letzte Wort des starrköpfigen Alten, wenn von irgend einer Seite versucht wurde, ihn mit seinem verstoßenen Kinde wieder auszusöhnen. Und schließlich, im Laufe der Zeit, gewöhnte man sich daran, daß Vater und Tochter in Feindschaft und getrennt von einander in demselben Dorfe lebten, und dachte kaum noch daran, daß der alte Holzmeister überhaupt jemals ein Kind und Enkelkind besessen.
Die Lowisa diente als Magd in unserm Hause; es war eine fülle fleißige Person, der Niemand außer dem vor Jahren begangenen Fehltritte etwas nachsagen konnte. Als sie damals mit ihrem Knaben, von dem gewissenlosen Menschen, der sie verführt und in die Fremde gelockt, verlassen in die Heimath zurückkehrte und von ihrem Vater mit harten Worten von der Schwelle gewiesen wurde, da war sie in unser Haus gekommen und hatte die Mutter gebeten, sie sammt dem Kinde zu behalten. Es sei ihr einziges Gut auf dieser Welt, sie könne sich von ihm nicht trennen. Und die Mutter behielt sie, es kam ja schließlich nicht darauf an, ob unter den kleinen Jungen und Mädchen, die von den Frauen zur Arbeit und Atzung mitgebracht wurden, eins mehr oder weniger in Hof und Küche herumkrabbelte.
Es war ein hübsches Kind, der kleine Janek, und er gedieh prächtig zwischen den Kartoffelkörben, Wassereimern und Töpfen, mit denen seine Mutter hantirte. In kurzer Zeit hatte er sich die Herzen aller Kücheninsassen zu gewinnen gewußt, von dem alten mürrischen Teckel Gräber, mit dem er eine geradezu rührende Freundschaft geschlossen hatte, angefangen, bis zu Ludjich Mrowka, der zuerst über das „kleine Ungeziefer“ weidlich erbost war, das da auf dem Ziegelboden der Küche, mühsam auf dem gewichtigeren Theil seines kleinen Körpers rutschend und mit Händen und Füßen rudernd, sich herumbewegte, dann aber, als er ihn einmal aus Versehen getreten, dahin kam, sich der schweren Holzpantoffeln zu entledigen, wenn er die Küche betrat. Und schließlich, als das „kleine Ungeziefer“ etwas größer und verständiger wurde, da schnitzte er ihm mit kunstfertiger Hand des Abends am Herdfeuer hölzerne Spielsachen, oder nahm ihn auf die Kniee und erzählte ihm die beiden einzigen Märchen, die er wußte: das eine, das da anhebt: „Ein Löwe und ein Affe fuhren zusammen auf dem Meere“, und von dem der Brave leider den Schluß vergessen hatte, oder das von dem „dummen Teufel.“
Wenn der alte Holzmeister in's Haus kam, und das geschah fast alle Tage, ist die Lowisa stets an ihm vorübergegangen, als kennte sie ihn nicht. Zwar in der ersten Zeit hat sie jedesmal hinterher bitterlich geweint, aber mit der Länge der Zeit war sie dagegen stumpf geworden. Der kleine Bursche hatte keine Ahnung davon, in welchem Verhältnisse der alte finstere Mann zu seiner Mutter stand, und er hätte es auch wohl schwerlich begriffen, wenn man es ihm gesagt hätte. Er schien jedoch vor ihm ein instinktives Furchtgefühl zu empfinden, denn so lange der Alte in der Küche war, verhielt er sich still, drückte sich in irgend einen Winkel und unterließ die täppischen Spiele, zu denen er allgemach seinen sonst so ernsthaften Freund Gräber verleitet hatte.
Die Jahre vergingen und allmälig wurde aus dem Küchenknirps ein kleiner Bursche von vier Jahren, der durch seine Ungeberdigkeit seiner Mutter viel zu schaffen machte. Die Küche, sein bisheriger Tummelplatz, war ihm zu eng geworden, auch hatte man ihm in Folge mehrerer zerbrochener Teller und Schüsseln dort den Aufenthalt bei Tage untersagt, er trieb sich also zusammen mit seinem Busenfreund, der ihm nicht von den Füßen wich, in den Ställen und auf dem Hofe umher, oder wackelte gar auf das Feld heraus, um Ludjich Mrowka, den Dritten im Bunde, dort zu besuchen, wenn er draußen mit den Pferden ackerte. Schon dachte die Lowisa daran, sich von den Knaben zu trennen und ihn irgendwo im Dorfe bei fremden Leuten in Kost zu geben, weil er ihr in der Küche lästig wurde, da trat ein Ereigniß ein, das sie dieses Schrittes überhob.
Es war in der letzten Adventswoche. Der große Tannenbaum stand schon in der Ecke des Holzstalles, für den kleinen Janek ein Gegenstand lebhafter Neugier und stiller Verehrung. Oft stand er davor und konnte die Zeit nicht erwarten bis zu dem Augenblicke, wo das Christkind mit geheimnißvoller Hand die unzähligen Lichter auf seine grünen Zweige zaubern würde, in deren Glanz er am heiligen Abend erstrahlte.
Das Wetter war schlecht, von den winterlichen Vergnügungen der Weihnachtszeit war diesmal keine Rede, und schon hatte es den Anschein, als würde es „schwarze Weihnachten“ geben, als mit einem Male ein Umschlag eintrat. Ueber Nacht hatte die Winterkälte eingesetzt, der große See war in eine mächtige, wallende Nebelwolke gehüllt, und Baum und Strauch glitzerten in dem prächtigen Kristallgewande, das ihnen der Frost aus weißen Fäden gewebt. Und als sich gegen Mittag die wallenden Nebel hoben, da erglänzte die ganze Fläche des Sees im Sonnenschein wie ein Spiegel. Und kaum war diese Thatsache unter der Dorfjugend bekannt geworden, als sich auch schon waghalsige Burschen fanden, die das krachende Eis am Ufer auf seine Haltbarkeit untersuchten. Am Rande, wo es zuerst während der Nacht erstarrt war, hielt es über, und bald glich der flache Winkel am Dorfe einem Ameisenhaufen: der kleine Janek selbstverständlich mitten darunter, während Gräber winselnd am Rande stand, von einem seiner krummen Beine auf das andere trat und sich doch nicht getraute, auf die spiegelglatte Fläche zu treten und an dem waghalsigen Vergnügen seines Busenfreundes theilzunehmen.
Immer weiter wagten sich einzelne der Buben auf die Eisfläche hinaus, als mit einem Male von der Straße her ein lauter Warnungsruf erscholl. Er kam aus dem Munde des alten Holzmeisters, der aus dem Walde heimkehrte und nun mit scheltenden Worten die leichtsinnige Schaar vom Eise trieb.
Die Buben stoben auseinander und an dem Alten vorüber, als hätte der Wind sie auseinander getrieben, nur der kleine Janek hastete nach der andern Seite hinüber, als er den Einzigen, vor dem er sich fürchtete, am Ufer stehen sah. Plötzlich verschwand er, als hätte der See ihn verschluckt. Er war am Ufer in eine Stelle gerathen, die fast niemals zufror, weil dort sich der ziemlich stark fließende Bach in den See ergoß.
Laut aufschreiend stürzte der alte Michalski am Ufer entlang der Stelle zu, wo der Knabe verschwunden war. Mit schweren Tritten das Eis zerbrechend, arbeitete er sich, watend, bis zu der Stelle vor, wo er die dunkeln Kleider des Knaben unter der klaren, tückischen Kristalldecke hindurchschimmern sah. Doch als er ihn hervorziehen wollte, führte die Strömung den kleinen Körper hinweg. Mit blutenden Händen arbeitete er sich weiter, das Eis vor sich her zerbrechend; schon verlor er den Boden unter seinen Füßen, endlich, nach unsäglicher Anstrengung, gelang es ihm, den Knaben hervorzuziehen. Er arbeitete sich zum User zurück und schaute mit stieren Augen in das blasse Antlitz seines Enkelkindes; vor dem kleinen Munde desselben stand weißer Schaum und die weitgeöffneten Augen waren starr und glanzlos.
Wankenden Schrittes als trüge er eine Centnerlast, trat der Alte mit dem Kinde auf dem Arme den Weg nach unserem Hause an. Winselnd und an ihm hinaufspringend folgte ihm der Hund, der während der Zeit heulend am Ufer gestanden.
Mit Blitzeseile hatte sich das Gerücht von dem Unglücksfalle im Dorfe verbreitet. Die Leute waren vor die Hausthür getreten und folgten wie ein Leichenzug dem Alten mit dem Kinde.
Da kam die Dorfstraße herauf mit gerungenen Händen und laut wehklagend ein Weib gestürzt. Sie entriß dem Vater das leblose Kind und schrie gellend, daß es von den Häusern widerhallte: „Mörder, Mörder, dreimal Mörder, Fluch auf Dein Haupt!“
Es war ein trauriger Weihnachtsabend, der auf diesen Mittag folgte. Alle Wiederbelebungsversuche waren vergebens geblieben, und man hatte den kleinen Burschen, der wenige Stunden vorher noch in übermüthiger Jugendlust sich getummelt, in dem großen Flure unter den Zweigen des Christbaums, vor dem er so oft in ahnungsvollem Staunen gestanden, aufgebahrt. Die unglückliche Mutter saß zu Häupten des einfachen, nur aus rohen Brettern in der Eile gezimmerten Sarges, der das Liebste barg, was sie auf Erden besessen. Sie weinte leise vor sich hin und Gräber saß winselnd neben ihr und leckte ihre schlaffherabhängende Hand.
Meine Mutter saß auf der andern Seite des Sarges und versuchte die Aermste zu trösten, jedoch Lowisa schüttelte abwehrend mit dem Kopfe und murmelte leise: „Frau Wohlthäterin, das hilft ja Alles nichts mehr, mein Kind wird doch nicht mehr lebendig.“
Da öffnete sich behutsam die Hausthür, eine große Männergestalt schob sich sachte hinein und blieb dann mit niedergeschlagenen Augen neben der Thüre stehen.
Meine Mutter entfernte sich und ließ die Beiden allein.
Als sie wieder kam, lag Lowisa schluchzend an der Brust ihres Vaters; ihre so lang entfremdeten Herzen hatten sich an dem Sarge des Kleinen wieder gefunden.
Ain dritten Feiertage wurde er auf dem alten Kirchhof unter einer breitästigen Kiefer begraben.
Unter den Leidtragenden, die dem Sarge folgten, befand sich auch der getreue Gräber, der mit gesenktem Kopfe dicht hinter dem Wagen einhertrottete.
Der alte Teckel hat den Tod seines Busenfreundes nicht lange überlebt. Ob er aus Altersschwäche gestorben oder weil er sich zu sehr nach seinem Spielgefährten sehnte, wer vermag das zu entscheiden?
Wir gruben ihm ein Grab in der Ecke des Gartens und setzten darüber ein Holzkreuz, das jetzt schon längst vermodert ist. Es trug die Worte: „Dem treuen Freunde unseres kleinen Janek.“
Die alte Flinte.
Den ganzen Tag über waren wir auf der Treibjagd gewesen und hatten uns weidlich müde gegangen und gestanden in dem fast knietiefen Schnee, der, vor ein paar Nächten erst gefallen, wie ein lockerer Teppich Wald und Flur bedeckte. Jetzt saß der Theil der Jagdgesellschaft, der zur „grünen Farbe“ gehörte — die eingeladenen „lateinischen Schützen“ waren nach der Stadt zurückgekehrt — in der großen Stube des Forsthauses bei einem kräftigen Imbiß und einem Glase Grog beisammen, besprach den verflossenen, ziemlich magern Jagdtag und erzählte sich die üblichen Jagdgeschichten. Der mächtige Kachelofen, in dessen Innern fast eine ganze Wagenladung Tannenscheite Platz hatte, strahlte eine behagliche Wärme aus, das Licht der Lampe auf dem blüthenweißen Tischtuche kämpfte mühsam gegen den Qualm eines halben Dutzend im forschesten Brande befindlicher Tabakspfeifen, indeß die rundliche Hausfrau mit dem wohlwollenden Gesichte und den klugen Augen ab und zu ging und die Gäste zum Zugreifen nöthigte.
Eben hatte der alte Förster Kahnert seine berühmte und, nebenbei bemerkt, wahre Geschichte erzählt von den acht Polen, die er in einer Winternacht, da ihn ein halbes Hundert dieser Kerle in seinem Hause belagerte, aus Nothwehr erschossen, und noch lag achtungsvolles Schweigen über dem Zuhörerkreise, als ein junger, eben erst nach der Oberförsterei versetzter Gehülfe sich an den Hausherrn mit der Frage wandte, weshalb er wohl noch immer seinen alten Vorderlader führe, während er doch in seinem Gewehrschranke ein nagelneues Lefaucheuxgewehr hängen habe.
Der Angeredete, eine Hünengestalt mit mächtigen Gliedern, zog bedächtig, wie es seine Art war, den schon stark ergrauten Knebelbart durch die Finger der Linken und richtete einen prüfenden Blick auf den Frager. „Sehen Sie, Herr College“, begann er sodann, „wir Alten hängen an dem Gewohnten nun einmal zäher fest, als Ihr Jungen. Meinetwegen hätte man diese Hinterlader nicht zu erfinden gebraucht, und ich hätte mir das neue Ding auch nie in den Schrank gehängt, wenn der Jagdschutzverein es mir nicht wegen der vorjährigen Wilddiebsgeschichte als Ehrengeschenk gestiftet hätte. Als mein Vorderlader neu war, da war ich so ein junger Haideläufer, wie Sie — nun sind wir beide alt und wackelig geworden und, so lange ich auf die Jagd gehe, wird er auch wohl noch vorhalten. Zudem hat er in manchem ernsten Augenblicke mich nicht im Stiche gelassen und mir auch damals nicht versagt, als mein ganzes Lebensglück an ihm hing — ich müßte ja kein Herz haben, wenn ich ihn jetzt zum alten Eisen legen wollte. —“
„Adam“, sagte der alte Kahnert, als der Hausherr schwieg, „Du mußt uns die Geschichte erzählen. Wir Alten hören sie gern noch einmal, und den jungen Leuten thut es gut, wenn sie von den Zeiten hören, wo die Poesie im Jägerleben noch nicht ausgestorben war vor lauter Kubikwurzeln und Rechnungstabellen.“
„Ja, Du hast Recht“, erwiderte der Hausherr, „unsere Jugend war, wie Du sagst, poetischer, als die heutige, wenn auch die Rechnungstabellen und Kubikwurzeln just nicht allein die Schuld daran tragen mögen, daß es heute damit anders ist. Die Schuld liegt vielleicht an der heutigen Jugend selbst, die so viel nüchterner denkt und handelt, als zudem. Doch ich will zu meiner Geschichte kommen, es ist dasjenige Kapitel meines Lebens, das ich mit Fritz Reuter überschreiben könnte: „Woans eck to ne Fru kem.“
Also ich bekam die Flinte von meinem Vater geschenkt, als ich beim alten Oberförster Hansmann in Johannisburg die Jägerei ausgelernt hatte. Es war ein schönes Gewehr von Bössel in Suhl und hatte damals mit den Einlegeröhren an die siebenzig Thaler gekostet. Bis dahin hatte ich mich mit einem Einläufer behelfen müssen, der vielleicht noch aus den Türkenkriegen stammte und nur losging, wenn man ihm sehr freundlich zuredete, ich war daher ordentlich traurig, als ich den bunten Rock anziehen und das schöne, neue Gewehr so unthätig an den Nagel hängen mußte. Als dann endlich meine Militärzeit um war, nahm ich meine Flinte und die Jagdtasche auf den Rücken und zog, wie es damals Brauch war, als reisender Jäger in die Fremde hinaus, von einer Oberförsterei zur andern. Wo man mich brauchen konnte, stand ich ein, wo nicht, zog ich mit dem üblichen Zehrpfennig weiter, und so kam ich bis nach Schlesien, Brandenburg und schließlich auch nach Pommern, bis mich das Heimweh nach unsern Wäldern faßte und ich in kurzem Zuge nach Hause zurückwanderte. Hier erfuhr ich, daß in Weschkallen die Forstschreiberstelle offen sei, und ich machte mich dorthin auf den Weg, obwohl mir gesagt wurde, daß mit dem alten Herrn, der dort einsam als Wittmann hauste, nicht gut Kirschen essen sei. Damit verhielt es sich nun in Wirklichkeit nicht so schlimm; wer seine Pflicht that, war bei ihm gut angeschrieben, denn er selbst erfüllte seinen Dienst mit eiserner Gewissenhaftigkeit und war vielleicht gegen Niemand strenger, als gegen sich selbst. Ich stellte mich also dort vor, der Oberförster prüfte meine Zeugnisse und sagte, ich könnte eintreten, wenn mir die Bedingungen der Stelle zusagten. Glänzend waren dieselben gerade nicht, ich bat mir also Bedenkzeit aus. Als ich die Treppe von dem Bureau hinunterstieg, begegnete mir im Hausflur ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn Jahre alt, mit einem Strudelkopf voll blonder Locken. Sie erwiderte freundlich meinen Gruß und fragte, ob ich nicht zu einem kleinen Imbiß eintreten wollte. Ich ließ es mir nicht zweimal sagen, denn ich hatte einen ganz gewaltigen Hunger, und als sie mir nun an dem gedeckten Tische gegenüber saß, mich zum Zugreifen nöthigte und zwischenein so herzig plauderte von den Pflichten und Sorgen, die ihr, als der Aeltesten, nach dem Tode der Mutter erwachsen seien, da hatte es mit dem Ueberlegen ein Ende, ich blieb.
Als ich dem alten Oberförster meinen Entschluß mittheilte, sagte er kurz, es ist gut, unterwies mich in meinen Obliegenheiten und kümmerte sich von da an nur so viel um mich, als der Dienst es erforderte. Eine um so größere Freundschaft schloß ich mit der ganzen Hetze kleiner Buben und Mädchen, die nach dem Tode der Frau Oberförsterin verwaist zurückgeblieben war; ich schnitzte ihnen Spielsachen, ließ die Buben aus meiner Flinte nach Spatzen knallen, erzählte ihnen Geschichten und avancirte in kurzer Zeit zu der Würde eines „Onkels.“
Der Alte schien es nicht ungern zu sehen, daß die Kinder an mir hingen, es war mir so, als wenn er mich auch freundlicher behandelte, als das übrige Forstpersonal, kurz und gut, ich faßte mir eines Tages ein Herz, ging mit meinem Paraderock angethan zu ihm und bat ihn um die Hand seiner ältesten Tochter. Daß ich mit der schon seit langem einig war, habe ich, wie ich glaube, schon gesagt, wenn nicht, so hole ich's hiermit nach — also ich trat klopfenden Herzens in das Arbeitszimmer des alten Herrn und brachte mein Anliegen vor.
Er ließ mich ruhig ausreden; als ich zu Ende war, fragte er mich einfach, wer von uns Beiden verrückt sei, er oder ich. Dann schwoll ihm mit einem Male die Ader auf der Stirn, er stand auf, ging ein paar Mal in der Stube auf und ab, und blieb dann plötzlich vor mir stehen: „Herr“, brach er los, „augenblicklich packen Sie Ihre Sachen und marsch, fort, noch heute!“
Ich schlich mich gesenkten Hauptes hinaus, und that wie mir geheißen, packte meine Sachen, hing Ranzen und Flinte über den Rücken und ging. Der Abschied von meiner Liebsten war kurz und verstohlen gewesen, aber er hatte mir fast das Herz zerbrochen. Weinend hatte sie an meinem Halse gehangen, und als ich mich endlich losriß, sah sie mir treu und innig in die Augen und sagte leise: „Adam, ich werde Dir treu bleiben.“
Sie hat ihr Wort gehalten. So mancher Gutsbesitzerssohn aus der Nachbarschaft und mancher schmucke Forstkandidat hat sich von ihr einen Korb geholt, sie blieb mir treu, obwohl wir manchmal in Monaten nichts weiter von einander zu hören bekamen, als einen Gruß, oder ein kurzes Brieflein, das ein durchpassirender Zunftgenosse auf seine Reise zur Besorgung mitnahm.
So ging unser Verhältniß bereits in das neunte Jahr, ohne daß es uns gelungen wäre, in dem starren Sinn des Alten eine Aenderung herbeizuführen. Ich zog unstät von einer Oberförsterei zur andern, schließlich blieb ich längere Zeit in Orlowen, wo ich eine ziemlich einträgliche Forstschreiberstelle bekommen hatte, und wo es mir des reichen Wildstandes wegen besonders gut gefiel. Die Jagd der Oberförsterei war weit und breit berühmt, und der alte Oberforstmeister Dering, dem nun der liebe Herrgott ja schon längst das Hallali geblasen hat, kam in jedem Winter auf ein paar Tage herüber, um auf grobe Sauen zu jagen.
So geschah es auch zu der Zeit, als ich dort war, im Winter von Anno sechsundfünfzig auf siebenundfünfzig.
Ein paar Tage hatten wir schon mit abwechselndem Glück getrieben, und es kam der letzte Jagdtag heran, von dem wir uns besonders viel versprachen, weil der Belauf während der letzten Jahre wenig beschossen worden war.
Es war ein trüber, grauer Wintertag, der Schnee lag tief, hielt aber nothdürftig über, so daß es Jäger und Treiber nicht allzu schwer hatten. Ich hatte das Anstellen der Schützen und kam wenig zu Schuß, weil ich stets als Letzter auf den Haken zu stehen kam und die schwarzen Burschen sich merkwürdig gut treiben ließen. Ein paar Treiben hatten wir schon hinter uns, ich stand wieder auf meinem verlornen Posten und die Jagd war im vollen Gange. Schon waren die Treiber an mir vorüber, vereinzelte Schüsse fielen, als plötzlich in der Schützenkette das Feuer verstummte und lautes Rufen erscholl. Ich fasse meine Flinte fester, Tiroh! schreit mein Nebenmann, ich sehe mich um, da kommt ein mordsmäßig starkes Schwein wie rasend angesprengt, und, allmächtiger Gott, auf seinem Rücken, krampfhaft in die Nackenfedern gekrallt, der alte Oberforstmeister.
Mit einem Schlage war mir die Situation klar — der alte Herr hatte gefehlt, das Schwein, eine Bache, ihn angenommen — es trat und schlug ihn zu Tode, wenn es ihn abschüttelte — und das mußte jeden Augenblick eintreten.
In einem solchen Momente ziehen Einem ja die Gedanken mit Blitzesgeschwindigkeit durch den Kopf — ich überlegte: von den andern Schützen hat Niemand den Schuß gewagt, schießt Du auch nicht, dann wirft die Sau ihn ab und schlägt ihn todt, verloren ist er also auf jeden Fall — aber Du kannst Dich ja auf Deine alte Flinte verlassen, also drauf in Gottes Namen.
Diese Erwägungen drängten sich, wie gesagt, in dem Bruchtheil einer Sekunde zusammen, jetzt war das Schwein in gleicher Höhe mit mir, ich hob das Gewehr und zog mit — kaum eine Handbreit war vom Blatte frei für meinen Schuß, das übrige wurde von dem Körper des Oberforstmeisters gedeckt — dann drückte ich und stürzte, meinen Hirschfänger herausreißend, vorwärts. Ordentlich leicht und warm wurde es mir ums Herz, als ich das Schwein am Boden liegen sah; der Schuß hatte gesessen, es war todt, als wäre es mit der Axt vor den Kopf geschlagen.
Ein paar Schritte davon krabbelte sich der Oberforstmeister aus dem Schnee hervor. Der alte Herr war verhältnißmäßig ganz munter und hatte die Besinnung keinen Augenblick lang verloren. Bis auf eine leichte Wunde am Kopf und einen ziemlich tiefen Riß am Bein, wo ihn die Sau beim Annehmen geschlagen, war er heil geblieben. Ich hob ihn wie ein Kind auf meine Arme und trug ihn zum Schlitten, dann ging es im Galopp zur Oberförsterei zurück.
Als er sich dort etwas erholt hatte und ordentlich verbunden war, ließ er mich rufen. Zuerst bedankte er sich noch einmal und fragte dann, ob er nicht irgend etwas für mich thun könnte.
Da fuhr es mir durch den Kopf: Das ist das Glück, jetzt halt' es fest! Ich erzählte ihm also offen meine Herzensgeschichte, wie wir nun schon neun Jahre auf die Einwilligung des Vaters warteten, und daß wir uns doch gar zu gerne heirathen möchten.
„Da soll ich nur nun wohl einen Kuppelpelz verdienen“, unterbrach er mich, „und für Ihn den Freiwerber spielen.“
„Jawohl, Herr Oberforstmeister“, antwortete ich dreist und gottesfürchtig, „darum möchte ich Sie ganz gehorsamst gebeten haben.“
„Hm“, sagte er darauf, „ich weiß nicht, ob dazu nicht noch mehr Muth gehört, als Er soeben bewiesen hat. Der Alte ist im Stande, mich und Ihn sammt unserm Anliegen zur Thüre hinauszuwerfen. Aber eine Liebe ist der andern werth — ich will es thun.“
Er hat Wort gehalten. Am ersten Weihnachtsfeiertag, als sein verwundetes Bein ausgeheilt war, setzten wir uns auf den Schlitten und fuhren nach Weschkallen. Dort hat er fast zwei Stunden lang mit dem alten Herrn unterhandelt, während ich sorgenvoll im Vorzimmer saß und meine Liebste sich auf ihrem Kämmerlein die Augen roth weinte.
Schließlich hatte er ihn mürbe bekommen. Der Oberförster willigte ein, nachdem er ihm versprochen, daß er mir zu Neujahr die definitive Anstellung als Förster erwirken wolle. Und als dann Alles glücklich in Ordnung war, und wir um den großen Tisch herum bei einer kräftigen Punschbowle saßen, da wandte sich der Oberforstmeister an mich und sagte: „Jetzt habe ich noch eine Bitte an Ihn. Er muß mir das Gewehr überlassen, aus dem Er den Meisterschuß gethan.“
„Nein, Herr Oberforstmeister“, erwiderte ich respektvoll, „das geht nicht an. So lang mir Gott das Leben schenkt, werde ich mich von meiner alten Flinte nicht trennen.“
Während der letzten Worte war die Hausfrau zu dem Erzähler getreten und legte ihm zärtlich den Arm um die Schulter. Er zog sie an sich, hob sein Glas und sagte: „Nun, Herr College, werden Sie wohl verstehn, daß das neue Lefaucheux unbenutzt in meinem Schranke hängt.“
Nachtschwalbe.
Unter den schwarzen Kiefernwipfeln war es still geworden. Nur der Nachtwind raunte in den Zweigen und trug ab und zu den Laut eines aus dem Schlafe geweckten Vogels herüber.
Vor uns dehnte sich das weite Torfmoor in dem ungewissen Lichte der schmalen Mondsichel, die wie verloren zwischen ein paar bleichen Sternen am Himmel hing, und dünne, lang ausgezogene Nebelstreifen woben geheimnißvoll um die dunkeln Weidenbüsche.
Von dem fernen Flußufer tönte der dumpfe Ruf der Rohrdrommel, und schwerfälligen Fluges kam über den Hochwald ein Reiher gezogen; sein mißtönender Schrei erklang noch, als er längst im Dunkel der Nacht entschwunden war.
Geräuschlos kreuzte eine graue Nachtschwalbe durch den dichten Mückenschwarm, der summend um unser Feuer zog. Von dem hellen Lichtscheine geblendet, ließ sie sich, kaum zehn Schritte von uns, auf der Spitze einer verkrüppelten Tanne nieder und blinzelte mit ihren glänzend schwarzen Augen zu uns herüber.
„Flieg weiter, armes Seelchen“, murmelte Ludjich Mrowka, indem er das Zeichen des Kreuzes in der Luft beschrieb, „möge der liebe Gott Dir die Ruhe schenken!“
Erschreckt breitete der Vogel die spitzen Schwingen, ein seltsam klagender Ton zitterte von der Stelle herüber, wo er gesessen.
Ludjich Mrowka erhob sich von dem weichen Mooslager, das er sich an dem Stamme einer windbrüchigen Tanne geschichtet, und spähte, mit der Hand über den Augen, in die dämmerige Wiese hinaus, auf der die Pferde zu zweien gekoppelt weideten. Zwei Finger der Linken zwischen die Zähne schiebend, stieß er einen weithin hallenden Pfiff aus, dem von der Wiese her helles Wiehern antwortete. Beruhigt ließ er sich nieder, zog den grauen Sukman fester um die Schultern und langte nach einer glimmenden Kohle, um die ausgegangene Pfeife wieder zu entzünden.
„Sehen Sie, Panitzku“, begann er dann nach einer nachdenklichen Pause, „mit diesem Vogel ist das eine eigenthümliche Sache, und ich wollte Sie schon immer fragen, ob etwas darüber in den Büchern steht. Daß in ihm allerhand böse Kräfte wohnen, mit denen er Vieh und Menschen verhext und wie blind macht, das ist wahr, denn ich habe es selbst schon oft genug erlebt, wenn ich mit den Pferden auf die Nachtweide hinausritt. Wenn aber die Leute sagen, daß in ihm die Seele eines Mörders gebannt ist mit dem Fluche, bis zum jüngsten Gerichte um den Ort zu kreisen, wo das Verbrechen geschehen ist, so möchte ich fast darüber lachen, obwohl man mit diesen Sachen keinen Spaß treiben darf. An der Stelle nämlich, wo am Rekower Wege das Holzkreuz für den jungen Oberförster errichtet ist, den sie damals mit zerschossener Brust dort gefunden haben, da habe ich sie schon zu zweien oder dreien fliegen sehen, und ich weiß doch, daß sein Mörder, der Thomaz Rolla, noch lebt. Es ist freilich schon lange her, und vielleicht ist er auch schon im Zuchthause gestorben — der liebe Himmel mag es wissen.“
Der Alte schwieg und richtete seine wasserblauen Augen fragend auf mich, als erwarte er von meiner jungen Gelehrsamkeit die Lösung dieses Räthsels. Da hob Sidowinka, die alte Teckelhündin, die zusammengerollt zu seinen Füßen lag, ihre feine Nase in den vom Bruche herüberwehenden Luftzug. Knurrend stellte sie sich auf die kurzen Beine und that ein paar Schritte vorwärts, um dann mit zornigem Geheule in die Dunkelheit hinauszufahren.
„Ruft doch den Hund zurück, Ihr guten Leute“, scholl aus der Entfernung eine Stimme herüber, „und gönnt einem armen Wanderer ein Plätzchen an Eurem Feuer!“
Mißtrauisch griff der Knecht nach dem neben ihm liegenden Handbeil und that einen kurzen Pfiff, auf den Sidowinka gehorsam zurückkehrte. Ihr folgte ein hochgewachsener, alter Mann in sonderbar altmodischer Kleidung, die ihm schlotternd um die hagern Glieder hing.
„Du brauchst Dich vor mir nicht zu fürchten, Ludjich Mrowka“, sagte er leise, während er sich mit müder Geberde auf seinen schweren Eichenstock lehnte. „Ich bin froh, wenn Andere mir nichts zu Leide thun.“
Der Knecht starrte den Fremden an, wie eine Geistererscheinung, und es dauerte eine Weile, bis er die Sprache wiederfand.
„Im Namen des dreieinigen Gottes, bist Du ein Spuk, der gekommen ist, uns zu schrecken, so hebe Dich von dannen auf dem Wege, den Du gekommen bist.“
Wehmüthig lächelnd schüttelte der Fremde das graue Haupt: „Nein, Ludjich, ich bin von Fleisch und Blut wie Du, aber ich wünschte, ich wäre dort, von wannen Du mich gekommen glaubst.“ Und sich zu mir wendend fuhr er fort: „Haben Sie Mitleid, junger Herr, mit einem alten Manne, der nichts weiter will, als seine von der Nachtkühle steifen Glieder ein wenig erwärmen. Ich werde Sie nicht lange belästigen!“
Er bediente sich des Deutschen, und seine gebildete Sprachweise stand in seltsamem Gegensatz zu seiner schlichten bäuerischen Kleidung. Ich beruhigte die alte Sidowinka, die noch immer knurrend und zähnefletschend vor dem Fremden stand, und hieß ihn niedersitzen. Jetzt hatte sich auch der Knecht von seinem Schrecken erholt. „Thomaz Rolla“, fragte er mit einer Stimme, in der noch immer ein mißtrauischer Ton lag, „wo kommst Du her?“
„Wo ich herkomme?“ versetzte der Fremde — „aus dem Zuchthause! — Erschrecken Sie nicht, junger Herr. da drinnen hinter den Gefängnißmauern sitzt so mancher Mann, der es wahrhaftig mehr verdiente, das liebe Gotteslicht in Freiheit zu genießen als Andere, die unbehelligt draußen herumlaufen. —— Es ist ja wahr, ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen, ich bin in den Augen der Menschen ein Mörder, aber glauben Sie mir, junger Herr, Sie können deshalb doch getrost mit mir an einem Feuer sitzen. Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich die That eines Augenblicks abgebüßt, fünfundzwanzig lange Jahre! Wissen Sie, was dieser Zeitraum bedeutet? — Für den Glücklichen eine kurze Spanne Zeit, für den, der sie hinter eisernen Gittern verbringt, eine Ewigkeit voller Qualen. Können Sie sich das Gefühl eines Menschen vorstellen, der mit Thränen der Wuth in den Augen hilflos an den Eisenstäben rüttelt, die ihn von der Freiheit trennen — unverdient? Denn so wahr ein Gott im Himmel lebt, diese Strafe hatte ich nicht verdient.“
Er brach plötzlich ab und fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Augen. Unwillkürlich war ich etwas näher an ihn herangerückt und bot ihm theilnahmsvoll die Hand.
„Junger Herr, das thut wohl“, sagte er leise, „es ist schon lange her, seit man mir die Hand gereicht hat.“
Ludjich Mrowka, der bis dahin schweigsam zugehört, langte jetzt aus der Tasche seines Mantels den Mundvorrath, den er sich auf die Nachtweide mitgenommen hatte, ein Stück Brod und Speck und eine halbgefüllte grüne Branntweinflasche. „Da iß und trink, Brüderchen, ich seh's Dir an, daß Du hungrig bist“, sagte er mitleidig.
Mit einem dankbaren Blick griff der Fremde nach dem Dargebotenen und schweigend sahen wir ihm bei seiner hastigen Mahlzeit zu. Von dem Branntwein trank er spärlich und reichte dann dem Knechte die Flasche zurück mit der Bitte, ihm den Bescheid nicht zu versagen. Gern und mit einem tiefen Schlucke kam Ludjich der Bitte nach, und während er sorgfältig das Mundstück der Flasche mit dem Mantelzipfel abwischte, sagte er gemüthlich: „Nun, Bruderherz, erzähl' doch einmal, wie es Dir eigentlich ergangen ist, seit wir uns nicht mehr gesehen haben.“
„Da ist wenig zu erzählen, Brüderchen“, versetzte Thomaz Rolla, „ein Tag in meinem Leben glich dem andern, hinter den vergitterten Fenstern giebt es wenig Abwechselung. Als mir das Wollezupfen über war, da habe ich ein Handwerk gelernt, die Tischlerei, in den wenigen müßigen Stunden, die man uns ließ, habe ich die Bücher der Anstaltsbibliothek auswendig gelernt — ich hatte ja vollauf Zeit dazu.“
„Es waren gute Bücher darunter“, fuhr er, sich zu mir wendend, fort. „ihnen und der steten Arbeit verdanke ich es, daß ich nicht, wie meine Gesundheit, auch meinen Verstand verlor. Von dieser Zeit also ist wenig zu berichten, aber, wenn Sie erlauben, junger Herr, dann erzähle ich Ihnen, wie ich dazu kam, aus der Gemeinschaft der ehrlichen Menschen ausgestoßen zu werden — man schüttet so gerne sein Herz aus, wenn man mitleidige Zuhörer hat.“ Er schwieg und blickte nachsinnend eine Weile in das Feuer, das sein bartloses Gesicht mit röthlichem Schimmer bestrahlte.
„Ich muß von meiner Kinderzeit anfangen“, begann er schließlich, „wenn Sie verstehen sollen, wie sich mein Leben so und nicht anders gestalten mußte. — Dort drüben über dem Walde, in Helmahnen, bin ich geboren; mein Vater war der Dorfschulmeister, ein alter ehrwürd'ger Mann, der, Gott sei's gedankt, die Schande nicht mehr zu erleben brauchte; meine Mutter habe ich gar nicht gekannt, sie war bei meiner Geburt gestorben. Den größten Theil meiner Jugendjahre verbrachte ich auf dem Gutshofe in der Familie des Herrn von S. Von klein auf war ich der Spielgefährte seiner beiden Kinder gewesen — es war ein Knabe und ein Mädchen ungefähr in meinem Alter — später nahm ich auch an dem Unterrichte Theil, den sie von einem Hauslehrer erhielten. Ich war fast den ganzen Tag über drüben im Herrenhause, kaum daß ich Abends zum Schlafen kam, ich wurde fast zur Familie gehörig gerechnet und rechnete mich auch selbst dazu. Zu dem Bewußtsein, daß ich ein Fremder in dem Hause sei, daß zwischen mir und meinen Spielgefährten ein Standesunterschied bestände, kam ich erst, als diese aus dem elterlichen Hause auf die Schule gegeben wurden, und ich zurückblieb. Ich entsinne mich noch des bittern Gefühles, als ich weinend an dem großen Thore des Gutshofes stand und dem Wagen nachsah, der die Beiden auf der staubigen Landstraße entführte. Ich war damals ein Bursche von vierzehn Jahren, aber ich hatte noch niemals ernsthaft darüber nachgedacht, was aus mir werden sollte, oder vielmehr wir hatten es in unseren kindischen Zukunftsplänen ganz genau zurecht gelegt: Fritz, so hieß mein Spielkamerad, wollte studiren, ich sollte Landwirth werden, seine Schwester Irene heirathen und das Gut übernehmen. Nicht wahr, das war eine einfache Sache? — zu einfach, um in Erfüllung zu gehen.“
Ein wehmüthiges Lächeln ging flüchtig über sein Gesicht, als er nach einer kurzen Pause fortfuhr: „Die Zeit, die nun für mich folgte — wozu soll ich sie Ihnen ausführlich erzählen, sie war trübe genug. Es genügt, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich schließlich, nachdem meine Militärzeit abgelaufen, als Wirthschafter und Vorarbeiter auf demselben Gute verdingte, wo ich meine ersten Jugendjahre, als Gespiele der Herrenkinder verbracht hatte. Sie werden vielleicht lachen, wenn ich Ihnen sage, daß die Erinnerung an das kleine Mädchen, das damals an meinem Halse gehangen, es war, die mich unwiderstehlich dorthin zurückzog — ich bin überhaupt in meinem ganzen Leben keinem andern Mädchen gut gewesen. —
Junger Herr, wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, so werde ich des Tags nicht vergessen, da ich sie zum ersten Male wiedersah. Ich stand mit der Axt in der Hand am Brunnen, um etwas an dem Beschläge zu bessern, da kam sie leichtfüßig über den Hof geschritten in ihrer kurzen, pelzbesetzten Jacke, schön wie der junge Morgen. Schon von weitem streckte sie mir die Hand entgegen und ihr rosiges Gesichtchen strahlte von unverhohlner Freude, als sie sagte: „Ach, das ist nett von Dir, Thomaz, daß Du wieder zu uns zurückgekommen bist. Die Sochia hat es mir erzählt, und da mußte ich gleich hinaus, um Dich willkommen zu heißen.“
Ich stand da, wie mit Blut übergossen, ich wollte etwas erwidern, aber die Kehle war mir wie zugeschnürt.
Jetzt wurde sie mit einem Male auch verlegen; ich sah, wie sie mich mit großen Augen anschaute, dann plötzlich roth wurde und schließlich mehr stotterte, als sprach: „Ich glaube, Mama erwartet mich. Nun, wir sehen uns ja noch häufiger.“ Sie wandte sich hastig ab und ging schnellen Schrittes, ohne sich umzusehen, zum Hause zurück. Jetzt war ihr das Bewußtsein des Standesunterschiedes zwischen uns Beiden gekommen — ein bitterer Groll wollte mir im Herzen aufsteigen, aber ich zwang ihn nieder; was konnte das liebe Kind dafür, daß es die Herrentochter war und ich der Knecht ihres Vaters? Ich hätte ja wahnsinnig sein müssen, wenn ich geglaubt hätte, das alte Verhältniß zwischen uns könnte wieder an dem Punkte anknüpfen, wo es damals in den Kinderjahren abgerissen war, ich bin es aber damals vielleicht wirklich gewesen, sonst hätte Alles nicht so kommen können, wie es kam. ——
Kurze Zeit nach dem Tage war ein junger Forstkandidat auf das Gut gekommen, der um Quartier gebeten hatte, solange seine Vermessungsarbeiten in dem an unsere Felder grenzenden Revier dauerten. Reinhardt hieß er und war ein schlanker, stattlicher Mann mit einem frischen Gesicht und ein Paar blauen, übermüthigen Augen. Fast seine ganze freie Zeit verbrachte er in der Familie der Herrschaft, und man hätte blind sein müssen, um nicht zu bemerken, daß schon nach kurzer Zeit zwischen ihm und Irene Alles im Reinen war. Was ich damals durchgemacht habe —— ich hätte aufschreien mögen vor Schmerz und Eifersucht, wenn ich die Beiden nebeneinander durch den Garten oder über den Hof gehen sah — sie hatte sich meistentheils in seinen Arm gehängt, und er bog sich zu ihr herunter und flüsterte ihr vielleicht allerhand zärtliche Worte in's Ohr — ich hätte meine Seligkeit darum gegeben, wenn ich ihr nur einen Augenblick so hätte nah sein dürfen.
Der Sommer verging, die Felder wurden allmälig kahl und, als das letzte Fuder in der Scheuer war, feierten wir das Erntefest. Ich weiß den Tag noch wie heute, es war der 14. September. Auf dem großen Getreidespeicher war Alles aufgeräumt, die Herrschaften mit den eingeladenen Gästen saßen auf der einen Seite, auf der andern an langen Tafeln die Instleute und das Hofgesinde. Als das Essen aufgetragen war und die Musikanten schon die Instrumente für den Tanz stimmten, erhob sich unser Herr und forderte uns auf, die Gesundheit des jungen Brautpaares zu trinken, seiner Tochter Irene und des Herrn Forstkandidaten Reinhardt. Alles brach in Hochrufe aus, die Musik spielte einen schmetternden Tusch — ich allein stand stumm zwischen der schreienden, schon halb betrunkenen Menge und starrte unverwandt zu unserer Herrentochter hinüber, die glückstrahlend an der Seite ihres Bräutigams lehnte. Dann begann der Tanz, den ich, als Vorarbeiter, wie es ja Brauch ist, mit der Herrentochter eröffnen mußte. Das Herz schlug mir bis in den Hals, als ich auf die andere Seite hinüberging, um mir mit zierlichem Spruch und gebeugtem Knie die Ehre auszubitten. Unbefangen legte Irene ihre Hand in die meinige, wir traten an die Spitze des aufgestellten Reigens und die Musik begann. Leicht wie eine Feder schwebte sie in meinem Arme dahin, ihr warmer Athem streifte mein Gesicht — es begann mir vor den Augen zu flimmern, ich preßte sie fest an mich und flüsterte ihr ein paar wahnsinnige Worte in's Ohr. Sie wollte sich meinem Arm entwinden, doch ich hielt sie fest und näherte mein Gesicht dem ihrigen — da riß mich eine feste Hand zurück, daß ich taumelte. Ich sah die hochaufgerichtete Gestalt des jungen Forstmannes zwischen mir und Irene, die Worte „Unverschämter Bursche!“ schlugen an mein Ohr, dann wurde es mir roth vor den Augen, und ich stürzte mich zähneknirschend auf den Verhaßten. —
Als ich wieder zu mir kam, lag ich gefesselt auf dem Bette in meiner Kammer. Mein Kopf brannte wie Feuer, die Zunge klebte mir am Gaumen und meine Glieder waren wie zerbrochen. Schließlich glückte es mir, die Hände frei zu bekommen, ich öffnete das Fenster und schaute hinaus. Von dem Getreidespeicher her drang heller Lichterglanz und das Stampfen der Paare, dazwischen abgerissene Takte der Musik — ich mußte mich erst allmälig besinnen, was eigentlich mit mir geschehen war. Lange Zeit stand ich so sinnend in der kühlen Nachtluft, in meiner Brust war es mit einem Male todt geworden. Als sich am Himmel bereits die ersten rothen Strahlen zeigten, packte ich meine wenigen Sachen in ein Bündel zusammen, stieg aus dem Fenster und schlich mich vom Hofe wie ein Dieb. Wohin ich wollte, wußte ich nicht, ich wanderte ziellos durch den Wald, die Sonne brannte mir heiß auf den schmerzenden Kopf, schließlich brach ich unter einer Kiefer zusammen — ich konnte nicht weiter.
Als ich erwachte, war es unter den Bäumen fast dunkel. Neben mir stand Jemand, den ich zuerst nicht erkannte; erst die Stimme belehrte mich, wen ich vor mir hatte, es war der Forstkandidat. In barschem Tone befahl er mir, aufzustehen und ihm zu folgen. Anfangs begriff ich nicht, was er von mir wollte, als er jedoch seine Aufforderung wiederholte, richtete ich mich auf und antwortete trotzig, ich wäre frei und könnte gehen, wohin es mir beliebte.
„Verdammter Bursche, ich will Dich lehren, zu gehorchen“, sagte er mit zornfunkelnden Augen und griff nach dem Gewehr, das er über der Schulter trug. Ich hörte den Hahn knacken, dann warf ich mich auf ihn, und wie es gekommen ist, weiß ich nicht, so wahr ein Gott im Himmel lebt, plötzlich ging der Schuß los, und mein Gegner fiel wie ein Stück Holz mir zu Füßen. Ich hielt noch das rauchende Gewehr in der Hand, als sich plötzlich von verschiedenen Seiten Schritte näherten. Es waren Leute von unserem Hofe, die mit dem Forstkandidaten ausgezogen waren, mich zu suchen. Ehe ich recht zur Besinnung kam, hatte man mir die Hände auf den Rücken gebunden und trieb mich mit Schlägen und Stößen, wie ein Stück Vieh, auf der Straße fort, die nach dem Gutshofe führte. Hinter mir, auf einer Bahre aus Tannenzweigen, wurde der Todte getragen.“
Er brach plötzlich ab und griff mit der Hand nach der Stirn, als empfände er dort einen heftigen Schmerz. Seine Stimme war heiser geworden, als er hastig fortfuhr: „Lassen Sie mich zu Ende kommen, — es ist auch wenig mehr zu berichten. Nach acht Monaten — so lange hatte die Untersuchung gedauert — stand ich vor dem Schwurgericht. Man verurtheilte mich wegen Mordes unter Zubilligung mildernder Umstände zu fünfundzwanzig Jahren Zuchthaus — mein Vertheidiger hatte Freisprechung beantragt! Die Männer, die damals diesen Spruch gefällt, mögen sie es mit dem Richter abmachen, dem wir Alle einmal Rechenschaft ablegen müssen. Ich habe gegen sie keinen Groll mehr im Herzen, in fünfundzwanzig Jahren lernt man vergeben und vergessen! Wenn nur die Anderen es auch gelernt hätten“, fuhr er mit gebrochener Stimme fort, während ihm ein paar schwere Thränen die hageren Wangen hinabrollten. „Als ich heute Abend nach Helmahnen kam — es drängte mich, mein Elternhaus noch einmal wiederzusehen —, da hat man mich auf der Straße erkannt. Die Kinder sind mir nachgelaufen mit dem Rufe „Mörder, Mörder!“ — mir ist, als hörte ich noch diese unbarmherzigen hellen Stimmen. Ich legte es zu dem Uebrigen und bin schweigend weiter gezogen. Als es Nacht geworden, fand ich mich an der Stelle, wo damals das Unglück geschah. Ich habe lange vor dem verwitterten Kreuze gestanden und mit einem inbrünstigen Gebete für das Seelenheil Dessen, der hier einst durch meine Schuld, aber ohne mein Wollen vom Leben schied, habe ich mich schließlich losgerungen von dem Banne, der sich meiner bemächtigt hatte. Und wie eine Erleuchtung ist es über mich gekommen: „Zieh' hin in Frieden, was Du an Schuld getragen hast, ist Dir vergeben!“ —
Er erhob sich hastig und warf den Riemen seiner Ledertasche über die Schulter. „Die Zeit drängt, ich muß fort“, sagte er mit einem prüfenden Blicke auf den fahlen Morgenhimmel.
„Wo willst Du denn hin?“ fragte Ludjich Mrowka besorgt.
„Ueber die Grenze, Brüderchen, dort drüben in Stuczin habe ich Verwandte gehabt. Ich weiß zwar nicht, ob ich sie noch am Leben treffe, wenn nicht, dann wird es ja noch immer einen Zaun geben, hinter dem ich meine müden Glieder ausstrecken kann. Lebt wohl und habt Dank für die Gastfreundschaft, ich muß eilen, wenn ich noch im Morgengrauen über die Grenze will.“
Stumm schüttelten wir uns die Hände, ich wollte ihm noch etwas zum Abschiede sagen, doch konnte ich das rechte Wort nicht finden.
Mit großen Schritten ging er den Waldweg entlang. An der ersten Biegung wandte er sich noch einmal zurück und winkte grüßend mit der Hand — ich habe ihn nie wieder gesehen. ——
Das Feuer war erloschen, fahle Morgendämmerung zog im Osten über dem Bruche herauf. Ludjich Mrowka holte die Pferde zusammen, wir saßen auf und ritten heimwärts durch den schweigenden Kiefernwald. Als wir an dem Holzkreuze vorüberkamen, flog von der Spitze desselben ein grauer Vogel auf.
„Zieh in Frieden, armes Seelchen“, sprach ich leise, „mög' Dir der liebe Gott den Frieden schenken!“
Am Spirdingsee.
Auf dem Außenrande des Grenzgrabens saß ein junges Mädchen in schmuckloser Alltagskleidung.
Sie hatte die Hände über den Knieen ineinander verschlungen und starrte trüben Auges in die Dämmerung hinaus, die allgemach über den weiten Wassern des Spirdings hernieder sank. Hinter ihr, in dem trockenen Graben gegen spähende Blicke gedeckt, lag ein Mann von fremdartigem Aussehen. Blond gelocktes Haupt- und Barthaar, das nie ein Schermesser berührt, umrahmte ihm das offene, sonnengebräunte Antlitz, seine Brust umschloß eine ärmellose Weste aus großgeblümtem Kattun, mit zwei Reihen glänzender Messingknöpfe dicht besetzt. Die breiten Beinkleider steckten in weichen Kniestiefeln, den Kopf bedeckte ein aus gespaltenen Wurzeln kunstvoll geflochtener Hut. Es war die Tracht der kleinrussischen Bauern, an der die Philipponen, jene fremdartigen Siedler im Herzen des Masurenlandes, ebenso zähe festhalten, wie an ihren angestammten Sitten und dem mit Märtyrerblut besiegelten Bekenntniß.
„Es nützt uns doch alles nichts, Ulas“, begann jetzt das Mädchen mit müder Stimme, in die verhaltenes Schluchzen hineinklang. „Drum geh mir nicht mehr nach, Geliebter, und lass ab von mir. Unsere Wege führen auf dieser Welt nicht zusammen.“
„Du hast kein Zutrauen zu mir“, fuhr der junge Philippone auf, „sonst könntest Du nicht so zu mir sprechen, Malka!“
„Kein Zutrauen zu Dir? O Du Lieber! Aber sieh, wenn wir Alles gegeneinander abwägen, woher willst Du noch die Hoffnung nehmen? Wir sind arm, des Arscheny Vater ist Schulz in Eurem Dorfe und der Patriarch seines Vaters Bruder — was willst Du also gegen ihn ausrichten? Und so wirst Du die Slonia heirathen, und ich werde allein sein und verlassen. Drum ist es besser, Du läßt mich gleich und fügst Dich, ehe sie Dir Gewalt antun.“
„Nun, dann hör' auch Du, Malka, mein Augenstern, was ich Dir zum letzten Male sage. Die Slonia, das Fräulein“ — er spie verächtlich aus — „die der Arscheny als seine Wirthin“ — er spie wieder aus — „in der Welt herumgeschleppt hat, bis sie sich in ihrem Zustande nicht mehr sehen lassen kann, die nehme ich nicht. Eher soll mich — doch ich will nicht fluchen mein Täubchen“, beschwichtigte er, als er merkte, daß Malka ihm ihre Hand entziehen wollte, die er in seiner schwieligen Rechten hielt. „Sieh, mein goldenes Liebchen, noch zwei Fahrten mache ich mit dem Holzfloß auf dem See, dann gehe ich auf Brettschneiderarbeit bis in die deutsche Gegend hinter Lyck. Und zum Herbst habe ich so viel beisammen, daß ich Dich in das Nestchen holen kann, das ich Dir gebaut.“
„Wenn sie Dich bis dahin nicht beiseite geschafft haben, wie damals den armen Maxim“, warf das Mädchen seufzend ein.
Ulas wies lachend seine weißen Zähne: „Ich habe keine Angst davor! Aber jetzt frage ich Dich: „Willst Du mir treu sein und auf mich warten?“ Malka richtete ihre großen braunen Augen auf den Geliebten und schmiegte sich an ihn:
„Wenn Du im Herbste wiederkommst, wirst Du mich finden.“
Aufjauchzend warf der junge Bursche den Hut in die Luft und schlang seine Arme um den schlanken Leib seiner Liebsten. Einen Augenblick lang presste sie heiß ihre Lippen auf seinen Mund, dann entwand sie sich ihm und eilte flüchtigen Fußes davon.
Ulas Jawor war, so zu sagen, aus der Art geschlagen. Früh verwaist, war er vater- und mutterlos in der Philipponengemeinde aufgewachsen, hatte bei den Bauern die Schweine gehütet und in dem königlichen Forst Holz gestohlen, just wie die Anderen auch. Eines Tages war er jedoch dem Schulmeister des Nachbardorfes Weissuhnen in die Hände gefallen, und der alte Sonderling, der in dem kleinen Fischerdorfe ein wunderliches Junggesellenleben führte, hatte an dem aufgeweckten und hübschen Burschen Gefallen gefunden. Er nahm ihn zu sich und lehrte ihn, was er selbst wusste. Viel war es gerade nicht, aber es genügte, um Ulas die Anschauung beizubringen, daß der Mensch nicht erst beim Philipponen anfange, wie er es zu Hause vom Patriarchen in der Kirche gehört hatte, der alle Andersgläubigen kurzer Hand für unreine Schweine erklärte. So war er denn nach Dein Tode seines Wohlthäters nicht wieder nach Onufrigowen, der Siedelstätte seiner Glaubensgenossen, zurückgekehrt, sondern hatte in der weiten Welt sein Glück versucht, erst als Brettschneider und schließlich als Arbeiter an der neuen Eisenbahn, der ersten, die in Masuren gebaut wurde. Schließlich, als er sich ein kleines Sümmchen erspart, hatte es ihn wieder nach der Heimath gezogen. Er hatte sich davon überzeugen müssen, ob seine Jugendgespielin, die braunäugige Malka, noch ledig sei. Sie war's noch, und so kam es, daß er sich als Flößer verdingte und nun von einem Ende des großen Spirdingsees zum andern fuhr. Eines Tages hatte er von dem Patriarchen in Onufrigowen die Weisung erhalten, sich für den ersten Osterfeiertag in der Gemeinde zu stellen, da es an der Zeit sei, daß das heilige Sakrament der Wiedertaufe an ihm vollzogen werde. Widerwillig war er dem Rufe gefolgt und hatte widerwillig mit den Jünglingen seines Jahrganges die Ceremonie über sich ergehen lassen. Als er sich dann still entfernen wollte, hatte ihn der Patriarch bei Seite genommen und ihm eröffnet, daß sein unstätes Vagabundenleben fern von der Gemeinde der Stammesgenossen ein Ende haben müsse. Deshalb sei im Verein mit den Aeltesten beschlossen, ihn zu verheirathen und ihm dazu die Slonia ausgesucht worden, des reichen Arscheny Wirthin, die sich ein paar hundert Taler erspart hätte und außerdem von ihrem Vater schon einige Morgen Ackerland mit einem kleinen Häuschen besäße. Ulas hatte geantwortet, er bäte um Zeit, um sich den Vorschlag zu überlegen, war dann fortgestürmt und hatte sich von dem Tage an in dem Heimathsdorfe nicht mehr blicken lassen. Die geheimnisvollen Mahnungen, die er von Zeit zu Zeit erhielt, schlug er in den Wind, obwohl sie immer drohender wurden. Und nun, wo er mit Malka's Treueversprechen hinauszog in die weite Welt, verlachte er sie erst recht.
Langsam schlenderte er am Seeufer entlang dem Dorfe zu, in welchem sein Liebchen beim Krugwirthe als Magd diente. Sonst pflegte er nicht hinter der Flasche zu sitzen, aber heute drängte es ihn, mit Menschen zusammen zu sein. Vielleicht, daß es ihm auch noch glückte, im Vorbeigehen einen Blick, ein flüchtiges Wort mit Malka zu tauschen.
Auf den Flößen, die dicht nebeneinander gedrängt fast die ganze Bucht des Sees füllten, brannten lustig flackernde Kienfeuer. Ueber den Flammen hing der brodelnde Kessel, in dem das Abendessen kochte; malerische Gestalten lagen in zerlumpte Decken gewickelt um die Feuer und lauschten den Klängen der Ziehharmonika, während die große Schnapsflasche von Einem zum Andern ging.
Als Ulas neben seinem Flosse vorüberkam, das dicht am Lande lag, hörte er seinen Namen nennen.
An der Stimme erkannte er Saschul Schlachta, einen baumlangen, dunkelbärtigen Philipponen, der weit und breit in den Seedörfern seiner Rohheit und Rauflust wegen berüchtigt war. Eiskalt überlief es ihn: das war die letzte Mahnung des Patriarchen.
Im ersten Augenblick dachte er daran, sich durch einen schnellen Sprung auf das Floß und von dort auf den kleinen Schleppdampfer zu retten, dessen rothe Signallaterne durch das dunkel herüberleuchtete, doch ein Geräusch zu seiner Linken belehrte ihn, daß dieser Weg schon verstellt sei. Er fasste sich, so gut es ging, und fragte möglichst gleichgiltig:
„Ach Saschul, Du? Was bringst Du mir Neues?“ Damit setzte er sich in's Gras und begrüßte ebenso ruhig den Begleiter Saschul's, Dmitri Erzum, der diesem an Bösartigkeit nichts nachgab. Es entstand eine bange, gewitterschwüle Pause, die Ulas durch das Stopfen seiner kurzen Pfeife auszufüllen suchte. Als er aber nach dem Feuerzeuge griff, fasste Saschul mit seiner Bärentatze seinen Arm, zugleich fühlte er im Rücken eine sonderbare kalte Berührung.
„Vor Allem mach Deinen Mund nicht zum Schreien auf, sonst ist dieser Augenblick Dein letzter“, raunte ihm Saschul zu. „Sei vernünftig und gehorche!“
„Was wollt Ihr von mir?“
„Du kommst jetzt ohne Lärm mit uns in's Boot, wir fahren nach Onufrigowen, nach Hause“
„Zur schönen Slonia“, klang es höhnisch von hinten.
„Lass das!“ verwies Saschul seinen Gefährten.
„Und Du zögere nicht, die Alten erwarten uns!“
Schweigend saß Saschul am Steuer, Ulas vor ihm im Bereiche seiner rechten Hand, während Dmitri die zwischen den Dollen mit nassen Netzlappen umwickelten Ruder so geräuschlos handhabte, daß selbst im Kahne nichts davon zu hören war.
„Wir wollen doch wenigstens meine Sachen mitnehmen. Sie liegen in der letzten Bude, und der Jan, der mit mir schläft, sitzt vorn am Feuer, „ begann jetzt Ulas, der noch immer hoffte, daß ihm irgen dein Zufall zu Hülfe kommen würde. Zwar erfolgte keine Antwort, doch hielt Saschul auf das Flossende ab, Dmitri schlich sich hinauf und brachte aus der Bude, was er in der Eile zusammengerafft.
Flehend sah Ulas nach dem Feuer hinüber, um das seine Gefährten lagen und schwätzten — umsonst, das Boot blieb unbemerkt und bog jetzt pfeilschnell auf die Mitte des Sees. Weiter und immer weiter trat das dunkle Ufer zurück, schon schimmerten die Feuer von den Flößen noch kaum erkennbar herüber: es wäre der sichere Tod gewesen, jetzt herauszuspringen, und doch wälzte Ulas unaufhörlich den Gedanken hin und her. „
Und doch, vielleicht! —— Und wenn nicht?“ Er Biss die Zähne zusammen, die Aufregung schüttelte ihn wie Fieberfrost. Endlich bezwang er sich und versuchte leise, seine Stiefel auszuziehen.
Es hatte sich etwas Wind erhoben und Dmitri hatte schon längst seine Vorsicht aufgegeben, da an keine Gefahr mehr zu denken war. Jetzt war ein Stiefel herunter, doch war er dabei umgefallen und hatte Saschuls Bein berührt.
„Zieh den Stiefel wieder an; Du bist wohl wahnsinnig?“ sagte dieser und hob mit der Rechten etwas vom Boden des Kahnes, was Ulas sehr genau kannte. Es war ein Hechtspeer mit kurzem Stiel, an dessen Ende eine dünne aber starke Hanfschnur befestigt war.
Ulas machte keinen Versuch mehr.
***
In der verräucherten Stube des Kruges, die von einer mattbrennenden Petroleumlampe nur nothdürftig erleuchtet wurde, ging's lustig her.
Eine große Gesellschaft, meistens Fischer in ihren verschlissenen und vom Wasser verwaschenen Kleidern, saß an den langen, weißgescheuerten Tischen. Man trank den Branntwein aus hohen, gewundenen Gläsern, an einzelnen Stellen wurde unter schmetterndem Faustschlag und dröhnendem Gelächter „Sechsundsechzig“ gespielt, mit Karten, deren Zeichen unter der soliden Schmutzschicht nur ganz Eingeweihten erkennbar waren, und auf der Ofenbank saß eine Gesellschaft die andachtsvoll einem jungen Burschen zuhörte, welcher, auf Urlaub von den Soldaten, eine Menge neuer Lieder unter rhythmischem Fußstampfen seiner Umgebung vortrug. Unter der Lampe hatte sich ein Paar umschlungen, bei welchem der reichliche Branntweingenuss die dem Masuren in hohem Grade eigenthümliche Rührseligkeit hervorgebracht hatte. Sie hatten sich umfasst, wiegten sich unwillkürlich nach dem Takte des Gesanges und küssten sich unter Thränen, um dann wieder einen Schluck aus der gemeinsam erworbenen Flasche zu nehmen.
Im anstoßenden Herrenzimmer saßen ebenfalls Gäste. Vier oder fünf langbärtige Spektores, Aufseher bei dem großen Fischgarne, spielten mit einer gewissen vornehmen Ruhe das „Oko“, ein eigenthümliches Hasardspiel, und vertilgten dazu ungezählte Gläser Thee, den ein dabeistehender Samowar lieferte. An einem anderen Tische saßen ein paar junge Forstbeamte und ein Fischereiaufseher, die der Zweck einer gemeinschaftlichen, nächtlichen Haussuchung zusammengeführt.
Als die Gesellschaft sich nach eingenommener Stärkung zum Aufbruch rüstete, trat der Kapitän des Schleppdampfers in's Zimmer und erzählte fluchend, daß einer seiner Flößer davongelaufen sei, gerade jetzt, wo er seine Leute am nöthigsten gebrauchte. Einer der Fischer rief aus dem Nebenzimmer herein, er habe in der Dämmerung einen Kahn mit zwei Philipponen gesehen, und als bei dem lauten Gespräche Ulas' Name genannt wurde, kam Malka händeringend und laut weinend hereingestürzt:
„Er ist nicht fortgelaufen, sie haben ihn mit Gewalt geholt, er soll ja die Slonia heirathen.“ Und fliegenden Athems erzählte sie, was sie wußte.
Ohne Zaudern machten sich die Beamten zur Verfolgung auf, der Fischereiaufseher mit dem Kapitain in dem schnellsegelnden Dienstboot, die jungen Forstleute auf dem Landwege, um den Räubern an der Landungsstelle des Philipponendorfes den Weg zu verlegen.
Es gelang.
Kaum hatten die Forstbeamten sich am Ufer versteckt, als der Kahn sich vorsichtig näherte. Der Wind hatte die Wolken fortgefegt, und der Widerschein des sternenklaren Himmels gab Licht genug, um die drei Gestalten im Kahn erkennen zu lassen. Die Wellen, die über die ganze Breite des Sees daher gerollt kamen, brachen und überstürzten sich rauschend auf dem flachen Ufer und übertönten jedes andere Geräusch. Leise und gebückt wateten die Forstbeamten in das seichte Wasser zwischen dem dichten Geröhricht hinein — da hielt plötzlich der Kahn, wendete auf der Stelle und schoß davon. Hastig eilten die Verfolger in dem seichten Wasser vorwärts, da klang vom Kahn her lautes Rufen. Die drei Männer rangen einen Augenblick mit einander, ein gellender Schrei, und schwerfällig fiel eine Gestalt über Bord. Als die Forstbeamten sie aus dem Wasser hoben, war es bereits zu Ende. Eine Blutwelle, die sich vom Halse herab ergoss, nahm das letzte Leben mit sich. Der Befehl des Patriarchen war ausgeführt.
Und die beiden Mörder?
Der Spirdingsee ist weit und die Grenze nahe — in Onufrigowen wußte Niemand, wo sie geblieben.
Jan's Roman.
Er selbst pflegte nicht gern davon zu erzählen, am wenigsten in Gegenwart seiner Ehehälfte, der ebenso corpulenten wie energischen Frau Maria, die ihm noch heute, nach fast fünfundzwanzigjähriger, an stetig sich mehrendem Wohlstände und heranblühenden Kindern gleichermaßen reich gesegneter Ehe die Geschichte nicht recht vergessen konnte.
Drang man aber stärker in ihn, dann erwachte etwas wie die Eitelkeit eines alten Don Juans in ihm; er nahm die Mütze vom Kopfe, kratzte sich das an den Schläfen bereits leicht ergrauende Haar, sah sich noch vorsichtig nach Frau Maria um und sagte:
„Also die Baronin Bialosukno —— ich sag' Ihnen, ein Weib, solche Augen! Rein verhext hat sie mich damit, denn mit rechten Dingen ist das nicht zugegangen. Aber weiter wie bis in die Eisenbahn hat sie mich nicht bekommen, da war es aus mit dem Zauber, und ich, heidi, wieder nach Hause.“
Und wenn er diese, für seine Verhältnisse unglaublich lange Rede vollendet hatte, ging er hinter den Schänktisch, goß sich ein Gläschen Branntwein ein, ließ es über die Zunge laufen und fügte höchstens noch hinzu: „Na ja, es war so!“ Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.
Das merkwürdige Begebniß aber aus der Jugendzeit des jetzigen Schankwirthes und behäbigen Bauergutsbesitzers Jan Bielinski in Dobrowola hatte sich folgendermaßen zugetragen. Ich habe es zufällig erfahren, denn ich besaß eine Tante — Gott hab' sie selig — die stets ganz genau wußte, was sich auf allen Nachbargütern bis 10 Meilen in der Runde zutrug, und der daher auch die Geschichte von der schönen Baronin Bialosukno und dem Jan Bielinski nicht verborgen bleiben konnte.
Eines schönen Tages war die Baronin auf ihrem Gut Bialosukno erschienen, ganz unerwartet und unangemeldet.
Die Verwaltersleute waren wie aus den Wolken gefallen, denn seit länger als fünf Jahren hatte die gnädige Frau Baronin sich nicht mehr um sie bekümmert, als daß sie ihnen schrieb, wohin sie das Geld schicken sollten; nach Posen, Paris oder nach Nizza, je nachdem, wo sie mit der Gesellschaft des polnischen Malcontentenadels, zu der sie gehörte, sich aufhielt.
Nun saß sie da in der großen niedrigen Stube mit den verblichenen Tapeten und den steifgestärkten weißen Fenstervorhängen, am Kaffeetische, auf dem frischgebackener Weizenkuchen und blühendes, zum Einbeißen herausforderndes Schwarzbrot prangte, Butter und goldgelber Honig in zwei sauberen Schalen, daneben auf weißem Lindenbrette frisch geschnittener, rosiger Schinken, so ein recht behäbiger Kaffeetisch, wie ihn wohl eine Hausfrau anrichtet, die in Küche und Keller aus dem Vollen schöpft.
Die Baronin war recht angenehm gestimmt. Die lange Fahrt — sie war unmittelbar nach dem Grand Prix von Paris abgereist und ohne Aufenthalt durchgefahren — war ihr recht gut bekommen, und die erste Nachtruhe in dem fast beängstigend stillen Herrenhause, um welches Nachts nur die beiden großen Wolfshunde lautlos kreisten, hatte auf sie eine geradezu verjüngende Wirkung ausgeübt.
Weshalb sie eigentlich, statt von Paris aus eines der fashionablen Bäder aufzusuchen, gerade nach dem weltabgeschiedenen Bialosukno gekommen war?
Auch das wußte meine Tante genau zu sagen.
Sie hatte mit einem Male, über Nacht möchte man sagen, einen tiefen Widerwillen bekommen gegen das Leben, das sie führte, die Gesellschaft, in der sie verkehrte; sie mußte heraus, wenn sie nicht ersticken wollte, irgendwohin, wo sie allein war und nichts um sich hatte, als die unverfälschte Natur und allenfalls noch ein paar unverbildeter und aufrichtiger Menschen. Und so saß sie denn nach kurzem Entschluß und langer Reise in ihrem alten Bialosukno, dem es überdies sicherlich nichts schaden konnte, wenn das Auge der Herrin einmal nach ihm sah.
Das war aber nur — so versicherte wenigstens meine Tante — der Grund für den neugierigen Monsieur Tout-le-monde, der sogenannte Staats- oder Sonntagsgrund. Die eigentliche Ursache der plötzlichen Weltflucht der Baronin lag in dem Mißverhältniß, das sich allmälig zwischen ihren Einnahmen und Ausgaben hergestellt hatte und auf gewöhnlichem Wege nicht mehr zu beheben war. Sie hatte deshalb persönlich kommen müssen, um zu entscheiden. was weniger unvortheilhaft war: den schönen Eichenwald von Bialosukno niederzuschlagen oder ihr großes Vorwerk Dobrowola zu verkaufen...
Die Baronin war noch eine schöne Frau, vielleicht nicht mehr schlank genug, aber doch noch diesseits der Grenze von Corpulenz, die graziöse Frauen stets einzuhalten wissen. Ihr Gesicht hatte eine gewisse Aehnlichkeit mit dem bekannten Portrait der vielgeliebten Gräfin Potocka, nur waren ihre Augen womöglich noch größer und schwärmerischer.
Ihr Witthum trug sie nun schon seit länger denn sieben Jahren mit einer etwas marktschreierischen äußeren Trauer und fand, wie sie selbst versicherte, ihren einzigen Trost darin, daß sie die glühende Vaterlandsliebe ihres verstorbenen Gatten wie ein heiliges Vermächtniß pflegte. Der Baron von Bialosukno gehörte nämlich der heute im ostpreußischen Masuren ganz und gar ausgestorbenen Species von großpolnischen Patrioten an. Er führte die „Befreiung des geknechteten Vaterlandes“ stets im Munde, trank viel Sect darauf und brachte manch' feurigen Trinkspruch aus im Kreise der Compatrioten; als es aber wirklich losging zu Anfang der sechziger Jahre, da vermied er's gar ängstlich, sich bei der Regierung, der preußischen sowohl als der russischen, zu compromittiren. Böse Zungen behaupteten auch, er oder sein Vater hätte ursprünglich „von Weißtuch“ geheißen und diesen biederen deutschen Namen ins Polnische übertragen, wie etwa noch heute im Posen'schen die „Sczulz“ oder „Wolszlegier“ es thun; das war aber schließlich Nebensache, ein jeder Narr schneidet sich eben seine Kappe, wie es ihm beliebt...
Die Baronin saß also beim offenen Fenster am Kaffeetische. Ihre Linke hielt einen elfenbeingefaßten Handspiegel, in welchem sie nicht ohne Befriedigung ihre trotz der Anstrengungen der letzten Wochen frische Gesichtsfarbe konstatirte, während sie mit der Rechten halb mechanisch die große, alterthümliche Kaffeetasse zum Munde führte. Da schreckte sie jählings empor und ließ Spiegel und Kaffeetasse sinken: vom Hofe her drang angstvoll gellendes Kindergeschrei. Als sie aus Fenster trat, bot sich ihr ein Anblick, der die leicht Erregbare bis ans Herz hinan erbeben ließ.
Vor einem augenscheinlich bei der hastigen Flucht zu Boden gefallenen kleinen Mädchen stand ein junger, jähriger Stier. Er hatte die Hörner gesenkt und schien unschlüssig, ob er gleich zustoßen oder noch ein Weilchen mit seinem Opfer spielen sollte. Die Baronin wollte nach der Gesindestube eilen, um Hilfe herbeizuholen, doch die Füße versagten ihr den Dienst, sie wollte schreien, da nahte aber schon der Retter aus der Gefahr.
Es war ein hochgewachsener Bursch mit mächtigen Schultern; das Hemd um den braunen Hals weit offen, die leinenen Beinkleider um die Hüften mit einem Lederriemen gegürtet, in der Rechten die schwere Axt, so sprang er in weitausgreifenden Sätzen aus dem Holzstalle herbei.
Der Stier hob auf seinen Anruf den Kopf und musterte den unerwarteten Gegner mit blutunterlaufenen, tückischen Augen. Gelassen trat der Bursch ihm entgegen, warf die Axt in weitem Schwünge zur Seite, schob das wie versteinert daliegende Kind mit dem Fuße aus dem Wege und faßte dann mit jähem, aber sicherem Griff das Thier bei den Hörnern.
Einen Augenblick lang schienen die beiden Gegner fast bewegungslos einander gegenüberzustehen. Dann begann ein wildes, unentschiedenes Ringen, und wieder einen Augenblick lang später ging durch die Glieder des jungen Riesen ein mächtiges Anspannen aller Kräfte auf einen Punkt: ein gewaltiger Ruck mit den stahlharten Fäusten und das Thier lag wie vom Blitze gefällt am Boden. Langsam hob es sich wieder auf die Beine, warf noch einen verdutzten Blick auf seinen Ueberwinder und trollte, von einem kräftigen Fußtritte geleitet, mit eingezogenem Schweife seinem Stalle zu.
„Bravo, bravo!“ rief die Baronin und beugte sich, lebhaft in die Hände klatschend, aus dem Fenster.
Und nun begab sich etwas Eigenthümliches. Der stolze Sieger sah erst überrascht nach dem Fenster des Herrenhauses, von dem das laute Bravo erklungen, und als er dort die elegante Dame erblickte, raffte er eiligst seine Axt und die beim Ringen verlorene Mütze zusammen, um sich schleunigen Laufes hinter die schützenden Wände seines Holzstalles zu flüchten.
Die gute Stimmung der Baronin hatte sich durch den eben mitangesehenen Zweikampf, der so gefährlich begonnen und so komisch geendet hatte, zu lauter Heiterkeit gesteigert. Und als die Verwaltersfrau erschien, um nachzusehen, ob die gnädige Frau ihrem Kaffeetische die gebührende Ehre erwiesen, da erzählte sie derselben, bei jedem Satze mit einem neuen Lachanfalle kämpfend, den Vorfall.
„Das ist der Jan Bielinski gewesen“, erwiderte die Verwalterin, „ein Anderer bekommt so etwas gar nicht fertig.“
„Wer ist dieser Jan Bielinski?“ fragte die Baronin voll Interesse.
„Er stammt von drüben, jenseits der Grenze. Sein Vater kam gleich nach dem Kriege herüber, er hatte nur einen Arm und war wohl mit dabei gewesen, als es gegen die Russen ging. Zuzutrauen war es ihm schon, denn er war ein rabiater Mensch. Wie er nachher bei dem großen Sturm im Walde von einer stürzenden Tanne erschlagen wurde — mich gruselt's noch, wenn ich daran denke, wie sie ihn gefahren brachten, den starken Mann; mausetodt, den Kopf ganz mit Blut überronnen — also von damals an hat der Jan seine Mutter und sich ganz allein erhalten, bis sie ihn einzogen zum Militär und die alte Frau als Ortsarme gehen mußte, denn wissen Sie, gnädige Frau Baronin, sie war gelähmt und konnte sich nur mühsam mit einem Stocke oder an den Wänden fortbewegen. Jetzt ist er, der Jan, bei uns auf dem Hofe, halb Vorarbeiter, halb Scharwerker, ein tüchtiger Bursch, der jede Arbeit anfaßt.“
Eine halbe Stunde später saß die Baronin vor ihrem Schreibtische, um ihrer Busenfreundin, der Gräfin Pietrolewna, ihre glückliche Ankunft zu melden. Sie schrieb:
„Cherè amie! Kaum bin ich ein paar Stunden in meinem geliebten Bialosukno. und schon habe ich ein köstliches Abenteuer erlebt. Der Held desselben ist ein ganz gewöhnlicher Bauernbursche, und, denke Dir, er trägt denselben Namen Bielinski, wie ein gewisser, einer mir bekannten Dame nahestehender Cavalier. Aber, ohne Dir zu nahe zu treten, Graf Casimir könnte Gott danken, wenn er die herrliche Gestalt, die Kräfte dieses Herkules im Bauernkittel besäße.“
Die Baronin brach plötzlich ab, nahm das Ende des Federhalters zwischen die weißen Zähne und schaute nachdenklich, aber nicht mehr lächelnd, zum Fenster hinaus auf den Hof, wo der Namensvetter des Grafen Casimir Bielinski vorhin den jungen Stier so mannhaft niedergerungen hatte.
***
Es war am späten Nachmittag, als die Baronin etwas mißmuthig nach einer ebenso enuyanten wie fruchtlosen Conferenz mit Herrn Jankel Grünspan, dem Agenten aus der Kreisstadt, den schattigen Waldweg entlang schritt, der durch eine Ecke des Eichenwaldes hindurch vom Gutshofe nach der Chaussee führte.
Der Preis, den der geriebene Grünspan für das Vorwerk Dobrowola geboten hatte, war ein lächerlich niedriger gewesen, sie hatte ihm in plötzlich aufwallendem Schlachzizenstolze die Thür gewiesen, und nun blieb ihr wohl kaum etwas Anderes übrig, als all' die alten herrlichen Eichen niederzuschlagen und zu verkaufen, die die Zierde und den Hauptwerth von Bialosukno bildeten.
Sie hatte den Saum ihres eleganten Sommerkleides mit der Linken in die Höhe gerafft, denn der Weg war feucht und voll tiefer Löcher, mit dem Sonnenschirm in der Rechten köpfte sie hie und da mit energischem Hieb eine unschuldige Küchenschelle oder Glockenblume, die doch nichts dafür konnten, daß Herr Grünspan ein so hartgesottener und gewiegter Geschäftsmann war.
Um eine Waldecke biegend, vernahm sie Menschenstimmen, ein halb Dutzend Arbeiter besserte mit Hacke und Spaten an den verfallenen Abzugsgräben des Weges und warf Steine und Rasen in die ausgefahrenen Stellen des Geleises. Der Erste, der in der Reihe emsig seinen Spaten handhabte, war Jan Bielinski.
Das Blut schoß ihm in's Antlitz bis an die Stirnlocke und färbte die sonnenverbrannten Wangen um einen Schatten dunkler, und das Herz schlug ihm, das er's bis in den Zähnen spürte, als die Herrin von Bialosukno und Dobrowola, die Frau Baronin selber, vor ihm stand, von der man im Hofe sprach wie von einer fernen, allmächtigen Fee.
Doch als sie ihn nun anredete und sprach wie andere Menschenkinder, nur schöner und lieblicher — die polnische Muttersprache floß ihr wie süße Musik von den Lippen — da war auch der Bann gebrochen. Er sah ihr frisch und frank in die Augen und antwortete ohne Scheu auf ihre Fragen.
„Also Du bist der Tapfere, der heute früh das kleine Mädchen von dem wüthenden Stiere errettete?“
Jan neigte das rechte Knie und zog den Saum des Gewandes seiner schönen Herrin an die Lippen.
„O gnädigste Frau Wohlthäterin, das war kein Kunststück, denn ich bin stärker als der junge Ochs.“
„Du hast beim Militär gestanden?“
Jan reckte sich unwillkürlich ein wenig heraus:
„Bei den Königsberger Kürassieren, als Gefreiter zur Reserve entlassen.“
„Du hast eine Braut?“ fragte die Baronin weiter mit einem forschenden Blick und bohrte die Spitze ihres Schirmes in den feuchten Wegegrund.
„So ist es, gnädigste Frau Wohlthäterin“, erwiderte Jan, indeß ein sonniger Schimmer über sein Antlitz flog, „und wenn uns der liebe Gott die Gesundheit schenkt, dann dauert`s kein Jahr mehr, bis ich die Maria unter das Dach meiner Mutter führe.“
„So, das freut mich“, erwiderte die Baronin, aber ihre Worte klangen nicht mehr so lieblich wie vorhin. Sie neigte kurz das schöne Haupt und wandte sich des Weges zurück, den sie gekommen.
Der Bursche schaute ihr nach und strich sich verwundert den braunen Schnurrbart. Wahrscheinlich, so glaubte er, war die hohe Frau verletzt, weil er mit ihr gesprochen, wie mit seinesgleichen.
Die Baronin aber war noch mißmuthiger gestimmt, als auf dem Heimwege. Sie ärgerte sich über Herrn Grünspan, die Welt, sich selbst und schließlich über Jan. Sie hatte sich durch das Erlebniß vom heutigen Morgen verleiten lassen, in ihm eine Art von Helden zu sehen, und mußte nun erkennen, daß er auch nicht mehr war, als ein ganz gewöhnlicher, ungebildeter Bauernbursche. Am meisten aber ärgerte sie sich über sich selbst; denn als eine Frau, die daran gewöhnt war, wahrheitsliebend zu sein gegen sich selbst, mußte sie sich sagen, daß ihr Wohlwollen gegen diesen „ungebildeten Bauernburschen“ erst in dem Augenblicke aufgehört hatte, als sie auf ihre forschende Frage erfuhr, daß er bereits einen Schatz besäße.
Die nächste Zeit war ebenfalls nicht dazu angethan, ihre üble Laune zu verscheuchen. Das Niederschlagen des Eichenwaldes war durchaus keine so einfache Sache, wie sie sich das in ihrem geschäftsunkundigen schönen Kopfe vorgestellt hatte. Der Verwalter, eine ehrliche und uneigennützige deutsche Haut, rieth ihr aus tausenderlei Gründen, die sie nicht verstand, wegen der niedrigen Holzpreise und der hohen Arbeitslöhne, davon ab und meinte, es sei unter den obwaltenden Umständen am vortheilhaftesten, eine Hypothek auf das noch unbelastete Vorwerk aufzunehmen, die er bei der Landschaftsbank in ein Paar Wochen zu beschaffen hoffe.
Die Aussicht, noch einige Wochen in dem stillen Bialosukno zubringen zu müssen, schien ihr jedoch mit einem Male fast unerträglich. Die vollkommene Einsamkeit, die sie in den ersten Tagen so erquickt hatte, begann sie zu langweilen, und sie hatte auch nicht die geringste Aussicht auf etwas Abwechslung, denn mit den Familien der Umgegend war sie durch ihre jahrelange Abwesenheit außer aller Verbindung gekommen, hatte auch keine Lust dazu, neue Beziehungen anzuknüpfen.
In dieser gelangweilten und morosen Stimmung, die sie umsonst durch Lesen und Briefschreiben zu bannen versuchte, kam die Baronin in ihren Gedanken stets von Neuem auf den jungen Menschen zurück, der seit dem ersten Tage ihr Interesse gefesselt hielt. Und, merkwürdiger Weise, so oft sie aus dem Hause ins Freie trat, mußte sie auf diesen Menschen stoßen. Bald sah sie ihn vor dem Holzschuppen Brennscheite spalten, daß die Späne von der kraftvoll geführten Axt wie Funken nach der Seite stoben, oder sie traf ihn im Garten, wie er in stetig ausholendem Schwunge das Gras von den weiten Rasenflächen mähte, mit kundiger Hand an den Obstbäumen schnitt oder draußen auf dem Brachfeld, geduldig hinter den Zugochsen einherschreitend. Furche an Furche zog.
Eine ganze Zeit lang widerstand sie dem lebhaften Drange, den sie bei jeder Begegnung empfand, mit ihm ein paar Worte zu wechseln. Sie erwiderte gnädig seinen demüthigen Gruß und ging vorüber. Eines Tages jedoch — sie traf ihn gerade, wie er an einem Arbeitswagen geschickt die gebrochene Deichsel besserte — konnte sie dem inneren Verlangen nicht widerstehen.
„Du scheinst ein recht anstelliger und geschickter Mensch zu sein“, begann sie herablassend, „denn so oft ich Dich gesehen habe, hast Du jedesmal eine andere Hantirung verrichtet.“
„Die gnädige Frau Wohlthäterin belieben sehr gütig zu sein“, erwiderte er demüthig und griff nach ihrem Gewände, um es der Sitte gemäß an die Lippen zu führen. Doch sie erröthete und wehrte fast unwillig ab: „Laß das, ich liebe nicht am Manne diese sklavische Unterwürfigkeit.“
Jan richtete sich auf und warf einen verwunderten Blick auf die Baronin. Daß er seiner Manneswürde etwas vergab, wenn er der hochgeborenen Herrin den Kleidersaum küßte, war ihm noch nie in den Sinn gekommen. Das war eine altüberkommene Gewohnheit, wie das Amen in der Kirche, aber wenn es die gnädige Frau Baronin nicht liebte —
Dann erinnerte er sich ihrer Anrede und erwiderte:
„Das hab ich von meinem Vater selig geerbt, der mit seiner einen Hand mehr zu Wege brachte, als andere mit zweien. Wenn mir etwas Neues begegnet, so brauche ich nur einmal genau zuzusehen, um es hinterher nachmachen zu können.“
„Und hast Du niemals den Wunsch gehabt, in irgend einem Fache etwas ordentliches zu lernen…“
Die Brust des Burschen weitete sich unter einem tiefen Athemzuge.
„Oh gnädige Frau Wohlthäterin, wie gerne! Aber wie sollte ich dazu kommen. Mein Vater war ein armer Tagelöhner und was sollte ich anderes werden, als er war? Er wollte mich zwar zu dem Tischler in die Lehre geben, aber dann kam das Unglück, daß sie ihn todt heimbrachten aus dem Walde, und da war es vorbei, denn einer mußte doch für die Mutter arbeiten. Und später, als ich beim Militär war, und sah in der Stadt in den Fenstern der Kaufläden all' die schönen Sachen und es in den Fingerspitzen fühlte: das kannst du auch, wenn du nur einmal siehst, wie es gemacht wird, da habe ich manchmal gedacht, ich wollte nach meiner Dienstzeit dort bleiben und irgendwo noch in die Lehre gehen... Aber dann fiel mir die Mutter ein, wie sie sich daheim mühselig, Tag aus, Tag ein, von einem Haus ins andere schleppte, als Ortsarme, um des bischen Essens und Schlafens willen, und ich hatte mich auch der Maria schon versprochen damals...
Ueber das Gesicht der Baronin, die bis dahin mit steigenden, Interesse zugehört hatte, flog ein Schatten. Doch sie bezwang sich und fragte weiter:
„Und da kehrtest Du heim, so wie Du gekommen warst, nicht wahr?“
„So ist es, gnädige Frau Wohlthäterin“, erwiderte Jan mit gesenktem Haupte.
Es trat eine Pause ein, die Baronin schien abwägend nach einem passenden Worte zu suchen.
„Und wenn nun Jemand vor Dich hinträte und Dir sagte: Komm her, ich will Dich herausnehmen aus diesem Tagelöhnerleben, und Du sollst etwas Ordentliches werden….“
In den Augen des Burschen blitzte es auf, seine Hand schloß sich fester um den Stil des Beiles, mit dem er gearbeitet, doch im nächsten Augenblicke zog es über sein Gesicht, wie zielbewußte Entsagung:
„Es ist zu spät, gnädige Frau Wohlthäterin. Und dann, wer sollte sich auch um mich kümmern?“
„Wer weiß, vielleicht giebt es doch Jemand, der das thäte“, erwiderte die Baronin mit huldvollem Lächeln, und wandte sich zum Gehen.
Jan aber riß die Augen auf und starrte ihr nach, bis sie in der Thür des Herrenhauses verschwunden war. Tausend erregende und wirbelnde Gedanken zogen ihm durch den Kopf und er wußte nicht, ob er sich der plötzlichen Wendung, die augenscheinlich sein Schicksal genommen hatte, freuen sollte oder nicht.
***
In dem schönen Kopfe der Baronin aber begann sich aus allerhand krausen Gedanken und Empfindungen heraus ein seltsamer Plan anzuspinnen.
Warum sollte sie nicht einmal an einem Menschenkinde, das das Schicksal auf einen unrechten Platz gestellt, die Rolle der Vorsehung spielen?
Eine Zeit lang schritt sie überlegend in ihrem Zimmer auf und nieder, dann schellte sie und befahl:
„Die Maria soll zu mir kommen!“
„Welche Maria belieben die gnädige Frau Baronin?“ fragte die Verwaltersfrau mit einem dienstwilligen Knixe, „die aus der Küche oder die bei den Kälbern oder...“
„Die Braut des Jan Bielinski will ich sprechen“, erwiderte die Baronin in einem Tone, dessen Schärfe durch nichts gerechtfertigt war, als durch ihr Bestreben, möglichst unbefangen zu erscheinen.
Es verging eine ganze Weile, bis die Gerufene über die Schwelle trat. Sie hatte ihr Sonntagsgewand angelegt und war eine schlank gewachsene Dirne, braun an Armen und im Gesicht, das schweres, dunkelbraunes Haargeflecht umrahmte. Scheu und mit niedergeschlagenen Augen trat sie näher und haschte nach der Hand der Herrin, um sie an die Lippen zu führen. Dann knixte sie zierlich und blieb stehen, der Anrede gewärtig.
Mit einem seltsamen Gefühl von widerwilligem Wohlgefallen ließ die Baronin ihr Auge auf dem Mädchen ruhen.
„Du bist die Braut des Jan Bielinski?“
„So ist es, gnädigste Frau Wohlthäterin.“
„Ihr wollt Euch heirathen?“
„Der Jan hat es mir versprochen.“
„Du hast ihn wohl sehr lieb?“
Das junge Mädchen schwieg, aber die purpurne Gluth, die an ihren sonnengebräunten Wangen emporstieg, sprach beredter, als ein Schwall von Worten.
„Und wenn nun der Jan von Dir ginge und ließ Dich allein?“ fragte die Baronin weiter mit einem lauernd-forschenden Blick.
Das Mädchen schlug die Augen auf und starrte ihre Herrin erschreckt einen Augenblick an. Dann flog ein Aufleuchten über ihr frisches Gesicht:
„O, gnädigste Frau Wohlthäterin, das thut der Jan nicht.“
„Du hast mich nicht recht verstanden, Maria! Ich meine ja nicht, daß er Dich für immer verlassen sollte; ich nehme nur an, daß er draußen in der Fremde etwas Ordentliches lernen könnte... würdest Du ihn da ziehen lassen?“
Maria's Augen strahlten auf.
„O, gnädigste Frau Wohlthäterin, davon träumt er ja im Schlafen und im Wachen, und ich will ja gerne noch warten, drei Jahre, auch fünf Jahre, wenn es sein muß...“
„Es ist gut, Maria“, erwiderte die Baronin, indeß ein seltsames Lächeln um ihre Lippen zuckte; „ich sehe, daß Du ein braves und verständiges Mädchen bist. Du kannst jetzt gehen, und wenn Du den Jan siehst, dann sage ihm, daß ich in den nächsten Tagen mit ihm sprechen werde.“ —
Draußen auf dem weiten Hausflur trat Jan dem Mädchen entgegen; er hatte auf sie gewartet.
„Nun sprich, was wollte sie von Dir?“
,.O Janie, mein Herzgeliebter“, erwiderte die Maria und sank ihm schluchzend um den Hals, „ich werde Dich verlieren auf lange Zeit, denn die Herrin will etwas Großes aus Dir machen. Aber Du bleibst mir treu, wie damals, als Du zu den Soldaten mußtest, und kommst wieder heim?“
„Gewiß“, betheuerte der Bursche und blickte mit brennenden Augen nach der Thür, die zu den Gemächern der Herrin führte.
Es war am Abend desselben Tages. Die Baronin saß am offenen Fenster und stützte die Stirn in die weiße Hand. Von draußen zog der würzige Geruch frisch gemähten Heues herein, dumpf drang manchmal von den Ställen das Aufbrüllen eines Stückes Viehes oder das Wiehern eines Pferdes herüber, sonst Schweigen ringsum im Dunkel.
Da tönte es plötzlich von der Seite der Gesindestube her wie Fiedelklang, und bald darauf ein rythmisches Geräusch wie von tanzenden Paaren. Von einer plötzlichen Laune getrieben, nahm die Baronin ein Tuch um die Schultern und schritt hinaus über den Hof dorthin, wo der helle Schein aus den Fenstern der Gesindestube fiel. Drei, vier Paare drehten sich bei dem flackernden Lichte des über dem Heerde entzündeten Kienspahnes im Reigen, und der ihnen aufspielte, war Jan. An seinem Stuhle lehnte die Maria, von Zeit zu Zeit blickte er mit lachenden Augen zu ihr auf und ließ dann seinen Bogen noch flinker über die Saiten tanzen. Was er spielte war ein Tanz, den er einem Leierkasten abgehört haben mochte. Doch hielt er sich nicht an die Melodie, sondern verbrämte sie mit allerhand eigenen Zuthaten. Und glockenrein kämm die Töne hervorgequollen, ein Conservatoriumsschüler mit täglich zwanzig Uebungsstunden hätte nicht sauberer greifen können als dieser Bursche, der keine Noten gesehen und nie einen Lehrmeister gehabt hatte.
Jetzt trat einer der Knechte auf ihn zu, hielt ihm lachend das volle Branntweinglas entgegen und sagte:
„Da trink einmal, Bruderherz, und dann spiel uns einen zum Ausruhen für die Beine.“
Jan that Bescheid und setzte die Fiedel wieder ans Kinn. Wie tastend ließ er den Bogen zuerst über die Saiten gleiten, dann begann er ein bewegliches Vorspiel, um schließlich in die Weise des Liedes überzugehen, von dem Knechte, der die Gunst der schönen Herrentochter genoß, bis ihn der grimme Schlachziz blutig peitschen und vor dem Fenster der Geliebten an den Lindenbaum henken ließ. Die Stimmen der Burschen und Mädchen fielen ein und vereinigten sich mit den führenden Klängen der Geige zu einer wohllautenden Harmonie.
Die Baronin stand draußen im Dunkel und lauschte, die Augen fest auf den Geigenspieler geheftet. Als der letzte Ton des langen Liedes verklungen war, wandte sie sich zum Gehen und zog das Tuch um die in der Abendkühle fröstelnden Schultern fester. Der Plan, mit dem sie bisher eigentlich nur gespielt, war zu einem unumstößlichen Entschlüsse gereift. Es wäre ja eine Sünde gewesen, ein solches Talent in diesem weltabgeschiedenen Erdenfleck verkommen zu lassen, ihre leicht erregbare Phantasie spiegelte ihr im Fluge die glänzende Laufbahn vor, die sie ihrem Schützling bereiten wollte. Welch ein Triumph, wenn sie nach einer Zeit, die ernstem Studium und dem Abschleifen des äußeren Menschen gewidmet werden müßte, mit ihm hervortreten würde in den Kreisen ihrer Welt! Und gleichzeitig stieg in ihrem Herzen ein bitterer Neid auf und häßlicher Haß gegen das Mädchen, das heute an seinem Stuhle lehnen durfte und das er mit lachenden Augen angeblickt, aus denen die Liebe sprach...
***
Der Abschied war herzzerreißend gewesen. Die Maria hatte die ganze Nacht an seinem Halse gehangen. geweint und ihn fast gebissen vor bitterm Trennungsweh, und er hatte wohl hundert Mal geschworen, daß er wiederkehren würde oder sie holen nach der großen Stadt.
Jetzt saß er auf dem weichen Polster des Eisenbahnwagens in einem zwar nicht modischen, aber präsentablen schwarzen Anzuge, den der Schneider aus der Kreisstadt gefertigt, ihm gegenüber die Baronin.
Sie schwiegen beide; die Baronin, weil sie von den Plänen für die nächste Zukunft in Anspruch genommen war, Jan, weil ein unsagbar banges Gefühl ihm den Hals verschnürte; zudem hätte er sich für eine Welt nicht getraut, zu der Herrin zu sprechen, ohne gefragt zu sein.
Die vornehme Einrichtung des Wagens, die ungewohnte Kleidung mit der steifen Wäsche, alles beengte und bedrückte ihn, die im Fluge vorüberziehenden Bäume, die Telegraphenstangen zeigten ihm, wie weit ihn jede Secunde von der Liebsten führte, die er daheim verlassen. Allmälig bemächtigte sich seiner eine tiefe Traurigkeit, er fühlte, daß es ihm feucht in die Augen stieg und er mußte die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht laut aufzuschluchzen.
Da hielt der Zug, der Schaffner riß die Wagenthür auf: „Jucha, vier Minuten!“
Wie ein Blitz zuckte es Jan durch Kopf und Glieder. Noch war es Zeit. Und mit einem Ruck stand er auf den Beinen, ergriff die Hand der Baronin und führte sie an die Lippen.
„Gnädigste Frau Wohlthäterin, ich kann nicht!“ Und er schritt gesenkten Hauptes aus dem Wagen die Stufen herab und, ohne auch nur einmal umzuschauen, an dem Bahnhofsgebäude vorüber, die breite Straße entlang, die nach der Heimath führte.
Ob der Herr nicht wiederkommen würde, hatte der Schaffner die Dame gefragt, die mit weit geöffneten Augen und regungslos in der Ecke faß. Dann war die Wagenthür schmetternd ins Schloß geflogen, der Zug setzte sich langsam in Bewegung, und die schöne Dame preßte ihr Taschentuch fest zwischen die weißen Zähne, um nicht laut aufzuweinen vor Zorn und Scham und Herzeleid.
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Gebr. Adolph und Co., Dresden-Löblau
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