Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn
Ring der
dreißig Welten
Band 6
der Reihe
„Raumschiff der Kinder“
überarbeitete Ausgabe
aus dem Sammelband
„Weltraumvagabunden“
© Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1986. Sämtliche
Rechte, auch die der Verfilmung, des Vortrags, der Rundfunk und
Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten
sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.
ISBN 3770906217
Ursprüngliche Einzelausgabe erschienen 1979, ISBN 3770904370
Bevölkerungsexplosion
Es war warm, und der laue Wind hatte fast überhaupt keine kühlende
Wirkung. Harpo wischte sich seufzend die Schweißtropfen von der Stirn. Die
Temperatur auf Deck 17 lag bei fünfunddreißig Grad Celsius – und das war
mehr, als man bei einem anstrengenden Marsch als angenehm empfand.
Aber Harpo und seine beiden Begleiter hatten keine Wahl. Sie waren nicht
zum Vergnügen aus der Zentrale des riesigen Sternenschiffes mit dem selt
samen Namen EUKALYPTUS heruntergekommen. Im Gegenteil. Der Anfüh
rer der kleinen Expedition, die sich seit einer halben Stunde durch ein buntes
Gewirr von Sträuchern und Büschen, Bäumen und Riesenblumen schlug, war
Karlie Müllerchen. Ihm schien der Marsch noch am wenigsten auszumachen
– was natürlich daran lag, daß er die längsten Beine hatte und viel gemächli
cher gehen konnte als die anderen: Karlie war nämlich volle zwei Meter
zwanzig groß, was auch für einen Erwachsenen eine außergewöhnliche Grö
ße gewesen wäre. Aber Karlie hatte nicht mehr als sechzehn Jahre auf dem
Buckel. Und noch gab es kein Anzeichen dafür, daß er zu wachsen aufhörte.
Grinsend sah er auf die anderen hinab. Seine hellblauen Augen blitzten
schalkhaft, während er mit der rechten Hand in einer charakteristischen Ge
bärde seinen schütteren Bart kraulte.
„Nun stellt euch mal nicht so an“, sagte er mit heller Stimme von oben her
ab. „Gleich haben wir es geschafft.“
Micel Fopp, der Dritte im Bunde, war fünfzehn Jahre alt. Ihm machte der
holprige Weg durch die Büsche, deren Zweige mit boshafter Regelmäßigkeit
zurückfederten und dann in die Gesichter der Eindringlinge peitschen woll
ten, am meisten zu schaffen. Denn im Gegensatz zu Harpo Trumpff und Kar
lie besaß Micel Fopp nicht die Möglichkeit, die Zweige mit erhobenen
Händen abzufangen. Seine Arme waren nämlich so kurz, daß man eigentlich
gar nicht von Armen reden konnte.
Er war mit diesen kurzen Ärmchen geboren, weil seiner Mutter während
der Schwangerschaft falsche Medikamente verschrieben wurden. Seine
Hände waren klein wie die eines Fünfjährigen und fast direkt an den
Schultern angewachsen. Micel hatte sich daran gewöhnt, diese Hände trotz
dem zu benutzen, aber er mußte seinen Körper dabei ziemlich winden. Bei
vielen alltäglichen Verrichtungen war er auf die Hilfe seiner Kameraden oder
jener kleinen Roboter angewiesen, die wegen ihrer früheren Hülle aus grü
nem Plüsch noch immer die „Grünen“ genannt wurden. Er war nicht der
einzige an Bord, der wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Hilfe benö
tigte. Schließlich war die EUKALYPTUS früher eine Art Hospitalschiff ge
wesen.
Aber das mußte ihm kein Kopfzerbrechen bereiten. Nicht nur, daß die
anderen Micel als Kameraden gern hatten – was schon genug gewesen wäre –
er gab ihnen noch mehr. Micel war nämlich ein Telepath, er konnte die Ge
danken anderer Wesen lesen. Manchmal wenigstens, denn seine Gabe steck
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te noch in den Kinderschuhen und reichte meistens nur dazu aus, in den
Köpfen jener zu lesen, die er gut kannte. Das war ein Talent, das außer ihm
nur noch der geheimnisvolle Akkai Bharos hatte und sonst niemand an Bord.
Mehr als einmal hatte Micel der EUKALYPTUS und ihrer Besatzung mit sei
nem ungewöhnlichen Können in kritischen Situationen geholfen.
Als die drei Jungen oben auf der baumbestandenen Anhöhe angelangt
waren, rief Karlie plötzlich: „Da unten! Seht mal!“ Harpo hatte eigentlich
vorgehabt, sich erst einmal gründlich auszukeuchen – schon, um den
anderen anschaulich klarzumachen, wie sehr ihn der Marsch anstrengte –
aber der Anblick, der sich ihm bot, ließ alles andere vergessen. Vielmehr
rutschte ihm vor Schreck die Luft in die falsche Kehle. Er verschluckte sich,
hustete und kämpfte mit einem Schluckauf. „Hick...“ machte er nach einer
Weile und sah dabei immer noch mit weit aufgerissenen Augen hinab in das
kleine Tal, das sich zwischen zwei Hügeln bis an die Schiffswandung hinzog.
Die nackte Wand erinnerte daran, daß sie sich keineswegs im Freien, sondern
im Innern des Riesenraumschiffes EUKALYPTUS befanden.
Wenn es hier richtige Tiere und Pflanzen gab, so war das keineswegs selbst
verständlich. Früher, als die EUKALYPTUS noch die Erde umkreiste, gab es
zwar auch so etwas wie ein Tier und Pflanzenleben – jedenfalls sah es so aus.
In Wahrheit handelte es sich jedoch um künstliche Nachbildungen, um Plas
tikpflanzen und Robotertierchen, denn echte Tiere und Pflanzen gab es auf
der durch riesige Umweltschäden inzwischen öden Erde fast nur noch in
zoologischen und botanischen Gärten. Was heute an Bord des Raumschiffes
blühte, krabbelte oder vor sich hin hopste, stammte von anderen Welten oder
von einem Raumschiffwrack, dem die EUKALYPTUSBesatzung einen Besuch
abgestattet hatte.
„Das darf doch – hick! – nicht wahr sein!“ sagte Harpo.
„Ich werd’ verrückt!“ stöhnte Micel.
Das kleine Tal war mit mindestens dreitausend, vielleicht auch fünf
tausend, zehntausend – zählen konnte man in dem Gewimmel wirklich nicht
– winzigen blauen Drachen bevölkert, die überall herumsprangen, überein
anderkrochen, durch Felsspalten flutschten, auf Steinen saßen und zu der
grellen Miniatursonne an der Decke hinaufblinzelten oder ganz einfach trüb
sinnig durch die Gegend tapsten. Alle zischten vor sich hin, wie das so ihre
Art war, und insgesamt hörte sich das wie ein Bienenschwarm an, der einen
Imker daran hindern wollte, den Honig zu holen. Die fast durchsichtigen
kleinen Schwingen der salamanderähnlichen Wesen flatterten nervös. Der
Boden in der Umgebung war nahezu kahl. Was grünte und blühte, war radi
kal abgefressen worden, und über die letzten Reste machte sich die zischende
Armada gerade her. Eine Vorhut hüpfte bereits nagend den Nachbarhügel
hinauf.
„Aber ... aber wir haben doch höchstens einhundertfünfzig von ihnen an
Bord genommen“, protestierte Harpo. „Wie können sie sich nur so schnell
vermehrt haben?“
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„Da solltest du erst mal auf Deck 15 die Eichkatzen sehen“, erwiderte Kar
lie. „Und die Schlangen! Dann würdest du dich über gar nichts mehr
wundern.“
„Und die Kröten?“ fragte Micel. „Was ist mit den Kröten?“
„Die haben sich kaum vermehrt; es sind eher weniger geworden. Das liegt
aber daran, daß die Zahl der Schlangen zugenommen hat. Je mehr es von
denen gibt, desto mehr Kröten fallen ihnen zum Opfer. Du weißt ja, daß sich
Schlangen von Kröten ernähren.“
„Hmmm“, machte Harpo. „Natürlich hätten wir auf der EUKALYPTUS
eigentlich Platz genug, um einige Hunderttausend von den kleinen Viechern
unterzubringen. Und wenn die natürliche Nahrung ausgeht, können wir mü
helos künstliche produzieren. Aber ich weiß nicht recht ... Irgendwie ist das
eine Spirale ohne Ende.“
„Tja“, meinte Karlie und strich wieder seinen Bart. „Daran haben wir nicht
gedacht, als wir die Tiere aus dem Raumschiffwrack herüberholten. Dort war
der Lebensraum begrenzt – hier jedoch haben sie alles, was sie brauchen.
Einige der Arten jedenfalls. Es gibt ausreichend Wasser, Nahrung, Licht und
Wärme. Sie sind hier abgeschirmt wie in Abrahams Schoß ...“
„Was für ‘n Ding?“ fragte Micel. Ein kurzer geistiger Vorstoß in Karlies Be
wußtsein sagte ihm, wer dieser Abraham gewesen war. „Aha“, grunzte er zu
frieden. „Erzähl nur weiter, laß dich nicht aufhalten.“
„... und weil es Mutter Natur so eingerichtet hat, daß viele Jungtiere gebo
ren werden, damit unter den normalen, sehr harten Bedingungen wenigstens
einige überleben, steigt die Zahl der Tiere bei uns mit rasender Geschwindig
keit.“
„Aber die sollten doch mal vernünftig sein und nachdenken!“ platzte Micel
heraus.
„Na, na“, sagte Karlie gönnerhaft. „Das können Tiere eben nicht – vernünf
tig sein und nachdenken. Sonst wären es ja keine Tiere.“
Micel bekam ganz rote Ohren. „Na gut“, sagte er. „Dann müssen wir eben
das Denken für sie übernehmen. Wie wär’s mit Pillen oder so was, also Mit
teln, die verhindern, daß sie so viele Junge bekommen?“
„Frühreifer Bengel!“ Karlie feixte. „Du hast wohl was aufgeschnappt, wie?
Aber im Ernst: Wie willst du das denn machen? Jedem dieser kleinen Drachen
eine Pille in den Rachen stopfen? Prost Mahlzeit! Viel Vergnügen! Das kann
Jahre dauern, bis du durch bist.“
Micel schwieg.
„Und trotzdem müssen wir was unternehmen“, pflichtete Harpo Micel bei.
„Aber was, frage ich mich. – He, ich habe eine Idee! Wir setzen unseren Zoo
auf einem Planeten aus!“
Karlie sah ihn erschreckt an. „Was denn? Tatsächlich?“ In seiner Stimme
klang Besorgnis mit. „Glaubst du denn, daß es unsere kleinen Freunde schaf
fen, sich auf einem fremden Planeten zurechtzufinden? Immerhin leben sie
seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden, in einem abge
schlossenen Raum. Die Gefahren, die eine völlig neue Umwelt für sie bietet ...
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Ich meine, wir sind doch für sie verantwortlich, wo wir uns einmal mit ihnen
eingelassen haben. Man kann Tiere nicht einfach so an die Luft setzen, nur
weil sie lästig werden!“
Er warf einem der tauchenden kleinen Drachen einen mitleidigen Blick zu.
Man sah ihm an, daß er es kaum übers Herz bringen würde, sich von den
harmlosen kleinen Kerlchen zu trennen. Karlie hatte ein weiches Herz für
alles, was kreuchte und fleuchte. Wie eigentlich alle an Bord, denn auf der
verseuchten Erde hatten sie gelernt, wie kostbar das Leben auch in seiner
winzigsten Form war. Und der lange Karlie fühlte sich besonders zu den ganz
kleinen Wesen hingezogen – vielleicht, weil er so groß war. Oft hatte er sich
hier unten verkrochen und still die Tiere beobachtet. Er versuchte sogar, den
kleinen Drachen das Fliegen beizubringen – was natürlich sinnlos war, denn
die zarten, seidigen Flügel konnten die verhältnismäßig schweren Körper
nicht tragen.
„Aber Karlie!“ rief Harpo. „Du weißt doch, daß wir genauso denken. Wir
setzen die Tiere natürlich nur aus, wenn wir ganz sicher sind, daß sie es auf
dem Planeten gut haben werden. Sie sollen es sogar besser haben als hier und
nicht so zusammengepfercht leben müssen. Na ja, und dann sollten wir na
türlich auch an uns denken. Stell dir mal vor, die nagen vor lauter Hunger an
Plastikteilchen und Kabeln herum ...“ Und um Karlie zu trösten, fügte er
schließlich hinzu:
„Ein paar von den kleinen Viechern können wir ja auch an Bord behalten.
Die beobachten wir dann und sorgen dafür, daß sie sich nicht wieder so
schnell vermehren.“
Micel stimmte ihm zu, und Karlie nickte schließlich ebenfalls. So gut ging
es den Tieren auch wieder nicht auf der EUKALYPTUS. Die Schlangen
würden die Kröten ausrotten, falls man nicht bald etwas dagegen unternahm.
Und dann würden die Schlangen selbst sterben müssen, weil sie keine Nah
rung mehr fanden – und wer wußte schon, ob sie Ersatznahrung annahmen.
Vielleicht würden sie auch vor lauter Hunger die Eichkätzchen angreifen.
Nein, es war wirklich am besten, wenn sie einen Planeten für sich hatten.
„Schwatzmaul soll uns sagen, wie weit es bis zum nächsten Planeten mit
voraussichtlich guten Lebensbedingungen ist“, schlug Micel vor. „Dann se
hen wir weiter.“
Mit Schwatzmaul war niemand anderer als der manchmal recht vorlaute
Bordcomputer gemeint. Seine Kameras und Mikrophone überwachten bein
ahe jeden Winkel eines jeden Decks. Daß er Micel nicht sofort antwortete, lag
wahrscheinlich daran, daß selbst die scharfen Ohren eines Computers etwas
überhören konnten, wenn einige tausend Drachen summten und fauchten.
Harpo, Micel und Karlie strebten der nächstliegenden Schiffswand zu und
verschwanden hinter der Tür eines Notausstiegs. Von dort aus führte ein
niedriger Gang zum Antigravlift. Wenige Minuten später schwebten sie in der
dunklen Röhre, die alle Decks miteinander verband, zur Zentrale des Schiffes
im obersten Deck. Die Körper wurden von Energiefeldern gehalten und an
das vorprogrammierte Ziel geschleust.
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Für einen flüchtigen Moment mußte Harpo an ihre ersten mißtrauischen
Versuche mit dem Lift denken. Damals, als sie, auf sich allein gestellt, lernen
mußten, die Einrichtungen des Raumschiffs in den Griff zu bekommen. Die
Erwachsenen hatten das Schiff verlassen, als sich eine Katastrophe anbahnte.
Und seither gehörte es den Kindern. Wie alles andere war auch der Antigrav
lift inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Man program
mierte sein Ziel und sprang in den Lift, ohne sich mehr dabei zu denken als
beim Öffnen einer Tür und dem Betreten eines Raumes. Die Zentrale lag vor
ihnen. Wie immer herrschte ein angenehmes Halbdunkel in dem riesigen
Raum unter der gläsernen Kuppel. Das weiße, gelbe und manchmal auch rote
Licht der Sterne fiel auf die Instrumentenpulte und die weichen, breiten Ses
sel, in denen mehrere Besatzungsmitglieder der EUKALYPTUS saßen. Die
meisten Regel und Steuervorgänge erledigte der Computer in eigener
Verantwortung. Wenn überhaupt mal ein menschlicher Eingriff erforderlich
war, dann konnte der bequem aus den Sesseln heraus vorgenommen werden.
Alle erforderlichen Bedienungsapparaturen waren in den Armlehnen un
tergebracht.
Man konnte nicht nur durch die Kuppel direkt in das All hinausblicken,
sondern hatte auch noch zahlreiche plastische Bildschirme zur Verfügung,
auf denen Schwatzmaul wahlweise andere Blickwinkel oder vom Bordobser
vatorium eingespeiste Vergrößerungen bestimmter Raumausschnitte proji
zierte. Im Moment sah man auf dem Hauptschirm die Außenhülle des
mächtigen Schiffes, das von der Erde stammte, aber durch ein noch immer
weitgehend ungeklärtes Ereignis in einen fernen Raumsektor verschlagen
worden war.
Zwei kleine Gestalten wanderten in der einsamen kosmischen Nacht über
die Metallhülle der EUKALYPTUS. Sie trugen Raumanzüge mit magnetischen
Schuhen und machten deshalb sehr eigenartige, schwerfällige Bewegungen.
Zwar gab es im Weltall keinen Fahrtwind wie auf einem Planeten, der sie vom
dahinjagenden Raumschiff fortreißen konnte, aber die Magnetschuhe
verhinderten, daß sie durch eine unbedachte Bewegung in das All hinaus
schwebten. Eine der Außenkameras verstellte auf einen Knopfdruck hin das
ZoomObjekt. Das Fernsehbild zeigte nun die Gesichter der Gestalten. Unter
einem der Plexiglashelme erkannte Harpo das lange schwarze Haar und das
Gesicht seiner Schwester Anca. Das andere Gesicht erinnerte stark an einen
kleinen Grizzlybären mit rotem Fell. Die Nase sah wie eine dunkelblaue
Pflaume aus, und das kräftige weiße Gebiß, das gerade sichtbar wurde, konn
te einen unwissenden Beobachter leicht das Fürchten lehren. Alexander. Er
war viel gutmütiger, als sein Gebiß ahnen ließ, und stammte vom Planeten
Nordpol. Und wenn er auch wie ein Bär aussah, so war er doch keineswegs
ein Tier, sondern so intelligent wie alle anderen Besatzungsmitglieder.
Von allen Rotpelzen – wie sich Alexanders Rasse nannte – hatte er die wei
teste Reise unternommen, eine Fahrt in den Weltraum. Und darauf war er
auch gehörig stolz. Denn seine Leute, die auf Nordpol vom Fischfang lebten,
liebten das Reisen und sahen es gern, wenn die Jungen auszogen, um
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Abenteuer zu erleben. Manche von Alexanders Verwandten hatten nach jah
relanger Wanderschaft den ganzen Planeten umrundet. Aber Alexander
schlug sie alle. Seine Freundschaft zu den Kindern der EUKALYPTUS ließ ihn
die Wunder anderer Planeten erleben.
„Sieht’s schlimm aus, Leute?“ fragte jemand. Er saß als einziger nicht in
einem gewöhnlichen Sessel, sondern in einem Rollstuhl. Es war Thunderclap
Genius. Er trug einen halbkugelförmigen Helm, um Funkverbindung zu Anca
und Alexander zu halten, ohne den Hauptkanal benutzen zu müssen. Seine
Frage hatte jedoch den Eintretenden gegolten.
„Viel schlimmer.“ Harpo seufzte. Er ließ sich in einen freien Sessel fallen
und schlug die Beine übereinander. „Wenn wir nicht bald etwas unter
nehmen, Thunderclap, dann fressen uns die Drachen die Haare vom Kopf.“
„Aussetzen wäre wirklich die beste Lösung“, ließ sich eine andere Stimme
aus dem Halbdunkel vernehmen. Harpo sah auf. Auf dem Sitz des Navigators,
den normalerweise Karlie für sich gepachtet hatte, saß Bharos. Obwohl er
nicht nur ein Erwachsener, sondern – durch seine Langlebigkeit bedingt – ein
uralter Erwachsener war, war er kleiner als die Kinder und sah zierlich, beina
he elfenhaft aus. Er las in ihren Gedanken wie in einem offenen Buch und
wußte deshalb sofort Bescheid.
Thunderclap machte: „Hmmm, hmmm...“ und rief dann Anca und Alex
ander von ihrem Spaziergang zurück.
Ein Problem mußte gelöst werden. Und da die EUKALYPTUS keinen Kapi
tän hatte, der allen anderen seine Befehle gab, wurde der Rat einberufen. Ihm
gehörten alle Besatzungsmitglieder an. Aber dieses Mal würde es wohl keine
langen Diskussionen geben, denn die Tatsachen sprachen für sich.
Die Tiere mußten ausgesetzt werden. Und zwar auf dem nächsten geeigne
ten Planeten.
Station der Geheimnisse
Der Planet unter ihnen war eine kleine, grünblaue Welt mit viel Wasser und
drei größeren Kontinenten. Die Mannschaft der EUKALYPTUS fühlte sich so
gleich an die Erde erinnert – an eine Erde, wie sie vor vielen hundert Jahren
existiert hatte. Es gab wildwuchernde Wälder und andere unberührte Ge
biete, glitzernde Flüsse, die aus der Höhe wie silberne Fäden aussahen, und
Tiere, deren huschende Gestalten Schwatzmauls scharfe Augen erspähten.
Nach einigen Umkreisungen im Orbit des Planeten lagen ausreichende Da
ten vor. Intelligentes Leben schien es nicht zu geben – zumindest nicht auf
der Oberfläche dieser Welt. Und dafür, daß sich solche Wesen im Erdreich
verkrochen, zeigte sich kein Anhaltspunkt. Alles in allem machte diese kleine
Welt – die nur etwa halb so groß wie die Erde war – einen idyllischen, fast pa
radiesischen Eindruck. Das Klima war mild, die Umwelt schien friedvoll und
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harmonisch zu sein, die Atmosphäre entsprach den Verhältnissen auf der
Erde und damit den Bedürfnissen von Sauerstoffatmern – und das waren
nicht nur die Kinder der EUKALYPTUS, sondern auch ihre tierischen Passa
giere vom Raumschiffwrack.
Schwatzmaul sammelte unentwegt Daten und erarbeitete eine Hochrech
nung. So einfach war es schließlich nicht, die Passagiere auszusetzen: Ihnen
sollte nichts Böses geschehen, aber auch die eingespielte Natur des Planeten
durfte nicht durcheinandergebracht werden.
Die Speicher des Computers wußten über die irdische Geschichte in allen
Einzelheiten Bescheid. Deshalb kannte Schwatzmaul die Fehler, die die Men
schen gemacht hatten. In Australien, einem Erdteil, der vor dem Siegeszug
des Menschen von den anderen Kontinenten abgekapselt war und eine
eigene Tier und Pflanzenwelt entwickelt und bewahrt hatte, war durch ein
paar ausgesetzte Wildkaninchen unermeßlicher Schaden entstanden. Und es
gab Hunderte von Beispielen ähnlicher Art.
Aber schließlich konnte Schwatzmaul mit an Sicherheit grenzender Wahr
scheinlichkeit verkünden, daß sich Kröten, Schlangen, Eichkätzchen und
Drachen so gut mit der einheimischen Tier und Pflanzenwelt vertragen
würden, daß keine Schwierigkeiten zu befürchten waren.
Schwatzmaul schickte einige Sonden hinunter und sammelte Proben, aber
die meisten Daten speicherte er mit seinen tausend Augen, tausend Ohren
und hunderttausend Sensoren, die Eindrücke erfaßten, die der Mensch vom
Orbit aus nicht wahrnehmen konnte.
Nachdem die EUKALYPTUS den Planeten achtmal umkreist hatte, schleus
te man eines der Gleitboote aus, um sich die Gegend mal aus der Nähe anzu
sehen. Schwatzmaul hatte so nebenher natürlich auch alle Luftaufnahmen
ausgewertet und Landkarten ausgedruckt. Thunderclap und Anca leisteten
dabei eifrig Unterstützung und gaben den Flüssen, Kontinenten und Gebirgs
formationen Namen. Blaufluß, Schubladenberge – sie sahen wirklich so aus–‚
Krummrücken und Zickzackdelta waren nur einige ihrer Wortschöpfungen.
Nur einen Namen für den Planeten selbst hatten sie sich noch nicht ausge
dacht. Das lag wohl daran, daß sie sich zu sehr an die Erde erinnert fühlten.
Karlie meinte, man solle den Planeten doch kurzerhand „Erde II“ nennen,
aber dieser Vorschlag wollte keinem so recht gefallen. Schließlich sagte Brim
Boriam, der für die ärztliche Betreuung an Bord zuständig war: „Nennen wir
ihn doch Dragon. Das ist ein anderes Wort für ,Drache‘ und kommt der Sache
ziemlich nahe. Schließlich soll diese Welt unseren kleinen Drachen eine neue
Heimat bieten.“
Alle waren begeistert, und es blieb bei diesem Namen.
Als die Besatzung des Gleitbootes ausgelost wurde, gab es einige lange
Gesichter und vier strahlende Glückspilze. Genauer gesagt strahlten nur drei
vor Freude, nämlich Harpo, Anca und Ollie. Lonzo, der vierte im Bunde,
konnte mit seinem Robotergesicht keine Gefühle ausdrücken. Statt dessen
schlug er mit all seinen Tentakeln ein Rad, um seine Begeisterung zu zeigen.
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Dann war es soweit. Das Gleitboot fiel aus der Schleuse in die Schwärze des
Alls und senkte sich dem Planeten entgegen. Schon erreichte es die obersten
Schichten der Atmosphäre und stieß durch sie hindurch. In diesem Moment
summten die Lautsprecher der VideoKommunikationsanlage. Die Bild
schirme flackerten, dann sah man die erregten Gesichter von Karlie und
Thunderclap in der Zentrale der EUKALYPTUS. Stimmen im Hintergrund be
wiesen, daß die anderen Freunde ebenfalls in der Nähe waren, von der
Fernsehkamera aber nicht erfaßt wurden. Ein grünes Licht auf dem Kontroll
pult des Bootes zeigte an, daß die Bildfunkanlage sendebereit war.
Zunächst jedoch meldete sich Schwatzmaul mit einem Räuspern:
„Ähem...“ Die Computerstimme wollte daran erinnern, daß sie auch noch da
war. Tatsächlich kontrollierte das Bordgehirn der EUKALYPTUS alle
Funktionen des Gleitbootes, das – bildlich gesprochen – mit dem großen
Raumschiff durch eine Art Nabelschnur verbunden war. Allerdings bestand
die „Nabelschnur“ aus einem Energiestrahl, der auch dann nicht abriß, wenn
das Boot einige tausend Kilometer entfernt war. Dieses Energiebündel ver
sorgte den Antrieb des Bootes und ermöglichte auf einer Spezialfrequenz die
Bildverständigung.
„Meine lieben Freunde!“ begann Schwatzmaul in der ihm eigenen
salbungsvollen Art. Er machte eine Pause und fuhr dann fort: „Ich möchte
nicht versäumen, euch darauf hinzuweisen, daß meine überaus perfekt
funktionierenden Schaltkreise in Verbindung mit der hyperpräzisen Aus
wertungsabteilung meines ...“
„Oh, nein!“ riefen Harpo und Anca wie aus einem Munde. „Sag jetzt bloß
nicht, daß du dich geirrt hast und sich diese Welt nun doch nicht eignet!“
„Das“, sagte Schwatzmaul galant, „habt ihr gesagt, nicht ich. Aber um zum
Kernpunkt meines kleinen Problems zu kommen: Auch ein armer Computer
kann sich einmal irren, und wenn er noch so intelligent ist. Na ja, geirrt habe
ich mich eigentlich trotzdem nicht. Das wäre ja auch schlechthin unmöglich,
nicht wahr? Hmm – was wollte ich eigentlich damit sagen?“
Harpo, der sich vor Schreck hingesetzt hatte, warf Anca und Ollie einen
Blick zu und sagte dann: „Ja, das möchten wir auch gern wissen!“
Aus der Zentrale der EUKALYPTUS erklang die Stimme von Alexander:
„Probleme! Probleme! Diese Computer sehen überall Probleme! Wenn meine
Leute auf Nordpol auch so viele Probleme sehen würden, wäre es ihnen nie
mals im Leben möglich gewesen, auch nur einen einzigen Fisch zu fangen!“
„Nun“, sagte Schwatzmaul und hüstelte dezent, während auf einem der
Bildschirme Thunderclaps Gesicht auftauchte. Er hatte sich in die Sendung
eingeschaltet und schien Mühe zu haben, nicht aus der Haut zu fahren.
„Rundheraus gesagt“, meinte Schwatzmaul schließlich, „rundheraus gesagt –
es gibt Anzeichen dafür, daß der Planet mit dem hübschen Namen Dragon ...
Übrigens, Kompliment Herr Boriam, etwas Besseres hätte selbst mir nicht
einfallen können. Wie geht es eigentlich ...“
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„Zur Sache!“ donnerte Thunderclap dazwischen. Er war hochrot im Gesicht
und fuchtelte mit den Armen herum. „Diese geschwätzige Maschine bringt
mich noch um den Verstand!“
„Tja, es sieht so aus“, fuhr Schwatzmaul fort, „aber das sage ich nur euch
und nicht diesem tobenden Herrn Genius: Es sieht so aus, als sei Dragon be
wohnt!“
„Peng!“ sagte Harpo. Er schaute ziemlich einfältig.
In diesem Moment schaltete sich Anca in das Gespräch ein. „He, da scheint
was dran zu sein!“ sagte sie aufgeregt. „Wir sehen nämlich gerade ...“
„Gebäude!“ schrie Harpo.
„Zwei Türme!“ brüllte Karlie in der Zentrale. „Nein – drei!“ Der große Bild
schirm erlaubte es den Zurückgebliebenen, die Ereignisse fast so deutlich zu
verfolgen, wie es der Besatzung des Gleitbootes möglich war. Jetzt hatten es
alle gesehen. Unter dem Boot lag nicht unberührter Dschungel. Und es gab
nicht nur das silberne Band des Stroms, der den seltsamen Namen Garten
schlauch erhalten hatte. Eine nahezu quadratische Lichtung mit einer Seiten
länge von etwa fünfhundert Metern war zu erkennen.
„Was mag das für ein komisches Leuchten sein?“ wollte Alexander wissen,
der seine Pflaumennase am Bildschirm in der Zentrale schier plattdrücken
wollte, während seine Bärenpranken Furchen in das Spezialglas zu reißen
drohten. Er fletschte die Zähne und verfiel für einen Moment lang wieder in
seine Muttersprache, die inzwischen auch die meisten seiner Freunde gelernt
hatten: „Mächtiger Schneeiglu aus rotem Licht ... Halbkugel ...“
Tatsächlich! Das quadratische Gelände war nicht nur durchgehend bebaut,
sondern schien auch von einer komischen Lichthülle umgeben zu sein, die
bis dicht an den Wald heranreichte. Als habe jemand eine Käseglocke aus
Licht über die Gebäude gestülpt.
„Funkkontakt?“ fragte Harpo.
„Nichts“, kam es von Thunderclap zurück. „Unser Sender arbeitet auf
Hochtouren. Aber es ist nichts zu machen.“
Lonzo saß vor der Funkanlage und hielt ein Mikrophon im Tentakel – so
ein Mimer, er konnte doch auch ohne Mikrophon funken! Er trug die alte Ma
trosenmütze mit den beiden dunkelblauen Bändern und rief mit plärrender
Stimme:
„Ahoi! Ahoi! He, ihr da unten! Captain Kidd bittet um Landeerlaubnis im
Hafen von New Orleans! Wir haben ein Fäßchen Rum an Bord und möchten
euch zu einer Fete einladen! Ahoi! Ahoi! Meldet euch endlich, ihr Galgenvö
gel!“
„Lonzo!“ knirschte Thunderclap auf dem Bildschirm. „Aber doch nicht in
diesem Gossenjargon! Was sollen die Leute von uns denken!“
Der Roboter drehte sein kugelförmiges Köpfchen und schlug sich mit
einem anderen Tentakel auf die kleine Mikrophonöffnung, die bei ihm den
Mund darstellte. „Huch, ich habe mich wohl im Ton vergriffen“, jammerte er.
Dann setzte er neu an: „Hier spricht das S. S. EUKALYPTUS. Bitten, an Land
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kommen zu dürfen, Herr Hafenkommandant! Wir haben nichts zu verzollen –
ihr Galgenvögel!“
„Lonzo! Du sollst nicht ‚Galgenvögel‘ sagen!“
„Nicht? Das ist aber ein freundschaftlicher Ausdruck, den Captain Kidd
auch gern benutzte. Er sagte immer: ‚Lonzo, du Galgenvogel, wo bleibt der
Rum? Chissimatucki!‘“
Kopfschüttelnd meinte Bharos in der Zentrale der EUKALYPTUS: „Was
heißt denn S. S.?“ Er hatte zwar die irdische Sprache schon recht gut gelernt,
aber manche Redewendungen und Abkürzungen machten ihm noch Schwie
rigkeiten. Und bei Lonzo versagten seine telepathischen Fähigkeiten. Einem
Roboter kann auch ein Gedankenleser nicht in den Kopf schauen.
„Na, Sternenschiff, nehme ich an“, erwiderte Thunderclap. „Hier ist das
Gleitboot 1 von der EUKALYPTUS!“ schrie Lonzo in das Mikrophon. Dann
richtete er seine Sehlinsen auf die Kamera und meldete: „Kein Pieps. Entwe
der schlafen die Galgen... äh, Matrosen dort unten, oder sie haben das Weite
gesucht.“
„Das werden wir bald genauer wissen“, ließ sich nun auch die krähende
Stimme des kleinen Oliver vernehmen. Seltsam, daß der Kleine, der sonst nie
mit seinen Kommentaren hinter dem Berg halten konnte, so lange ge
schwiegen hatte. Vielleicht hatte ihm Anca den Mund zugehalten, denn man
chmal verwandelte der Wicht die gebotene Funkdisziplin – wenn alle
durcheinanderriefen, konnten lebenswichtige Botschaften überhört werden –
in ein mittleres Chaos. Möglich war aber auch, daß der Kleine, der nur von
einer Krankheit zu hören brauchte, um sich einzubilden, er sei davon
befallen, mit Angst einen Pickel an seiner Hand betrachtet und darüber alles
andere vergessen hatte.
„Landeanflug“, meldete nun Schwatzmaul. „Bitte hinsetzen und an
schnallen!“
Das mit dem Anschnallen war natürlich Unfug, da die Gleitboote mit dem
Antigravantrieb ausgerüstet waren und stets butterweich landeten. Auch
diesmal gab es kaum eine Erschütterung, als die Maschine etwa dreißig Me
ter vor der leuchtenden Fläche aufsetzte. Nur ein paar morsche Äste knack
ten.
Zischend öffneten sich die Schleusen. Noch bevor Harpo, der die Leitung
des Landeunternehmens übernommen hatte, überhaupt dazu kam, Ollie,
Anca und Lonzo zur Vorsicht zu ermahnen, sah er den kleinen Ollie schon
über den weichen Waldboden flitzen. Er raste direkt auf das flimmernde Feld
zu, das die stillen Gebäude umschloß.
„Ollie!“ schrie Harpo über die Außenlautsprecher des Gleiters. „Willst du
wohl hierbleiben!“
Der Kleine hörte nicht, obwohl ihm bei dem Geschrei die Trommelfelle
hätten dröhnen müssen. Erst kurz vor der wabernden Wand blieb er stehen
und äugte zurück.
„Immer hübsch beieinanderbleiben“, ordnete Harpo an. Sie stiegen aus der
Maschine: Anca und Lonzo, zuletzt Harpo. Plötzlich tauchte Bharos vor dem
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Gleitboot auf. Er hatte an Bord der EUKALYPTUS gespürt, daß etwas nicht in
Ordnung war. Mit einem gedankenschnellen Teleportationssprung war er
den Freunden auf den Planeten nachgeeilt. Bharos war nahe daran, mit
einem weiteren Sprung die Entfernung zu überwinden, um Ollie zurückzu
halten, aber dann las er in den Gedanken des Benjamins der Expedition, daß
dieser die seltsame Wand gar nicht berühren wollte. Ihm hatte nur daran ge
legen, als erster an Ort und Stelle zu sein. Die Wand war gar keine Wand –
wenigstens nicht das, was man normalerweise darunter versteht. Man konnte
hindurchsehen, aber sie bestand nicht aus Glas oder Kunststoff. Dennoch
war es nicht nötig, lange herumzurätseln. Das Flirren und ein fast unhörbares
Knistern wiesen darauf hin, daß es sich bei dem Gebilde nur um einen
Energieschirm handeln konnte. Irgendwo in einem der dahinterliegenden
Gebäude mußte sich ein Generator oder eine andere Energiequelle befinden,
die diesen Schirm erzeugte. Fragte sich nur, welchen Zweck der Energievor
hang erfüllen sollte und aus welcher Art von Energie er bestand.
„Bitte mal die Kuppel anmessen“, sagte Harpo in das Mikrophon seines
Funkhelms. „Wir haben es mit einem Energieschirm zu tun und möchten
gern wissen, ob es gefährlich ist, ihn zu berühren.“
In Harpos Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wenn es dort unter der
Kuppel etwas gab, das gegen Eindringlinge geschützt werden sollte, dann
konnte der Schirm durchaus unter einer lebensgefährlichen Spannung
stehen. Andererseits gab es auch magnetische Prallfelder, deren Berührung
ungefährlich war, die man aber trotzdem nicht ohne weiteres überwinden
konnte. Beruhigend war schon mal, daß nirgendwo verkohlte Pflanzen zu se
hen waren, auch dort nicht, wo der Schirm das Gras am Boden berührte.
„Die Spannung schwankt um Werte von zwei Volt“, meldete sich Thunder
clap. „Ihr könnt in dieser Beziehung beruhigt sein. Ich würde aber trotzdem
sehr vorsichtig sein. Schwatzmaul ist es noch nicht gelungen, alle Eigen
schaften dieser unbekannten Energieform zu analysieren!“
„Und was machen wir nun?“ fragte Anca.
Ollie schien seine erste Neugier befriedigt zu haben. Hinzu kam wohl, daß
die Gebäude hinter dem Schirm kantig und sehr nüchtern aussahen, so gar
nicht dazu geeignet, die Phantasie anzuregen. Und wenn jemand unter der
Kuppel lebte, dann ließ er sich zumindest nicht sehen. „Müssen wir über
haupt da hindurch?“ fragte er deshalb. „Es zwingt uns doch niemand, oder?“
Harpo biß sich nervös auf die Unterlippe. „Es ist Neugier, Mann, Neugier!
Möchtest du denn nicht wissen, was dahinter auf uns wartet?“
„Nöö“, sagte Ollie. „Man sieht doch alles. Vier Gebäude, vom Zahn der Zeit
schon ganz schön zernagt. Klötze mit Türmen drauf. Runde Fenster ohne
Glas. Metalldächer, Steinwände, meinetwegen auch Betonwände. Was soll
daran interessant sein?“
„Ächz!“ schnaubte Harpo. „Was sagt man dazu – die neugierigste Seele
diesseits und jenseits der Galaxis will uns einreden, wir sollen lieber auf die
EUKALYPTUS zurückkehren, weil es hier doch nichts zu entdecken gibt!
Mann, ich werde blaß!“ Um ein Haar hätte Harpo noch hinzugefügt, daß er
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wisse, weshalb Ollie sich nicht für die Gebäude und den Schirm interessierte.
Der Kleine hatte Angst vor der flimmernden Kuppel und wollte das bloß nicht
zugeben. Statt dessen redete er schnell weiter, bevor Ollie etwas erwidern
konnte: „An unsere Tiere denkst du wohl gar nicht, was? Sollen wir die hier
aussetzen, wenn wir nicht einmal wissen, ob unter der Kuppel nicht wilde
Gesellen hausen, die liebend gern Drachen und Eichkätzchen verspeisen?“
Ollie wurde erst blaß, dann rot. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Mit
beiden Fäusten hämmerte er plötzlich gegen den Energieschirm und schrie
dabei: „Hier frißt keiner kleine Drachen! Das verhindere ich! Ich, Ollie!
Jawoll!“
„Mann, bist du denn wahnsinnig!“ brüllte Harpo. Das hatte er schließlich
nicht gewollt.
„He!“ sagte Anca. „Ollie, deine Hände gehen ja durch den Schirm
hindurch!“
„Was?“ fragte Ollie verdutzt. Erschreckt zog er seine kleinen Fäuste zurück
und schaute sie an. „Sie sind noch da. Aber diese Kuppel ist wirklich komisch.
Fühlt sich an, als würde man in eine weiche Masse hineinboxen.“
Harpo versuchte verwirrt, seine Beobachtungen zu ordnen. Erst einmal,
das war am wichtigsten: Ollie hatte die Sache unverletzt überstanden. Und
dann: Der Schirm bot keinen harten Widerstand. Schließlich: Ollies Fäuste
waren tatsächlich durch den Schirm hindurchgedrungen. Harpo hatte es
ebenfalls gesehen. Merkwürdig. Harpo sah sich mißtrauisch um, als wäre ir
gendwo in der Ferne des Rätsels Lösung zu suchen.
Der Waldrand war knapp fünfzig Meter von ihnen entfernt. Es war still.
Kein Piepen, Zwitschern, Pfeifen oder Knurren war zu hören. Eine merk
würdige Ruhe lag über dem Land. Nur die Sonne schickte sich an, dem Hori
zont entgegenzusinken. Schon tauchten am unteren Teil des Himmels zwei
Monde auf. Die waren ihnen schon aufgefallen, als sie an Bord der EUKALYP
TUS im Orbit des Planeten kreisten.
„Es wird bald dunkel“, mahnte Bharos. „Lange können wir uns hier nicht
mehr aufhalten. Vielleicht müssen wir wirklich nicht wissen, was hinter
dieser Kuppel liegt. Unsere Meßergebnisse dürften ausreichen, um unsere
Tiere gefahrlos auszusetzen.“
„Schön“, sagte Harpo. „Wenn wir uns beeilen müssen, dann beeilen wir
uns eben. Machen wir einen kleinen Versuch. Hat jemand von euch einen
Stein gesehen?“
Niemand hatte. Kurzentschlossen nahm Harpo seinen Funkhelm ab und
hielt ihn prüfend in der Hand. Er wog etwa ein Kilogramm und konnte derbe
Stöße ganz gut vertragen. Wuchtig holte er damit aus und warf den Helm
gegen das Energiefeld.
Es entstand ein schmatzendes Geräusch, schließlich ein Knistern wie bei
einer Entladung. Und dann blieb der Helm mitten in der Energiewand ste
cken!
„Das darf doch nicht wahr sein!“ staunte Ollie und riß vor Überraschung
Augen, Mund und Nasenlöcher weit auf. „Wie geht das denn?“
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„MeMeMensch!“ hörten sie ihren Freund Brim Boriam in den Helmemp
fängern. Nur Harpo hörte nichts. „Wir haben aaaaalles beobachtet!“
keuchte Brim. Manchmal, wenn er sehr aufgeregt war, stotterte dem
schwarzlockige Afrikaner. „Unglaublich!“
Man glaubte, ihn und die anderen an Bord der EUKALYPTUS förmlich zu
sehen, wie sie vor dem Bildschirm in der Zentrale saßen und sich die Hälse
schier ausrenken wollten, um nur ja nichts zu verpassen. Die Kameras in den
Gleitbooten ließen sie jede Einzelheit miterleben.
„Juchhu!“ rief Anca und gab ihrem Bruder einen dicken Schmatz. „Der
Energieschirm taugt nichts! Wahrscheinlich ist die Batterie leer.“
Bharos lachte. Er schloß die Augen und verschwand. Plötzlich tauchte er
auf der anderen Seite des Schirms wieder auf. Er bewegte den Mund, aber
man konnte kein Wort verstehen.
Dann stand er wieder neben ihnen. „Das Ding ist brüchig wie ein rostiger
Eimer“, gab er bekannt. „Wahrscheinlich hat Anca im Prinzip recht. Der
Schirm wird nur noch mit einer letzten Energiereserve aufrechterhalten und
kann seine früheren Funktionen nicht mehr erfüllen. Normalerweise bin ich
nicht in der Lage, Energieschirme zu durchspringen – aber dieser hier ist aus
gesprochen kraftlos. Nur ein kleines Kitzeln habe ich gespürt.“ Unterneh
mungslustig deutete er auf die stillen Gebäude. „Kommt ihr mit?“
Ollie fletschte die Zähne, nahm einen Anlauf, warf die Arme wie ein
Schwimmer nach vorn – und saß auf dem Hintern. Diesseits des Schirms. Er
war zurückgeprallt.
Alle lachten über das verdutzte Gesicht des Kleinen. „Zu mager, der kleine
Bursche“, brummte Lonzo, packte Ollie und klemmte ihn sich unter zwei
Tentakel. Dann zog er sich die Matrosenmütze in die Stirn und rannte los. Er
durchstieß die Energiewand wie eine Bombe und raste noch zehn Meter wei
ter, bevor er auf der anderen Seite zum Stehen kam. Harpo nickte Anca zu.
Bharos war bereits wieder verschwunden und tauchte gerade neben Lonzo
auf.
„Jetzt wir“, sagte Harpo und holte tief Luft.
Verschwunden im Nichts
Die Gebäude besaßen Türen – aber diese Türen waren verschlossen. Und
sowenig sich bisher unter der Kuppel etwas bewegt hatte, sowenig zeigte sich
auch jetzt ein Bewohner der Gebäude. Aus der Nähe besehen wirkten die Be
tonquader erschreckend alt und brüchig. Man mußte daran zweifeln, daß
hier noch jemand lebte.
Ohne Tageslicht und Werkzeug waren die Versuche, die Türen der Gebäu
de zu öffnen, zum Scheitern verurteilt. Deshalb einigte man sich rasch dar
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auf, zunächst zur EUKALYPTUS zurückzukehren und den Morgen abzu
warten.
Erst sechsunddreißig Stunden später – so lange dauerte ein Tag auf
Dragon, weil sich der Planet viel langsamer als die Erde drehte – drangen
zwei Gleitboote erneut in die Atmosphäre ein.
Diesmal blieb Schwatzmaul allein an Bord zurück. Nur die Grünen unter
stützten ihn bei seinen Überwachungs und Steuerungsfunktionen.
Thunderclap hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich den seltsamen
Energieschirm in Augenschein zu nehmen, und alle anderen waren begeis
tert, daß ihr Freund im Rollstuhl dabei war. Mit Unmengen von Werkzeug
ausgerüstet – obwohl der Tentakelkünstler Lonzo ein personifiziertes Werk
zeug war – landete die Mannschaft vor dem Energievorhang. Sie durchbrach
ihn, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt, und drang zu den
Gebäuden vor.
Nur Thunderclap hatte beim Passieren des Schirms einige Mühe, weil der
Motor seines Rollstuhls jedesmal aussetzte, wenn das Energiefeld ihm zu
nahe kam. Alexander löste das Problem. Er nahm Thunderclap huckepack
und schob sich mit der Kraft einer Lokomotive in das Innere der Kuppel.
Dann holte er den Stuhl nach. Seine Freunde applaudierten, und er ver
neigte sich artig wie ein Kraftathlet in der Zirkusmanege.
Thunderclap zischte mit seinem Stuhl allen anderen voraus, denn das Ge
lände war fugenlos betoniert, und der Motor des Gefährts funktionierte auch
wieder. Er bremste scharf ab, als er das erste Gebäude erreicht hatte, und rieb
sich vergnügt die Hände. Dann deutete er auf die breite Metalltür.
„Die wird uns nicht lange Widerstand leisten“, sagte er. „Aber vielleicht
kann einer von euch zunächst mal durch eines der Fenster peilen. Kann sein,
daß wir schon etwas Interessantes entdecken.“
Auf den ersten Blick schien dieser Wunsch unerfüllbar zu sein. Aber Karlie
grinste nur, schnappte sich den zeternden Ollie und stellte den Kleinen auf
seine Schultern. „Reicht’s?“ fragte er. „Oder soll ich mich auf die Zehen
spitzen stellen?“
„Gugugut“, keuchte Ollie, der ganz entsetzt war über das, was der Große
mit ihm angestellt hatte. Was man sich bei solchen Aktionen alles für Krank
heiten holen konnte: Beulen, Beinbrüche, blaue Flecken ... Oder Schnupfen.
Schließlich zog es da oben viel mehr.
Aber dann umklammerte er doch den Rand des runden Fensters und steck
te den Kopf hinein. „Da ist ‘ne große Halle“, meldete er aufgeregt. „Ziemlich
leer. Aber es gibt eine breite Treppe, die nach oben führt. Und eine Galerie
sehe ich. Eine Menge Türen ... hmm ...“
„Ist das alles?“ fragte Thunderclap enttäuscht.
Lonzo wartete gar nicht erst darauf, daß sich jemand der mitgeschleppten
Werkzeuge annahm. Er ließ seine Werkzeuglade aus dem Bauch schnellen,
stülpte einen Schraubenzieheraufsatz über einen Tentakel und stocherte da
mit in der Türritze herum. Bald darauf stieß er wüste Verwünschungen aus,
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weil er mit dem Schraubenzieher nichts auszurichten vermochte. Ein Schloß
war nirgendwo an der Tür zu sehen.
Bharos hatte lächelnd zugeschaut. Er las Ollies Gedanken und sah durch
seine Augen hindurch das Innere der Halle. Diese Orientierung machte es
ihm leichter. Dann löste er sich in Luft auf – ein Teleportationssprung hatte
ihn in das Innere des Gebäudes versetzt. Er hantierte an irgendwelchen ver
borgenen Riegeln herum. Zehn Sekunden später schwang die Tür auf, und
Bharos machte eine einladende Verbeugung.
Alle jubelten.
„Du hättest Schlosser werden sollen“, lobte Thunderclap. „Oder Tresor
knacker“, meinte Anca und kicherte. Die runden Fensteröffnungen ließen ge
nügend Licht in das Gebäude einfallen. Man konnte erkennen, daß Ollie, der
inzwischen wieder auf eigenen Beinen stand und darüber sehr erleichtert
war, bei seiner Beschreibung keine wichtigen Einzelheiten vergessen hatte.
Die Halle wirkte in der Tat sehr kahl und reizlos. Von der Decke hingen Kabel
herab, die Überreste einstiger elektrischer Leitungen. Die Lampen hatte man
wohl bereits vor langer, langer Zeit abmontiert. Zögernd trat die Gruppe in
die Halle ein. Mißtrauische Blicke musterten die Decke und die Wände und
suchten nach losen Teilen, die herunterfallen könnten. Aber trotz der rissigen
Außenwände schien der Bau noch recht stabil zu sein. Die Stimmen klangen
hohl in dieser leeren Halle. Die Mannschaft der EUKALYPTUS teilte sich in
mehrere kleine Gruppen auf, die immer nahe genug beieinanderblieben, um
bei Gefahr oder einer überraschenden Entdeckung nicht allein zu sein. So
durchstreiften sie die beiden Stockwerke des Gebäudes und schließlich auch
die zugänglichen Räume des Turmes. Sie fanden nur Staub und ein paar
Steine. Ansonsten war das Gebäude so leer wie die Taschen eines neuen
Anzugs. Nichts deutete auf frühere Bewohner hin. Kein technisches Gerät,
keine verrostete Gabel, kein Schuhanzieher und kein Fetzen Papier. Nicht
einmal Schriftzeichen an den Türen waren auszumachen. Staub, Staub,
nichts als Staub. Bei jedem Schritt, den die unternehmungslustigen Forscher
machten, wirbelten ganze Staubwolken durch die Luft und brachten sie zum
Niesen. „Wie ungemütlich“, sagte Anca, als sie eine halbe Stunde später
wieder auf Harpo traf. Sie zog eine Schnute. „Und wie trostlos. Da kommen
wir extra von der Erde, um die Errungenschaften dieser fremden Rasse zu be
wundern, und was finden wir – Staub und Beton! Hatschiiii!“ „Hallo, wo seid
ihr denn?“ rief Thunderclap von irgendwoher und kam wenig später mit sei
nem Rollstuhl durch den Korridor geflitzt. „Hier hinten ist ein Eingang zum
Nachbargebäude. Vielleicht haben wir dort mehr Glück.“
Von allen Seiten her liefen die „Entdecker“ zusammen. Die vor ihnen
liegende Tür war unverschlossen. Der Raum rief nicht gerade Begeisterungs
stürme hervor. Immerhin gab es jedoch so etwas wie Reste einer Einrichtung:
Leere Regalwände aus Blech unterteilten den Raum in viele schmale Gänge.
In der Mitte stand ein Uförmiger Tisch mit einer schweren, massiven Platte
aus Holz oder einem ähnlichen Material.
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Auf der geschlossenen Seite des UTisches entdeckte der winzige Trompo
als erster eine kleine Schalttafel mit mehr als zwanzig Drucktasten, alle aus
Kunststoff. Mehrere trugen eingepreßte Zeichen und Symbole, deren Sinn je
doch schwer zu erraten war.
„Aha“, sagte Bharos. „Jetzt wird es interessant.“ Er stellte sich hinter den
Tisch und probierte der Reihe nach alle Tasten aus. Nichts geschah. Die
Gesichter der Zuschauer wurden immer länger.
„So ein Reinfall!“ schnaubte Karlie. „Ich komme mir ziemlich gelackmeiert
vor, wißt ihr das?!“ Er stampfte zornig mit dem Fuß auf. „Wenigstens ein duf
tes Geheimnis hätten uns die Leute ja wohl zum Lüften übriglassen können,
meint ihr nicht auch?“
„Ulp!“ machte Ollie plötzlich.
Alle Köpfe fuhren herum. Mit schreckgeweiteten Augen stellte Harpo fest,
daß Ollie nur noch aus einem Kopf bestand – und der schien direkt aus dem
Fußboden zu ragen. Dann war auch der Kopf verschwunden. Dort, wo der
Kleine eben noch gestanden hatte, gähnte ein schwarzes, quadratisches Loch
mit einer Seitenlänge von etwa drei Metern.
„Ollie!“ schrien die Kinder im Chor. „Was ist mit dir?“ Sie lösten sich aus ih
rer Erstarrung, denn erst jetzt hatten sie erkannt, daß es nicht der Erdboden
war, der den Kleinen verschluckt hatte. Vielmehr war eine versenkbare Platte
auf einen Knopfdruck von Bharos hin mitsamt Ollie in die Tiefe gefahren.
Wenig später lagen alle flach auf dem Boden und lugten in die vier oder
fünf Meter tiefer liegende Etage.
Eine hohl klingende Stimme drang zu ihnen herauf. „Junge, Junge! Das sind
ja Sachen! Das kann ich kaum glauben!“
„Ollie?“ fragte Harpo. „Geht’s dir gut?“
„Da biste von den Socken!“ fuhr Ollie begeistert fort, ohne auf Harpos Frage
einzugehen.
„Ollie!!!“ schrie Anca. „Was machst du da unten?“
„Ich gucke Fernsehen“, schrie der Kleine zurück. „Gutes Programm, aber ‘n
bißchen verschwommen. Schickt mal Lonzo mit seinen Werkzeugen herun
ter!“
„Oje!“ meinte der Roboter. „Der arme Ollie hat seinen Grips verloren!“
Bharos fingerte wieder an den Tasten herum und versuchte herauszu
finden, welche davon den Fahrstuhl ausgelöst hatte. Tatsächlich fuhr wenige
Sekunden später die Bodenplatte wieder in die alte Position. Bharos stieß
einen Triumphschrei aus. Er stand immer noch mit gespannter Miene hinter
dem Schaltpult und drückte weitere Knöpfe. Vor Aufregung war ihm die
Zungenspitze zwischen die Lippen gerutscht. Die Platte ruckte an, fuhr ein
Stück nach unten, dann wieder herauf. „Jetzt habe ich es!“ rief Bharos. „Ich
kann das Ding steuern!“
Harpo durfte als erster auf der Platte Platz nehmen und zu Ollie hinabfah
ren. Nach und nach folgten die anderen. Nur Bharos blieb oben. Wahrschein
lich konnte man den Fahrstuhl auch von unten aus steuern, aber es war ja
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nicht nötig, dieses Risiko einzugehen. Als er allerdings in Ollies Gedanken las,
zog er es doch vor, mit einem Teleportationssprung zu den anderen zu eilen.
Harpo und seine Freunde hatten inzwischen den engen Schacht mit der
Fahrstuhlplatte verlassen und waren zu Ollie in den unterirdischen Saal ge
treten. Durch einige Lichtschächte fiel genügend Sonnenlicht herein, daß
man die Umgebung erkennen konnte. Entlang der Wand standen in endloser
Reihe Transportfahrzeuge mit fünf Meter langen, offenen Ladeflächen, dicker
Gummi oder Kunststoffbereifung und einem Fahrersitz hoch über der Lade
fläche.
In der Mitte des Raumes jedoch stand etwas, das auf den ersten Blick beim
besten Willen nicht einzuordnen war. Es sah aus wie eine auf vier stumpfen,
plumpen, sehr kurzen Beinen stehende Metallplatte. Sie war fast quadratisch,
gut zwanzig Zentimeter dick und hatte an einer Seite einen kastenförmigen
Anbau. Dort schienen Kabel zusammenzulaufen, die von der Unterseite der
Platte kamen.
Was jedoch am meisten verblüffte: Über diesem metallischen Gerät befand
sich ein leuchtendes, würfelförmiges Energiefeld. Und darin gefangen war
das Bild einer fremden, exotischen Welt, so, als würde man einen
dreidimensionalen Farbfilm sehen.
Eine Steppe mit blaugrünem Gras breitete sich dort aus, und in der Ferne
stolzierte eine etwa zwei Dutzend Tiere zählende Herde von Kamelen dahin.
Das heißt, eigentlich waren es nur die langen, dünnen Beine und die drei Hö
cker, die an Kamele erinnerten. Die Köpfe wirkten massiver, fast wie die von
Stieren, und trugen auch kurze, krumme Hörner. Sie schienen nicht in Eile zu
sein, fraßen hier und da etwas Gras und zogen nur ganz allmählich weiter.
Eine grünliche Sonne stach grell in die Augen.
„Äh ...“ machte jemand.
Harpos Augen suchten Ollie und fanden ihn schließlich. Er saß im
Schneidersitz keine zwei Meter von dem seltsamen „Fernsehapparat“ ent
fernt auf dem Fußboden, starrte mit unverkennbarer Begeisterung auf die
Szene und machte auch sonst einen höchst zufriedenen Eindruck. Die
anderen Besatzungsmitglieder waren kaum weniger gefesselt.
Plötzlich änderte sich die Szene schlagartig. Das Bild kippte förmlich um.
Die Steppe war fort. Statt dessen sah man eine Gebirgsformation, über die ein
eisiger Wind fegte. Verkrüppelte Bäume stemmten sich knorrig dem Wind
entgegen. Riesige lederhäutige Vögel kreisten am Himmel, ein weiterer
Schwarm zog über die zackigen Bergspitzen dahin. Das Panorama wirkte so
lebensecht, daß Harpo fröstelnd die Schultern hochzog. War es nicht wirklich
eisig kalt in diesem unterirdischen Saal geworden?
„Ollie ...“ flüsterte er heiser und wollte den Kleinen mit sich fortziehen.
Aber eine wie magisch wirkende Kraft hielt ihn fest. Nur unter größter An
strengung schaffte es Harpo, sich so weit von dem Bild loszureißen, um den
Kopf wenden zu können.
Auch die anderen vermochten ihre Blicke anscheinend nicht von dem
dreidimensionalen Fernseher zu lösen. Neben sich fühlte Harpo den schwer
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atmenden Thunderclap. Karlies Zunge leckte nervös über die Lippen. Ancas
Augen sahen riesengroß aus. Brim schaute etwas skeptischer drein und rieb
sich nachdenklich sein schwarzes Kinn. Trompo hatte den kleinen Rüssel
angehoben, als wolle er dem Bildwürfel entgegenschnüffeln. Alexander
brummte vor sich hin, wandte die Augen aber keine Sekunde lang von der
Szene ab. Nur Bharos und Micel tauschten einen raschen Blick aus. Vermut
lich hatten sie sich auf geistigem Wege versichert, daß der eine so erstaunt
wie der andere war.
Unbeeindruckt zeigte sich allein Lonzo. Zwar waren auch seine Sehzellen
auf den Würfel gerichtet, aber er wandte sich sofort Harpo zu, als dieser ihn
anblickte. An Lonzos Verhalten zeigte sich, daß sie keiner optischen Täu
schung oder hypnotischen Beeinflussung aufsaßen. Lonzo hätte sonst Alarm
geschlagen. Sein Gehirn konnte niemand täuschen. Ein Roboter läßt sich
nichts vormachen.
„Ollie!“ sagte Harpo noch einmal. Diesmal sprach er lauter. Tatsächlich
erhob sich der Kleine und tat ein paar Schritte, ziemlich unsichere Schritte.
Er schien das selbst zu bemerken, denn er streckte die Arme wie Balance
stangen aus, um das Gleichgewicht zu halten. Trotzdem schwankte er wie ein
Segelflugzeug unter einer Böe.
„Paß auf!“ zischte Harpo und trat zwei Schritte vor.
Aber die Warnung kam zu spät. Ollie stolperte plötzlich und fiel wie eine
leblose Puppe nach vorn. Eine Sekunde lang glaubte Harpo einen Entsetzens
schrei zu hören. Im gleichen Moment kippte das Bild des Würfels wieder um.
Aber er achtete nicht auf die neue Landschaft. Hell war es – das war alles,
woran er sich später erinnern konnte. Er hatte nur Augen für Ollie, versuchte
ihn zu erreichen – vergeblich. Der Oberkörper des Kleinen tauchte in das
leuchtende Feld ein. Seine Beine stießen gegen die Platte und knickten ein.
Aber Ollie fiel nicht aus dem Würfel heraus. Eine geheimnisvolle Kraft schien
ihn förmlich in das Feld hineinzuziehen. Die Beine zappelten hin und her,
das Hinterteil berührte die Metallplatte. Dann war Ollie spurlos
verschwunden.
„Ollie!“ schrien die Kinder auf.
Aber Ollie kam nicht zurück. Das Bild im Würfel war fast im gleichen
Augenblick erneut umgekippt, als der kleine Oliver verschwand. Zehn,
zwanzig Sekunden lang gab es nichts als einen wilden Farbwirbel, als hätte
jemand die Farben eines Tuschkastens durcheinanderlaufen lassen. Dann
stabilisierte sich das Bild. Man sah die Landschaft von vorhin: blaugrüne
Steppe, Kamele, eine grüne Sonne.
19
Expedition ins Unbekannte
Es dauerte bestimmt fünf Minuten, bis sich die Unruhe soweit gelegt hatte,
daß gemeinsam überlegt werden konnte, was zu tun war. Beendet wurde das
Durcheinander und das Geschrei durch Lonzo. Er hatte mit stoischer Ruhe
abgewartet, als würde er auf eine innere Uhr blicken. Dann ließ er plötzlich
ein Geräusch ertönen, das wie Kanonendonner klang und schlagartig alles
verstummen ließ.
„Ollie ist verschwunden“, sagte Lonzo mit ganz ungewohntem Ernst in der
Stimme. „Wir haben alle gesehen, wie es passiert ist. Dennoch wissen wir
nicht, was mit ihm geschehen ist. Hat die seltsame Maschine ihn regelrecht
verschlungen und damit seinen Körper aufgelöst? Oder hat sie Ollie nur un
seren Blicken entzogen, das heißt, an einen anderen Ort transportiert? Wenn
ihr mich fragt: Ich glaube, daß die Maschine ein Materietransmissions
zentrum ist – ein Gerät also, das über ähnliche Fähigkeiten verfügt wie unser
Freund Bharos. Nur daß es nicht sich selbst, sondern andere von einem Ort
zum anderen versetzt. Aber das werden wir sicherlich noch herausfinden!
Viel wichtiger ist die Frage, ob Ollie überhaupt noch lebt. Und wenn ja, wo er
sich befindet. Das führt uns dann schließlich zu dem Problem, ob und wie
wir ihm helfen können.“ Diese ungewöhnlich lange und ernste Ansprache
hinterließ zunächst nur stumme, unbehaglich dreinblickende Gesichter.
Bharos reagierte schließlich als erster. „Lonzo, ich teile deine Ansicht“, sag
te er. „Alles deutet darauf hin, daß die Maschine nicht nur verschiedenartige
Landschaften in dem Würfelfeld abbildet, sondern daß eine tiefergehende
Verbindung zu diesen Landschaften existiert. Wenn es wirklich so eine Art
Materietransmitter sein sollte, dann kann es sein, daß die im Kubus gezeigten
Bilder die Umwelt anderer Transmitterstationen sind. Demnach müßte Ollie
auf einer solchen Station angekommen sein. Vielleicht können wir ihn sogar
sehen, wenn wir die Maschine lange genug im Auge behalten.“
Die Köpfe der Anwesenden wandten sich dem Leuchtwürfel zu. Noch
immer stelzten die Kameltiere durch die blaugrüne Steppe. Von Ollie keine
Spur. Bei den Kamelen hielt er sich offensichtlich nicht auf.
„Wo mag diese Gegend wohl liegen?“ fragte Anca mit leiser Stimme. Sie
hatte im ersten Schreck nach der Hand ihres Bruders gegriffen und hielt sie
auch jetzt noch fest.
„Tja, wenn wir das wüßten ...“ meinte Bharos. „Vielleicht auf der anderen
Seite von Dragon, trotz der grünlichen Sonne. Niemand sagt uns, daß die
Farben realistisch abgebildet werden. Andererseits ... also, um ehrlich zu sein
– ich glaube eher daran, daß diese Bilder von anderen Planeten stammen.
Und die müssen nicht einmal in der Nähe dieses Systems liegen.“
„O weh!“ sagte Thunderclap. Ihm wurde plötzlich ganz schlecht. Einen
verschwundenen Oliver auf einem bestimmten unerforschten Planeten zu
suchen – das mochte ja noch angehen. Aber wenn praktisch die halbe Galaxis
– oder die ganze? – in Frage kam, dann ...
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„Nun mal nicht gleich den Kopf hängenlassen“, sprach ihm Bharos Mut zu.
„So ernst ist das auch wieder nicht gemeint. Ich wollte damit nur sagen, daß
die Landschaften im Würfel nicht unbedingt zu Planeten des nächsten Sterns
gehören. Wißt ihr, ein kleines bißchen kann ich mitreden, wenn es um Trans
mitter geht. Meine Rasse hat früher ebenfalls Experimente mit Transmittern
durchgeführt. Allerdings wurden die Forschungen eingestellt. Ein winziger
Hüpfer kostete nämlich so viel Energie, wie eine mittlere Sonne sie das ganze
Jahr hindurch abgibt. Die fremden Erbauer dieser Maschine hier haben mehr
Erfolg gehabt, das sieht man ja. Aber Energie wird trotzdem benötigt. Das
funktioniert so ähnlich wie bei einer Funkanlage. Stellt euch vor, ein Funk
spruch soll abgestrahlt werden. Steht der Empfänger nur ein paar Kilometer
weiter, benötigt man wenig Energie, um sich verständlich zu machen. Steht
er dagegen am anderen Ende der Milchstraße, müßte man einen
Riesensender haben und gewaltige Energien aufbringen. – Was wollte ich
eigentlich sagen?“
„Daß Ollie doch nicht sooo weit weg sein kann“, half Alexander aus.
„Ach, richtig. Also, ist doch klar: Die einzelnen Stationen dürften relativ
dicht beieinanderstehen, um Energie zu sparen. Na ja, vielleicht gibt es auch
mal eine dazwischen, die als Außenstation sehr weit weg ist ... Aber da wollen
wir lieber nicht dran denken. Und überhaupt: Transmitter müssen erst mal
von ganz gewöhnlichen Raumschiffen an Ort und Stelle gebracht werden,
weil ein Sender ohne den Empfänger wertlos ist. Das engt den Radius be
stimmt ziemlich ein!“
„Für uns kann das noch immer zu groß sein“, meinte Harpo seufzend.
„Und wer weiß, ob die Fremden das Problem nicht ganz anders angepackt
haben oder auf eine unerschöpfliche Energiequelle gestoßen sind“, gab Karlie
zu bedenken. „Der arme Ollie – ob wir ihn jemals wiedersehen?“
„Was ist denn mit meinen Matrosen los?“ schimpfte Lonzo. „Einer weint
dem anderen etwas vor? Das dulde ich nicht! Laßt uns lieber ernsthaft über
legen, wie wir den kleinen Ollie zurückholen!“
„Richtig“, sagte Bharos. „Immerhin können wir selbst das gleiche tun, was
Oliver unfreiwillig getan hat – nämlich mit dem Transmitter reisen. Und
dann bleibt uns immer noch die EUKALYPTUS. Beides zusammen ...“
Er brach ab, weil sich die Szene im Bildwürfel verändert hatte. Es gab er
neut einen kurzen Farbwirbel. Dann wurde eine neue Umgebung sichtbar.
Im ersten Augenblick konnte man nicht viel mehr als grellrotes Licht er
kennen. Doch dann, als sich die Augen daran gewöhnt hatten, blickte man
auf zwanzig oder dreißig menschengroße Wesen, deren Gesichter von kurz
haarigem Fell bedeckt waren und von großen, runden schwarzen Augen be
herrscht wurden. Die Fremden steckten in
beutelähnlichen
Kleidungsstücken, die unterschiedliche Schattierungen aufwiesen. Farben
konnte man in dem grellroten Licht nicht erkennen.
Man hatte den Eindruck, daß nicht nur die Besatzungsmitglieder der EU
KALYPTUS die Fremden anstarrten, sondern daß diese ebenso verwundert
zurückguckten. Ja, Harpo hatte sogar das Gefühl, er säße in einem Zookäfig
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und werde von den Besuchern bestaunt. Ganz unberechtigt war das wohl
nicht, denn einige der Wesen hoben kleine Geräte an und ließen Blitzlichter
aufleuchten. Fotografierten sie? Dann traten die Wesen zurück. Einer der
Fremden blieb vorne stehen, zeigte mit der Pranke auf die „Zuschauer“ und
begann unter vielen Grimassen und Gebärden etwas zu erklären. Hören
konnte man allerdings nichts.
„Das ..., ist ... doch ...“ stotterte Harpo.
„Wir werden beobachtet!“ rief Micel. „Die sehen uns.“
„Und sie scheinen einen Heidenrespekt davor zu haben, sich zu nähern“,
meinte Karlie.
„Was wohl kaum an uns liegt“, sagte Bharos. „Das gilt dem Transmitter.
Wer weiß, welche schlechten Erfahrungen sie damit gemacht haben. Mich
sollte es auch gar nicht wundern, wenn das Ding dort in einem Museum
steht. Das Innere eines Gebäudes scheint es jedenfalls zu sein.“
Zum erstenmal wurde Harpo so richtig bewußt, was es bedeuten konnte,
wenn ihre Vermutungen über die Transmitterstationen zutrafen. Es konnte
heißen, daß Hunderte, vielleicht Tausende von Stationen an das Netz ange
schlossen waren. Und auf irgendeiner Station war Ollie gelandet. Niemand
wußte überhaupt, ob ihr Transmitter gerade diese Station noch einmal als
Empfänger vorsehen würde. Und wenn Ollie, neugierig wie er war, dort nicht
ausharrte, sondern ... Es war nicht auszudenken!
„Mit dem Energieschirm draußen ist nicht mehr alles so, wie es sein sollte“,
überlegte Micel laut. „Und diese Gebäude hier sind verlassen und nicht ge
rade gut in Schuß. Ein anderer Transmitter steht eventuell schon im Muse
um. Das heißt ... Ja, das kann nur bedeuten, daß die Transmitterkette schon
uralt ist. Die Konstrukteure leben vielleicht gar nicht mehr. Wir können froh
sein, wenn die Maschinen noch einwandfrei funktionieren. Also, wenn wir
Ollie nicht suchen müßten – keine zehn Pferde würden mich in die Nähe des
Transmitterfeldes bringen.“
„Ach, funktionieren wird es noch“, versicherte Bharos. „Sonst könnten wir
auch die Bildwürfel nicht mehr sehen. Nein, nein, die Energiequelle für den
Schirm draußen kann nichts mit den Transmittern zu tun haben.“
„Was ich nicht verstehe“, sagte Anca, „ist, warum man das Gerät nicht
steuern kann. Und wieso manche Landschaften lange im Würfel bleiben,
andere aber nur ein paar Sekunden. Da muß doch etwas faul sein.“
„Wir können die Anlage nicht steuern“, korrigierte Bharos. „Aber zugege
ben, ganz geheuer ist mir auch nicht dabei. Vielleicht gibt es eine Umschalt
automatik, die nicht mehr richtig funktioniert. Wie auch immer – wir müssen
uns mit den Tatsachen abfinden und das Beste daraus machen.“
„Das heißt aber doch wohl“, überlegte Harpo laut, „es gibt keine Garantie
dafür, daß wir zurückkehren. Selbst wenn wir Ollie finden – die Rückfahrkarte
zum Planeten Dragon und zur EUKALYPTUS haben wir nicht in der Tasche.“
„Hmm“, machte Thunderclap. In der folgenden Stille hätte man leicht eine
Stecknadel fallen hören können. Natürlich dachte keiner daran, Ollie seinem
Schicksal zu überlassen. Das kam überhaupt nicht in Frage. Aber wie sollte es
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ihnen in kurzer Zeit gelingen, entweder die Steuerung des Transmittersys
tems zu erlernen oder aber ein System hinter den Umschaltungen zu entde
cken? Und die Zeit drängte, wenn sie Ollie helfen wollten. Eigentlich zählte
jede Sekunde. Selbst wenn es Lonzo und Schwatzmaul gelingen sollte, den
Schaltcode – vorausgesetzt, es gab einen – zu entziffern und durch Rückrech
nung Ollies Aufenthaltsort zu ermitteln – das würde alles viel zu lange dau
ern. Vielleicht kämpfte Ollie gerade in einem Sandsturm um sein Leben oder
rannte vor einem Raubtier davon ...
Lonzo hatte alle Daten über die bisherigen Umschaltungen längst an den
Bordcomputer weitergeleitet. Aber daraus ließ sich noch nichts ablesen. Am
liebsten hätte Schwatzmaul den Transmitter von den Grünen zerlegen lassen,
um hinter das Geheimnis zu kommen. Diese Lösung mußte jedoch aus
scheiden. Das würde viele Stunden dauern. Wenn Ollie in der Zwischenzeit
zurückkehren wollte, konnte es zu einer Katastrophe kommen. Ohne den
funktionsfähigen Empfänger war Ollie verloren.
„Die Frage ist dann wohl nur, ob sich einer allein in das Transmitterfeld
stürzt oder ob es mehrere von uns wagen“, sagte Harpo schließlich. „Etwas
anderes bleibt uns jedenfalls nicht übrig. Ich melde mich schon mal freiwil
lig.“ Dieser Entschluß war ihm nicht leichtgefallen.
„Ich mache mit!“ rief Anca.
„Wir sollten mit einer möglichst kleinen Gruppe den Sprung ins Ungewisse
wagen“, riet ihm Bharos. „Wer weiß, was uns erwartet!“
Aber niemand wollte zurückstehen, so mulmig den meisten auch zumute
war. Es ging ja um Ollie.
„Also, einige müssen schon auf der EUKALYPTUS bleiben“, protestierte
Schwatzmaul über Funk. „Schließlich brauche ich hin und wieder mein
Kännchen Öl!“ Das war natürlich nicht der wahre Grund, aber das Bordge
hirn hatte im Prinzip recht. Sie durften nicht alles auf eine Karte setzen.
„Na ja“, sagte Thunderclap. „Da muß ich wohl in den sauren Apfel beißen,
sonst kriege ich gleich noch zu hören, daß ein Rollstuhl nicht das Wahre in
Morast oder Geröll ist. Ja, ihr habt ja recht! Aber wartet nur ab, bis die Grünen
mir meinen Einmannhubschrauber gebastelt haben. Dann werdet ihr mich
nicht mehr so leicht los!“
„Noch drei“, forderte Schwatzmaul. „Außer Thunderclap müssen noch drei
zurückbleiben!“
Lonzo nickte mit einer heftigen KopfRumpfBewegung, fing die sonst
immer so stramm auf dem Kopf sitzende Matrosenmütze auf und rührte dar
in mit einem Tentakel herum. „Das haben wir gleich!“ rief er triumphierend.
Dann zog er ein Kärtchen aus der Mütze. „Brim Boriam“, las er laut vor.
„Brim bleibt bei Pitter.“
„Bei welchem Pitter?“ fragte Thunderclap wütend, denn seinen richtigen
Namen hörte er überhaupt nicht gern.
„Sagte ich Pitter?“ fragte Lonzo unschuldig. „Da muß ein Relais ausgefallen
sein, bei Thunderclap.“
„Ist das auch mit rechten Dingen zugegangen?“ fragte Brim mißtrauisch.
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„Aber ja doch!“ versicherte Lonzo fröhlich. „Für solche Fälle habe ich von
allen Matrosen ein Namenskärtchen in der Mütze. Nicht verzagen, Lonzo
fragen! Und, Herrschaften“ – Lonzo ließ seine Stimme lauter werden –
‚ „schon geht es weiter.“
Abermals griff er in das Mützchen und zog ein weiteres Kärtchen hervor,
dann noch eines. „Karlie Müllerchen“, schnarrte er.
„Oooooch!“
„Und Micel Fopp!“ fügte Lonzo hinzu und stülpte sich die Mütze mit den
Namenskärtchen wieder über den kleinen Metallkopf.
„Na ja, da kann man nichts machen“, kommentierte Micel, aber ein biß
chen enttäuscht sah er doch aus.
„Ich habe was für euch“, meldete sich Schwatzmaul.
„Ja, was denn?“
„Eine feine Sicherheitsmaßnahme. Wir bauen Lonzo einen starken Si
gnalgeber ein. Das geht ganz schnell! Die Peiltöne kann ich über 300 Licht
jahre hinweg anpeilen.“
„Hurra!“ schrie Thunderclap. „Wir holen euch aus dem Schlamassel, wenn
ihr Ärger habt. Egal, wo ihr seid!“
„Warum immer ich?“ kreischte Lonzo. „Ich mag es nicht, wenn in meinem
Bauch etwas piept! Andere haben auch dicke Bäuche, in denen viel Platz ist.“
„Aber Lonzo!“ sagte Anca honigsüß. „Würdest du es auch nicht mir zuliebe
tun?“
„Na ja, wenn du mich so nett darum bittest, mein Schätzchen ...“
„Dann kann es ja losgehen, sobald Lonzo zurück ist“, sagte Karlie. Vor Auf
regung hatte er rote Flecken im Gesicht.
„Wir werden Lonzo zur EUKALYPTUS begleiten“, erwiderte Bharos. „Wir
brauchen Raumhelme, Bodyskinanzüge, Vorräte und ein paar Ausrüstungs
gegenstände, auch Waffen gegen wilde Tiere. Ab geht die Post!“ Er sprang in
das obere Stockwerk, um den Fahrstuhl zu bedienen.
„Und wir haben eine prima Aufgabe“, sagte Brim. „Während ihr unterwegs
seid, laden wir die Tiere aus.“
Die zerbrochene Kuppel
Einige Stunden später kletterte die Expeditionsgruppe aus dem Gleitboot
und winkte Brim noch einmal zu. Der wedelte wild mit beiden Armen, dann
sprach er etwas in das Mikrophon, offenbar den Befehl für den Start, denn
wenig später hob das Boot sanft vom Boden ab. Schwatzmaul bewegte das
kleine Raumfahrzeug zur EUKALYPTUS zurück.
Dort würden Karlie und Micel schon damit beschäftigt sein, einen Teil der
kleinen Drachen in das zweite Gleitboot zu verladen. Brim würde das von
ihm gesteuerte Boot ebenfalls beladen. Sicherlich waren mehrere Pendelflüge
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beider Boote nötig, bis alle Tiere ihre neue Heimat erreicht hatten. Aber die
Zurückbleibenden hatten ja Zeit.
Viel Zeit durfte sich die Expeditionsgruppe dagegen nicht nehmen. Was
immer mit Ollie passiert sein mochte: Mit jeder Stunde, die verstrich, konnte
die Situation für den Kleinen womöglich gefährlicher werden. Voller Unge
duld warteten Harpo und seine Freunde darauf, Ollie helfen zu können.
Wenn sie nur wüßten, wo sie mit der Suche anfangen sollten! Ein bißchen
seltsam fühlte sich Harpo schon, als er vor dem leuchtenden Würfel stand
und in die rote, leblos wirkende Wüste hineinstarrte.
Als sein Blick auf die Gesichter seiner Freunde fiel, wurde ihm allerdings
recht schnell klar, daß er mit diesem Gefühl nicht allein war. Auch die
anderen schauten ängstlich und trotzig zugleich auf das fremdartige
Panorama – ängstlich, weil sie nicht wußten, was sie dort erwartete, und trot
zig, weil sie dennoch den Kampf gegen das mysteriöse Gerät aufnehmen
wollten.
Selbst Moritz, der Dackel, schnupperte skeptisch in Richtung des flirrenden
Energiefeldes. Das half ihm natürlich nichts, denn wie alle anderen steckte er
in einem Raumanzug aus Bodyskin. Und da konnte er höchstens sich selbst
erschnuppern. Aber es sah nicht so aus, als würde er das jemals einsehen.
Moritz’ Nase, so hofften die Kinder, würde ihnen einen guten Dienst er
weisen. Sie hatten ihn eigens mitgenommen, weil er Ollies besonderer
Liebling war und deswegen am ehesten die Spur des Kleinen aufnehmen
würde. Natürlich erst zu einem späteren Zeitpunkt und selbstverständlich
ohne den Plexiglashelm, der seinen Kopf jetzt luftdicht umschloß.
Auch bei Trompo, jenem winzigen Wesen, das von einem fernen Planeten
kam und äußerlich große Ähnlichkeit mit einem rosafarbenen Spielzeug
elefanten aufwies, dabei aber hochintelligent war, hatte sich die Bord
schneiderei besondere Mühe geben müssen, um einen enganliegenden
Anzug zu konstruieren.
Nur einer zeigte sich unbeeindruckt: Lonzo. Er pfiff – grausig falsch – ein
fröhliches Piratenliedchen vor sich hin und hielt mit zweien seiner Tentakel
einen Rucksack auf dem Rücken fest. Sein Metallkörper war so glatt und
rund, daß das Gepäckstück, welches Vorräte und Ausrüstungsgegenstände
der Expedition enthielt, keinen rechten Halt fand. Aber Lonzo hatte darauf
bestanden, sich wie alle anderen am allgemeinen Schleppen der Ausrüstung
zu beteiligen.
„Ulkig“, meinte Alexander. „Was sind wir eigentlich jetzt: Bergsteiger oder
Raumfahrer?“
„Laß mal“, antwortete Anca. „Diese Rucksäcke sind verdammt praktisch.
Auch wenn wir jetzt aussehen wie ein Kommando der berittenen Gebirgsma
rine.“
Alexander lachte brummend. Wenn ihm etwas besonders an der Sprache
der Menschen gefiel, so waren das die Wortspielereien. Und natürlich die saf
tigen Piratenflüche, die Lonzo, wenn er in Rage war, ausstieß.
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Moritz, der die Stimmen über seinen Helmlautsprecher gehört hatte, bellte
freudig. Der hintere Teil seines Bodyskinanzugs setzte sich wedelnd in Bewe
gung.
„Ob Ollie wirklich dort gelandet ist?“ fragte Harpo skeptisch. Er deutete mit
dem Kopf auf die rote Wüste.
„Viel zu trocken für einen echten Seemann!“ stimmte ihm Lonzo zu. Aber
seine Stimme klang ernster als sonst. Die Angst um Ollies Schicksal erstickte
jeden Spaß.
„Wenn sich einer von uns daran erinnern könnte, welches Szenenbild der
Würfel zeigte, als das Malheur passierte“, warf Bharos ein, „wäre alles viel
einfacher.“ Und damit hatte er recht. Unglücklicherweise hatte genau in dem
Augenblick, in dem Ollie in das Energiefeld hineingezerrt worden war, das
Bild gewechselt. Und die Landschaft, in der Ollie verschwunden war, hatte so
schnell einer anderen Platz gemacht, daß es für die entsetzten Umstehenden
unmöglich gewesen war, sie im Gedächtnis zu behalten.
„Ich bin dafür, daß wir jetzt etwas unternehmen“, sagte Harpo ungeduldig.
Wenn ihm schon nicht ganz wohl bei der Sache war, so wollte er sie wenigs
tens schnellstens hinter sich bringen.
„Klar!“ riefen Anca und Alexander. „Ist doch egal, wo wir anfangen!“
„Wir nehmen, was kommt!“ ergänzte Lonzo.
Harpos Finger bewegten einen Drehwiderstand, der an der Kontrollbox auf
seiner Brust angebracht war. Ihm war es zu warm, und mit dem Knopf konn
te man die Temperatur regulieren. Normalerweise – wenn man keine beson
deren Wünsche hatte – mußte man sich um diese Box nicht kümmern. Ein
kleiner Computer registrierte alle Meßdaten und veränderte sie bei Bedarf
automatisch. Das war auch der Grund, warum diese Apparatur den Namen
Körperwächter trug: Von hier aus wurden die Sauerstoffvorräte gesteuert, die
Heizventile des Miniaggregats geöffnet oder geschlossen sowie die Preßluft
patronen bedient, die für einen leichten Überdruck innerhalb der Anzüge
sorgten, um sie prall zu halten. Der Körperwächter war sogar in der Lage,
selbst konzentrierte Flüssignahrung direkt in die Venen zu spritzen, ohne daß
man dabei etwa einen Schmerz spürte. Aber das war wirklich nur für einen
Notfall gedacht. Wenn man die Wahl hatte, griff man natürlich lieber zu
richtigem Essen, auch wenn es sich dabei nur um künstlich erzeugtes Synt
hofood handelte.
„Aufpassen, daß wir zusammenbleiben“, mahnte Harpo die anderen.
„Sonst haben wir am Ende Ollie gefunden und sind doch nicht vollzählig.“
„Aber dieser Würfel“, warf Alexander irritiert ein, „wechselt sein Bild je
nach Laune. Wenn wir Pech haben, landet jeder von uns auf einer anderen
Welt.“
„Daran sollten wir lieber nicht denken“, unterbrach Harpo seine
Schwester, die gerade ähnliche Bedenken anmelden wollte. „Solche Überle
gungen können wir uns in dieser Situation nicht leisten. Auf jeden Fall
müssen wir alle möglichst gleichzeitig in den Würfel hineinhechten!“
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„Ha!“ schrie Lonzo. „Das ist für uns Seeleute doch überhaupt kein Problem!
Schon mein alter Schulfreund Captain Kidd legte allergrößten Wert darauf,
daß alle seine Freibeuter gleichzeitig in die Wanten kletterten oder die
Enterhaken schwangen. Wir stellen uns an allen Seiten des Würfels auf und
springen los, sobald das Nebelhorn erklingt!“
„Und wo kriegen wir ein Nebelhorn her?“ fragte Alexander ganz naiv.
Harpo grinste.
„Du mußt das Nebelhorn aber über Funk ertönen lassen“, sagte Anca, lach
te leise und stupste den Roboter in die Seite. „Sonst können wir nämlich un
ter unseren Raumhelmen nichts davon hören.“
„Au Backe, das hätte ich glatt vergessen!“ rief Lonzo und tänzelte aufgeregt
hin und her. „Ja, wenn wir unser Pummelchen ... äh, ich meine natürlich un
ser Fräulein Anca nicht hätten!“ Er flunkerte natürlich, denn ohne Zweifel
wußte er sehr gut, daß ein normal ausgestoßenes Geräusch nicht an die Oh
ren seiner Freunde dringen konnte. Schließlich unterhielt er sich bereits die
ganze Zeit mit ihnen über Funk. Da Lonzo als einziger keinen Raumanzug
trug – seinem Metallkörper konnte weder die giftige Atmosphäre eines unbe
kannten Planeten noch die Kälte des Weltraums etwas anhaben –‚ hatte er
früher in solchen Situationen schweigen müssen. Aber inzwischen hatte man
ihm ein Funkgerät eingebaut.
Wieder wurde das vom Leuchtwürfel projizierte Bild in einen Wirbel
flimmernder Farben gezogen. Eine neue Szene stabilisierte sich: Nacht,
glitzernder Sternenhimmel, schattenhafte Umrisse. Das Bild blieb stabil.
„Jetzt ist die Chance am größten!“ rief Anca aufgeregt. „Laß uns jetzt
springen!“
„Aber warum denn?“ wollte Alexander wissen. „Ollie ist doch in einer Welt
verschwunden, in der es hell war.“
„Na und?“ entgegnete Anca. „Seither sind viele Stunden vergangen. Warum
soll es in dieser anderen Welt nicht inzwischen Nacht geworden sein?“
„Schon gut, schon gut“, gab Alexander brummend zu. „Ich gebe mich ge
schlagen.“
Die Expeditionsmitglieder nahmen um den Würfel herum Aufstellung, wie
es ausgemacht war. Anca hielt Moritz ganz kurz an der Leine, damit er sich
nicht selbständig machte und verlorenging.
Lonzo war ganz in seinem Element. Aufgeregt wirbelte er mit den beiden
freien Tentakeln herum und dirigierte die Mannschaft hin und her, bis alle so
standen, wie es seiner Vorstellung entsprach. Anca hatte den Dackel nun
doch auf den Arm genommen, weil der ausgesprochen eigenwillige Hund
mitunter genau das Gegenteil von dem tat, was man von ihm verlangte.
Außerdem hätte Moritz doch einen ziemlichen Satz tun müssen, denn die
metallene Plattform des Transmitters war etwa fünfzig Zentimeter hoch.
„Achtung!“ schnarrte Lonzo. „Und ...“ Er ließ einen rostig klingenden, heu
lenden Ton über alle Funkkanäle sausen. Das Nebelhorn! Fast gleichzeitig
warfen sich die Freunde in das Feld hinein. Wie sie es schon bei Ollie vermu
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tet hatten, spürte jeder, daß er von einem Sog erfaßt wurde, der die noch im
Freien baumelnden Beine förmlich mitzerrte.
„Uuuiiiiiii! Das ist ja wie auf einer Achterbahn!“ rief Anca. Harpo spürte
zum ersten Mal nach langer Zeit wieder jene fast überwundene Angst, die ihn
noch vor zwei Jahren ständig überkommen hatte, wenn er im Begriff gewesen
war, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihm war, als würde er durch
einen engen, finsteren Schacht in eine bodenlose Tiefe stürzen. Tapfer biß er
sich auf die Unterlippe. Er wollte nicht schreien. Die anderen waren ja bei
ihm. Nichts würde passieren. Alles würde gutgehen.
Dann fühlte er Metall unter den Füßen, eine glatte, harte Fläche. Das muß
te die Plattform des anderen Transmitters sein, das Gegenstück – oder die
Empfangsstation des Gerätes, von dem aus sie aufgebrochen waren.
Sie waren auf einer anderen Welt. Und obwohl er geglaubt hatte, in einen
Schacht zu stürzen, waren sie keineswegs gefallen. Nein, die Plattform war
ganz plötzlich unter ihren Füßen.
Neben sich spürte Harpo jemanden zappeln. Er glaubte, daß es Anca war,
doch konnte er es nicht genau erkennen. Die Augen mußten sich erst an die
Finsternis der Nacht und das spärliche Licht des Sternenhimmels gewöhnen.
Aber Lonzo wußte Rat. Er ließ an drei Stellen seines Körpers Öffnungen auf
gleiten und fuhr Scheinwerfer aus. Als sie aufflammten und die Plattform und
die Besucher von der EUKALYPTUS hell erleuchteten, konnte man den Robo
ter selbst kaum erkennen. Lonzo sah wie ein kleiner Leuchtturm aus, als er
sich drehte.
„Komisch“, rief Alexander, der als erster wieder reden konnte, „eigentlich
müßten wir doch jetzt unseren Absprungstransmitter sehen. Man sieht aber
nur die Umgebung unseres Standortes.“
„Entweder ist das eine besondere Eigenschaft dieser Maschine, oder es gibt
eine Sicherheitsschaltung, die verhindert, daß das Feld neu aufgebaut wird,
bevor die Reisenden die Plattform verlassen haben.“ Es war Harpo, der diese
Worte aussprach.
„Oha“, bemerkte seine Schwester kichernd. „Du redest ja beinahe so schlau
wie Thunderclap!“
„Matrosen!“ schrie Lonzo. „Sofort die Enterhaken klarmachen. Und dann:
Auf mit Gebrüll!“ Erneut ließ er das infernalische Nebelhorn aus seinem In
neren erklingen. Ein Lärm, der selbst tote Piraten wieder auf die Beine ge
bracht hätte. Lachend kugelte die Mannschaft von der Plattform hinunter.
„Mächtig dunkel hier“, brummte Alexander.
Damit hatte er recht. Es war kaum etwas zu erkennen. Aber sie lagen auf
felsigem Untergrund. Trotz der Bodyskinanzüge konnte man deutlich den
rauhen, unregelmäßigen Boden spüren, der aus Staub, Geröll und größeren
Steinbrocken bestand. Ein Grund mehr, sich aufzurappeln.
„Chissimatucki“, schrie Lonzo. „Jetzt habe ich überall an meinem herrli
chen Körper diese ekligen blauen Flecke!“
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Alles kicherte. Dieser Lonzo! Wenn jemand von ihnen gegen blaue Flecke
geschützt war, dann er ganz allein. Selbst um eine Beule zu bekommen, hätte
er sich unter eine Lawine legen müssen.
„Was hast du eben gesagt?“ fragte Anca neugierig.
„Daß ich überall an meinem Körper blaue und grüne Flecke habe“,
jammerte der Roboter. Und mit einem kläglichen „O weh!“ drehte er sich ra
send schnell um seine eigene Achse und ließ die Scheinwerfer tanzen.
„Nein, nein“, meinte Anca ungeduldig. „Vorher ... Chissi... Chissima...“
„Chissimatucki!“ wiederholte Lonzo. „Das ist ein Geheimfluch, dessen
wahre Bedeutung nur Captain Kidd und ich kennen!“
„Oh, bitte, Lonzo, verrate sie mir“, bettelte das Mädchen. „Ich sage es auch
gewiß nicht weiter!“
„Tut mir leid, mein naseweises Schätzchen. Geheimfluch ist und bleibt Ge
heimfluch. Ich darf nichts sagen. Sonst klettert der alte Captain Kidd aus sei
nem Grab und läßt den armen Lonzo kielholen.“
Einen Moment lang waren alle vergnügt. Aber dann holte sie die Sorge um
Ollie wieder ein.
Die fröhlichen Gesichter wurden ernst.
„Ihr solltet mal auf den Transmitter achten“, murmelte Harpo. „Wir
können nämlich nicht zurück. Wenigstens nicht auf die Welt, aus der wir ge
kommen sind.“
Er deutete auf den Leuchtwürfel, in dem jetzt die Landschaft eines Sumpf
gebiets sichtbar war. Man sah einen kleinen Fluß mit tiefschwarzem Wasser,
mehrere Tümpel, Morast und spitzes Gras. In der Ferne kreisten einige zer
zaust wirkende Vögel über dem Schilf. Im Vordergrund gluckste das Wasser.
Entweder gab es dort Fische, oder Faulgase stiegen an die Oberfläche.
„Puh“, machte Alexander und klapperte mit den Zähnen, „das sieht aber
ungemütlich aus.“
„Dahin will ich auf keinen Fall“, maulte Trompo.
„Ich auch nicht!“ rief Anca. „Nur wenn uns gar keine andere Wahl bleibt.“
„Sehen wir uns ein wenig um“, schlug Bharos vor.
Die Expeditionsteilnehmer ließen ihre Blicke wandern. Der leuchtende Ku
bus gab jetzt so viel Licht ab, daß die nähere Umgebung genügend erhellt
wurde, um einiges auszumachen. Dennoch schaltete Harpo seinen Brust
scheinwerfer ein und leuchtete, gefolgt von den anderen, in die Ecken, die
das Licht bisher nicht erreichen konnte.
„Auch hier ist es nicht gerade gemütlich“, kommentierte Bharos. „Aber
ohne Zweifel war es hier früher anders.“ Er deutete mit ausgestreckter Hand
auf ein Gebilde mit eigenartig zerlaufenen Formen. An einigen Stellen
schimmerte das Ding dort, wo der Staub es noch nicht bedeckt hatte,
schwarz. Bharos berührte es und wischte den Staub von der Oberfläche.
„Metall“, gab er bekannt. „Sicher war das einmal eine Maschine. Aber jetzt
kann man nicht mehr erkennen, welchem Zweck sie früher gedient hat.“
„Seht doch mal!“ rief Alexander und deutete zum Himmel hinauf. „Über
uns befindet sich eine gläserne Kuppel!“
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Tatsächlich! Sie hatte eine große Ähnlichkeit mit der durchsichtigen Über
dachung, die die Zentrale des Raumschiffes EUKALYPTUS vor der Kälte und
dem Vakuum des Weltraums abschirmte.
„Sie ist zersprungen!“ rief Anca.
„Dort, die zackigen Kanten!“ piepste Trompo aufgeregt.
„Was mag hier nur geschehen sein?“ grübelte Harpo laut vor sich hin.
„Na, zunächst müssen wir wohl davon ausgehen, daß die Erbauer der
Transmitteranlagen sich aus unbekannten Gründen nicht mehr um ihr
Eigentum kümmern“, folgerte Bharos. „Und zwar tun sie dies schon lange
nicht mehr. Das Transmittersystem scheint vollautomatisch und selbstver
sorgend zu sein. Es hat all dies schadlos überstanden ...“
„Na, na“, mischte sich Lonzo ein, „sooo gut funktionieren diese vertrackten
Dinger ja nun auch wieder nicht!“
„Na ja“, gab Bharos zu. „Aber das System hat sich, in Anbetracht der Tatsa
che, daß es bestimmt seit sehr langer Zeit nicht mehr gewartet wird, relativ
gut gehalten. Immerhin kann es noch Personen befördern. Möglicherweise
speist es seinen Energiebedarf aus einer Quelle, die wir nicht kennen, die
aber immer noch nicht erschöpft ist. Ja, und dieses hier“ – er machte eine
großzügige Handbewegung, die alles umschloß, was sich in ihrem Blickfeld
befand –‚ „das könnte eine Station der Unbekannten gewesen sein.“
Harpo nickte.
„Ich nehme an“, fuhr Bharos fort, „daß wir uns auf einem unbewohnbaren
Planeten, vielleicht auch auf einem Asteroiden befinden. Groß kann diese
Welt jedenfalls nicht sein, am Horizont erkennt man ihre Krümmung. Und
daß wir alle hier weniger wiegen, habt ihr sicher selbst schon gemerkt.“ Wie
zur Bestätigung faßte Lonzo Ancas Hand und hüpfte mit ihr mühelos aus
dem Stand einen Meter in die Höhe.
„Und was wollten diese Leute auf dieser kalten und leblosen Welt?“ fragte
Alexander gebannt.
„Vielleicht haben sie hier seltene Erze gefördert. Und später durchschlug
ein Meteor die Schutzkuppel.“
„Damit konnte der kosmische Staub ungehindert eindringen“, warf Harpo
ein, „und legte sich wie ein graues Tuch über alles. Große und kleine Meteore
legten nach und nach die Gebäude in Trümmer, zerstörten die Maschinen
und lösten dort, wo noch Energie war, Kurzschlüsse aus. Es entstanden
elektrische Lichtbögen, die zerschmolzen, was in ihrem Bereich lag. Nur das
Transmitterfeld schützte sich und die Maschine vor der Zerstörung.“
„So wird es gewesen sein.“ Bharos nickte und registrierte mit
Verwunderung Harpos Verlegenheit, die jedoch bald einem träumerischen
Blick wich.
In der Tat musterte Harpo jetzt die staubverhangenen Umrisse der Ma
schine. Seine Phantasie fegte den Staub fort und machte die Zerstörungen
rückgängig. Vor seinem geistigen Auge tauchten prächtige Gebäude auf, die
aus hohen Metallkugeln und Waben zusammengesetzt waren. Haushohe Ma
schinen fraßen Erze in sich hinein, polterten, knurrten, prusteten und stießen
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am anderen Ende lange Metallzylinder aus. Riesige Bergwerksmaschinen,
Brecher, Schieber, Sauger, fuhren in den Fels hinein, zermalmten ihn und lu
den ihn auf Robotkarren und Förderbänder, damit den Fabrikmaschinen die
gefräßigen Mäuler gestopft werden konnten.
Er schüttelte den Kopf und verscheuchte die Vision. Dann blickte er wieder
auf die nahen und fernen Umrisse der bizarren Staubberge. Sah das da nicht
wirklich wie ein Bagger aus? Und jenes Dreieck mochte ein Förderband ge
wesen sein. Eigentlich hatte Harpo große Lust, sofort zu erkunden, ob seine
Vermutung stimmte. Und was mochte noch an Schätzen in den erhaltenge
bliebenen Gebäudeteilen zu finden sein?
„Ich würde ja zu gerne wissen, wie das früher hier ausgesehen hat“,
murmelte Harpo. „Oder herumbuddeln. Aber schließlich suchen wir Ollie. –
Mensch, der Winzling muß, wenn er hier gelandet ist, längst erfroren sein.“
„Nicht nur das“, fügte Bharos hinzu. „Ohne Raumanzug wäre er sofort tot
umgefallen.“
„Was redet ihr denn da für dummes Zeug?“ machte sich nun Anca Luft. Die
Vorstellung, daß dem Kleinen etwas zugestoßen sein könnte, wollte sie soweit
wie möglich von sich schieben. „Ihr seht doch, daß Ollie nicht hiergewesen
ist, daß er gar nicht hiergewesen sein kann! Wenn es stimmt, was Bharos sagt,
hätte er keine Gelegenheit gehabt, sich von der Plattform zu entfernen. Und
solange sie besetzt gewesen wäre, hätten wir niemals hier landen können!“
„Schwesterlein“, sagte Harpo seufzend und legte einen Arm um Ancas
Schulter, „jetzt hast du aber so messerscharf kombiniert wie Freund
Thunderclap! Und du hast recht. Ollie kann wirklich nicht hiergewesen sein.“
„Worauf warten wir dann noch?“ brummte Alexander und fletschte die
Zähne. „Nichts wie rein in die nächste Welt!“
„Chissimatucki!“ krächzte Lonzo unternehmungslustig. „Ich will nicht in
diesen gräßlichen Sumpf. Ich will ...“
„Juchhu!“ unterbrachen ihn die anderen. Das Würfelfeld war in den schon
bekannten Farbenwirbel gekippt und hatte sich neu stabilisiert.
Vor ihnen lag ein dunkles Etwas, vielleicht eine Höhle. An einer Seite, dort,
wo der Eingang war, leuchtete es tief rot.
Die Stadt der silbernen Brücken
Erneut fielen sie durch einen dunklen Tunnel, der sie durch Raum und Zeit
transportierte. In Wahrheit wurden ihre Körper in ein Muster aus Atomen
aufgelöst und am Ziel der Reise nach eben diesem Muster erneut zu
sammengesetzt. Kein angenehmer Gedanke, aber nach ihren bisherigen
Erfahrungen doch nicht so risikoreich, wie man befürchtet hatte.
Das Bild des Würfels hatte sie nicht getäuscht. Auf der Plattform der Emp
fangsstation angekommen, sahen sie sofort, daß sie tatsächlich im Innern
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einer Höhle gelandet waren. Ein aufmunterndes Kommando von Lonzo er
übrigte sich also. Blitzschnell robbte die ganze Gesellschaft nach vorn und
fand sich abermals auf felsigem Boden wieder.
Hier war es heller als auf der Welt, die sie soeben verlassen hatten. Aber das
hieß noch lange nicht, daß etwa strahlender Sonnenschein vom Höhlenein
gang her in das Innere fiel. Es herrschte ein diffuses rotes Zwielicht.
„Warum die wohl den Transmitter in einer Höhle versteckt haben?“ meinte
Harpo verwundert und richtete seinen Scheinwerfer gegen die Decke. Hier
gab es außer dem vertrauten Bild der Plattform nicht viel zu sehen. Die Höhle
endete wenige Meter entfernt an graurotem Fels. Nicht ein einziger Tunnel
strang führte weiter in das Innere des Berges hinein und regte die Phantasie
der Expeditionsmitglieder an. Die Grotte war gerade groß genug, um den
Transmitter zu fassen, und bot außer dem Anblick rohen Gesteins nichts von
Interesse. Wenn es auf dieser Welt Geheimnisse zu erkunden gab, dann dort
draußen, wo das rote Licht lockte. Die Besatzung der EUKALYPTUS rappelte
sich vom Boden auf und kletterte über verstreut herumliegendes Geröll ins
Freie. Dort blieben sie erst einmal alle stehen und bestaunten die Umgebung.
„Möööönsch, ist das eine dicke, rote Sonne!“ rief Anca und deutete auf den
riesigen Feuerball, der fast ein Viertel des Himmels einnahm, dabei aber
trotzdem erstaunlich wenig Licht abgab.
Eigentlich sah diese Sonne sehr müde und alt aus.
„Habt ihr eigentlich schon gemerkt“, meldete sich Bharos, „daß es hier
nicht nur eine Sonne gibt, sondern noch vier weitere?“
Alle sahen zum Himmel hinauf. Man konnte in die dicke, rote Sonne
schauen, ohne daß einen dabei die Augen schmerzten. Die Plexiglashelme,
die aus einem Spezialglas bestanden und sich bei intensiver Sonnenbestrah
lung verdunkelten, um die Augen zu schützen, hatten sich kaum verfärbt.
Bharos hatte recht.
Der Gigant wurde von vier weiteren kleinen Sonnen umkreist, die weiß
gelbes Licht ausstrahlten, aber so klein aussahen, daß man sie für besonders
helle, aber weit entfernte Sterne halten konnte.
Vielleicht waren sie aber gar nicht so klein, sondern wirkten nur so. Das
ganze System, das wie ein Rad mit der roten Riesensonne als Nabe aussah,
mochte so weit von diesem Planeten entfernt sein, daß die Begleitsonnen in
Wahrheit nicht kleiner waren als andere Sonnen auch.
„Seht euch mal die Umgebung an“, schlug Harpo vor, „und überlegt, ob
Ollie hiergewesen sein kann.“
„Ein altes Piratensprichwort lautet“, sagte Lonzo und kicherte, „daß der,
der immer nur zu den Sternen aufblickt, bald auf der Nase liegen wird.“
„Wenn er hier war“, meldete sich der kleine Trompo zu Wort und zeigte mit
dem Rüssel auf eine Art Pfad, der den Berg hinabführte, „müßte er dort hin
abgeklettert sein. Nicht einfach, mit heilen Knochen hinunterzukommen,
aber man könnte es schaffen.“
„Das hat Ollie bestimmt getan!“ rief Anca. „Wo er doch so gerne herum
kraxelt.“
32
„Fragt sich nur, was er dort unten wollte“, erwiderte Harpo. „Und über
haupt ist mir total unklar, wieso der Transmitter an einer solch unzugängli
chen Stelle aufgestellt wurde.“
Sie standen nämlich auf einem Felsplateau, das auf der einen Seite von
dem schroffen, steil aufragenden Berg mit der Höhle fast umschlossen wurde,
während es nach vorne ziemlich steil in die Tiefe ging. Zur Rechten gab es
weitere Berge und eine finstere Schlucht, durch die ein so heftiger Wind pfiff,
daß es hier noch an ihren Rucksäcken zerrte.
„Das kann ich dir sagen“, erklärte Alexander mit stolzgeschwellter Brust.
„Erstens wollten die Erbauer nicht, daß jemand über die Anlage stolpert. Dar
um haben sie sie versteckt. Das deutet darauf hin, daß der Planet bewohnt ist.
Oder zumindest war. Und was deine erste Frage betrifft: Vielleicht wollte Ollie
in die Stadt gehen.“
„Noch ein eiskalt kombinierender Thunderclap!“ stöhnte Anca.
„Eine Stadt?“ fragte Harpo verdutzt. „Was? Wo? Wie?“
„Du hast scharfe Augen“, lobte Bharos den jungen Rotpelz vom Planeten
Nordpol. „Es ist wirklich eine Stadt, wenn sie auch sehr seltsam aussieht.
Kommt mal alle zu mir herüber – dann könnt ihr sie besser sehen.“
„Die Großen sind im Vorteil, das ist ungerecht“, protestierte Trompo, aber
er folgte wie die anderen Bharos’ Wink, der sich nun ganz weit nach links bis
zum Rand des Plateaus hin bewegt hatte.
Jetzt konnten sie sie alle sehen. Selbst der Dackel Moritz bellte die fernen
Türme an, die bisher durch einen dicken Felsbrocken zum größten Teil
verdeckt gewesen waren.
„Toll!“ sagte Harpo.
Alle verharrten einen Moment lang in stummer Bewunderung und starrten
zu der mysteriösen Stadt. Eine Unzahl von schlanken Türmen ragte in den
Himmel. Zwischen ihnen hing ein silbernes Gespinst graziös geschwungener
Brücken, das wie ein mit Rauhreif überzogenes Spinnennetz aussah.
Lonzo unterbrach die Andacht. „Wenn ihr wollt, könnt ihr jetzt die Gold
fischgläser von den Köpfen nehmen“, verkündete er. „Die Atmosphäre ist
atembar und enthält keine für uns Menschen schädlichen Beimengungen.
Auch für Akkais und Rotpelze – und kleine rosa Elefanten – ist sie nicht
schädlich. Richtige Seebären können sich hier mal eine echt steife Brise um
die Ohren wehen lassen.“
Das mußte er natürlich nicht zweimal sagen. Sofort nestelten zahlreiche
Finger an den Verschlüssen herum und klappten die Helme nach hinten. Tief
atmeten alle die kühle Luft ein, während der Wind durch ihre Haare fuhr.
„Brrrrr, ist das kalt“, schnatterte Anca. „Beinahe wie auf Nordpol!“
„Ja“, stimmte Alexander ihr freudig brummend zu, „das ist wirklich herr
lich!“ Er fletschte die Zähne und schnupperte. Die frostige Luft war zwar
nicht mit der seines Heimatplaneten zu vergleichen, aber immerhin. Nach
der Hitze auf der EUKALYPTUS war dies für den Kälte gewohnten Rotpelz
eine richtige Erfrischung.
33
„Ich habe rein zufällig einen größeren Posten Pudelmützen dabei“, beeilte
sich Lonzo zu versichern. „Wer will, kann sie sich über die Ohren ziehen!“
Schon öffnete er seinen Rucksack und begann, blaue Mützen zu verteilen.
Selbst Anca nahm eine und zog sie so weit über die Ohren, daß man ihr
Gesicht kaum noch erkennen konnte. „Du bist mir einer!“ Sie lachte. „Hast
du nicht gesagt, in dem Rucksack wären deine Vorräte?“
„Sind das etwa keine Vorräte?“ gab Lonzo scheinheilig zurück und stülpte
sich dann selbst seine geliebte Matrosenmütze über den Metallkopf. Die
Bänder flatterten im Wind, und der Himmel mochte wissen, wieso die Mütze
nicht fortgeweht wurde. „Mir nach!“ jauchzte er, schlug zweimal ein Rad auf
seinen Tentakeln, kullerte über das Geröll und wäre fast den Abhang hinun
tergepurzelt, wenn er sich nicht im letzten Moment an einer Felsspalte fest
gekrallt hätte. „Hoppla!“ meinte er nur. Die Mütze trug er immer noch und
den Rucksack auch.
Die anderen hatten ihm mit immer blasser werdenden Nasenspitzen zuge
sehen und atmeten auf, als er sich wieder auf die dürren Beine zog.
„Laß den Unfug sein!“ knurrte Alexander. „Da kann einem ja vor Schreck
das Herz stehenbleiben!“
„Jawohl!“ sagte auch Harpo. „Wir haben schon viel zu viel Zeit verplempert.
Schluß mit dem Unsinn. Wir müssen endlich den armen Ollie finden! Sonst
könnte es zu spät sein.“ Anca hatte Mühe, Moritz zu halten. Während sie ihm
den kleinen Raumhelm abzunehmen versuchte, wollte der Dackel mit aller
Gewalt hinter Lonzo her, um mit dem radschlagenden Roboter zu spielen.
„Such Ollie! Such!“ rief Anca, als sie den Helm zurückgeklappt hatte.
Moritz schoß wie ein geölter Blitz hinter Lonzo her und versuchte laut blaf
fend, einen von dessen schlangenähnlichen Fangarmen zu erwischen. Er
machte wirklich einen Heidenspektakel.
„Schöner Spürhund!“ schimpfte Anca und lachte sich schief, als sie Lonzo
laut kreischen hörte, man solle den Drachen vertreiben, der ihm, dem tapfe
ren Ritter Hughbold von Asutria, auf den Fersen sei.
Moritz, der sich überhaupt nicht für einen Drachen hielt, wedelte eifrig mit
dem Schwanz, schnupperte dann jedoch interessiert an den Steinen herum,
hob schließlich sogar trotz des ihn umgebenden Raumanzuges ein Hin
terbein und versuchte, gegen einen Felsen zu pinkeln.
Das Gelächter, das ihm nun aus allen Richtungen entgegenschlug, führte
dazu, daß Moritz verwirrt von einem zum anderen äugte und dem in die Tiefe
führenden Pfad folgte.
„Sieht nicht gerade so aus, als ob Moritz uns weiterhelfen könnte“, kom
mentierte Bharos. „Wir müssen uns schon selbst entscheiden, in welche
Richtung wir lostigern.“
„Wenn Ollie wirklich hiergewesen ist, dann ist er auch hier runtergeklettert
und hat die Stadt erforscht!“ behauptete Anca fest.
Niemand zweifelte daran, und damit war die Entscheidung der Expe
ditionsteilnehmer gefallen. Sie würden der Stadt der silbernen Brücken einen
Besuch abstatten!
34
Die singenden Türme
Seit drei Stunden waren sie nun unterwegs. Längst hatten sie den Geröll
pfad verlassen. Jetzt gingen sie auf einer breiten Straße.
Seltsam, daß sich außer ihnen nichts regte. Seltsam auch, wie alt und rissig
der Kunststoffbelag der Straße aussah. Man konnte meinen, daß sich hier seit
hundert Jahren oder mehr weder Fußgänger noch Fahrzeuge vorwärtsbewegt
hatten. Der mächtige Wind aus der Schlucht blies unerbittlich über die Ebene
und fegte jedes Staubkorn fort. Niemand konnte mit letzter Gewißheit sagen,
ob der kleine Oliver diesen Weg gegangen war oder nicht. Moritz schnüffelte
weiterhin nur mäßig interessiert.
Aber der Planet war nicht ohne Leben. Fremdartige, baumhohe Schlingge
wächse hatten die Ebene vor der Stadt erobert und reckten ihre gespens
tischen, schlangengleichen Arme bisweilen so weit in die Straße hinein, daß
die Gruppe es vorzog, sicherheitshalber im Gänsemarsch in der Straßenmitte
zu gehen. Wenn sich die Äste auch nicht bewegten, sondern höchstens hier
und da mal im Wind schwankten – sie wirkten irgendwie bedrohlich und sa
hen aus, als könnten sie jeden Moment zum Leben erwachen und wie Fang
arme nach ihnen greifen.
Eigenartiger als die rissige Straße und die seltsamen Gewächse war jedoch
etwas anderes. Es wurde deutlicher, je mehr sie sich der Stadt näherten. Eine
Art von Musik lag über der Ebene, Töne, die sich anhörten, als würde jemand
auf einer Orgel spielen, die nur noch aus wenigen heilen Orgelpfeifen be
steht. Die Musik kam aus der Stadt. Sie klang seltsam fremd, zerrissen und
düster.
„Weißt du, was ich glaube?“ fragte Harpo seine Schwester. „Ich glaube, daß
diese Geräusche gar nicht von Leuten in der Stadt gemacht werden. Es ist die
Stadt selbst, die diese Töne von sich gibt. Der Wind streicht an den schlanken
Türmen vorbei und spielt dabei auf ihnen wie auf Musikinstrumenten.
„Aber warum?“ fragte Anca zurück. „Der Wind ist doch kein intelligentes
Geschöpf. Und trotzdem hören sich die Geräusche wie Musik an. Alles ist
so ... so traurig.“
„Es paßt zu diesem Planeten und zu dieser Stadt“, sagte Bharos. „Ich weiß
zwar auch nicht, wie diese Musik entsteht, aber sie scheint zu diesem Plane
ten zu gehören. Seht euch die düsterrote Landschaft an oder die sterbende
rote Sonne. Dort links – sind das nicht Reste einstiger Türme? Sind nicht so
gar die meisten Türme der Stadt verfallen, nur noch Ruinen? Ich glaube
immer mehr, daß wir uns auf einer dem Untergang geweihten Welt aufhal
ten. Wer weiß, ob noch jemand in der Stadt lebt.“
„Das hört sich ja richtig unheimlich an“, meinte Anca.
„Wo sollen die Bewohner denn geblieben sein?“ fragte Alexander, der am
Ende der Gruppe marschierte.
Niemand antwortete. Harpo lag es auf der Zunge, Bharos zu fragen, ob er
mit seinen telepathischen Fähigkeiten die Anwesenheit Ollies oder eines
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anderen Stadtbewohners nicht spüren könne, aber er ließ es bleiben. Erstens
waren sie wohl noch nicht nahe genug, und zweitens würde Bharos schon
Bescheid sagen, wenn er fremde Gedanken auffing. Er wandte sich dennoch
zu Bharos um – und sperrte die Augen auf. Wo sich eben noch der Akkai be
funden hatte, war jetzt niemand. Bharos war verschwunden. Von einer Se
kunde zur anderen hatte er seinen Körper durch reine Geisteskraft von einem
Ort zum anderen bewegt. Das war für die Kinder eigentlich keine Überra
schung mehr, da früher ein Junge namens Lucky Cicero unter ihnen gewesen
war, der das auch konnte. Lucky lebte allerdings schon seit längerem nicht
mehr auf der EUKALYPTUS: Zusammen mit einer ganzen Reihe anderer
Kinder war er auf dem Planeten Nordpol zurückgeblieben, von dem Alex
ander stammte.
Die Fähigkeit der Teleportation war nur eine von mehreren anderen, derer
sich der Akkai bedienen konnte. Zaubern konnte Bharos allerdings auch
nicht. Das Teleportieren kostete ihn viel Kraft und Konzentration und war
über große Strecken hinweg sogar fast unmöglich. Wahrscheinlich hatte er so
lange mit seinem Plan gewartet, bis sie der Stadt nahe genug gekommen
waren.
„Verschwindet einfach, ohne was zu sagen“, murrte Harpo. „Sollen wir nun
weitergehen, oder warten wir lieber, bis Bharos zurück ist?“ wollte Anca
wissen. „Mir tun nämlich die Füße weh.“
„Mir auch!“ schrie Lonzo. „Mir auch!“ Und er fing gottserbärmlich an zu
stöhnen, obwohl ihm natürlich überhaupt nichts weh tun konnte. Aber das
zuzugeben hätte ja womöglich bedeutet, daß er sich selbst für einen Roboter
hielt. Da allen nach einer Pause zumute war, gab es nicht viel zu überlegen.
Sie ließen sich einfach auf dem Kunststoffbelag der Straße nieder, streckten
alle viere von sich und machten es sich bequem.
Selbst Moritz war müde geworden, gähnte und streckte die Schnauze zwi
schen die Vorderpfoten.
Eine Weile war es ziemlich still, weil alle zu faul waren, auch nur ein Wort
zu sagen. Planetenabenteuer waren ganz schön anstrengend, und außerdem
zerrte diese Welt mit ihrer Gravitation an ihren Körpern. Hier war es nicht
möglich, aus dem Stand heraus meterhohe Luftsprünge zu machen wie auf
dem Planeten mit der geborstenen Kuppel.
Sie alle waren an das künstlich erzeugte Schwerefeld der EUKALYPTUS ge
wöhnt, dessen Werte knapp unter denen der Erde lagen. Im Gegensatz dazu
wog der menschliche Körper hier noch ein bißchen mehr als auf der Erde.
Wer für gewöhnlich 120 Pfund wog, mußte hier vielleicht 130 oder gar 140
Pfund mit sich herumschleppen – und dazu noch den Rucksack. Das machte
sich unangenehm bemerkbar, zumindest dann, wenn man stundenlang über
einen Gebirgspfad geklettert war. Der Rückweg würde sie, da es dann bergauf
ging, noch mehr schlauchen.
Schließlich fiel Alexander ein, daß er Hunger hatte. Er holte eine Schachtel
mit kalten Kartoffelpuffern heraus, die ihnen Karlie vorsorglich eingepackt
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hatte, und begann, wie ein Höhlenbär zu schmatzen. Kichernd folgten die
anderen seinem Beispiel.
Harpo war schließlich der erste, der sich aufrichtete und sagte: „Bharos
wollte sich doch bestimmt nur ganz kurz umsehen und zurückkommen! Da
muß etwas passiert sein. Junge, Junge, jetzt haben wir auch Bharos verloren!“
„Nun mal langsam“, meinte Alexander. „Ihr wißt doch, daß sich Bharos
meistens zu helfen weiß, wenn er in Schwierigkeiten kommt. Ein bißchen
sollten wir noch warten.“
„Hmmm“, brummte Harpo, „warten wir noch fünf Minuten, dann machen
wir uns aber auf die Socken. Irgend etwas stimmt da wirklich nicht.“
Er schwieg und überlegte kurz, ob er Bharos über Funk suchen sollte. Aber
das war wohl sinnlos, da auch die Helmfunkgeräte eine begrenzte Reichweite
hatten. Anders wäre das natürlich gewesen, wenn sich die EUKALYPTUS mit
ihren mächtigen Verstärkern in der Nähe aufgehalten hätte. Dank Schwatz
mauls Unterstützung hätten sie dann auch über weitere Strecken mitein
ander sprechen können. Die Funkwellen wurden in einem solchen Fall vom
Bordcomputer aufgespürt, verstärkt und wieder abgestrahlt.
Die fünf Minuten vergingen, ohne daß Bharos zurückkehrte. „Also los“,
meinte Alexander und setzte sich als erster in Bewegung. Lonzo heftete sich
voller Tatendrang sofort an seine Fersen. Die anderen folgten den beiden mit
eher gemischten Gefühlen.
Die Straße führte geradewegs auf die phantastische Stadt zu. Immer deutli
cher wurde beim Näherkommen, wie stark der Zahn der Zeit an den Türmen,
Brücken und Gebäuden genagt hatte. Einzelne Türme waren zu
sammengefallen, und das silberne Netz der Brücken sah aus, als hätte ein
Sturm in einem Spinnennetz gewütet.
Verbindungsstreben hingen herab, zerborstene Metallgitter ächzten im
Wind, und an einigen Stellen gab es nur noch Fragmente der einstigen Netz
struktur. Rußgeschwärzter Stahl zeigte an, daß hier ein gewaltiges Feuer ge
wütet hatte. Aber nicht allein die Zerstörungen fielen den Ankömmlingen auf.
Die Mauern einiger mächtiger Gebäude wirkten so makellos glatt, als hätten
unbekannte Baumeister sie erst vor wenigen Tagen in die Höhe gezogen.
Zwischen zwei Gebäudeblöcken dieser Art führte die Straße schnurgerade in
die Stadt hinein. Hoch über den Köpfen der Expeditionsmitglieder öffneten
sich die ansonsten fensterlosen Gebäude zu Balkons, Galerien und Platt
formen mit dahinterliegenden dunklen Tunnelhöhlen.
„Was hältst du davon?“ fragte Anca, tippte Harpo auf die Schulter und deu
tete auf die in luftiger Höhe angebrachten Terrassen.
„Wer sich dort hinaufwagt, muß schwindelfrei sein.“
„Nicht nur das“, warf Trompo ein. „Bei dem Wind muß man ganz schön
aufpassen, daß man nicht weggeweht wird.“
„Vielleicht besaßen die Bewohner dieser Stadt Flügel“, vermutete Anca.
„Kann sein“, meinte Harpo.
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„Wahrscheinlich ist die Lösung viel einfacher“, mischte sich nun Alexander
ein. „Von hier unten sehen die Plattformen klein aus, in Wahrheit sind sie
aber vielleicht so groß, daß Hubschrauber auf ihnen landen können.“
„Schon möglich“, sagte Harpo. Seine Worte wurden beinahe von den Ge
räuschen der singenden Türme verschluckt, die jetzt wieder zu einem phan
tastischen Konzert ansetzten. Eine Weile hatten sie nur still vor sich hin
gesummt, aber jetzt stimmten mehrere von ihnen zugleich ein Klagelied an.
Als sie das Eingangsgebäude hinter sich gelassen hatten, passierten sie eine
Brücke. Darunter floß ein dunkles Gewässer. Die Straße schraubte sich nun
langsam höher und führte in tausend Verästelungen zu den silbernen
Brücken empor und von dort aus zu den Türmen. Unter ihnen lag ein Gewirr
von Kanälen, auf deren schwarzer Wasseroberfläche die düsteren Reflexe der
roten Sonne glitzerten. „Wie sollen wir in diesem Durcheinander von Straßen
und Brücken Bharos oder gar Ollie finden?“ fragte Alexander.
„Am besten überlegen wir uns, welche Gebäude Ollie oder Bharos am
meisten interessiert haben könnten“, schlug Anca vor. „Und dort suchen wir
sie zuerst!“
„Klar!“ stimmte Harpo zu. „Erst mal dorthin, wo es am geheimnisvollsten
aussieht. Ich würde sagen: Schauen wir uns den nächstgelegenen Turm mal
von innen an.“
„Endlich!“ sagte plötzlich hinter ihnen eine vertraute Stimme, und alle fuh
ren wie elektrisiert herum. Nur wenige Meter von ihnen entfernt war Bharos
aufgetaucht und lächelte ihnen zu. Von Ollie war jedoch keine Spur.
„Tut mir leid, daß ich so plötzlich verschwunden bin“, sagte Bharos zer
knirscht. „Aber vielleicht versteht ihr mich, wenn ich euch gestehe, daß die
Neugierde mit mir durchgegangen ist. Ich konnte mich einfach nicht beherr
schen!“
„Du hast einen Schatz gewittert, wetten?“ krähte Lonzo rostig. „Das ent
schuldigt natürlich alles! Captain Kidd erging es genauso: Ihm mochten
schon die Kanonenkugeln um die Ohren fliegen – wenn er auf einen Schatz
gestoßen war, ließ er alles stehen und liegen und starrte ihn erst einmal eine
Stunde und neunundzwanzig Sekunden lang in stummer Andacht an.“
„Nein, nein“, wehrte Bharos lachend ab. „Ich ...“
„Du hast Ollie gefunden!“ triumphierte Alexander.
Ehe ein allgemeiner Jubel ausbrechen konnte, schüttelte der Akkai rasch
den Kopf, um nicht falsche Hoffnungen in den Kindern zu wecken. „Leider
nein“, fuhr er fort, „aber ich weiß inzwischen, daß er hier nicht war! Das war
auch der Hauptgrund für meine unbeabsichtigt lange Abwesenheit. Ich bin
aus purem Zufall in eine Art Informationszentrum geraten, wo bereits beim
Eintritt eine Lautsprecherstimme auf mich einredete. Sie wurde von einem
Computer erzeugt, und mit Hilfe meines Translators gelang es mir, die Spra
che zu übersetzen. Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis ich begriff, was
dieser Computer mir mitteilen wollte. Er überschüttete mich förmlich mit In
formationen. Als ich dann begann, gezielte Fragen zu stellen, erfuhr ich, daß
der letzte Besucher vor uns vor sechsundsiebzig Jahren die Stadt betreten
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hat. Ollie war also nicht hier. Ja, und dann habe ich euch gesucht und konnte
euch zunächst nicht finden. Wie ihr merkt, hat es eine Weile gedauert, bis ich
euch auf die Spur kam.“
„Es war trotzdem nicht richtig, einfach wortlos zu verschwinden“, schimpf
te Anca. „Wirklich, Bharos, du hättest uns vorher Bescheid geben sollen. Wir
haben uns große Sorgen gemacht!“
„Du hast ja völlig recht, Anca“, gab Bharos kleinlaut zu. „Ich will so etwas
auch nicht wieder tun. Da habt ihr es: Obwohl ich euer Urururgroßvater sein
könnte, benehme ich mich manchmal nicht anders als der kleine Oliver!“
„Hmmmm“, machte Harpo. „Dann können wir uns jedenfalls weiteres Su
chen in der Stadt ersparen. Machen wir uns auf die Socken. Zurück zum
Transmitter! Wir müssen Ollie finden – und wir müssen ihn bald finden.
Wenn allerdings unsere Pechsträhne anhält, dann ...“
Die Gruppe setzte sich in Bewegung.
„Und unterwegs kannst du uns erzählen, was du über die seltsame Stadt
erfahren hast“, meinte Anca.
„Sicher“, antwortete Bharos. „Mach’ ich.“
„Was sollen die Türme?“ fragte Alexander neugierig. „Und warum diese
Musik?“
„Oh“, sagte Bharos. „Was wir von der Musik hören, ist nur noch ein Rest
der früheren Klangfülle. Stellt euch vor: Diese Stadt wurde erbaut, um Musik
zu machen. Windmaschinen, von Computern gesteuert, ließen den Wind
gegen die Türme blasen und erzeugten damit Töne, die sich zu einem Musik
stück zusammenfügten.“
„Aber warum?“ fragte Harpo ungeduldig.
„Das habe ich Martin auch gefragt. Er zeigte mir ...“
„He!“ unterbrach Alexander. „Wer ist Martin? Lebt doch jemand in der
Stadt?“
„Ach, entschuldigt“, antwortete Bharos. „Martin – so habe ich den Compu
ter genannt, als ich mich mit ihm unterhielt. Wie gesagt, er zeigte mir Filme
aus der Vergangenheit der Stadt. Ich sah Menschen, es müssen Menschen
von eurer Erde gewesen sein! Sie erbauten diese Stadt, um ein Fest zu feiern.
Dieser Planet, den sie Worlorn nannten ...“
„Aber es können doch unmöglich Menschen von der Erde gewesen sein!“
protestierte Anca.
„Nun laß ihn doch mal ausreden!“ schimpfte Harpo.
„Nun, dieser Planet ist ein kosmischer Vagabund, der nur zufällig in den
Anziehungsbereich der roten Sonne geriet und sich bereits wieder von ihr
entfernt. Offenbar gibt es in der Nähe mehrere bewohnte Planeten. Die Be
wohner nutzten die Gelegenheit, um ein großes Fest zu feiern. Jeder Planet
baute eine Stadt, nur für diesen Zweck. Dann überließ man alles sich selbst.
Was wir sehen, sind die Reste dieses großen Ereignisses ...“
„Also gibt es noch andere Städte?“ Das war wieder Anca, die fragte.
„Ja, aber sie sehen nicht viel anders aus als diese hier. Der Planet stirbt, die
Menschen haben ihn aufgegeben.“
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„So was“, sagte Harpo kopfschüttelnd. „Eine ganze Stadt als Musikinstru
ment zu bauen.“
Inzwischen hatten sie den Rand der Stadt erreicht und betraten die rissige
Straße, die in die Berge führte. Bald schon sahen die Türme nur noch wie
Spielzeug aus, und die Musik wurde zu einem leisen Säuseln. Dann begann
der mühselige Aufstieg zum Transmitter.
„Seltsam“, sagte Harpo, den die Geschichte dieser Stadt noch immer nicht
losließ. „Du sagst, daß die Leute in diesen Filmen wie Menschen aussahen.
Ich frage mich, ob es tatsächlich Menschen waren.“
„Seltsam wäre das schon“, sagte Bharos und runzelte die Stirn.
„Schau mal“, versuchte Harpo zu verdeutlichen, „wir wissen ja bereits seit
geraumer Zeit, daß wir Menschen nicht die einzigen intelligenten Wesen im
All sind. Wir haben auf unserer bisherigen Reise zwar schon mehr als ein
halbes Dutzend Völker kennengelernt, aber nie waren Wesen dabei, die uns
zum Verwechseln ähnlich sahen!“
„Was willst du damit sagen?“ fragte Alexander, der Harpos Worten mit
besonderem Interesse gelauscht hatte. „Daß es keine anderen Wesen gibt, die
genau wie ihr aussehen?“ Harpo zuckte mit den Schultern und machte sich
an den Aufstieg. „Ich weiß nicht. Vielleicht sind wir wirklich die einzigen, die
so aussehen, und die Bewohner dieser Stadt waren tatsächlich Menschen,
nur andere eben.“
„Hmm“, machten Bharos, Anca und Lonzo gleichzeitig.
„Wer weiß, ob uns der Transmitter vielleicht nicht nur durch den Raum
führte, sondern auch noch durch die Zeit. Vielleicht hat Bharos Szenen aus
einer fernen Zukunft der Menschheit gesehen, die für uns nun bereits
Vergangenheit ist. Man hätte den Computer fragen sollen, ob er den Namen
Erde kennt.“
„Aber ...“ begann Anca, doch dann verstummte sie. Eigentlich hatte sie
fragen wollen, wovon überhaupt die Rede war. Aber gerade noch rechtzeitig
war ihr eingefallen, daß sie nicht zum erstenmal seltsame Erfahrungen mit
dem Ablauf der Zeit machten. Sie selbst wußte aus den Physikstunden unter
Schwatzmauls Anleitung, daß ein fester Zeitablauf mit einem bestimmten Ort
im Universum, zum Beispiel dem Planeten Erde, verbunden war. Relative
Zeit nannte man das. Wie der große Physiker Einstein herausgefunden hatte,
veränderte sich der Ablauf der Zeit, wenn man sich in einem Raumschiff vom
ursprünglichen Bezugssystem löste und dabei in die Nähe der Lichtge
schwindigkeit kam. An Bord herrschte dann eine eigene Zeit, die viel lang
samer als die auf dem Planeten Erde verlief, obwohl die Beteiligten selbst
nichts davon bemerkten. Erst nach der Rückkehr wurde deutlich, was
passiert war – wenn auf der Erde vielleicht schon einige hundert Jahre verstri
chen waren, während die Raumfahrer nur wenige Jahre im Weltraum verlebt
hatten. Richtig bunt wurde es jedoch erst, wenn die Lichtgeschwindigkeit –
die Einstein noch als höchstmögliche Geschwindigkeit im Universum ange
sehen hatte – überschritten oder, das war Thunderclaps Theorie, durch die
Existenz von RaumZeitFalten überlistet wurde. Dann nämlich schienen alle
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bekannten Gesetze über Raum und Zeit verrückt zu spielen. So etwas war
passiert, als sich die EUKALYPTUS aus dem Erdumlauf gelöst hatte. Und
anderen war es ähnlich ergangen. Wie wäre es sonst zu erklären gewesen, daß
die Schiffbrüchigen der AESCLIPUS – mit denen die Besatzung der EUKA
LYPTUS in einem ihrer letzten Abenteuer zusammengetroffen war – 128 Jah
re vor der EUKALYPTUS gestartet waren? Daß sie sich in einem Raumsektor
aufhielten, den ihre kleine Raumjacht zu Lebzeiten der Besatzung niemals
hätte erreichen können, wenn sie innerhalb der Lichtgeschwindigkeit ge
blieben wäre?
„Noch ist Gelegenheit, die versäumten Fragen nachzuholen“, meinte Bha
ros. „Wir könnten umkehren ...“
Harpo dachte an die zerfallenen Türme und die traurige Musik. Er
schüttelte sich. „Nein“, sagte er dann seufzend, „man muß nicht jedes Rätsel
lösen wollen. Laßt uns lieber alles daransetzen, unseren verschwundenen
Kumpel Ollie wiederzufinden.“
Der Große Shuubuu
Obwohl der Bildwürfel des Transmitters eine freundliche, sonnenbe
schienene Waldlandschaft gezeigt hatte, durchquerten sie das Tor zwischen
den Welten dennoch mit geschlossenen Helmen. Kaum lagen sie auf der
Plattform der Empfangsstation, als Lonzo auch schon Entwarnung si
gnalisierte. Seine Meßinstrumente hatten blitzschnell die Atmosphäre
analysiert. Die Luft war also atembar.
Anca klappte den Raumhelm als erste nach hinten. Dabei streifte ihr Blick
den Himmel über dem Transmitter. „He! Seht euch das Netzdach an. Wenn
das die Plattform vor dem Regen schützen soll, sehe ich schwarz!“
Daß dieses engmaschige Netz nicht als Regenschutz gedacht war, erwies
sich kaum eine Sekunde später. Das Netz senkte sich mit ungeheurer Schnel
ligkeit auf die völlig verdutzte Gruppe hinab.
Alle purzelten durcheinander.
„Verrat!“ schrie Lonzo und versuchte, auf die Beine zu kommen. „Wetzt die
Messer, Matrosen! Alle Mann an Deck! Feindliche Piraten wollen uns ans Le
der!“ Er schlug wild um sich und versuchte unter Einsatz aller Tentakel, das
Netz zu heben. Aber sein Widerstand hatte nur den sichtbaren Erfolg, daß er
sich hoffnungslos verhedderte.
Wieselflinke kleine Wesen rannten hinter einer Buschkette hervor, ergriffen
herabhängende Leinen des Netzes und zogen es blitzschnell unter den
zappelnden Körpern der Gefangenen hindurch. Ehe die Expeditionsteil
nehmer auch nur einen klaren Gedanken fassen konnten, war aus dem Netz
ein Beutel geworden, der mitsamt Inhalt mit einem primitiven Baum in die
Höhe gezogen und aus dem Transmitterfeld herausgeschwenkt wurde.
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Immer mehr der fremden Wesen eilten hinter den Büschen hervor. Sie halfen
dabei, das Netz noch enger zu verschnüren und mit Stricken zu verstärken.
„Da hinten muß ein Nest sein“, meinte Alexander stöhnend.
„Die haben uns hereingelegt“, knirschte Harpo wütend. „Die Büsche sind
nur Tarnung, dahinter steht ein Gebäude, das wie ein Bunker aussieht. Man
kann deutlich Treppen erkennen.“
„Die machen bestimmt nicht zum ersten Mal auf diese Weise Beute“,
knurrte der sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringende Bharos. „Wenn
sie den Kleinen auch so empfangen haben ...“
„Kannst du dich nicht wegteleportieren?“ fragte Harpo.
„Das kann ich schon“, erwiderte Bharos, „aber diese Knilche behalten uns
ziemlich genau im Auge. Ich fürchte, sie werden sich dann an euch rächen,
wenn ich jetzt abhaue, um aus dem Dunkel heraus zu operieren.“
„Chissimatucki!“ fluchte Lonzo. „Wenn der alte Captain Kidd das miterlebt
hätte, wäre ich jetzt aber ganz schön blamiert!“ Er zwängte seine Tentakel in
die Netzmaschen und versuchte, diese zu zerreißen. Er mußte sich gewaltig
anstrengen, weil das Material zäher als erwartet war. Schließlich riß das Netz
an zwei Stellen, was aber nicht ausreichte, um Lonzo durchzulassen. Auch
Bharos und die anderen versuchten nun, das Netz anzureißen.
Ohne Erfolg. Da mußte man schon Kräfte wie Lonzo haben. Alexander
fletschte die Zähne und zerrte an den Maschen, was das Zeug hielt, aber auch
seiner Kraft waren Grenzen gesetzt. So begnügte er sich damit, die wild her
umtanzende und johlende Meute ihrer Peiniger zu beschimpfen. „Dreck
spatzen“ war noch der freundlichste der saftigen Ausdrücke, die er ihnen an
die Köpfe warf.
Lonzo zerriß ächzend eine weitere Masche. Das hätte er besser nicht tun
sollen, denn nun waren die Angreifer auf ihn aufmerksam geworden. Mindes
tens zehn von ihnen kümmerten sich um den Roboter, indem sie dicke Stri
cke um seinen kugelförmigen Leib schlangen und ihn in Windeseile zu einem
handlichen Paket verschnürten, aus dem nur noch der Kopf hervorsah. Sogar
die Matrosenmütze war ihm in der Hektik vom Kopf gerutscht.
„Ist das ein feines Benehmen?“ kreischte Lonzo. „Ihr habt wohl überhaupt
keine Bildung, was? Was soll ich mit dieser Strickweste? Mir ist doch über
haupt nicht kalt, ihr Schneckengesichter! Chissimatucki! Captain Kidd! Höl
lengeister! Wo seid ihr? Kommt uns zu Hilfe! Ein Fäßchen Rum für jeden, der
uns aus der Patsche haut! Selbst für gelbe und grüne Teufel!“
Aber nirgends waren Teufel zu sichten. Nur die quirligen Wesen, die Lonzo
nicht zu Unrecht als Schneckengesichter bezeichnet hatte, flitzten unter ih
nen hin und her, schnitten Lonzo aus dem Netz heraus und flickten die Lücke
mit Stricken.
„Junge, Junge“, rief Bharos keuchend, „da sind wir ja schön in was reinge
schlittert!“
Alexander knurrte: „Frechheit! Ist das eine Art, frage ich euch? Ist das eine
Art? Keine gute Kinderstube, sage ich euch, gar nichts!“ Er wollte vor Empö
rung den Kopf schütteln, was ihm aber wegen der herrschenden Enge nicht
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gelang. „O du heiliger Eisberg“, schwor er, „wenn ich hier je wieder rauskom
me und diese Burschen entschuldigen sich nicht, werde ich ihnen den Hin
tern versohlen!“
Harpo gab das Zappeln auf, weil es ja doch nichts half. Statt dessen be
trachtete er die fremden Wesen, die jetzt etwas gelassener wurden, weil sie
sahen, daß die Gefangenen nicht mehr fliehen konnten.
Keines der Geschöpfe war größer als einen Meter fünfzig, und keines trug
Kleider. Am auffälligsten war die blaue, schuppige und faltige Haut ihrer Kör
per und der Stützschwanz, der auf den ersten Blick wie ein verkürztes drittes
Bein wirkte. Die Gesichter der Wesen waren seltsam ausdruckslos und
schwammig. Die Haut schien ständig in Bewegung zu sein; nur die beiden
runden Reptilienaugen und die mundähnliche Öffnung darunter wirkten
starr. Aus dem oberen Kopfteil ragten zwei Fühler, die sich dauernd verform
ten und manchmal fast ganz im Kopf verschwanden. Die Beine dieser Krea
turen waren stämmig und muskulös, während die Arme zierlich aussahen.
Daß sie damit dennoch kräftig zupacken konnten, hatten sie zur Genüge be
wiesen. Die Füße hatten vorne zwei Zehen und hinten einen kräftigen,
krallenartigen Dorn. Vermutlich waren die Fremden gute Kletterer.
Auffällig war, daß die ganze Aktion beinahe lautlos erfolgt war. Die Be
wohner dieser Welt bewegten sich geräuschlos und schienen gut aufeinander
eingespielt zu sein, so daß es keiner Befehle bedurfte. Man hätte annehmen
können, daß sie gar nicht fähig waren, sich sprachlich auszudrücken, aber
das erwies sich wenig später als Trugschluß.
Eine Kolonne niedriger Kastenwagen, die von jeweils vier stämmigen, po
nygroßen Echsen gezogen wurden, kam in das Blickfeld der Gefangenen. Die
Zugtiere blickten ziemlich stumpfsinnig drein, hatten schuppige, gelbgrüne
Körper und sehr kleine Köpfe. Den Zähnen nach zu urteilen handelte es sich
bei ihnen um Pflanzenfresser.
Während auf den hinteren Wagen nur Wagenlenker saßen, hob sich das
erste Gespann deutlich von den anderen ab. Die Zugtiere trugen reichver
ziertes Geschirr, der Wagen war mit fremdartigen Symbolen verziert und zu
dem von einem Baldachin überdacht. Drei fremde Wesen kletterten von
diesem Wagen herunter. Auf den ersten Blick unterschieden sie sich nicht
von den anderen, aber als sie näherkamen, erkannte Harpo, daß ihre Stütz
schwänze von bronzenen Ringen umschlossen waren.
Die Neuankömmlinge wurden mit sichtlichem Respekt behandelt. Das
Wesen mit dem breitesten Schwanzring ergriff die Initiative, trat an das Netz
heran, das jetzt in seine Höhe gehievt wurde, und kniff Anca in die Wange.
„Autsch!“ schrie das Mädchen. „Was will der Kerl von mir?“ Obwohl ihm
eigentlich ganz und gar nicht lustig zumute war, mußte Harpo an das Mär
chen von Hänsel und Gretel denken. Grinsend meinte er: „Er hat wohl gleich
erkannt, daß an dir am meisten dran ist, Schwesterlein. Aber tröste dich:
Wenn der wirklich vorhat, uns in einen Kochtopf zu stecken, wird er dich für
die Feiertage aufheben.“
43
„Erzähl doch nicht so ‘n Mist!“ zeterte Alexander aufgebracht. Im nächsten
Moment wurde er selbst prüfend am Arm befühlt.
„Pfoten weg!“ rief er erbost, aber das half ihm wenig. Immerhin zeigte sich
das Wesen – ob es der Küchenchef war? – von Alexanders Körperbau beein
druckt, was sich in einem Geräusch äußerte, das einem anerkennenden
Zungenschnalzen nicht unähnlich war. Es musterte Alexander vom Scheitel
bis zur Sohle und zischte den Umstehenden etwas zu. Ein allgemeines
Zischen und Schnalzen setzte ein, das für Sekunden zu einem Orkan an
schwoll, als unterhielte man sich hier in aller Gemütsruhe über die Beute.
Harpo zerrte so lange an dem Netz herum, bis es ihm gelang, die rechte
Hand an das linke Handgelenk zu bringen. Dort drückte er den Einschalt
knopf des Translators. Nun mußte er die Wesen veranlassen, etwas lauter zu
reden, damit das intelligente Maschinchen Vokabeln sammeln konnte. Da es
– einmal betriebsbereit – die Aufmerksamkeit ohnehin auf sich lenken würde,
beschloß Harpo, sich jetzt schon ins Rampenlicht zu stellen.
„Schneidet mich los, ihr feigen Gesellen!“ rief er. „Ich will mit euch boxen!“
Geschnatter war die Antwort.
„Ehrlich?“ Alexander staunte.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte Anca.
„Er will, daß sie etwas lauter reden“, flüsterte Trompo.
„Gute Idee!“ lobte Bharos. „Aber du mußt sie ein bißchen frecher reizen.“
„Was ist nun?“ tobte Harpo weiter. „Wir kämpfen über zwölf Runden. Der
Sieger bekommt eine Dose Bratfisch!“
„Mit Öffner!“ fügte Lonzo hinzu, der jetzt auch erkannt hatte, was Harpo
beabsichtigte.
„Eine Dose Bratfisch mit Öffner! Wer kann da noch nein sagen? Nur ein
Feigling kann das!“
Der Anführer – oder Küchenchef – starrte Harpo mit seinen unbeweglichen
Augen an und zischte seinen Begleitern erneut etwas zu. Und das hörte sich
so an, als würde eine vorsintflutliche Dampflokomotive in einen Bahnhof
einfahren. Als einer der Begleiter antwortete, war der Translator schon in der
glücklichen Lage, übersetzen zu können.
„... habt ihr ... pschffft... mein Erhabener ... pschffft... gute Sklaven ...
pschffft... viele... pschffft...“
„Sklaven? Was heißt hier Sklaven?“ schnaufte Alexander. „Die haben wohl
nicht alle Pfannen auf dem Dach!“
„Immer noch besser als Schaschlik!“ juxte Anca.
„Keine Sorge, Seeleute“, dröhnte jetzt Lonzos Baß zu ihnen herüber, „ich
werde nicht zulassen, daß mir etwas Böses geschieht!“ Er kicherte aus seinem
verschnürten Bündel heraus wie über einen guten Witz. Der Translator be
eilte sich, soweit er mit den wenigen Vokabeln dazu in der Lage war, alles in
die Sprache der Fremden zu übersetzen.
Der Anführer schien gute Ohren zu haben, obwohl man die nicht sehen
konnte. Er erkannte sofort, daß die Worte von Harpo ausgingen, und fixierte
den Jungen mit starrem Blick. Geistesgegenwärtig bewegte Harpo die Lippen,
44
während der Translator zischte. Er mußte unter allen Umständen vermeiden,
daß Freund Schneckengesicht merkte, wer hier in Wirklichkeit sprach, und
ihm das Gerät wegnahm.
„Aha“, sagte der Anführer – zumindest wurde seine Bemerkung so über
setzt –‚ „... Sklave versteht ... pschffft... Sprache der ... pschffft. Kann ihm nicht
... pschffft... helfen. Trotzdem ... pschffft... Sklavenmarkt.“
„Aber wir kommen von einem anderen Planeten, einer Welt, die weit ...“
begann Harpo, aber der andere zischte so zornig, daß er verstummte.
„Schweig!“ übersetzte der Translator.
Harpo drehte ihn so leise, daß er nicht mehr zu hören war. Offenbar war
der Anführer nicht in Verhandlungslaune. Vielleicht ergab sich später eine
bessere Möglichkeit.
Dann kam eines der anderen Wesen näher. Rasch drehte Harpo die Laut
stärke wieder hoch. „Wenn ich den Erhabenen auf diesen anderen
Gefangenen aufmerksam machen darf“, sagte es.
Der Erhabene geruhte, sich Lonzo zuzuwenden, den man unter all den Stri
cken kaum noch erkennen konnte. Als er ihn betrachtete, wirkte er seltsam
aufgeregt. Sein Stummelschwanz zuckte. Sein blaues Gesicht wurde beinahe
schwarz.
„Löst einige Fesseln!“ herrschte er einen Untergebenen an, der sofort ein
Messer zückte und sich daranmachte, Lonzo zur Hälfte auszuwickeln, wobei
er jedoch sorgfältig darauf achtete, daß er die Tentakel nicht mit befreite.
„Er ist es!“ zischte der Anführer der Schneckengesichter leise.
Lonzo, der über Funk die Übersetzung des Translators an Harpos Handge
lenk mithörte, schrie: „Hach! Endlich erkennt man den Gefährten von Cap
tain Kidd! Das wurde aber auch Zeit. Hallo, Herr Erhabener! Wie geht es dir?“
Da der Roboter keinen eigenen Translator besaß, konnte der Anführer
nichts von seinen Worten verstehen. Immerhin starrte er Lonzo verzückt an.
„Soll ich den Translator wieder etwas lauter stellen?“ fragte Harpo.
„Besser nicht“, riet Bharos, „weil dieser komische Kerl, dieser ... Erhabene
ja nicht weiß, daß wir in Wirklichkeit gar nichts von seinem Gezischel ver
stehen. Wenn er tatsächlich an Lonzo einen Narren gefressen hat, wird sich
das über kurz oder lang auch für uns auszahlen. Lonzo braucht nicht sehr
lange, um eine fremde Sprache zu lernen.“
„Es ist der Große Shuubuu!“ heulte der Erhabene plötzlich auf. „Endlich,
nach so langer Zeit, ist er wieder zu uns zurückgekehrt! Und wir haben ihn
gedemütigt!“ Er verbeugte sich vor Lonzo und verfluchte seine Untertanen,
die ihm das angetan hatten, bis ins siebte Glied. „Großer Shuubuu – verzeih
deinen unwürdigen Dienern. Sie haben dich nicht erkannt.“
Die anderen Wesen sanken zu Boden und verneigten sich so tief, daß sie
ihre Gesichter geradezu in die Erde bohrten.
„Ich werd’ verrückt!“ sagte Anca. „Die halten Lonzo wohl für einen ihrer
Götzen oder so was! Unser Lonzo als der Große Shuubuu – wer immer das
sein mag! Ich werde auf der Stelle wahnsinnig!“
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Unwillig drehte sich der Erhabene nach seinen Gefangenen um. „Führt sie
fort!“ donnerte er. „Sie stören den Großen Shuubuu!“
Sofort sprangen mehrere Dutzend seiner Leute auf.
„Weg da!“ keifte Lonzo. „Wagt es ja nicht, meinen Spießgesellen etwas
anzutun! Chissimatucki! Mastbruch und tausend Klabautermänner! Captain
Kidd wird euch die Rumrationen kürzen! Und zu Weihnachten gibt es weder
Nüsse noch Ostereier, ihr Halunken!“
Aber der Erhabene sah ihn nur entgeistert an und flüsterte:
„Der Große Shuubuu spricht zu uns! Er hat uns verziehen!“ Dann fiel er in
einen rituellen Singsang und tanzte um Lonzo herum, der gar nicht wußte,
wie er sich verhalten sollte, da er zwar verstanden hatte, was der Erhabene
gesagt hatte, dem wiederum aber in seiner Sprache nicht antworten konnte.
Der Erhabene war so von seiner Entdeckung berauscht, daß er gar nicht
merkte, daß der Angebetete immer noch halb gefesselt zu seinen Füßen lag.
Und in dem allgemeinen Gekreische, das jetzt rundherum anhob, war es
sinnlos, den Translator auf volle Lautstärke zu stellen. Was Lonzo jetzt auch
sagte oder schrie: Diesen Höllenlärm konnte auch sein Organ nicht mehr
übertönen.
„Mist!“ fluchten Bharos und Harpo im Chor. Daran war jetzt nichts mehr
zu ändern. Die Untergebenen erhoben sich und kümmerten sich um die Beu
te. Das Netz wurde zu Boden gelassen, und eine Armee fiel über sie her. Mo
ritz bellte wütend, und Alexander brüllte wie ein Grizzlybär. Aber auch er
konnte gegen die Übermacht nichts ausrichten.
Weder Harpo noch einer der anderen hatte die Gelegenheit, den Translator
zu bedienen. Alle Gefangenen wurden zu bewegungsunfähigen Paketen
verschnürt und auf zwei der wartenden Kastenwagen verladen. Auf einen
schrillen Pfiff hin setzten sich die Zugechsen in Bewegung.
„Haltet aus!“ schrie Lonzo hinter ihnen her. „Ich werde diesen verrückten
Erhabenen schon dazu bringen, euch wieder freizulassen!“
Die Wagen rumpelten davon.
Zurück blieben einige hundert heulende Derwische und ihr Anführer. Und
der Große Shuubuu, der in einer ganz und gar unfrommen Weise alle Flüche
herunterrasselte, die er im Laufe seines Lebens gelernt hatte.
Sklavenmarkt
„Hoffentlich ist es nicht mehr weit“, stöhnte Alexander und wand sich auf
dem nackten Holz des Kastenwagens, so gut es die Fesseln erlaubten. „Von
Stoßdämpfern haben die hier wohl auch noch nie was gehört. Mir tun schon
alle Knochen weh. Also ehrlich: Lieber als Sklave auf den Feldern schuften, als
das hier!“
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„Na, warten wir mal ab, was du sagst, wenn du deinen Pelz beugen mußt,
um Mohrrüben zu ziehen“, entgegnete Anca.
„Aber recht hat er doch. Auch mir tut alles weh“, meinte Harpo.
„Wir müssen bald am Ziel sein“, sagte Bharos tröstend. „Die ersten Häuser
einer Stadt tauchen vor uns auf.“
Die beiden Wagen wurden von einer Hundertschaft zu Fuß eskortiert, was
angenehmer war, als auf dem ruckelnden, über jeden kleinen Stein hop
senden Gefährt zu sitzen. Und es strengte auch nicht an. Bei dem Schneck
entempo der Echsen konnte jeder mithalten.
Die Wachmannschaft trug Lanzen und schirmte die Wagen gegen die Um
welt ab. Entweder traute man den eigenen Fesselungskünsten nicht ganz,
oder man hatte Grund, einen Überfall zu befürchten.
Von der Landschaft hatten die Gefangenen ihrer unbequemen Position
wegen bisher recht wenig gesehen. Hauptsächlich schwitzten sie in der
prallen Sonne vor sich hin. Hier und da spendeten braungrüne Blätter baum
ähnlicher Gewächse Schatten.
Dem Rütteln der Karren nach zu urteilen, mußten sie sich in hügeligem Ge
biet befinden.
„Echsenkarren und Holperwege!“ nörgelte Harpo. „Aber einen Transmitter
müssen sie haben!“
Mehrmals meldete sich Lonzo über das Helmfunksystem und versuchte,
sie aufzumuntern. Seine Stimme war wegen der zurückgeklappten Helme
schwer zu verstehen, aber es half ihnen allen schon sehr, sie überhaupt zu
hören. Offenbar machte der Erhabene noch immer keine Anstalten, seinen
geliebten Großen Shuubuu von den Fesseln zu befreien, sondern tanzte her
um, stieß Beschwörungen aus und verfiel in tranceähnliche Anbetung. Und
Lonzos kleines Elektronengehirn sammelte inzwischen alle Sprachbrocken,
die es aus seiner Umgebung aufnehmen konnte. Aber das war sicherlich
nicht allzu viel, wenn man mal von Gebeten absah. Dann blieben Lonzos
Nachrichten aus. Die Entfernung zwischen ihnen war zu groß geworden.
Jetzt wurde deutlich, daß man sich einem Stadtzentrum näherte. Es rum
pelte nicht mehr so stark, und zu beiden Seiten waren die Umrisse klobiger
Steinbauten auszumachen. Einmal geriet ein quadratischer Prachtbau in
Harpos Blickfeld, der aus der Entfernung fugenlos glatt und makellos schön
wirkte. Ziersäulen und Reliefs schmückten die Fassade; dahinter waren hohe,
schmale Fensterschlitze erkennbar. Offenbar ein Tempel oder ein Re
gierungsgebäude. Vielleicht war das aber auch der Besitz des Erhabenen. Was
Harpo jedoch vollständig den Atem raubte, befand sich unmittelbar vor dem
Eingangsportal des bahnhofsgroßen Gebäudes. Er hatte höchstens zwei Se
kunden Zeit, um das Gebilde anzusehen, aber es gab keinerlei Zweifel: Das
steinerne Ding bestand aus einem kleinen, daraus hervorragenden Kopf,
spindeldürren Beinen und vier Tentakelarmen. Es sah dem guten Lonzo zum
Verwechseln ähnlich!
„Habt ihr das gesehen?“ hauchte Harpo. „Was denn?“ fragten die anderen.
„Ich habe eben eine Statue gesehen!“
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„Und ich den Weihnachtsmann!“ sagte Anca vorlaut.
„Sei nicht albern! Da stand eine riesige Statue von Lonzo!“
„Von Lonzo? Du spinnst!“
„Na gut, dann eben nicht von Lonzo. Sagen wir mal: eine Statue vom
Großen Shuubuu!“
„Jetzt verstehe ich überhaupt nix mehr!“ schimpfte Anca. Bharos lächelte
geheimnisvoll, während Trompo, der zu einem kleinen rosa Päckchen
verschnürt neben Moritz lag, piepste: „Wie? Was?“
„Wuff!“ machte Moritz.
„Ohooooo!“ Das war Alexander, dem plötzlich ein Licht aufgegangen war.
„Jetzt wird mir alles klar! Die beten einen Götzen an, der zufälligerweise un
serem Lonzo zum Verwechseln ähnlich sieht. Darum also der Terror am
Transmitter, als dieser Erhabene unseren alten Kumpel entdeckte!“
„Ja, aber wieso ...“ begann Anca.
„Das ist natürlich ein kurioser Zufall“, murmelte Bharos. „Andererseits ...
Ihr habt ja gesehen, daß diese Geschöpfe darauf vorbereitet sind, am Trans
mitter Beute zu machen. Wer weiß, was im Laufe der Zeit alles an fremden
Geschöpfen hierher verschlagen wurde? Wer weiß, ob darunter nicht auch
ein Roboter war, der wie Lonzo aussah? Und der sich dank seiner besonderen
Fähigkeiten oder Kräfte den Ruf eines Gottes erwarb? Vielleicht war es nicht
einmal ein Roboter, sondern ein verirrter Raumfahrer. Oder nur ein Tier, das
sich seltsam bewegte und angebetet wurde.“
Alle schwiegen nachdenklich, um diese Neuigkeit erst einmal zu verdauen.
Dann kam der Kastenwagen zum Stillstand. Die Begleitmannschaft stellte
die Lanzen ab und hob die Gefangenen vom Wagen. Jetzt, da nicht mehr die
Seitenwand der Ladefläche im Weg war, sahen die Freunde mehr von ihrer
Umgebung.
Sie befanden sich auf einem Platz, der von den schon vertrauten schlich
ten, einstöckigen Häusern und einigen Holzschuppen umstanden war.
Auf dem Platz herrschte geschäftiges Treiben. Allerlei seltsame Düfte lagen
in der Luft; es roch nach Gewürzen, gebratenem und geräuchertem Fleisch,
nach Fisch und dem Mist von Tieren. Die sonst so stummen Wesen zischten
und schnarrten durcheinander.
Auf rohgezimmerten Ständen, Podesten oder auch nur einfach ausgebrei
teten Tierhäuten lagen Lebensmittel, Tonwaren, Felle und undefinierbare
Werkzeuge, die angepriesen wurden. In Käfigen fiepte und pfiff die lebendige,
allerdings tierische Ware. Aber es gab auch andere Käfige, solche, in denen
Wesen jener blauhäutigen Rasse zum Verkauf angeboten wurden: Sklaven. Es
war für die Besatzung der EUKALYPTUS selbst in ihrer eigenen ungewissen
Lage deprimierend, das anzusehen.
„He“, sagte Harpo plötzlich, „hier gibt es noch eine andere Rasse!“ Er
machte eine Kopfbewegung und deutete damit die Blickrichtung an.
Tatsächlich! Zwischen den Blauhäutigen bewegten sich einige dürre
Gestalten, die einen Kopf größer waren als die Schneckengesichter. Sie
trugen Fellumhänge und erinnerten mit den knochigen Stelzenbeinen, den
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schnabelähnlichen Mündern und den stechenden Augen ein wenig an Raub
vögel. Ihre Haut schimmerte blaßgrün und wirkte ebenfalls schuppig. Sie
stolzierten unnahbar durch das Gedränge. Und man machte ihnen bereitwil
lig Platz.
Die Begleitmannschaft des Erhabenen hatte ihre Gefangenen auf die roh
bearbeiteten Steinplatten des Marktes gelegt, während die Wagenlenker ihre
Gespanne fortbrachten. Nun wurden Harpo und die anderen von jeweils
sechs Trägern zugleich angehoben und in das Gewimmel hineingetragen.
Lanzenträger gingen voran und bahnten sich eine Gasse, indem sie mit den
stumpfen Enden ihrer Waffen nach allen Seiten drohten. Moritz bellte und
versuchte, seine beiden Träger mit den Zähnen zu erwischen, was ihm aber
nicht gelingen wollte.
„Macht Platz für die Sklaven des Erhabenen“, zischte der erste Wächter,
und bald fielen auch die anderen in diese ständig wiederholten Worte ein.
Aber auch ohne die Ausrufe wurde den Gefangenen Aufmerksamkeit zuteil.
Viele Marktbesucher reckten die Hälse und wollten sie sich aus der Nähe an
sehen. Eine Sensation schienen sie allerdings nicht zu sein.
Man staunte, das war alles.
„Die Ungeheuer mit den Stachelschwänzen waren besser“, sagte jemand
abfällig und wandte sich ab. Diese Äußerung zeigte, daß man damit vertraut
war, daß unbekannte Lebewesen am Transmitter gefangen und als Sklaven
verkauft wurden. Aber warum?
Es mußte doch eher ein Zufall sein, wenn sich Tiere oder andere Lebe
wesen hierher verirrten!
„Wahrscheinlich werden doch noch einige Transmitterstationen regelmä
ßig benutzt“, vermutete Bharos. „Wenn auch möglicherweise nicht mehr von
den Erbauern.“
„Wie ist das denn möglich?“ fragte Harpo. „Wo man doch nie wissen kann,
wo man herauskommt.“
„Einige verstehen es wohl doch, die Maschinen zu steuern. Vielleicht ge
hört dieser komische Erhabene auch dazu. Aber es kann genausogut sein,
daß bestimmte Transmitterstationen nur mit zwei oder drei anderen Welten
verbunden sind. Da wäre ein Sprung nicht so ein Lotteriespiel wie bei uns.“
„Findet ihr es nicht ungewöhnlich“, wandte nun Anca ein, „daß niemand
eine flammende Rede hält und berichtet, daß der Große Shuubuu zurückge
kehrt ist?“
„Stimmt. Die Nachricht müßte sich doch wie ein Lauffeuer verbreitet
haben!“
„Was wissen wir schon über diese Wesen und das Leben hier?“ gab Harpo
zurück. „Vielleicht kriegt jeder, der es wagt, dem Erhabenen die Schau zu
stehlen, ganz einfach was auf den Deckel.“
Das Gespräch stockte, weil die ersten Kaufinteressenten an sie herantraten.
Wieder war Anca das erste Opfer. Man fühlte durch die Stricke hindurch nach
ihren Beinen. Das schien unbefriedigend zu sein, da der Bodyskinanzug nicht
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nachgab. Jetzt passierte es zum zweiten Mal, daß man sie in die Wange
zwickte.
„Das ist gemein!“ schimpfte Anca.
„Ist es auch“, gab Harpo zu. „Niemand hat ein Recht dazu, intelligente
Wesen zu verkaufen. Was ist das bloß für eine Gesellschaft, die so was zuläßt?
Selbst ihre eigenen Leute verkaufen sie, als wären sie eine Ware.“
„Auf der Erde war das aber früher auch so“, erinnerte ihn Bharos, der sich
über die irdische Geschichte informiert hatte. „Und ihr wißt, wie man eure
Eltern behandelt hat, bevor ihr auf die EUKALYPTUS kamt – zwar nicht direkt
als Sklaven, aber als Versuchskaninchen für irgendwelche verdammten
Pillen, an denen sie zugrunde gingen oder wodurch ihre Kinder Mißbil
dungen bekamen, als ...“
„Ich weiß“, verteidigte sich Harpo. „Ich habe ja auch nicht behauptet, daß
unsere eigenen Leute besser sind. Aber eins weiß ich: Hier wie auf der Erde ist
unbedingt was nicht in Ordnung. Man muß etwas dagegen tun.“
„Wäre ich doch nur auf Nordpol geblieben!“ meinte Alexander seufzend
und zerrte an seinen Fesseln. „Das ist ja nicht mehr zum Aushalten, der
Pessimismus, der sich hier breitmacht! Habt ihr etwa schon aufgegeben, he?“
Harpo knuffte den breitschultrigen Rotpelz in die Seite. „Aufgeben? Wir?“
Die Umstehenden kümmerten sich kaum darum, daß sie sich unterhielten.
Gerne hätten sie ihre Translatoren lauter gestellt und sich über die un
würdige Behandlung beschwert, aber sie waren alle zu gut gefesselt, um sich
wehren zu können.
Nun mußte Harpo trotz allem kichern. Der potentielle Kunde zog mit der
Bemerkung ab, das fremde Ungeheuer – also Anca – sei zu mager und für
harte Arbeit nicht zu gebrauchen. „Stell dir vor, Pummelchen“, prustete er
los. „Er hält dich für zu mager! Ausgerechnet dich! Und außerdem bist du in
seinen Augen ein Ungeheuer!“
„Harpo Trumpfffff“, zischte Anca, während die anderen beinahe an einem
Lachanfall erstickten, „du hast es nur dieser vertrackten Fesselung zu ver
danken, daß ich dir jetzt nicht in den Hintern treten kann!“ Sie gab aber,
humorig wie sie war, bald klein bei und amüsierte sich mit. „Immerhin“,
keuchte sie zwischen zwei ziemlich langen Kicheranfällen, „hat der Blaue ja
die Wahrheit gesagt: Ich bin wirklich zu mager!“
„O weh!“ stöhnte Alexander ahnungsvoll und blickte auf. „Ich fürchte, diese
dürren Burschen mit den Raubvogelaugen interessieren sich für uns. Bei
denen werden wir bestimmt nichts zu lachen haben.“
Tatsächlich verhandelten drei jener Wesen in den Fellumhängen, die ihnen
schon vorher aufgefallen waren, mit dem Anführer der Wache. Offenbar
wurde nur noch um den Preis gefeilscht.
Die Vogelwesen sprachen sehr leise und mit kehligem Akzent; zu leise, um
die Membrane des Translators zu erreichen. Der Anführer der Wache schien
jedoch erfreut zu sein und versuchte lediglich, einen kleinen Aufpreis her
auszuschlagen.
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„Die Ungeheuer haben geheimnisvolle Talismane und seltsame Häute“,
zischte er. „Das sollte euch mindestens eine halbe Schrubbel mehr wert
sein!“
„Was soll das denn sein?“ fragte Anca verblüfft. „Eine halbe Schrubbel?“
„Das ist wohl eine Zahlungseinheit“, antwortete Harpo.
„Jetzt wird es aber wirklich brenzlig“, japste Trompo. „Hoffentlich ist Lonzo
schon unterwegs, um uns zu befreien!“ Dann geschah etwas Merkwürdiges.
Die Umstehenden bildeten eine Gasse und wichen mit ängstlichen Gesich
tern zurück.
Fünf düstere Gestalten näherten sich. Ihre Statur glich der von Menschen.
Sie trugen Kutten aus schwarzem Stoff, die bis zum Boden reichten. Die
Gesichter dieser Wesen waren hinter Kapuzen verborgen. Leuchtende Augen
funkelten drohend.
Eines der Vogelwesen sah die geheimnisvollen Kuttenträger, brach abrupt
die Verkaufsverhandlungen ab und suchte mit seinen Gefährten eilig das
Weite. Die Lanzenträger des Erhabenen umfaßten zitternd ihre Waffen und
drängten sich enger zusammen.
Sie hatten ganz offensichtlich ein ungutes Gefühl, trauten sich aber nicht,
die Ware einfach stehenzulassen und davonzurennen.
Das erste Kapuzenwesen schob einen tiefschwarzen, narbenbedeckten
Arm mit zwei Gelenken unter dem Umhang hervor, ließ beinahe achtlos
einen Lederbeutel fallen und zeigte auf die Freunde von der EUKALYPTUS.
Seine Hand besaß fünf kurze, dicke Finger. Dann stieß es einen herrischen
Knurrlaut aus.
Der Anführer der Wachmannschaft öffnete mit zitternden Fingern den Le
derbeutel und zählte die darin befindlichen elfenbeinähnlichen Kugeln.
Schließlich nickte er und trat mit seinen Leuten erleichtert zurück.
Die Vermummten kamen heran, nahmen die Gefangenen und trugen sie zu
einem der schon vertrauten Lastkarren in der Nähe. Die Sklaven hatten neue
Herren gefunden.
„Au, verdammt!“ murmelte Harpo.
Jetzt ist alles aus!
Während der nun folgenden Fahrt wechselten ihre unheimlichen Begleiter
nicht ein einziges Wort. Sogar ihre Zugechsen trieben sie wortlos mit einer
Peitsche an.
„Wenn ich mich nicht täusche“, flüsterte Harpo, „dann fahren wir den Weg
zurück, den wir gekommen sind.“ Aber das war mehr ein Gefühl als eine Tat
sache, denn sie lagen jetzt wieder genauso wie auf der Hinfahrt auf einer
Ladefläche, waren bewegungsunfähig und konnten nur winzige Ausschnitte
der Umgebung erkennen.
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„Wenn’s doch stimmen würde“, seufzte Anca. „Dann hätten wir wenigstens
die Chance, Lonzo zu begegnen.“
Sie hatten, als man sie auf den Karren geladen hatte, Gelegenheit gehabt,
einem der Kapuzenmänner etwas genauer ins Gesicht zu sehen, und waren
dabei ganz gehörig erschrocken. Denn die Kreatur, deren Augen wie glü
hende Kohlen funkelten, tat gut daran, ihr Gesicht zu verhüllen. Es war von
schwarzen Narben bedeckt.
„Wir sind schöne Artisten“, jammerte Trompo. „Statt unseren Ollie zu
retten, geraten wir in die Sklaverei und können jetzt selbst Hilfe brauchen!“
„Wuff!“ machte Moritz.
„Solange in Alexander die Wut kocht“, knurrte der gefesselte Rotpelz, „ist
noch keine Schlacht verloren.“ Er kicherte plötzlich in sich hinein. „Sobald
diese Halunken uns nämlich auspacken – und das müssen sie, wenn sie uns
zum Arbeiten bringen wollen –‚ hat ihr letztes Stündlein geschlagen!“ Wie als
Beweis dafür bewegte er seine mächtigen Muskeln, die den enganliegenden
Raumanzug zu sprengen drohten.
„Wenn Ollie ebenfalls auf dieser Welt gelandet ist“, piepste Trompo,
„können wir lange suchen. Wer weiß, an wen man ihn verkauft hat! Er könnte
bereits auf der anderen Seite des Planeten sein.“
„Jetzt haben wir schon den dritten Planeten aufgesucht“, sagte Harpo.
„Zweimal waren wir auf der falschen Fährte und darüber halb erleichtert und
halb sauer. Hier aber müssen wir tatsächlich von Glück reden, wenn Ollie
nicht in einen Schlamassel reingeraten ist. Ich frage mich, ob Thunderclap
und die anderen uns von der EUKALYPTUS aus überhaupt anpeilen können.
Wenn ich daran denke, daß wir auf Worlorn am anderen Ende der Galaxis
waren ... Ich glaube, die Idee, daß die EUKALYPTUS uns anpeilt, war doch
nicht so gut. Wir haben eben geglaubt, die Transmitterstationen würden viel
näher beieinanderliegen.“
„Vielleicht liegen sie ja gar nicht so weit voneinander entfernt, wie du jetzt
vermutest“, versuchte Bharos ihn zu trösten. „Immerhin war Worlorn ja eine
Art kosmischer Wanderer. Theoretisch wäre es denkbar, daß er dem Raum
sektor der Erbauer damals viel näher war als heute.“
„Trotzdem ...“ Harpo schwieg.
Die Wagenkolonne hielt an, und die Kuttenträger eilten zu dem letzten Ge
spann. Sie hantierten eine Weile herum und kamen dann zurück. Zwei der
Fremden trugen Armbrüste, die sie drohend vorgestreckt hielten, obwohl die
Pfeile nicht direkt auf die Gefesselten gerichtet waren. Das sollte wohl eine
Machtdemonstration sein. Die anderen drei Vermummten begannen nun,
eine mitgebrachte Kutte in Streifen zu reißen. Dann packten sie Alexander
und stopften ihm einen Knebel in den Mund. Alexander war so verdutzt, daß
er nicht einmal einen Schrei ausstieß, als er es noch gekonnt hätte. „Diese ge
meinen Kerle wollen uns zum Schweigen bringen“, empörte sich Bharos.
„Die ganze Zeit habe ich versucht, ihre Gedanken zu lesen, und kam einfach
nicht durch. Aber jetzt spüre ich sie. Sie sind häßlich und gemein. Diese
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Wesen leben seit vielen tausend Jahren. Es sind Verfemte ihrer eigenen Rasse,
Banditen, die nichts anderes als Unheil angerichtet –“
Bharos war der nächste, dem sie mit einem Tuch den Mund stopften. Dann
war Anca dran, die einen schrillen Schrei ausstieß, was dazu führte, daß einer
der Bewaffneten seine Armbrust auf sie richtete.
“Sei keine Heldin“, flüsterte Harpo. „Wir wollen hier lebendig wieder her
auskommen. Bharos – kannst du nicht verschwinden und Hilfe holen?“
Bharos richtete sich halb auf und nickte mit blitzenden Augen. Dann
schloß er sie, um sich zu konzentrieren.
Anca hörte auf zu schreien und ließ widerstandslos zu, daß auch sie ge
knebelt wurde. Kaum hatten die Vermummten ihre Arbeit erledigt, als sie
sich umdrehten und erstarrten. Sie entdeckten, daß zwei ihrer Sklaven fehl
ten. Bharos war fort! Und Alexander, der neben ihm gelegen hatte, ebenfalls.
Der körperliche Kontakt zwischen beiden war eng genug gewesen, um es
Bharos zu ermöglichen, den jungen Rotpelz mitzunehmen. Einen Moment
lang hoffte Harpo, Bharos würde zurückkehren, um ihn und die anderen zu
holen. Aber dann sah er ein, daß dies für alle Beteiligten sehr gefährlich ge
wesen wäre. Und gefesselt konnte Bharos sowieso nichts unternehmen.
Einer der Armbrustschützen machte eine ungeduldige Handbewegung,
und die anderen Wesen erwachten aus ihrer Erstarrung. Offenbar hatten sie
jetzt weder Zeit noch Lust, sich um das Rätsel der Verschwundenen zu küm
mern. Sie fuhren um so schneller mit ihrem Werk fort und hatten im Nu auch
Harpo geknebelt. Da sie mit Moritz und Trompo nichts anzufangen wußten,
banden sie ihnen kurzerhand die Mäuler zu. Trompo ließ alles mit sich ge
schehen, während Moritz wütend nach seinen Peinigern schnappte, einen
Ärmel erwischte und knurrend daran zerrte. Ein Vermummter versetzte ihm
einen rohen Klaps hinter die Ohren, und daraufhin gab Moritz Ruhe; sehr zur
Beruhigung der Kinder, die bibbernd zusahen und schon um sein Leben
fürchteten. Erneut setzte sich der Karren in Bewegung. Er verließ einige Mi
nuten später den Holperweg und rumpelte in ein Waldstück hinein. Die Sa
che wurde immer rätselhafter. Nach weiteren zehn oder fünfzehn Minuten
Fahrt hielt die Kolonne an. Hastig und roh wurden die Gefangenen herausge
hoben und unsanft auf den Waldboden geworfen. Zwei der Vermummten
kümmerten sich um die Gespanne und führten sie tief in das Unterholz hin
ein. Die anderen schlichen gebückt in die entgegengesetzte Richtung davon.
Sie waren bald nicht mehr zu sehen, aber Harpo wurde das dumme Gefühl
nicht los, daß sie dennoch in der Nähe waren.
Verzweifelt zerrten sie an ihren Fesseln. Ein Pech, daß Bharos nun nicht
mehr da war. Jetzt hätte er eine Chance gehabt, sich nacheinander an seine
Freunde heranzumachen, sie zu berühren und per Teleportation wegzu
bringen. Wahrscheinlich aber lag er jetzt irgendwo auf diesem Planeten im
Gras und versuchte, seine Fesseln abzuschütteln. Vielleicht gelang es Alex
ander, die Stricke mit den Zähnen durchzunagen. Wenn der Akkai auch
teleportieren konnte – ein Entfesselungskünstler war er deshalb noch lange
nicht.
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Sicher würde Bharos sein Bestes tun, um Lonzo zu finden. Oder ihren
Spuren folgen und einen Befreiungsversuch unternehmen. Alexander würde
bestimmt das letztere vorschlagen, denn wo es was zu raufen gab, konnte er
nicht fehlen.
Aber der Akkai und Alexander tauchten nicht auf. Statt dessen kehrten die
beiden Vermummten zurück, die sich um die Gespanne gekümmert hatten.
Auffällig war, daß sie auch jetzt stumm blieben. Sie verständigten sich entwe
der durch Zeichen oder waren Telepathen wie Bharos.
Sie schnürten mehrere Bündel auseinander, die sie vorhin von dem
anderen Wagen abgeladen hatten. Metall klirrte, und Harpo erkannte aus den
Augenwinkeln, daß es sich um Rüstungen handelte.
Stumm stiegen die Fremden in die Unterteile der Rüstungen und halfen
einander dabei, die Oberteile anzulegen. Zunächst rafften sie ihre Kutten nur
leicht an, dann glitten diese zu Boden. Darunter trugen die Wesen
enganliegende schwarze Anzüge, die bis zum Hals reichten. Nur die Schädel,
die Unterarme und Hände waren einen Moment lang unbedeckt. Flüchtig
konnte man narbenbedeckte, runzlige, tiefschwarze Haut erkennen. Die
Köpfe der Fremden waren haarlos, aber im großen und ganzen wirkten sie
menschlich. Harpo glaubte auch, spitze Ohren gesehen zu haben, war sich
aber nicht absolut sicher.
Die Kutten wurden zu einem Bündel zusammengerollt. Dann griffen die
Fremden zu ihren Armbrüsten und wandten sich ihren Gefangenen zu. Sie
hatten Helme aufgesetzt und die Visiere hinuntergeklappt. Eigentlich sahen
sie jetzt noch finsterer und bedrohlicher aus als vorher.
Anca, Harpo und Trompo dachten schon, daß jetzt ihr letztes Stündlein ge
schlagen hätte. Aber ihre Bewacher beließen es dabei, drohend mit den
Waffen zu gestikulieren. Wahrscheinlich wollten sie damit zum Ausdruck
bringen, daß Fluchtversuche zwecklos seien. Schließlich hängten sie sich die
Waffen um die Schultern und begannen, ihre Gefangenen noch tiefer in den
Wald hinein zu tragen.
Harpo und Trompo waren die ersten. Ihre Herzen klopften wild vor Angst.
Die Fremden sahen jetzt aus wie mittelalterliche Ritter, auch wenn ihre
Rüstungen eleganter und beweglicher wirkten als die, die man aus den Bü
chern und Filmen der EUKALYPTUSBordbibliothek kannte. Man sah keine
sichtbaren Scharniere und keine unförmigen Gelenkteile. Irgendwie er
innerten die Rüstungen sogar ein bißchen an die Bodyskinanzüge der EUKA
LYPTUS, wenngleich sie auch nicht so bequem zu sein schienen.
„Ein eigenartiges Metall“, dachte Harpo. Es schimmerte tiefschwarz.
Der unheimliche Ritter ließ ihn wieder auf den Boden fallen. Trompo er
ging es genauso.
Dann gingen die Geharnischten zurück, um Anca und Moritz zu holen.
Harpo wälzte sich herum und spähte durch die Bäume. Nicht weit von hier
war eine Lichtung. Und plötzlich wußte er, wo sie waren: Dort, nur sechzig
oder siebzig Meter weiter, befand sich der Transmitter, durch den sie auf
diesen Planeten gekommen waren! Deutlich erkannte er das Transmitterbild.
54
Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Diese finsteren Wesen
waren gar nicht auf dieser Welt zu Hause! Sie kamen von einem anderen
Planeten und benutzten den Transmitter für ihre niederträchtigen Geschäfte
und Raubzüge!
Anca und Moritz kullerten neben ihm zu Boden. Anca hatte die Station
ebenfalls entdeckt und blinzelte Harpo zu.
Die Geharnischten ließen sich zu Boden gleiten und robbten bis an den
Rand der Lichtung heran. Reglos starrten sie den Transmitter an.
Der bunkerähnliche Unterschlupf, den die Leute des Erhabenen benutzten,
lag auf der anderen Seite.
Dort mochte es mehrere Wachen geben, aber sehen konnte man sie nicht.
Anscheinend machten sich die Geharnischten um die Wachen recht wenig
Sorgen. Zu Recht wohl, wenn man die Scheu der Planetenbewohner vor ih
nen in Betracht zog. Und die Armbrüste waren den primitiven Lanzen der
Schneckengesichter garantiert überlegen.
Plötzlich ruckten die Körper der Geharnischten hoch. Das würfelförmige
Bild über der Plattform hatte sich verändert. Während vorher eine unwirtli
che eisige Ebene zu sehen gewesen war, erkannte man jetzt eine weite Steppe
und darüber eine kleine, weiße Sonne.
Aber die Beobachter sanken uninteressiert ins Gras zurück. Harpo
verstand: Sie warteten darauf, daß sich ihre eigene Welt in dem Trans
mitterfeld abbildete. Hoffentlich dauerte das noch recht lange, denn je länger
sie hier lagen, desto größer wurde die Rettungschance.
Immerhin lag Lonzo nicht mehr gefesselt neben dem Transmitter. Sicher
lich hatte er sich dem Erhabenen gegenüber inzwischen verständlich machen
können und ließ nach ihnen suchen.
Die Sonne stand bereits tief am Himmel, und die brütende Hitze war einem
kühlen Wind gewichen. Bald mußte es Abend werden, auch wenn damit
nichts gewonnen war. Die schwarzen Kreaturen waren wohl schlau genug,
den Schutz der Dunkelheit auszunutzen.
Plötzlich fuhren die Geharnischten wie elektrisiert hoch. Wieder war das
Transmitterfeld umgekippt. Es zeigte jetzt einen weißen Strand mit den
anrollenden Wogen eines Meeres. Im Hintergrund wuchsen unbekannte
Pflanzen.
Kein Zweifel: Das war ihr Ziel. Sie robbten zurück und schleiften ihre
Gefangenen noch ein Stück näher an die Lichtung heran. Dann, nachdem
auch die drei anderen wieder zwischen den Bäumen aufgetaucht waren,
traten zwei von ihnen herrisch auf die Lichtung hinaus.
Ihre Armbrüste zeigten drohend auf die Büsche, hinter denen die Leute des
Erhabenen das letzte Mal aufgetaucht waren. Die anderen Wesen schleppten
in Windeseile Harpo und Anca als erste der Gefangenen zum Trans
mittertisch und legten sie davor ab.
„Lonzo! Bharos! Alexander!“ schrie Harpo verzweifelt, aber aus seinem
Mund kam nur ein leises Murmeln. Der Knebel saß einfach zu fest.
55
Wenn nicht bald ein Wunder geschah, waren sie für immer ausein
andergerissen: Lonzo, Bharos und Alexander blieben auf dem Planeten der
Schneckengesichter, Anca, Trompo, Moritz und Harpo gerieten auf die unbe
kannte Welt der Geharnischten – und Ollie befand sich irgendwo, wo man
ihn nie erreichen konnte.
Trompo und Moritz wurden herbeigetragen und sofort auf den Trans
mittertisch geworfen. Dann folgte Anca. Harpo wurde als letzter angehoben.
„Alles aus!“ dachte er mutlos.
Da regte sich Leben in den Büschen. Niemand anderer als Lonzo stürmte
an der Spitze einer mit Lanzen bewaffneten Armee heran.
„Elende Schurken!“ schrie Lonzo. „Laßt sofort meine heißgeliebten
Freunde los! Hätte ich mir doch gleich denken können, daß die Brüder in der
Nähe stecken! Loslassen, habe ich gesagt! Chissimatucki!“
Die Geharnischten schossen ungerührt einige Pfeile ab, die ihr Ziel jedoch
verfehlten. Dann sprangen sie mit Harpo in das Transmitterfeld.
Im letzten Moment sah Harpo Bharos und Alexander neben dem Trans
mitter auftauchen. Sie hielten einander an den Händen und wuchsen förm
lich aus dem Boden. Alexander schien schrecklich wütend zu sein, Bharos
wirkte aufgeregt wie nie zuvor.
Dann gab es nur noch die Schwärze des Tunnels, der Harpo und die
Fremden in eine andere Welt führte.
Revolte der Sklaven
Kaum daß sie angekommen waren, rissen harte Hände die Entführten von
der Plattform und warfen sie in den gelben Sand. Die Geharnischten ergriffen
ihre Armbrüste und richteten sie auf den leuchtenden Würfel.
„Vorsicht!“ wollte Harpo schreien. Er sah Bharos sich im gleichen Augen
blick materialisieren, aber der Schrei blieb ihm im Halse stecken. Einen
bangen Augenblick lang sah er mit schreckgeweiteten Augen, wie einer der
Geharnischten auf Bharos anlegte und schoß. Aber der Pfeil – so gut er auch
gezielt sein mochte – traf nur ins Leere. Klirrend schlug er gegen das Metall
der Plattform. Bharos hatte sich bereits wieder in Luft aufgelöst.
„Huhu!“ rief er – und stand zwanzig Meter weiter im Sand. Die Schwarzen
fuhren herum, hoben ihre Waffen und drückten erneut ab. Ein Pfeilhagel pfiff
und segelte weit auf das Meer hinaus.
„Hier bin ich, ihr Deppen!“ rief Bharos jetzt von der anderen Seite des
Transmitters her.
Seine Unerreichbarkeit schien seine Gegner jetzt zu beunruhigen. Sie
schossen erneut. Umsonst. Aber so leicht und elegant Bharos sich auch be
wegte – es war ein ganz schön gefährliches Spiel.
56
Wenn man fünf Gegner gleichzeitig im Auge behalten wollte, bedeutete das
ein großes Risiko.
Harpos Ohren registrierten ein schepperndes Geräusch. Sein Kopf wirbelte
herum, und er sah den guten alten Lonzo auf der Plattform stehen. „Folgt
dem Großen Shuubuu!“ schrie er winkend. „Wollt ihr wohl dem Großen Shu
ubuu folgen, ihr Feiglinge?“ Offenbar hatte er einige Schwierigkeiten, den
Erhabenen und dessen Leute dazu zu bewegen, auf die Plattform zu steigen.
Bei allem Respekt vor dem Großen Shuubuu – vor dieser Maschine hatten sie
wohl noch mehr Ehrfurcht.
„Dann eben nicht, undankbare Bande!“ grunzte Lonzo. „Ihr seid den
Großen Shuubuu gar nicht wert. Chissimatucki, jawoll! Nur die Piraten des
Captain Kidd haben es verdient, die Gesellschaft des Großen Shuubuu zu
genießen!“
Jetzt ließen die Geharnischten ebenfalls einen Pfeilhagel auf ihn los.
„Ha! Feindberührung!“ schmetterte Lonzo ihnen entgegen. Seine Fangar
me wirbelten durch die Luft, suchten nach einem Ziel. Natürlich waren die
Pfeile wirkungslos von seinem metallenen Körper abgeprallt. Auch die zweite
Salve konnte ihm nicht das geringste anhaben.
„Aufhören, ihr Konservendosenritter!“ schnaubte der Roboter und sprang
den Angreifern entgegen, was sie so verblüffte, daß sie hastig zurückwichen.
Die Tentakel peitschten durch den Sand und feuerten ihn gegen die Rüs
tungen der Feinde.
Schritt um Schritt zogen die Fremden sich zurück. Jetzt tauchte auch Alex
ander auf der Transmitterplattform auf. In der rechten Pranke hielt er eine
Lanze. Er sah ziemlich grimmig aus. Offenbar hatte er so lange gewartet, bis
Lonzo die Fremden ein wenig zurückgetrieben hatte, ehe er auf den Trans
mittertisch gestiegen war.
Bharos materialisierte urplötzlich unter den Zurückweichenden und stellte
einem ein Bein. Das Wesen fiel der Länge nach zu Boden.
„Hurra!“ donnerte Alexander und setzte sich wie eine Dampfwalze in Be
wegung. Die Geharnischten begannen, offenbar in Panik, loszurennen. Der
jenige, der gefallen war, sprang plötzlich vor, huschte an Lonzo vorbei, ergriff
Trompo und hielt ihn wie einen Schild vor sich.
Das kam so überraschend, daß niemand etwas dagegen tun konnte. Alex
ander blieb stehen und hielt unschlüssig die Lanze in der Pranke, während
Bharos und Lonzo sofort ihre Attacken einstellten.
Schritt um Schritt zog der fünfte Geharnischte sich nun zurück und schloß
zu seinen Gefährten, die sich offensichtlich wieder etwas gefangen hatten,
auf.
Bharos nutzte die Zeit, um die Gefesselten blitzschnell zu befreien. Ruck,
zuck – schon fielen die Schnüre von Anca und Harpo ab.
„Puh!“ war Harpos erstes Wort, als er sich selbst den Knebel aus dem Mund
nahm.
57
Er spuckte mehrmals in den Sand, um den muffigen Geschmack des Stoffes
von der Zunge zu kriegen. Dann rieb er seine steifen Glieder und wollte auf
stehen.
„Unten bleiben!“ schrie Bharos. „Die Gefahr ist noch nicht vorbei!“ Moritz
machte „Wuff!“, zog aber genau wie Harpo und seine Schwester den Kopf ein
und schielte zu den Fremden hinüber.
„Das war Rettung in höchster Not“, flüsterte Harpo keuchend. „Wo habt ihr
denn so lange gesteckt?“
„Später“, sagte Bharos. „Erst mal sehen, was die Burschen vorhaben. Und
dann müssen wir Trompo retten.“
„Diese Schufte“, sagte Anca mit tränenerstickter Stimme. „Keine Sorge,
mein Schätzchen“, tröstete sie Lonzo. „Unseren Trompo kriegen wir schon
zurück!“
Die fünf Fremden sahen ihnen aus der Ferne zu. Sie schienen nicht recht
zu wissen, was sie tun sollten. Einerseits wollten sie wohl ungern auf ihre
„Beute“ verzichten, andererseits fürchteten sie anscheinend die schwierigen
Gegner Lonzo und Bharos.
Und Alexander, der so furchtlos wie ein Racheengel mit der Lanze in der
Hand aus dem Transmitterfeld gesprungen war, schien ihnen auch nicht
ganz geheuer zu sein. Schließlich entschieden sie sich aber doch und zogen
ab. Sie bewegten sich langsam durch den Sand und waren bald hinter einigen
Schilfgewächsen verschwunden.
„Hinterher!“ schrie Lonzo rauf lustig. „Folgt dem Großen Shuubuu, wer
immer das auch sein mag!“
Alle rappelten sich auf und schlichen geduckt den Spuren der Fremdlinge
nach. Harpo fand einen von den Wellen angetriebenen Knüppel und wog ihn
prüfend in der Hand. Vielleicht konnte ihm der als Waffe dienen. Moritz
führte sich auf, als sei er ein Wolf. Schließlich hielt er Trompo auch für eine
Art Hund, und wenn man ihm seine Spielgefährten raubte, konnte er arg
grantig werden.
„Es hat deshalb so lange gedauert“, berichtete Bharos, während sie die
Fremden verfolgten, „weil wir eine ganze Weile brauchten, bis wir einander
die Fesseln gelöst hatten. Alexander und ich sind dann mehrmals hin und her
teleportiert, bis wir endlich auf Lonzo und seine Anbeterschar stießen. Es war
ihm gerade gelungen, sich verständlich zu machen, aber erst mal erwischten
uns die Wächter des Erhabenen, weil sie uns für Attentäter hielten, die einen
Anschlag auf das Leben des Großen Shuubuu planten. Als Lonzo uns endlich
aus dem ganzen Kuddelmuddel herausgeholt und die Lage erklärt hatte,
standen wir vor der Frage, wohin euch die schwarzen Ritter verschleppt
haben mochten.
Schließlich gab uns der Erhabene – der ist so eine Art Oberpriester bei den
Schneckengesichtern – einige brauchbare Informationen. Er kannte die
Vermummten nämlich: Sie nennen sich Morr. Sie benutzen den Transmitter,
um von einer Welt in die andere zu gelangen. Für den Erhabenen sind sie
eine Art Dämonen. Wenn sie auf der Plattform erscheinen, hütet man sich
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davor, das Netz herabfallen zu lassen. Man läßt sie gewähren, zumal sie wohl
auch die Spielregeln einhalten. Meistens kaufen sie Sklaven und entführen
sie auf ihre eigene Welt. Es gab aber auch schon Kämpfe zwischen einzelnen
Morr und den Transmitterwächtern. Wahrscheinlich dann, wenn die Morr
die Rituale der Götzenanbeter störten.“
Sie hatten inzwischen die Buschkette erreicht und sahen die Gestalten der
fünf Morr in der Ferne.
„Ollie ist übrigens nicht auf der Welt der Schneckengesichter gewesen“, er
klärte Lonzo. „Wenigstens hat mir das der Erhabene versichert.“ Er reckte
sich stolz. „Und den Großen Shuubuu wird er wohl kaum anlügen.“
„Na, Gott sei Dank!“ erwiderte Harpo. „Auch wenn das bedeutet, daß wir
Ollie weiterhin suchen müssen, ohne zu wissen, wo.“
Sie stiefelten weiter durch den Sand und achteten darauf, jede sich
bietende Deckung auszunutzen. Schließlich konnte man nicht wissen, ob
sich die Morr nicht anders besannen und auf ihre Verfolger schossen.
„Der Erhabene ist übrigens gleichzeitig der oberste Wächter der sogenann
ten Gottmaschine“, führte Bharos weiter aus. „Außer den Morr kommen
nämlich noch allerlei wilde Tiere und manchmal auch Eingeborene anderer
Planeten mit zottigen Fellen durch das Transmittertor. Warum das so ist,
weiß ich nicht. Vielleicht erregt eine Station irgendwo auf einer fremden Welt
regelmäßig die Neugier der Leute. Vielleicht wird irgendwo auch ein weiterer
Transmitter angebetet, gilt vielleicht als Opferstätte oder als Tor zum Pa
radies? Wer weiß? Daß mal ein Wesen kam, das Ähnlichkeit mit Lonzo hatte,
muß sehr lange her sein und auf einem Zufall beruhen. So, wie auch wir
durch Zufall in diese Geschichte hineingeraten sind.“
Die Morr bewegten sich noch immer an der Küste entlang. Rechts von ih
nen erhoben sich flache, mit spärlichem Grün bewachsene Hügel. Verein
zelte knorrige Bäume mit violetten Blättern bildeten den Hintergrund. Ein
geierähnlicher, gefiederter Vogel flog krächzend über den Schaumkronen des
Meeres dahin. Offenbar suchte er nach Beute.
Die Küste öffnete sich jetzt zu einer engen Bucht. Und man konnte das Ziel
der Geharnischten erkennen. Auf dem Wasser dümpelte ein riesiges
schwarzes Schiff, wahrscheinlich aus Holz gebaut. Mehrere Dutzend unge
wöhnlich langer Ruder ragten aus runden Löchern in der Seitenwandung
heran. An Deck rührte sich nichts. Tiefschwarze Segel hingen schlaff von den
Masten.
„Eine Galeere!“ rief Harpo überrascht und legte eine Hand gegen die Stirn,
um besser in die Sonne sehen zu können. „Mensch, wir müssen was unter
nehmen! Wenn die erst an Bord sind, sehen wir Trompo nie wieder. Vielleicht
befinden wir uns auf einer Insel und haben keine Gelegenheit, diesen Kahn
zu verfolgen!“
„Jetzt weiß ich auch“, sagte Anca laut, „was die Morr mit uns vor hatten!
Wir sollten als Rudersklaven auf ihrem Schiff arbeiten. Harpo hat recht. Wir
müssen ...“
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„Aber wie denn?“ fragte Alexander. „Die schießen doch, sobald wir
angreifen!“
„Die einzige Chance“, sinnierte Bharos, „ist, daß wir den Überraschungs
effekt nutzen. Die werden sicherlich mit einem Boot übersetzen und mit
keinem Angriff mehr rechnen. Vielleicht legen sie dann die Waffen beiseite.
Ich werde auf das Boot springen, mir Trompo schnappen und wieder abhau
en.“
„O je, hoffentlich geht das gut“, meinte Anca.
„Der Große Shuubuu wird nicht zulassen, daß ihm auch nur einer seiner
Gläubigen entführt wird“, setzte Lonzo an, „und deswegen –“
„Pschschttt!“ machte Harpo und deutete auf das Schiff. Dort wurde jetzt
tatsächlich ein Boot zu Wasser gelassen. Man sah einen weiteren Geharnisch
ten, dann noch einen. Mindestens zwanzig andere Gestalten liefen nun an
Deck herum. Sie trugen blanke Rüstungen und waren größtenteils kleiner als
die Schwarzen. Mit weithin hörbaren, quietschenden Geräuschen wurde das
Boot an Leinen ins Wasser gesenkt. Acht oder zehn Wesen mit blanken Rüs
tungen stiegen ein und ruderten es zum Strand.
Als sie ihn fast erreicht hatten, ertönte von der Galeere her ein scharfer
Pfiff.
Hunderte von Gestalten, manche in blanken Rüstungen, andere aber unbe
kleidet, mit Fetzen und seltsamen Gewändern bedeckt, die meisten men
schenähnlich, tauchten an Deck auf. Die beiden schwarzen Gestalten wollten
zu den Waffen greifen – jedoch: Es war zu spät. Sie wurden von den Fäusten
der anderen ergriffen und unter lautem Geschrei ins Meer geworfen. Die Be
satzung des Bootes hatte sich auf den Pfiff hin erhoben und richtete Arm
brüste auf die wartenden Morr am Strand. Schon zischten die ersten Pfeile
heran.
„Kneif mich!“ schrie Harpo Anca zu. „Ich glaube, ich spinne! Das muß ein
Sklavenaufstand sein!“
Die Morr duckten sich und wichen den Pfeilen aus. Plötzlich wandten sie
sich um und rannten davon. Ein Bündel wurde achtlos in den Sand geworfen.
Das mußte Trompo sein!
Die Leute von der EUKALYPTUS stimmten auf der Stelle in das von der Ga
leere herüberdringende Gejubel ein und tanzten ausgelassen im Sand herum.
Eigentlich war das sehr unvorsichtig, und tatsächlich wurde die Bootsbe
satzung auf sie aufmerksam. Aber dann legte das Boot an. Die Gestalten in
den blanken Rüstungen sprangen an Land und nahmen die Verfolgung der
flüchtenden Morr auf. Bald waren sie hinter Büschen und Felsbrocken
verschwunden.
„Geht zurück!“ rief Bharos beschwörend. „Ich hole Trompo und rede mit
den Leuten. Es wäre bestimmt nicht gut, wenn wir mit der ganzen Horde da
auftauchen würden. Vielleicht halten sie uns auch für Dämonen. Auf jeden
Fall sind sie sehr erregt, da wird manchmal eher geschossen als gefragt!“
„Mir nach!“ trompetete Lonzo. „Bharos wird schon heil rauskommen aus
diesem Durcheinander!“ Die anderen ließen sich das nicht zweimal sagen
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und machten sich auf der Stelle auf den Rückmarsch zum Transmitter. Noch
ehe sie ihn erreicht hatten, tauchte Bharos wieder auf. Trompo saß auf seiner
Schulter, war bereits ohne Fesseln und piepste glücklich. Von den Morr war
weit und breit nichts mehr zu sehen.
„Nichts wie weg von hier“, sagte Harpo und fühlte zum ersten Mal, wie
müde er eigentlich war. Wie lange hatten sie nun nicht mehr geschlafen?
Neunzehn Stunden? Zwanzig? – Egal, es galt jetzt, Ollie endlich zu finden.
Schlafen konnte er anschließend, und wenn er wollte, sogar achtundvierzig
Stunden an einem Streifen.
Der Transmitterwürfel zeigte augenblicklich eine schneebedeckte Land
schaft. Felsen und Berge. Einen eisblauen Himmel.
„Fertig?“ fragte Lonzo.
„Fertig!“ brüllten die anderen.
„Dann auf zur Schneeballschlacht!“
Sie stürzten sich in das Transmitterfeld hinein.
Die Entdeckung
Das erste, was Harpo spürte, als er auf dem Transmittertisch eintraf, war
schneidende Kälte. Der plötzliche Schock hatte den Körperwächter überrum
pelt. Im nächsten Moment jedoch floß Energie durch die Heizdrähte des
Anzugs und vertrieb den Frost. Harpo rollte sich von der Plattform des Emp
fängers in den Schnee hinein.
„Brrrrrrrrrrr“, schnatterte Lonzo und sprang hinterher. „Bei diesem Wetter
jagt man ja keinen Hund vor die Tür! Nur der arme Lonzo muß sich die Zehen
abfrieren! Außerdem spüre ich, wie es überall anfängt zu rosten.“ Er schlang
seine Tentakel um die Metallschultern, als würde er sich damit wärmen
können.
„Bautz!“ machte Alexander und fiel mit dem Hinterteil voran in den
Schnee. Der Pulverschnee wirbelte auf, und einen Moment lang war nichts
mehr von Alexander zu sehen. Dann stieß er einen komischen Hilfeschrei aus
und begann, einen Abhang hinabzurutschen. Nichts, so schien es, konnte die
unfreiwillige Fahrt aufhalten.
„Rettung naht!“ trompetete Lonzo und hechtete hinterher. Sein runder Me
tallkörper schien wie ein Schlitten durch den Schnee zu gleiten. Er sah ent
fernt einer Rakete ähnlich. Anca, die gar nicht begriffen hatte, worum es ging,
sprang Lonzo jauchzend nach und zog Trompo mit sich. Der Roboter griff so
fort mit den oberen Tentakeln nach den beiden und hielt sie fest. Dann ging
es mit wachsender Geschwindigkeit den Hang hinunter.
Alexanders Gebrüll war einem Jubeln gewichen. Er hatte wohl gemerkt, daß
ihm keine Gefahr drohte, und sah plötzlich nur noch den Spaß, den es mach
te, über den Schnee zu gleiten. Für Späße dieser Art waren die Rotpelze auf
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dem Planeten Nordpol schließlich jederzeit zu haben. Alexander fühlte sich
an alte Zeiten erinnert.
Bharos und Harpo lachten, als sie Alexander, gefolgt von dem seltsamen
Lonzoschlitten mit Anca und Trompo, den Hügel hinabsausen sahen. Harpo
mußte an die erste Begegnung mit den Rotpelzen auf Nordpol denken. Laut
lachend waren die zotteligen Fellwesen auf den dicken Hinterteilen jenen
Berg hinabgerutscht, der sich später als Schneekrabbler, ein riesiges, schild
krötenähnliches Lebewesen, entpuppte. Flunki und seine Raufbolde kamen
ihm in den Sinn – Zwerge, die in den Panzern der Schneekrabbler lebten, sich
unglaublich schnell bewegen konnten und auch beim Essen die Schnellsten
waren ... Wie mochte es ihnen allen in der Zwischenzeit ergangen sein: den
Rotpelzen, den Raufbolden, den Schneekrabblern, dem Weltraumarzt Hugo
und natürlich den zurückgebliebenen Besatzungsmitgliedern der EUKALYP
TUS? Aber dann fiel ihm Ollie ein, und er drängte die anderen Gedanken zu
rück.
Während Alexander, Lonzo, Anca und Trompo vor Freude quietschend am
Fuße des Hügels angekommen waren und auf der Stelle mit einer Schnee
ballschlacht begannen, konzentrierten Harpo und Bharos ihre Aufmerksam
keit auf die nähere Umgebung. Der Dackel Moritz sah unschlüssig von einer
Gruppe zur anderen, entschied sich dann aber für die Schneeballschlacht
und schoß bellend den Hang hinab.
Lonzo schaufelte eifrig Schnee zusammen, fand jedoch noch Zeit, um
nebenbei seine Meßergebnisse zu verkünden. Wer wollte, der konnte getrost
den Helm öffnen. Die Luft war gut und gesund – nur ein bißchen kalt.
Harpo schaute zu den nahen Bergen hinüber. Es handelte sich um einen
Gebirgszug mit verschneiten Gipfeln von gut dreitausend Metern Höhe. Nur
einzelne Bergflanken schimmerten graubraun aus dem Weiß hervor. Es gab
vereinzelte Bäume, die an Krüppelkiefern erinnerten, aber dreimal so groß
waren. Die nächsten davon waren nicht mehr als hundert Schritte entfernt
und schienen unter ihrer Schneelast förmlich zusammengesunken zu sein.
„Du bist uns noch eine Geschichte schuldig“, erinnerte Harpo den Akkai.
„Gewiß“, erwiderte Bharos. „Wir hatten richtig vermutet – es war ein Auf
stand der Galeerensklaven gegen ihre Peiniger. Diese Sklaven gehörten ver
schiedenen Rassen an. Das hat meine Mission erleichtert. Zwar griff man im
ersten Moment nach den Waffen, als ich aus dem Nichts heraus an Deck des
Schiffes auftauchte, aber dann gab man mir Gelegenheit, alles zu erklären.
Dabei erfuhr ich selbst eine Menge über die Sklaven, ihren Planeten und vor
allem über ihre grausamen Herren, die Morr. Das meiste davon las ich in ih
ren Gehirnen, denn die Zeit war zu kurz, um alles zu erklären. Der Planet hat
eine Fülle von intelligenten Rassen hervorgebracht, die mehr oder weniger
friedlich nebeneinanderleben. Eine technische Zivilisation in unserem Sinne
kennt man nicht, sondern lebt noch ...“ – Bharos suchte in Harpos Gedächt
nis nach einem Vergleich – „... wie auf der Erde vor zweitausend Jahren. Die
Morr jedoch stammen von einer anderen Welt. Niemand weiß mehr, wie sie
vor Hunderten von Jahren auf den Planeten gelangt sind – es gibt Sagen über
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einen Kampf mit Fremden, die aus dem Himmel kamen und zurückge
schlagen wurden. Einige Morr müssen überlebt haben. Aber sie überstanden
den Kampf nicht unbeschadet. Eine unbekannte Strahlung fügte ihnen die
Narben zu, die wir gesehen haben – und zerstörte Teile des Gehirns. Offenbar
wurden sie dabei gleichzeitig langlebig, grausam und gefühllos. Sie unter
drücken andere, verbergen ihre Körper unter Rüstungen und Kutten und
leben in riesigen Festungen. Ich glaube nicht, daß die Morr die Erbauer des
Transmitternetzes sind – aber sie sind in der Lage, etwas damit anzufangen.
Das ist alles, was ich erfahren habe.“
„Seltsame Wesen“, sagte Harpo. „Und beinahe wären wir ihnen zum Opfer
gefallen. Was mag das für eine Strahlung gewesen sein, der die Morr ausge
setzt waren?“
„Vielleicht Radioaktivität?“ meinte Bharos. „Mag sein, daß es sich um einen
Unfall handelte. Oder sie wurden irrtümlich von ihren eigenen Leuten be
schossen. Wir können nur Vermutungen anstellen.“
Ein polterndes Geräusch ließ Bharos und Harpo, die inzwischen ihre Hel
me abgenommen hatten, herumfahren. Aber es war nichts Besorgniser
regendes. Von den Ästen des nächststehenden Baumes war ein Teil der
Schneelast zu Boden gefallen.
„Puh!“ rief Harpo. „Wenn man sich über die Morr unterhält, glaubt man
überall Gespenster zu sehen.“
Es war so kalt, daß sich beim Sprechen kleine Nebelwölkchen vor dem
Mund bildeten, aber vorerst dachte keiner daran, die klare Luft wieder durch
einen aufgesetzten Helm auszusperren.
Bharos sah sich suchend im Schnee um und meinte: „Wenn der Kleine hier
gelandet ist, dann sind seine Fußspuren natürlich längst zugeweht und zuge
schneit.“
Harpo nickte. „Und wenn wir nicht bald einen Unterschlupf finden“, sagte
er und deutete zum Himmel, „dann schneien wir selbst ein. Sieh dir nur diese
dicken Schneewolken an!“ Bharos ging zum Transmitter zurück und betrach
tete ihn. Eine nachtschwarze Welt ohne erkennbare Konturen zeigte sich im
Bildwürfel.
Bharos untersuchte den Schnee in der Nähe des Gerätes. „Aha“, sagte er
dann zufrieden. „Ruinen. Der Transmitter stand nicht immer im Freien.“ Er
scharrte mit den Händen und legte ein Stückchen Beton frei, aus dem Reste
von Eisenstangen ragten.
„Ein unbeschädigtes Gebäude wäre besser“, sagte Harpo. „Das Ding fängt
ja schon an zu rosten.“ Er zeigte auf braunrote Flecken an der Unterseite des
Transmittertisches.
„Jemand hat es abgerissen, oder es ist einer Lawine zum Opfer gefallen“,
überlegte Bharos laut. „Seltsam nur, daß der Transmitter nicht beschädigt
wurde.“ Er hielt inne, überlegte und fuhr dann fort: „Das wird mit dem Feld
zu tun haben; es scheint gleichzeitig ein Schutzdach zu sein. Siehst du? Es
liegt kein Schnee auf der Platte. Er wird vom Feld abgefangen.“
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„Müßte er nicht trotzdem eingeschneit sein?“ fragte Harpo. „Normaler
weise schon“, gab Bharos zurück. „Aber der Standort wurde wahrscheinlich
absichtlich auf der Kuppe des Hügels gewählt, um das zu verhindern. Und
außerdem strahlt der Transmitter eine gewisse Eigenwärme ab, die Schnee
verwehungen schnell abtauen läßt.“
In diesem Moment ertönte unten am Abhang ein vielstimmiger Schrei. Die
Schneeballschlacht hatte ein Ende gefunden, und jetzt hüpften Anca, Alex
ander und Lonzo wie die Wilden auf und ab. Sie schrien und winkten. Im
gleichen Moment, als Trompo ebenfalls lospiepste, erkannten auch Bharos
und Harpo, was die Schreier beabsichtigten: Sie wollten auf sich aufmerksam
machen. Denn in der gut zwei Kilometer entfernten Ebene bewegte sich in
rascher Fahrt ein Fahrzeug dahin, das man eigentlich nur als Motorschlitten
bezeichnen konnte. Die Sonnenstrahlen gleißten auf einer abgeflachten,
halbkugelförmigen Kuppel. Harpo glaubte sogar, zwei Gestalten unter der
Kuppel ausmachen zu können. Das Fahrzeug nahm einen halsbrecherischen
Zickzackkurs zwischen Felsnadeln hindurch und entschwand schließlich aus
dem Blickfeld.
Bharos erhielt einen begeisterten Schlag auf die Schulter. Das war Harpo.
„Dieser Planet ist bewohnt!“ schrie er. „Bewohnt! Juchhuuu! Und ich möchte
wetten, daß wir es diesmal nicht mit Sklavenhändlern zu tun bekommen!
Wenn Ollie hier aufgetaucht ist, sitzt er vielleicht schon lange in einem Unter
schlupf am warmen Feuer.“
Obwohl das Verschwinden des Schlittens die Freude ein wenig gedämpft
hatte, waren die Freunde durch die Neuigkeit in helle Aufregung versetzt
worden. Eigentlich hatte man eher gemeint, diese Schneewelt sei ohne Leben
und damit nur eine kurze Episode bis zum nächsten Transmittersprung. Jetzt
sah die Sache natürlich anders aus.
Harpo raste den Abhang hinunter, rutschte schließlich aus und landete in
einer gewaltigen Schneewolke am Fuße des Hügels. Bharos ging vorsorglich
gleich in die Hocke und rutschte wie Alexander auf dem Hosenboden in die
Tiefe. Lachend rappelten sie sich unten wieder auf.
Sofort wurden die Neuankömmlinge mit einem Wortschwall überfallen.
„Habt ihr das auch gesehen?“
„Einwandfrei – das war ein Schlitten!“
„Wer hätte das gedacht!“
„Ob die Schlittenfahrer wissen, wo Ollie steckt?“
„Laufen wir ihnen nach?“
„Aber warum sind sie weitergefahren? Warum haben sie nicht angehalten?“
Lonzo fuchtelte mit den Tentakeln herum und schmetterte:
„Warum, warum! Weil sie vor dem Großen Shuubuu Angst haben! Zu
Recht! Ich werde sofort etwas unternehmen, um die ungläubigen Bewohner
dieses Planeten zu bekehren. Ich mache euch alle zu Generälen des Großen
Shuubuu!“
„Nichts da!“ knurrte Alexander. „So was tun wir nicht.“
64
„Na gut“, lenkte Lonzo ein. „Ist mir eigentlich auch lieber, wenn ihr meine
Matrosen bleibt. Aber trotzdem haben die Galgenvögel ... äh, die lieben Leute
auf dem Schlitten Angst vor mir gehabt! Ich weiß es! Als ich noch mit Captain
Kidd auf Kaperfahrt ging, machten die feindlichen Piraten auch immer in die
Hosen, wenn sie mich nur an der Reling auftauchen sahen ...“
Anca unterhielt sich inzwischen mit Bharos. „Hast du etwas in ihren
Köpfen gelesen?“ wollte sie neugierig wissen.
Bharos nickte zögernd. „Na ja“, sagte er. „Ich konnte die Gehirnströme von
zwei denkenden Lebewesen erkennen.“
„Darauf wäre ich auch selbst gekommen“, unterbrach ihn Lonzo sehr vor
laut. „Schließlich habe ich noch nie gesehen, daß Tiere einen Schlitten len
ken.“
„Haben sie an etwas Bestimmtes gedacht – vielleicht sogar an Ollie?“ wollte
Harpo wissen und hampelte nervös von einem Bein auf das andere.
Jetzt redeten alle durcheinander und deckten Bharos derart mit Fragen ein,
daß er sich lachend die Ohren zuhielt.
„Nicht so stürmisch, nicht so stürmisch!“ rief er. „Denkt doch bitte daran,
daß ich nicht nur eure Stimmen, sondern auch noch eure sich über
schlagenden Gedanken höre. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für
ein Gefühl ist!“ Wenn sie ihre Gedanken schon nicht abstellen konnten, so
schwiegen sie doch zumindest. Alle Blicke saugten sich erwartungsvoll an
Bharos’ Lippen fest.
„Also“, sagte Bharos gemächlich und lächelte über so viel Aufmerksamkeit.
„Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Über Ollie habe ich nichts erfahren.
Die Schlittenfahrer schienen so etwas Ähnliches wie Postboten und zu einer
Station unterwegs zu sein, die ziemlich weit von den anderen bewohnten Ge
bieten entfernt liegt. Und was konkret die Unterhaltung der beiden betrifft,
so erzählte der eine dem anderen gerade einen Witz.“
„Einen Witz?“ fragte Alexander erstaunt.
„Einen Witz?“ echote die versammelte Mannschaft.
„Unglaublich!“ krähte Lonzo. „Ja, haben denn diese Beamten überhaupt
keine Arbeitsmoral? Während der Dienstzeit erzählen sie sich Witze? Unge
heuerlich, fürwahr!“
„Bei Captain Kidd“, flachste Anca, „hätte es so was nicht gegeben.“
„Im Gegenteil“, konterte der Roboter. „Schließlich war Captain Kidd kein
Beamter, mein Schätzchen. Vielmehr haßte er die Beamten, Behörden
schreibtische und Dienststunden wie die Pest!“
Harpo wurde plötzlich ganz weiß im Gesicht, weil ihm ein ungeheuerlicher
Verdacht kam. Im nächsten Moment spürte er, wie ihm das Blut in den Kopf
schoß und ihn tomatenrot leuchten ließ. „Sag mal“, stotterte er. „Bharos ...
äh... bist du sicher, daß diese Leute zu einer abgelegenen Station unterwegs
waren?“
„Ganz sicher“, sagte Bharos und nickte bekräftigend mit dem Kopf. „Sie
freuten sich beide darauf, bald wieder einmal die Beine unter einem Tisch
ausstrecken und ein würziges Süppchen schlürfen zu können. Den einen
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plagten übrigens Zahnschmerzen, und er freute und fürchtete sich zugleich
vor der Ankunft auf der Station, weil es dort wohl einen Zahnarzt gibt.“
„Tätterätääää!“ trompetete Lonzo und hechtete in den Schnee. Jetzt klang
seine Stimme ganz dumpf und hohl unter der Schneedecke hervor. „Ich weiß
es! Ich weiß es! Hihihihihi! Mal sehen, wer als nächster drauf kommt!“
Alexander starrte verdutzt Lonzo an, der sich gerade wieder auf rappelte.
„Was fehlt dir denn? Oder bin ich blöd? Warum sollen die hier keinen Zahn
arzt haben?“
„Find’ ich aber auch!“ sagte Anca. Lonzo gluckste in sich hinein.
„Weiter, weiter!“ drängte Harpo. „Woran dachten die beiden ... Postboten ...
noch?“
„Nun ...“ Bharos suchte nach Worten und widerstand der Versuchung, in
Harpos Gedanken nachzuforschen, um seiner Unruhe auf die Spur zu kom
men. „Das war eigentlich schon alles. Ich kann höchstens noch den Witz er
zählen. Soll ich? Also gut, es ging dabei um einen gewissen Rastus, der ...“
Weiter kam er nicht.
„Ha!“ schrie Harpo und machte einen Luftsprung. „Ich werd’ verrückt!“
sagte Anca und ließ sich der Länge nach in den Schnee kippen.
„Das gibt es doch nicht!“ japste Trompo. „Juchhu!“
Jetzt konnte Bharos nicht länger widerstehen. Er las die Gedanken der
anderen, die sowieso schon wie eine Woge gegen sein Gehirn schwappten.
Ein Leuchten wanderte über seine Züge.
Anca ergriff Lonzos Tentakel, der schnappte sich den Rüssel des kleinen
Trompo und Harpos Hand. Harpo packte Bharos.
Alle bildeten einen Kreis um Alexander und tanzten ausgelassen um ihn
herum. Moritz fegte wie ein Wirbelwind von einem zum anderen und bellte
sich heiser.
„Was habt ihr denn alle?“ rief Alexander. „Was ist denn in euch gefahren?
Sagt mir doch, was euch fehlt. Vielleicht finden wir in der Reiseapotheke ein
Mittel dagegen ...“
„Ja, weißt du denn immer noch nicht, wo wir sind?“ quäkte Lonzo und
bespritzte mit seinen freien Tentakeln den jungen Rotpelz mit Schnee. „Auf
Nordpol! Wir sind auf deinem Heimatplaneten gelandet!“
„Dadadas glaub’ ich nicht!“ stotterte Alexander. Nach einer Weile fuhr er
fort: „Aber der Schnee ... der Motorschlitten ... Rastus ... etwa Rastus, der
Raufbold??! Hurrrrraaaaaaaa!“
Endlich ein Lebenszeichen!
Verständlicherweise herrschte helle Aufregung. Alle riefen durcheinander
und versuchten, sich gegenseitig lautstark an die Abenteuer auf dem Planeten
Nordpol zu erinnern.
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Nordpol war der erste Planet, den die von den Weltraumärzten nur not
dürftig reparierte EUKALYPTUS erreicht hatte, nachdem das Schiff durch
eine Katastrophe in die Weiten des Weltraums gerissen worden war. Heilfroh
darüber, eine neue Heimat gefunden zu haben, blieben die meisten Kinder
auf Nordpol zurück, als die EUKALYPTUS zu neuen Abenteuern startete. Kein
Wunder, denn sie hatten Freunde gefunden. Da waren einmal Alexanders
Leute, die gutmütigen Rotpelze, zum anderen jene lustigen Zwerge, die sich
selbst Raufbolde nannten.
Als Bharos von einer Station mit einem Zahnarzt erzählte, hatte Harpo be
reits Verdacht geschöpft. Er mußte unwillkürlich an den Weltraumarzt Hugo
denken, der eine medizinische Station auf Nordpol unterhielt. Sie selbst
waren auf dieser Station gewesen. Station – Zähneziehen – Motorschlitten –
Schneewelt ... Alles paßte zusammen, hatte Harpo überlegt. Oder konnte es
so viele Zufälle auf einmal geben? Andererseits wollte es ihm nicht in den
Kopf, daß unter Tausenden von möglichen Planeten ausgerechnet Nordpol
an das Transmitternetz angeschlossen sein sollte. Bei ihrem Aufenthalt auf
dem Schneeplaneten hatten sie nichts davon bemerkt. Aber der Planet war
groß, und sie kannten eigentlich nur einen winzigen Teil davon.
Als der Name Rastus fiel, konnte es keinen Zweifel mehr geben. Zu oft
hatten sie diesen Namen bei den Raufbolden gehört, denn er tauchte als
Phantasiefigur immer wieder in ihren Witzen auf.
So unglaublich es allen erschien: Sie waren wieder dort, wo ihre Abenteuer
begonnen hatten. Vielleicht würden sie schon in wenigen Stunden den zu
rückgebliebenen Freunden von ihren tollen Erlebnissen berichten können.
Das würde eine Wiedersehensfeier geben! Namen und Gesichter tauchten
auf: Fantasia Einstein, Lori Powitz, Lucky Cicero und Fidel Flottbek. Babs
Monroe, ein geheimnisvolles Mädchen, das als blinder Passagier an Bord des
Raumschiffes gefunden wurde und kaum etwas über sich selbst erzählen
konnte, weil es das Gedächtnis verloren hatte. Daniel Locke, der im Kälte
schlaf gelegen hatte, weil er auf der Erde an einer gefährlichen Krankheit hät
te sterben müssen. Der Weltraumarzt Hugo konnte ihm helfen, und Daniel
half ihnen. Seiner Hilfe vor allem war es zu verdanken, daß die EUKALYPTUS
wieder voll funktionsfähig wurde.
Der kleine Trompo tanzte besonders vergnügt herum. Kein Wunder, denn
auf der Station des Weltraumarztes gab es ein weiteres Wesen seiner Rasse,
das Hugo bei seiner Arbeit half. Er freute sich sehr darauf, es wiederzusehen.
Alexander schwelgte schon jetzt in seliger Vorfreude. Seine Leute würden
staunen, ha! Noch nach Jahrzehnten würde man von ihm erzählen: Alex
ander, der erste Rotpelz im All. Alexander, der Tollkühne.
Alexander, der Erbe des Universums ...
Es wurde wirklich Zeit, ihn auf den Schneeteppich zurückzuholen!
„Deine Leute werden dir die Bärenhaut über den Kopf ziehen, wenn sie hö
ren, daß du auf den kleinen Ollie nicht aufgepaßt hast“, meinte Lonzo und
ließ ein schepperndes Lachen hören. So ernst war das nicht gemeint, aber es
erfüllte den Zweck. Alexander wandte sich wieder den Alltagsproblemen zu.
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Wenn sie auch auf Nordpol waren – Ollie hatten sie damit noch lange nicht
gefunden.
„Wenn wir nicht bald etwas unternehmen“, klagte Lonzo, „werden wir uns
in dieser Bärenkälte noch was abfrieren.“
„Du kannst dir ja gar nichts abfrieren!“ rief Anca lachend, und die anderen
fielen mit ein.
„Bin nicht so sicher“, krähte der Roboter. Ernster fügte er hinzu: „Nehmt
euch einen weisen Spruch von Captain Kidd zu Herzen. Der pflegte nach
Schiffbrüchen immer zu sagen: ‚Erst mal sehen, wo es was zu futtern und ein
Fäßchen Rum gibt. Dann eine Unterkunft suchen und ein warmes Feuerchen
anzünden. Und schließlich eine Flaschenpost absenden, damit die anderen
Piraten wissen, wo wir stecken‘“
„Nun mal langsam“, meinte Harpo. „Wenn wir unsere Anzüge schließen,
müssen wir nicht frieren. Und zu essen ist auch noch genügend ...“
„Papperlapapp!“ rief Lonzo dazwischen. „Ein Feuer ist viel gemütlicher!“
„Aber was ist mit der Flaschenpost?“ fuhr Harpo fort.
„Flaschenpost? Wieso Flaschenpost?“ warf Bharos ein. „Na, ihr seid
vielleicht gut!“
„Wieso denn?“ fragte Lonzo. „Die Flaschenpost ist längst unterwegs. Ich
habe den Peilton meines Senders modifiziert und per Morsealphabet eine
Botschaft an Schwatzmaul gefunkt. Die Matrosen auf der EUKALYPTUS
wissen jetzt Bescheid. Die haben nach dem letzten Transmittersprung doch
längst wieder meinen Hyperfunksender angepeilt. Mag sein, daß Schwatz
maul mit Hilfe der Sternkarten auch allein herausgefunden hätte, daß wir auf
Nordpol stecken. Aber so ist es sicherer. Ihr wißt ja, daß der alte Blechhaufen
nicht zu den Schlauesten im Universum zählt.“
„Lonzo, du bist gemein!“ schimpfte Anca.
„Aber die Idee mit dem veränderten Peilton war sehr gut“, lobte Harpo.
„Trotzdem“, knüpfte Alexander an den Vorschlag des Roboters an, „ein
warmes Plätzchen würde sogar mir jetzt gefallen ...“
„Ich sehe mich mal in der Gegend um“, sagte Bharos. „Bleibt bitte in der
Nähe des Transmitters, damit wir uns nicht verlieren.“
Im nächsten Moment war er verschwunden, tauchte in der Ferne wieder
auf und verschwand erneut. Bharos setzte seine Teleportationskräfte ein.
Kaum war der Akkai fort, wandten sich die anderen dem Problem Ollie zu.
„Was hättest du getan, Alexander“, fragte Harpo den Rotpelz, „wenn du an
Ollies Stelle hier gelandet wärst? Ohne Schutzanzug und ohne Verpflegung!“
„Nun ... ich ...“ Alexander zupfte nachdenklich an seinem Brustfell herum.
Dann warf er einen Blick auf den Transmitter. „Vielleicht hätte ich zunächst
an dem Gerät herumgefummelt, um zu sehen, ob man es nicht steuern
kann.“
„Falsch!“ unterbrach ihn Anca triumphierend. „Du hättest dir überlegt, daß
ein Rumfummeln am Transmitter zum Abschalten oder zur Zerstörung füh
ren könnte. Also wären deine Finger hübsch ruhig geblieben!“
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Alexander brummte vor sich hin. „Ähhh ... zugegeben“, gestand er schließ
lich ein. „Ich hätte gewartet. Auf euch!“ „Es ist aber kalt“, erinnerte Harpo.
„Du frierst und hast Hunger. Und deine Freunde kommen und kommen
nicht. Würdest du immer noch im Schnee hocken und warten? Denk daran,
daß Ollie kein natürliches Fell hat wie du.“
Alexander überlegte. „Na ja, irgendwann würde ich mir dann doch wohl
einen Unterschlupf suchen. Eine Höhle oder so was. He, ich würde mir einen
Iglu bauen!“
„Und das wäre alles?“ fragte Harpo.
„Nö“, sagte Alexander. „Eine Nachricht würde ich natürlich hinterlassen,
damit ihr wißt ...“
„Das ist es!“ Anca klatschte in die Hände. „Und Ollie hätte bestimmt genau
so gedacht! Wir müssen jetzt nur noch ein bißchen suchen, dann ...“
„Wenn man dich so hört, denkt man, Ollie müßte auf jeden Fall hier ge
wesen sein“, sagte Harpo.
„Miesmacher!“ antwortete Anca, lief als erste zum Transmitter und begann,
nach Ollies Botschaft zu suchen. Die anderen folgten ihrem Beispiel und
strengten sich genauso an.
Im Leuchtkubus über dem Transmittertisch war jetzt eine Felsklippe direkt
am Rande eines sturmgepeitschten Meeres zu sehen. Schneeflocken aus dem
Himmel des Planeten Nordpol versuchten, in die fremde Landschaft einzu
dringen, zerschmolzen aber sofort beim Eintauchen in das Transmitterfeld.
Die blanke Fläche des Tisches war makellos und eben; auch das schärfste
Auge vermochte darauf keinen Kratzer zu entdecken, geschweige denn eine
eingeritzte Botschaft. Aber wenn man es genau nahm, konnte Ollie dort auch
keine Nachricht hinterlassen haben, weil ihn jedes Eintauchen in das Trans
mitterfeld neuerlich in Gefahr gebracht hätte.
Der dicke Rand der Platte und der kastenartige Aufbau schienen für einen
solchen Zweck eher geeignet zu sein. Aber: nichts.
Als Harpo versuchte, mit dem Taschenmesser das Metall zu zerkratzen,
hatten sie immerhin den einen Trost, daß die fehlende Botschaft kein Beweis
war: Das Metall ließ sich nicht zerkratzen. Selbst dort, wo sich Rost angesetzt
hatte, konnte die Messerklinge nichts ausrichten.
Schon wollte Harpo entmutigt aufgeben, als ihm schlagartig etwas einfiel.
„Wir haben den Deckel des Kabelkastens vergessen!“ rief er mit neu erwa
chender Hoffnung.
„Ach, der besteht doch nur aus den Plastiknoppen ...“
Anca brach ab, als ihr einfiel, daß man in Kunststoff leichter etwas einritzen
konnte als in Metall.
Bereits auf Dragon hatten sie entdeckt, daß die Oberseite des Kastens aus
Kunststoff bestand und einzelne Noppen verschiedenfarbig aufleuchteten,
wenn das Transmitterfeld wechselte.
Aber die Hoffnung, damit den Steuerungsmechanismus gefunden zu
haben, war schnell der Erkenntnis gewichen, daß es zwar verschiedenfarbige
Lichter, jedoch keine Steuerungselemente gab.
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„Hepp!“ rief Alexander, packte kurzerhand Anca und setzte sie auf seine
Schultern. Aus dieser Höhe konnte Anca auf den Kasten hinunterblicken.
„Hmm“, machte sie. „Das sieht irgendwie ..., was ist das denn? ... Fast
könnte man glauben, daß ... Er war hier! Er war wirklich hier! So ein pfiffiges
Kerlchen!“ Die letzten Sätze hatte sie derart laut herausgeschrien, daß Alex
ander vor Schreck beinahe die Balance verlor.
„Was ist denn hier los?“ fragte Bharos und tauchte neben Alexander aus
dem Nichts auf. Ancas Erregung hatte ihn herbeieilen lassen. „Unglaublich“,
flüsterte er, als er Ancas Gedanken las. „Unglaublich.“
„Was ist denn so unglaublich?“ knurrte Alexander und stampfte mit dem
Fuß auf. Gleichzeitig setzte er seine Last wieder auf den Boden.
„Er hat wirklich eine Nachricht hinterlassen!“ rief Anca keuchend. „Er ist
hinaufgeklettert und hat es getan!“
„Ja, was hat er denn getan, zum Donnerwetter?“ explodierte Harpo.
„Ihr müßt das selber sehen! Er hat mit einem spitzen Gegenstand einzelne
Noppen zerschlagen und auf diese Art Buchstaben zusammengesetzt.“
Jetzt hielt es Alexander nicht mehr länger aus. Er suchte nach einem Halt,
fand ihn auf einem dicken Kabelende, das in den Kasten hineinlief, und
stemmte sich hoch. „Ha!“ schrie er begeistert. „Der Ollie! Kaum zu glauben,
auf was für Ideen der kommt!“
Dann ließ sich Alexander in den Schnee plumpsen und half den anderen
nach und nach gutmütig auf seine Schultern. So konnten schließlich alle
Ollies Werk bewundern. Die Nachricht lautete: OLLIE HILFE !
„Ja, da wird ja sogar der Kabeljau in der Pfanne verrückt!“ jubelte Lonzo
und schlug mit seinen Tentakeln ein Rad. „Aber wo steckt der Wicht? Ollie ...
Schiffsjunge Oliver ... Wo steckst du???“
„Nicht so laut, nicht so laut!“ wehrte Bharos lachend das Geschrei ab. „Er
ist bestimmt nicht in der Nähe, sonst hätte er sich schon längst gemeldet.
Aber ich habe auch eine gute Nachricht.“ Er holte erst einmal tief Luft und
fuhr dann fort, dabei auf einen der fernen Berggipfel zeigend: „Dort oben war
ich und habe die gute Aussicht genutzt. Es gibt in der Nähe, vielleicht
zwanzig Kilometer entfernt, ein Tal, in dem ein riesiger Iglu steht. Ich konnte
sogar einige Gestalten erkennen, die sich in der Nähe des Baus bewegten.“
„Hurra!“ schrie Alexander. „Meine Leute!“ Er begann sofort loszurasen,
bremste jedoch nach zehn Metern ab und kam mit hängenden Ohren zurück.
„Ist wohl ein bißchen weit bis dahin“, brummte er.
„Ach wo“, gab Bharos zurück. „Jedenfalls nicht, wenn man teleportiert. Ich
bringe euch alle hin, Alexander zuerst!“
Mit Einzelheiten hielt sich Bharos nicht lange auf. Alexander kam nicht ein
mal dazu, ein erneutes „Hurra!“ zu brüllen. Bei „Hu...“ war Bharos schon
neben ihm, und beide verschwanden.
Harpo folgte als nächster. Die Umgebung veränderte sich von einem
Moment zum anderen. Dann stand er in einer weiten, weißen Talebene, und
direkt vor ihm ragte einer jener riesigen Schneeiglus auf, wie er sie vor langer
Zeit auf diesem Planeten kennengelernt hatte.
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Der Iglu war etwa fünfzig Meter hoch und besaß einen tunnelähnlichen
Einstieg, der direkt in die Richtung der Neuankömmlinge zeigte.
Vier Rotpelze hatten den Bau gerade verlassen, kehrten ihnen die Rücken
zu und hopsten mit geschulterten Angelruten einen Weg entlang, der zu
einem zugefrorenen See in der Nähe führte. Sie schienen in ausgelassener
Stimmung zu sein. Am See sah man weitere Rotpelze, die damit beschäftigt
waren, Fische in geflochtene Körbe zu werfen. Offenbar war heute der große
Angeltag.
Harpo mußte daran denken, daß die Raufbolde die Rotpelze gelegentlich
Faulpelze nannten, weil sie am liebsten solchen Beschäftigungen wie Rodeln
oder Schnarchen nachgingen. Daß diese Bezeichnung – die auch mehr
augenzwinkernd ausgesprochen wurde – ungerecht war, konnte man hier se
hen.
Alexander zappelte nervös herum. Am liebsten wäre er auf der Stelle ju
belnd losgerannt, aber dann wartete er doch, bis die letzten seiner Freunde
von Bharos herbeigebracht worden waren. Es waren Trompo und Moritz.
„Nun mal los, Dicker!“ flüsterte Harpo, der genau wußte, was in dem
jungen Rotpelz vorging, und knuffte ihn in die Seite.
„Huchhuuuuu!“ brüllte Alexander und jagte los. Weit kam er nicht. Er
rutschte aus und landete kopfüber in einer mächtigen Schneewehe. „Grum
mel, grummel“, machte er. Irgendwie hatte er den Eindruck, daß dieser Sturz
nicht so recht in das Bild eines tollkühnen Weltraumhelden passen wollte.
Bis dahin waren die Freunde von der EUKALYPTUS unbemerkt geblieben.
Bei Alexanders Jubelruf wandten sich jedoch gleich mehrere Köpfe zu ihnen
hinüber.
Von der anderen Seite des Iglus kam ein ganzes Rudel Rotpelzkinder näher,
erst ein bißchen ängstlich, dann aber mit lachenden Gesichtern. Quietschend
folgten sie Alexanders Beispiel und warfen sich kameradschaftlich zu ihm in
den Schnee.
Prustend kam Alexander wieder auf die Beine. „Ich bin wieder da!“ schrie er
in seiner Muttersprache. „Hört ihr – Alexander ist zurückgekehrt!“
Von allen Seiten liefen jetzt Rotpelze herbei. Selbst die Angler ließen ihre
Angeln fallen und eilten zum Iglu. So ein Ereignis gab es schließlich nicht je
den Tag. Das mußte gefeiert werden!
Die Rotpelzkinder beäugten inzwischen neugierig Harpo und seine
Freunde.
Besonders Lonzo hatte es ihnen angetan.
Ollie war nicht unter den Herbeieilenden. Lonzo hob seine Tentakel wie ein
Dirigent und gab das Einsatzsignal. „Ollie! Olllllliiiiiieeeee!“ schrien alle aus
Leibeskräften.
Ein wildes Indianergeheul antwortete aus dem Iglu. Der Schnee knirschte
unter dahinrasenden Stiefelsohlen. Dann schoß der so lange Gesuchte aus
dem Eingangstunnel. Er mußte geschlafen haben. Das Haar stand ihm strub
belig vom Kopf ab, und die schlaftrunkenen Augen waren weit aufgerissen.
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„Is’ nich’ wahr! Kann nich’ wahr sein!“ krähte er. Im nächsten Moment
teilte er Alexanders Schicksal, rutschte aus, überschlug sich und schlitterte
auf dem Hosenboden auf seine vor Freude auf und ab hüpfenden Freunde
von der EUKALYPTUS zu.
Mit weit ausgestreckten Armen und kullernden Freudentränen landete der
Kleine in Ancas Armen und plärrte: „Daß ich euch endlich wiederhabe! Hu
huhuhuhuhuuuuu! Und ich hatte mich schon damit abgefunden, ein Eisbär
zu werden!“ Was nichts anderes bedeutete, als daß der kleine Oliver gesund
und putzmunter war.
Ein freudiges Wiedersehen
Eingeklemmt zwischen lachenden, ihnen auf die Schultern klopfenden
Rotpelzen marschierten sie durch den schmalen Tunnel in das Innere des
Rieseniglus. Für Bharos, der als einziger noch nicht auf der Welt der Rotpelze
und Raufbolde gewesen war, boten sich einige Überraschungen. Staunend
stand er in der gewaltigen, halbkugelförmigen Schneefestung und sah sich
um.
Wie groß der Iglu war, hatte man schon von außen ahnen können. Wenn
man die aus Schnee und Eisblöcken bestehende, hundertfünfzig Meter weite
Kuppel an Ort und Stelle besah, war man aber trotzdem beeindruckt. Überall
im Innern herrschte geschäftiges Treiben. Dutzende von Rotpelzen aller
Altersstufen drängten sich heran und betasteten die Neuankömmlinge.
Von überall her steckte man ihnen Leckereien zu oder reichte ihnen
dampfende Getränke.
Erst nachdem die Besucher auf weichen Matten um eines der vielen Feuer
hockten, gelang es ihnen, sich für die Gastfreundschaft zu bedanken.
Die Rotpelze dieses Stammes hatten zwar schon davon gehört, daß Besu
cher von einem anderen Planeten einmal auf Nordpol gewesen waren, hatten
aber noch keinen davon zu Gesicht bekommen. Ollie war der erste Mensch
von der Erde, den sie erblickten. Mehrere Rotpelze hatten ihn entdeckt, als er
einsam und frierend durch den Schnee stapfte, und ihm erst einmal einen
Topf warmer Suppe eingeflößt. Ollie war natürlich begeistert gewesen. Nicht
nur wegen der Suppe, sondern auch, weil der Anblick der Rotpelze ihm ver
raten hatte, daß er sich auf Nordpol befand. Wenn die Freunde ihn nicht ge
funden hätten, wäre er irgendwann in den nächsten Tagen in Begleitung
mehrerer Rotpelze zur Station des Weltraumarztes aufgebrochen.
„Klasse, daß ihr Ollie gerettet habt“, sagte Harpo zu den Rotpelzen am Feu
er.
„Oh“, erwiderte ein halbwüchsiger Rotpelz unter dem wiehernden Geläch
ter seiner Verwandtschaft, „wir hatten viel Spaß mit Ollie. Besonders, als er
uns beibringen wollte, wie man Hustensaft herstellt.“
72
Das war mal wieder typisch für den Kleinen! Ohne seine geliebten Pillen
und Tröpfchen gegen jedes mögliche Wehwehchen wäre Ollie ganz trüb
sinnig geworden – obwohl ihm ja eigentlich überhaupt nichts fehlte. Nicht
einmal einen Schnupfen hatte er sich beim Wandern im Schnee geholt. Dann
war ihm ein Hustensaftrezept eingefallen. Mit Feuereifer hatte er sich an die
Arbeit gemacht und aus Honigkraut, Fischtran und allerlei Gewürzen ein Ge
bräu gekocht, das zwar nichts gegen Husten nützte und Ollie selbst gar nicht
so recht über die Lippen gehen wollte, ihm aber zu großem Ansehen bei den
jungen Rotpelzen verhalf. Denen schmeckte der Saft nämlich ganz hervor
ragend.
Die Rotpelze hatten den großen IgluSaal zwar in allerlei Nischen unter
teilt, aber abgeschlossene Räume gab es nicht. Man liebte die Geselligkeit
und zog sich eigentlich nur in die von kaum meterhohen Schneemauern
abgetrennten „Privatecken“ zurück, wenn man sich auf wichtige Gespräche
konzentrieren wollte.
Nahe der Kuppelwand gab es mehrere Feuer, riesige Kupferkessel hingen
darüber, und es duftete aromatisch. Einige Rotpelze rührten mit hölzernen
Schöpfkellen in den Kesseln und leckten sich genießerisch die Lippen. Das
war die Gemeinschaftsküche. Jeder mußte mal kochen, wie überhaupt alle
angenehmen und alle lästigen Arbeiten reihum ausgeführt wurden. Wirklich
von jedem, ob er nun dick oder dünn, alt oder jung, Mann oder Frau war.
Nicht etwa, daß jemand dazu gezwungen wurde – man tat es, weil es so
richtig war.
Harpo mußte unwillkürlich an die Zustände auf der Ende denken. Dort war
das anders. Dort gab es Leute, die andere für sich arbeiten ließen und nichts
so sehr liebten, wie andere herumzukommandieren. Wer glaubte, daß er
selbst einen etwas besseren Arbeitsplatz besaß, hatte Angst davor, ihn wieder
zu verlieren, und blickte argwöhnisch auf den Nachbarn. Jeden kämpfte
gegen jeden, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte.
Bei den Rotpelzen kannte man nicht einmal einen IgluBürgermeister, von
irgendwelchen besonderen Aufsehern ganz zu schweigen.
Bharos hatte erstaunt bemerkt, wie angenehm warm es in dem aus Eis und
Schnee gefertigten Bau war. Er fürchtete, daß die Wärme den Schnee auftau
en und das Bauwerk zusammenstürzen würde. Aber da konnte er ganz un
besorgt sein. Ein klug durchdachtes Lüftungssystem ließ Kaltluft über die
Innenwand fließen. Man brauchte dafür nicht einmal eine Maschine, son
dern nur die seit Jahrhunderten vererbten Baukünste der Rotpelze.
Während die heiße Suppe aufgetragen und geschlürft wunde, musterte
Bharos die Rotpelze in seiner Nähe. Die meisten hatten längere und zottelige
re Felle als Alexander. Kein Wunder, denn Alexander hatte sich an Bord der
EUKALYPTUS ein wenig den Pelz stutzen lassen, weil es dort viel wärmer als
auf seinem Heimatplaneten war. Erstaunen konnte einen immer wieder –
man sah das jetzt besonders gut beim Essen –‚ wie geschickt die Rotpelze mit
ihner scheinbar so ungefügen Pranken umgehen konnten. Das heißt, eigent
lich war das gar nicht so verwunderlich, denn unter dem dichten Fell waren
73
schlanke Finger verborgen, die zwar etwas kürzer waren als die eines Men
schen, aber kaum weniger vielseitig einsetzbar. Einige aus der Sippe kamen
erst später, als die anderen bereits aßen. Das waren Fischer, die ihre Fang
löcher weit draußen in die Eisdecke des Sees geschlagen hatten.
Sie wurden mit lautem Hallo begrüßt. Einer von ihnen, Rauhfell mit
Namen, hatte sich erst kürzlich bei Alexanders Sippe aufgehalten und war so
gar entfernt mit dem jungen Weltraumfahrer verwandt. Er drückte Alexander
sofort gegen seine Brust und erzählte die letzten Neuigkeiten. Rauhfell wußte
auch allerhand über Lori Powitz und die anderen Kinder zu berichten, die bei
den Raufbolden oder Alexanders Sippe geblieben waren.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden, aber so schnell fand man in
dieser Nacht verständlicherweise nicht zur Ruhe.
Wie sich herausstellte, lagen zwischen diesem Iglu und dem von Alex
anders Familie nur knapp vierhundertfünfzig Kilometer. Weitere hundert Ki
lometer entfernt fraß sich der Schneekrabbler Borro, in dem Flunkis
Raufboldclan hauste, durch den Pflanzenteppich unter dem Schnee. Mit
einem Motorschlitten wären diese Entfernungen nur ein Katzensprung ge
wesen, aber die Rotpelze besaßen nur drei Fahrzeuge dieser Art. Und die
waren ausnahmslos im Einsatz und nicht verfügbar.
Am nächsten lag die Station des Weltraumarztes Hugo, der eigentlich gar
nicht so hieß, aber von den Kindern so genannt wurde, weil sein Name für sie
schier unaussprechlich war. Ganze achtzig Kilometer waren bis dahin zu
rückzulegen. Eigentlich eine lächerliche Strecke für Weltraumfahrer und
Transmitterreisende. Wenn man allerdings nicht einmal einen Motor
schlitten besaß, bedeutete diese Entfernung einen mehrtägigen Fußmarsch
durch den Schnee. Aber sie hatten ja Zeit. Ohnehin würde die EUKALYPTUS
erst in einigen Wochen, vielleicht Monaten, im Orbit von Nordpol auftau
chen.
Die Rotpelze hörten staunend zu, als von dem Transmitter die Rede war,
hatten aber keine Lust, die Maschine selbst einmal auszuprobieren. Nicht
einmal Ollie hatte es geschafft, ihre Neugier zu wecken. Ihnen gefiel es auf
Nordpol, und sie liebten das Leben, das sie führten. Warum sollten sie wag
halsige Abenteuer riskieren?
Von weiteren Transmitterreisenden wußten sie nichts. Vielleicht waren die
meisten anderen Stationen, mit denen Nordpol Verbindung hielt, einsam
und verlassen. Und vereinzelte Reisende, wie etwa die Morr, schreckten wohl
vor der stillen Schneelandschaft zurück. Sie taten gut daran, denn Sklaven
händlern und Sklavenhaltern wäre es bei den Rotpelzen so schlecht
ergangen, daß sie gewiß darauf verzichtet hätten, noch einmal hierher zu
rückzukehren.
Am nächsten Morgen erwachte Harpo als erster. Anfangs kuschelte er sich
noch einmal in die von Rauhfell, Breitfuß und Grätenfänger spendierten De
cken. Alle Rotpelze trugen Namen, die etwas aussagten und für sie typisch
waren, schließlich hatte auch Alexander einen „echten“ Rotpelznamen: Räu
cherfischvertilger. Im Iglu war es durch die herabgebrannten Feuer gegen
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Morgen kühl geworden. Schließlich raffte Harpo sich auf und weckte seine
Schwester. Anca hatte sich ganz eng an Alexanders weichen Pelz gekuschelt.
Sie blinzelte und döste halbwach weiter. Dann reckte sie sich. Im gleichen
Moment erwachte auch Lonzo. Er hatte sich über Nacht selbst ausgeschaltet.
Da die EUKALYPTUS mit ihren Energiequellen, wo er ab und zu seine Akkus
aufladen mußte, noch eine Weile ausbleiben konnte, versuchte er, Energie zu
sparen.
Sonst war noch alles still, von einigen Schnarchlauten abgesehen. Das
Licht des frühen Morgens drang durch die Luftlöcher und den Eingangs
tunnel des Iglus; ansonsten sorgte die letzte Glut der Feuer für ein rötliches
Funkeln.
Irgendwo knackte etwas. Schlagartig waren Harpo und Anca hellwach.
„Hast du das auch gehört?“ flüsterte Harpo.
Anca nickte und sagte leise: „Was war das? Ob die Morr am Ende doch
gesiegt haben und unseren Spuren gefolgt sind?“
„Ach, Unsinn!“ flüsterte Harpo zurück. Er konnte aber nicht verhindern,
daß es ihm kalt den Rücken hinunterrann.
Alexander murmelte im Schlaf, dann öffnete er versuchsweise sein rechtes
Auge.
„Da ist ein komisches Geräusch“, wisperte ihm Harpo ins Ohr. Er deutete
vage in Richtung der Feuer, obwohl er ziemlich sicher zu sein glaubte, daß
dieses eigenartige Knacken nicht direkt von den Feuern gekommen war.
Schon gar nicht hatte es etwas mit dem Knacken beim Verbrennen von Holz
zu tun gehabt. Es war irgendwie ein ... metallisches ... Knacken gewesen.
Harpo bemerkte hinter dem Feuerschein etwas, das ihm am Abend zuvor
nicht aufgefallen war. Dort befand sich ein schwarzes Loch in der Igluwand.
Beunruhigt starrte er es an. Es war rund und hatte einen Durchmesser von
etwa einem Meter. Da aber kein Licht durch das Loch ins Innere drang, konn
te es sich nicht um ein Ausgangsloch handeln. Vielmehr schien es unter die
Schneedecke hinabzuführen.
Natürlich, das mußte so eine Art Kühlkammer sein, in der Vorräte gelagert
wurden.
Dann hörte er das Knacken – oder war es eher ein Klicken? – noch einmal.
Kein Zweifel, es kam aus dem Kellerraum. Dort unten war etwas, das sich be
wegte. Wer oder was mochte das sein? Wer hatte es nötig, in einem Rotpelz
Iglu herumzuschleichen? Etwas Gutes würde der kaum im Schilde führen.
Wieder ein Geräusch. War das eine Art Kichern gewesen? Was hatte das
nun wieder zu bedeuten? Teuflisch! Die Unbekannten machten sich sogar
über ihre Opfer lustig. Er mußte unbedingt sofort Alarm schlagen.
Harpo holte tief Luft und wollte losbrüllen, brachte aber keinen Ton hervor.
Bharos war aufgesprungen und hielt ihm den Mund zu. „Auch ohne Geschrei
wird es gleich einen Aufruhr geben“, prophezeite er, aber der Schalk blitzte
aus seinen Augen. Harpo verstand die Welt nicht mehr.
Im nächsten Moment brach die Hölle los. Aus dem dunklen Loch lösten
sich mehrere Gestalten und stürmten heran.
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„Hilllll ... Lori!“ schrie Anca. „Tom! Fidel! Fantasia! Wo kommt ihr denn
plötzlich alle her?“
Überall auf den Lagern fuhren die eben noch schlummernden Rotpelze
hoch, spitzten die Ohren und brachen dann in dröhnendes Gelächter aus.
„Bei allen Geistern und Klabautermännern der neun Weltmeere!“ donnerte
Lonzo. „Der Große Shuubuu sieht Gespenster! Das halten meine Stromkreise
nicht aus!“
Immer noch kletterten Gestalten aus dem Loch. Sie rannten jauchzend
durch den Iglu und fielen den Freunden von der EUKALYPTUS in die Arme.
Alle, die mit der EUKALYPTUS den Planeten Nordpol erreicht hatten, es dann
aber vorgezogen hatten, hierzubleiben, waren da: Lori Powitz, Big Tom
Schlitz und Fidel Flottbek, Lucky und Babs, Fantasia, Daniel Locke ... Insge
samt waren es fast dreißig Besucher, die meisten im Alter zwischen zwölf und
sechzehn, die mit ihren Kameraden Wiedersehen feierten, ihre Namen riefen,
sie in die Arme nahmen und abküßten. Mitten im Karneval hätte der Trubel
auch nicht größer sein können.
Inmitten der wirbelnden Meute entdeckte Harpo seinen alten Freund Flun
ki und drei weitere Raufbolde. Und Hugo, der galaktische Mediziner, winkte
auch herüber.
Der Große Flunkerer, wie Flunki in Wirklichkeit hieß, war ganz in seinem
Element. Er fluchte wie in seinen besten Tagen und sah sich mit blitzenden
Augen um. „Frostbeule und gefrorener Käsefuß!“ schrie er. „Vier Schlitten
waren nötig, um die ganze Bande hierherzubringen. Beim listigen Eierdieb,
war das eine Fahrt! Ha, und diese gefräßigen Rotpelze liegen immer noch auf
der faulen Haut!“
Ollie hatte einen so gesunden Schlaf, daß er trotz des Trubels erst jetzt
hochschoß. „Jetzt ist es passiert!“ jammerte er. „Ich habe es kommen sehen,
aber jetzt ist es wirklich passiert! Alte Raumschiffwracks, Nomaden, Raumpi
raten, Gangster von der Erde, Transmitter... Das war zu viel für meine armen
Nerven. Ich sehe HaHalluHalluza... naz... also Trugbilder! Helft mir doch!“
Er riß Harpo am Ärmel und rief: „Sag mal, siehst du das auch? Siehst du es
wirklich?“ Im nächsten Moment bekam er einen dicken Kuß, und jemand
drückte ihn jubelnd an sich. Fantasia!
„Und ich?“ schrie Flunki mit gespielter Empörung. „Wer küßt mich? Da
müht man sich ab und ... Harpo, alte Weltraumratte!
„Flunki, altes Schlachtroß!“ Harpo stürzte auf ihn zu und schlug dem
Freund ausdauernd auf die Schulter. Flunki mühte sich ab, um ein grim
miges, abweisendes Gesicht zu machen. Dazu klopfte seine Stiefelspitze un
gehalten einen rhythmischen Takt. Doch das war alles nur Mache. Man sah,
daß ihm die Freudentränen in die Augen stiegen. Aber zeigen wollte der
bärtige Wicht das nur ungern. Obwohl es kaum einen zweiten gab, der so gut
mütig und den Kindern von der Erde so zugetan war wie Flunki, liebte er es
nun mal, den Wüterich zu spielen, und hatte einen Heidenspaß dabei.
Tränen flossen aber auch anderswo reichlich, und viele brachten vor Freude
in den ersten Minuten kaum ein verständliches Wort hervor. Erst als die Rot
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pelze Körbe mit Brot, dazu Räucherfisch und einen Honigtrank herbei
schleppten und die ganze Schar zum Frühstück aufforderten, wurde es ru
higer. Denn Hunger hatten sie alle. Die Schlitten waren den größten Teil der
Nacht hindurch unterwegs gewesen.
Bei der Ankunft am Iglu hatte Flunki gleich gesehen, daß noch alles in
tiefem Schlummer lag. Sofort war ihm der listige Plan eingefallen, durch die
Vorratskammern hindurch in das Innere zu stürmen. Er kannte die Iglus gut
genug, um zu wissen, daß die Vorratskammern zwei Ausgänge hatten, wovon
der eine außerhalb des Iglus lag. Das war ein Spaß, wie er einem echten Rauf
bold gefallen konnte!
„Woher habt ihr eigentlich gewußt, daß wir hier sind?“ wollte Harpo zwi
schen zwei Bissen Brot wissen.
Flunki zeigte auf Lucky Cicero und schmunzelte. „Das haben wir ihm zu
verdanken“, sagte er. „Hugo hat viel mit ihm gearbeitet. Lucky ist jetzt in der
Lage, seine Fähigkeiten zu kontrollieren. Ihr werdet staunen! Auf jeden Fall
hat er eure Gedanken gespürt und schließlich auch herausgefunden, wo ihr
euch aufhaltet.“
Also war es dem Weltraumarzt gelungen, sein Versprechen wahrzumachen
und Lucky zu helfen. Sie würden umdenken müssen. Lucky war nicht länger
jener auf die Hilfe anderer angewiesene Mongoloide, der nur in besonderen
Situationen seine Fähigkeiten erkennen ließ.
„Ja, und dann sind wir sofort mit den Schlitten gestartet und haben unter
wegs alles aufgelesen, was Beine hat.“
„Aber mich hat Lucky nicht aufgespürt?“ fragte Ollie und erklärte dann:
„Ich bin nämlich schon länger hier!“
„Wahrscheinlich denkst du zu leise“, meinte Anca und freute sich über
diesen Spaß.
„Lucky hat etwas gespürt“, antwortete Daniel Locke. „Nicht wahr, Lucky?
Aber anfangs war er seiner Sache nicht sicher und wollte nicht so recht mit
der Sprache herausrücken.“
„Dann bist du ja jetzt ein Genie, Lucky!“ rief Lonzo und umklammerte ihn
mit allen Tentakeln zugleich. „Aber Schätze suchen wir auch in Zukunft ge
meinsam, was?“
„Klar!“ sagte Lucky. Er war noch ein bißchen schüchtern und wurde knall
rot, weil ihn alle so freundlich ansahen. „Und ihr bleibt alle meine Freunde,
so wie früher!“
Ja – und das war der längste Satz, den Lucky in seinem bisherigen Leben
gesprochen hatte.
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Der Ring der dreißig Welten
Der erste Tag nach dem Wiedersehen verging wie im Flug. Einige zogen zu
einer ausgelassenen Rutschpartie auf die Hügel hinaus, andere lieferten sich
vor dem Iglu eine heftige Schneeballschlacht, an der sich auch die jungen
Rotpelze beteiligten.
Alexander und Anca gingen mit mehreren Rotpelzfischern zum Angeln auf
den See hinaus, während Harpo und Fantasia einfach so durch den Schnee
spazierten und sich dabei eine Menge zu erzählen hatten. Flunki und die
anderen Raufbolde waren unermüdlich im Einsatz, um all denen, die Lust
darauf verspürten, die Umgebung zu zeigen. Auch Bharos, der Akkai, nahm
an einer solchen Schlittenfahrt teil, ließ es sich auf dem Rückweg aber nicht
nehmen, sich selbst einmal am Steuer zu versuchen. Das machte ihm so viel
Spaß, daß Flunki anschließend beurlaubt wurde. Wenig später tauchte der
Raufbold zwischen den Hügeln auf und rannte auf Harpo und Fantasia zu,
die am Ufer des zugefrorenen Sees entlangwanderten.
„Heee!“ schrie er schon von weitem. „Bharos hat mir jetzt eure Trans
mitterabenteuer in der richtigen Reihenfolge erzählt. Ein dickes Ei! Hätte
nicht gedacht, daß das vergammelte Ding da oben überhaupt noch
funktioniert!“
„Was?“ fragte Harpo verblüfft. Er wunderte sich nicht darüber, daß der
Raufbold ihre Sprache inzwischen gelernt hatte, auch nicht darüber, daß
Flunki bei dem Durcheinander am Morgen kaum ein Wort verstanden und
erst jetzt begriffen hatte, wie sie auf den Planeten gelangt waren.
„Du ... kennst den Transmitter?“ Harpo war fassungslos.
„Na, hör mal!“ empörte sich Flunki. „Hältst du uns etwa immer noch für
unterbelichtete Barbaren? Ich habe dir doch schon einmal gesagt, daß wir
Raufbolde vor Jahrtausenden bereits die Raumfahrt kannten. Und daß wir
freiwillig darauf verzichtet haben, zwischen den Sternen herumzukut
schieren. Ja, die Transmitter haben wir damals auch benutzt – bis die Bur
schen, die sie installierten, plötzlich einen Rappel bekamen und das Geschäft
aufgaben. Weiß das Schneehuhn, warum. Sie verschwanden eines Tages und
kamen niemals wieder. Und die Raufbolde verloren dann auch irgendwann
die Lust, von Planet zu Planet zu hüpfen.“ Flunki schmunzelte und zerrte an
seinen Bartenden. „Ihr müßt wissen, damals gab es eine Vereinigung von
dreißig verschiedenen Planeten. Alle waren dem Transmitternetz ange
schlossen. Ja, so war das damals. Aber das ist schon unheimlich lange her.“
„Und die Erbauer verschwanden einfach?“ fragte Harpo aufgeregt. „Die
Transmitter funktionierten weiter? Rätselhaft! Warum habt ihr nicht nachge
sehen, wo die Transmitterkonstrukteure geblieben sind?“
„Erst mal können!“ gab Flunki zurück. „Du hast ja selbst erlebt, wie die
Transmitter heute funktionieren. Man kann sie nicht mehr steuern. Das
haben die Konstrukteure damals veranlaßt, ganz plötzlich, ohne Vorankündi
gung, sozusagen über Nacht. Wahrscheinlich war es ihnen zu mühsam, die
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Transmitter einzusammeln. Da haben sie vermutlich nur ihren eigenen
Transmitter und die zentrale Steuerung auf ihrem Planeten zerstört. Denn
der gehört seither nicht mehr zum Ring der dreißig Welten. Er ist unerreich
bar geworden, und niemand kennt seine Koordinaten. Sonst hätten wir
schon aus Neugierde mal ein Raumschiff hingeschickt, um zu erfahren, was
in die Kerle gefahren ist.“
„Aber es muß doch Steuergeräte an jedem Transmitter gegeben haben“,
meinte Harpo. „Sind die abgebaut worden?“
„Irrtum“, erklärte Flunki. „Wer mit dem Transmitter reiste, trug ein Hand
gerät bei sich, so eine Art Hyperfunkgerät. Damit wurden die gewünschten
Zielkoordinaten an die Zentrale gegeben. Die Zentrale erledigte alles Weitere.
Als die Zentrale ausfiel, funktionierten die Handgeräte nicht mehr. Klar,
nicht? Aber die Transmitter blieben einsatzfähig – die meisten bis heute. Die
Energiequelle muß noch intakt sein. Aber die Felder werden seither völlig
willkürlich aufgebaut. Man weiß nicht, wo man ankommen wird. Na ja, mit
Ausnahmen vielleicht, denn es scheinen einige Transmitter auf wenige, ein
ander abwechselnde Verbindungen programmiert zu sein. Warum, weiß ich
auch nicht. Die ganze Transmittertechnik blieb für uns ein Buch mit sieben
Siegeln.“
„Das ist aber eigenartig“, sagte Fantasia. „So Hals über Kopf die Ver
bindung abbrechen, ohne sich auch nur zu verabschieden. Die müssen doch
einen Grund gehabt haben!“ „Vielleicht habt ihr die Transmitterkonstruk
teure verärgert?“ fragte Harpo.
„Verärgert? Was? Wen? Wiiiir?“ explodierte Flunki und sprang mindestens
einen halben Meter in die Luft. „Den möchte ich sehen, der Grund hat, sich
über so friedfertige und sanftmütige Wesen wie uns Raufbolde zu ärgern! Ha!
Der würde aber Ärger mit mir bekommen!“
Harpo und Fantasia lachten. Aber dann wurde Harpo wieder ernst. „Auf je
den Fall hat die EUKALYPTUS demnächst ein neues Ziel – das sehe ich schon
kommen. Irgendwie werden wir schon herausfinden, wo der geheimnisvolle
Planet der Transmitterleute liegt! Ganz bestimmt! Und dann brechen wir auf,
um das Rätsel zu lösen!“
„Klar machen wir das!“ bekräftigte Flunki und schlug Harpo begeistert auf
die Schulter.
„Moment“, sagte Harpo verdutzt. „Hast du eben ‚wir‘ gesagt?“
Flunki grinste. Fantasia verzog ebenfalls das Gesicht zu einem Lächeln.
„Das hättest du erleben müssen, Harpo!“ rief sie. „Ihr wart höchstens zwei
Tage fort, als Flunki zu fluchen begann. Er hatte sich die Sache anders über
legt und leistete tausend Schnee und Eiseide, daß er an der nächsten Expe
dition der EUKALYPTUS teilnehmen würde.“
„Ha!“ schrie Flunki. „Wagt es nur, mich abzuweisen! Ich komme mit, und
wenn ich mit dem Schlitten fahren muß.“
„Mensch, klasse!“ erwiderte Harpo. „Du hast uns in der Mannschaft gerade
noch gefehlt!“
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„Was soll das heißen?“ knurrte Flunki, zwinkerte dabei aber mit einem
Auge.
„Flunki wird nicht das einzige neue Mannschaftsmitglied sein“, erklärte
Fantasia. „Ich möchte nämlich auch mit. Und Fidel redet auch dauernd da
von. Ein paar anderen geht es, glaube ich, genauso.“
„Dich hätte ich sowieso überredet mitzukommen“, sagte Harpo und
schaute Fantasia in die Augen. Dann tanzte er ausgelassen im Schnee herum.
„Au ja! Thunderclap, Karlie, Micel und Brim werden Augen machen! Die
EUKALYPTUS bekommt eine neue Mannschaft!“
„Er hat ganz rote Ohren gekriegt, als von dir die Rede war“, sagte Flunki
und stieß Fantasia an. Er redete absichtlich so laut, daß ihn Harpo hörte.
„Ist gar nicht wahr!“ protestierte Harpo.
„Hihihi“, kicherte Flunki. „Sie sind noch röter geworden!“ Dann machten
sich die drei auf den Rückweg zum Iglu. Es galt, Pläne zu schmieden.
Drei Monate später kehrte die EUKALYPTUS zum Planeten Nordpol zu
rück. Thunderclap, Micel, Karlie und Brim warteten gar nicht erst ab, bis
Schwatzmaul das kilometerlange Riesenschiff in eine Parkbahn um den
Planeten gesteuert hatte. Ihr Gleitboot schoß bereits Nordpol entgegen und
landete unter großem Jubel direkt vor der Nase des Schneekrabblers Borro –
der darüber sogar das Fressen vergaß. Später wollte er von den Welten
bummlern die allerneuesten intergalaktischen Witze erfahren. Borro hörte
nämlich unheimlich gern Witze, die er sich sonst von eigens dafür abgestell
ten Raufbolden erzählen ließ. Bald erschütterten Borros Lachsalven wieder
die Behausungen der Raufbolde, die ja unter dem Panzer des riesigen Tieres
lebten.
Zunächst schien es so, als wolle das Erzählen kein Ende nehmen, denn die
Neuankömmlinge wurden von allen Seiten mit Fragen bestürmt und wollten
natürlich ebenfalls wissen, was es auf Nordpol Neues gab. Und auch
Schwatzmaul wurde nicht vergessen: Die auf Nordpol zurückgebliebenen
Kinder – und auch viele Raufbolde und Rotpelze – wollten unbedingt mal
wieder „Raumluft“ schnuppern. Die Gleitboote brachten in ununterbro
chenem Pendelverkehr Passagiere zur EUKALYPTUS und zurück.
Nach einiger Zeit war dann doch der Reiz des Neuen verflogen, und der All
tag zog wieder auf Nordpol ein. Eigentlich war der immer noch aufregend
genug, wenn man an die Ernteexpeditionen der stets zu Scherzen aufgelegten
Raufbolde, die für Borros Winterschlaf Futter einfuhren, oder die Fischfang
und Rodelausflüge der Rotpelze dachte. Aber einige spürten bereits wieder
das Kribbeln, das sie zu weiteren spannenden Abenteuern im Weltraum rief.
Eine neue Expedition der EUKALYPTUS wurde vorbereitet ...
Und eines Tages war es dann soweit. Alle Freunde waren gekommen, um
den Sternenfahrern Lebewohl zu sagen. Auch Alexander, der junge Rotpelz,
der die allergrößte Reise aller jungen Rotpelze mit der EUKALYPTUS gemacht
hatte, nun aber lieber wieder bei seinen Leuten bleiben wollte. „Erst einmal“,
wie er sagte. Doch als das letzte Gleitboot in den Himmel stieg, kullerten
Tränen über seine Wangen.
80
Auch vier andere hatten feuchte Augen, als die Freunde davonflogen, näm
lich Micel, Brim, Trompo und Bharos. Brim und Trompo wollten dem Welt
raumarzt Hugo bei der medizinischen Betreuung der Nordpolbewohner
helfen. Trompo freute sich außerdem darauf, längere Zeit mit einem weibli
chen Geschöpf seiner Art – nämlich Neli, die den Weltraumarzt bei der Arbeit
unterstützte – zusammenzusein.
Und Brim durfte guten Gewissens bleiben, denn Hugo hatte Fantasia in
zwischen so gut ausgebildet, daß sie Brims Platz als Arzt auf der EUKALYP
TUS einnehmen konnte.
Micel wollte gemeinsam mit Lucky ausprobieren, was sie mit ihren
außergewöhnlichen Talenten alles anzustellen vermochten. Bharos würde ih
nen helfen, solange er sich noch auf Nordpol aufhielt. Er wollte bleiben, weil
er die Ankunft eines Raumschiffes der Weltraumärzte erwartete. Dieses
Schiff, so hoffte er, würde ihn ein Stückchen weiter auf dem langen, langen
Rückweg zur Heimat bringen.
Die alten Weltraumhasen Harpo, Anca, Karlie, Thunderclap, Ollie – natür
lich nicht ohne den Dackel Moritz – und Lonzo waren allerdings um keinen
Preis dazu zu bewegen, auf Nordpol zurückzubleiben. Schwatzmaul konnte
sie – selbstverständlich mit der gewohnten Geschwätzigkeit – wieder an Bord
willkommen heißen. Aber ihnen zur Seite standen vier neue Raumfahrer:
Fantasia, Fidel, Lori und der Raufbold Flunki.
„Das wird eine lustige Reise!“ freute sich Flunki, als sich die EUKALYPTUS
aus dem Orbit des Planeten löste. „Schneezapfen und Eisflocken, jawoll!“
Und dann lieferte er sich erst einmal ein hitziges Rededuell mit Schwatzmaul,
den er einen humorlosen Schrotthaufen nannte.
Wer wollte unter diesen Umständen daran zweifeln, daß es wirklich eine
lustige Reise werden würde ...
Ende
81
Die Besatzung der EUKALYPTUS
Harpo Trumpff:
Sechzehn. Blondes, schulterlanges Haar. Hat gelegentlich Angst vor dem
Alleinsein in der Dunkelheit. Grund seines Aufenthalts auf dem Sanatoriums
schiff: Schwindelanfälle, Gedächtnisstörungen nach Stürzen. Chronist und
Logbuchführer der EUKALYPTUS.
Anca Trumpff:
Harpos Schwester. Zwölf. Langes schwarzes Haar. Klein. Etwas pummelig.
Regt sich auf, wenn man sie „Pummelchen“ nennt. Liebt Tiere. Mit Ollie sehr
eng befreundet. Übertreibt gern. Wurde auf das Schiff geschickt, damit Harpo
sich nicht allein fühlt.
Brim Boriam:
Vierzehnjähriger Negerjunge. Krauses Haar. War anfangs sehr schüchtern.
Litt unter starken Sprachstörungen. Stottert jetzt nur noch, wenn er sehr auf
geregt ist. Hat medizinisches Talent. Wurde von den Galaktischen Medi
zinern in einem Schnellhypnose Verfahren zum Arzt ausgebildet.
Thunderclap Genius:
Deckname eines gelähmten fünfzehnjährigen Jungen. Hütet seinen echten
Namen sorgsam. Hochintelligenter Tüftler. Technisch begabt. Alleswissende
Leseratte mit eidetischem Gedächtnis (vergißt kaum etwas, was er einmal ge
hört oder gelesen hat). Hobby: Entschlüsseln von Geheimschriften.
Alexander:
Sieht wie ein Bär aus. Träg einen roten Pelz. Kein Wunder, denn er ent
stammt einer intelligenten Lebensform des Planeten Nordpol, die als Rasse
der Rotpelze bekannt ist. Vielleicht zehn Jahre alt, aber sehr stark. Und lern
eifrig. Nur mit der menschlichen Sprache will es noch nicht so richtig
klappen.
Lonzo:
Roboter. Im Gegensatz zu seinen maschinellen Kollegen, die wegen ihrer
teddybärartigen Aufmachung die „Grünen“ genannt werden, ohne Verklei
dung. Behauptet von sich, überhaupt keine Maschine, sondern ein ehema
liger Seeräuber zu sein. Ist zweifellos defekt. Steht voll auf der Seite der
Kinder. Akzeptieren ihn, so wie er ist. Klopft gern Sprüche. Hat so ziemlich je
des Buch über Piraten gelesen. Ist in der Lage, kleinere Verletzungen und
Krankheiten mit einem eingebauten medizinischen System zu behandeln.
Besitzt aus Metallringen zusammengesetzte Beine und einen kugelrunden
Kopf.
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Micel Fopp:
Vierzehn. Schwarzhaarig. Dunkle Augen. Wurde durch falsche Medi
kamente, die seine Mutter während ihrer Schwangerschaft einnahm, mit ver
kürzten Armen geboren. Hände klein wie die eines Fünfjährigen und direkt
an seinen Schultern angewachsen. Ansonsten körperlich unversehrt. „Tele
path“ (ist in der Lage Gedanken zu lesen).
Karlie Müllerchen:
Fünfzehn. 2,20 Meter groß. Niemand weiß, wann er aufhören wird zu
wachsen. Bürstenhaarschnitt. Liebt nichts mehr als Kartoffelpuffer. Tischt sie
jedesmal, wenn er mit Küchendienst an der Reihe ist, den anderen in hundert
Variationen auf. Hat Humor und starkes Interesse an Funktechnik und Astro
navigation.
Ollie:
Elf. Strubbelkopf. Fransenbesetzte Lederhose. Ziemlich frech. Sogenannter
„Hypochonder“ (eingebildeter Kranker). Kerngesund, redet sich aber ständig
ein, gegen alles und jeden allergisch zu sein. Schreit nach Medizin, sobald er
einen einsamen Pickel auf seiner Haut entdeckt. Sein Ziel: rasch erwachsen
zu werden, weil er Anca Trumpff heiraten will.
Moritz:
Dackel. Ollies Liebling. Darf eigentlich nicht in die Zentrale. Wird von Ollie
immer wieder eingeschmuggelt. Hat es auf Lonzos Metallbeine abgesehen.
Und auf Trompo, den er für eine Art Hund hält.
Trompo:
Außerirdisches Wesen von Katzengröße. Sieht wie ein rosafarbener Elefant
aus. Schlappohren. Haut ist von einem Fell bedeckt. Ist kein Tier, sondern ein
intelligentes Lebewesen von einem Planeten mit unaussprechlichem Namen.
Lebte als eine Art „Krankheitsaufspürer“ bei den Galaktischen Medizinern,
bevor er auf das „Raumschiff der Kinder“ kam.
Bharos:
Elfenhaft zierlicher Mutant aus dem Stamme Akkai. Langlebig. Kann Ge
danken lesen sowie sich selbst und andere durch Kraft des Geistes von einem
Ort zum anderen transportieren. Strandete mit einem Raumschiff vor vielen
hundert Jahren und überlebte Generationen von Nachkommen seiner
einstigen Schiffskameraden, die sich zu Weltraumnomaden entwickelten.
Schloß sich der EUKALYPTUSCrew an, weil er gern auf seine Heimatwelt zu
rückkehren möchte.
Schwatzmaul:
Elektronengehirn der EUKALYPTUS. Umfaßt alle elektronischen Teile,
Steuer und Kontrollelemente des Schiffes. Und die Speicherbänke. Die Bord
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bibliothek. Ist nicht perfekt. Muß manchmal zugeben, daß er Wissenslücken
hat. Redet mit menschlicher Stimme viel, gern und geschwollen. Auch über
Sachen, die keinen interessieren. Das hat ihm seinen Namen eingetragen.
EUKALYPTUS:
Den Namen erhielt das Schiff erst durch die Kinder. Obwohl es ja eigentlich
eher wie eine riesige Hantel aussieht. Zwei Kugeln, ein zylindrisches Ver
bindungsstück. Besteht aus einer Vielzahl von Decks, jedes kilometergroß,
viele davon als künstliche Wüsten und Dschungel ausgestattet.
Ob das Raumfahrzeug ursprünglich als eine Art Auswanderungsschiff für
interstellare Reisen vorgesehen war, weiß man nicht so genau. Sicher ist nur,
daß es einen neuartigen, vorher nicht getesteten Antrieb besitzt, der mehrfa
che Lichtgeschwindigkeit zuläßt. Es umkreiste als Hospitalschiff für kranke
und umweltgestörte Kinder die Erde – bis es sich aus noch ungeklärter Ursa
che aus seiner Umlaufbahn riß. Die ursprüngliche Besatzung ließ das Schiff
und die Kinder im Stich. Diese mußten selbst lernen, das Schiff zu steuern.
Oder steuern zu lassen, denn die meiste Arbeit nimmt ihnen der allgegen
wärtige Computer Schwatzmaul ab. Daß sich die EUKALYPTUS überhaupt
wieder manövrieren läßt, verdanken die Kinder vor allem den hilfreichen
„Weltraumärzten“, – einer extraterrestrischen Rasse – und dem tüchtigen
Tiefschläfer Daniel Locke, der mit anderen Besatzungsmitgliedern auf dem
Planeten Nordpol zurückblieb. Die EUKALYPTUS hat mehrere Beiboote,
Fabrikationsstätten für alles, was an Bord benötigt wird, Wartungsroboter –
und natürlich eine sehr tüchtige, aber auch fröhliche Besatzung.
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