Alpers, Hans J Hahn, Ronald M Raumschiff Der Kinder Band 1 Raumschiff Der Kinder (0977)

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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn

Raumschiff

der Kinder

Band 1

aus der Reihe

„Raumschiff der Kinder“

ungekürzte Originaledition
der nicht mehr aufgelegten

Einzelausgabe von 1977

©   Ensslin   &   Laiblin   Verlag   GmbH   &   Co.   KG   Reutlingen   1977.   Sämtliche
Rechte,   auch   die   der   Verfilmung,   des   Vortrags,   der   Rundfunk­   und
Fernsehübertragung,   der   Verbreitung   durch   Kassetten   und   Schallplatten
sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.

ISBN 3­7709­0387­0

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Im Plastikwald

Die Maus kroch schnuppernd aus ihrer Höhle. Harpo Trumpff hielt den

Atem an. Seine Finger umklammerten den Griff des Keschers. Vor Aufregung
packte er so fest zu, daß die Haut an den Knöcheln ganz weiß wurde.

Anca zuckte mit einer Schulter, weil dort der Pullover auf der Haut kratzte.

Harpo strafte seine Schwester mit einem ärgerlichen Blick. Wie konnte man
in diesem Moment an etwas derart Nebensächliches denken!

Zum Glück hatte die Maus die Bewegung nicht bemerkt. Sie schob ihren

mit grellrotem Fell bedeckten kleinen Körper beinahe sorglos vollständig aus
dem Unterschlupf, wirbelte mit der witternden Nase etwas Staub auf und
verschwand unter dem Blatt einer Plastikpflanze. Nur der Schwanz schaute
noch hervor.

Auf diesen Moment hatte Harpo gewartet. Vorsichtig balancierte er den Ke­

scher, bis er genau über der Stelle schwebte, die von dem Mäuseschwanz
markiert  wurde. Er  wollte den  Kescher  mit  einer blitzschnellen  Bewegung
über das Tier stülpen – aber im gleichen Moment verlor er den Halt unter den
Füßen. Mitten im sandigen Boden hatte sich ein Krater gebildet, in den der
lockere Sand wie Wasser floß, den zappelnden Harpo mit sich reißend.

Im ersten Moment konnte Anca überhaupt nicht begreifen, was dort vor ih­

ren Augen geschah. Sie hatte erwartet, daß ihr Bruder mit einem Triumph­
schrei in den Kescher greifen und ihr stolz die gefangene Maus zeigen würde.
Statt dessen tat sich der Boden auf und verschlang den Jungen. Die Maus
flitzte wie ein geölter Blitz in das Dickicht der Plastikpflanzen. Wie hypno­
tisiert starrte Anca auf den Kescher, der Harpo aus der Hand geglitten war
und nun am Rande des Sandtrichters lag.

„Hilfe! Hilfe!“
Harpos Rufe lösten die Erstarrung. Ängstlich  beugte sich Anca über den

Trichter und versuchte in die Tiefe zu spähen. Aber man sah nur ein dunkles
Loch, das wie ein schräger und ziemlich steiler Tunnel unter das Gebüsch
führte. Von den Rändern abbrechende Sandbrocken warnten das Mädchen
gerade noch rechtzeitig davor, einen weiteren Schritt zu tun.

„Harpo!“ rief Anca. „Ist dir etwas passiert? Harpo, antworte doch!“
Aber der Junge hörte ihre dünne Stimme vermutlich gar nicht. Er schrie viel

zu laut und ohne Pause. Einzelne Wörter wie: „Nein!“ – „Holt mich raus!“   –
„Ich habe Angst!“ konnte man gerade noch verstehen, aber das meiste ging in
unartikuliertem Kreischen unter.

„Harpo, beruhige dich doch! Ich hole Hilfe!“
Anca war erst zwölf Jahre alt, und ihr Bruder war sechzehn. Seit dem Tod

der   Eltern  –  beide   starben   bei   der   Reaktorkatastrophe   von   São   Paulo   vor
sechs Jahren – waren die Kinder nur aufeinander angewiesen. Meist war Har­
po der Beschützer der Schwester. Aber jetzt kam es allein auf sie an, das wuß­
te Anca.

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Sie   fühlte   sich   verzweifelt   und   hilflos.   Tränenblind   rannte   sie   den   Pfad

entlang, ohne überhaupt zu bemerken, daß ihr die Blätter und Ranken der
künstlichen Pflanzen ins Gesicht peitschten. Während sie lief, formte sich un­
deutlich   ein   Bild   in  ihrem   Innern.   Sie  sah   das  Tal  der   Wigwams   mit   den
Freunden vor dem Feuer. Dorthin mußte sie laufen. Die Freunde würden Rat
wissen. Aber der Weg war lang. Wenn nur Harpo inzwischen nichts geschah!
Ihr einziger Trost war, daß es hier keine gefährlichen Tiere gab. Aber wußten
sie das wirklich so genau?

Sie prallte urplötzlich mit etwas zusammen, das eigentlich flauschig und

weich war, bei diesem ungestümen Aufprall aber doch einen ziemlich harten
Widerstand bot. Sowohl Anca als auch das Ding hüpften wie Tennisbälle aus­
einander und fielen ins Dickicht.

Benommen   richtete   sich   das   Mädchen   auf.   Auf   der   anderen   Seite   des

Weges kroch ein unglaublich dicker grüner Bär zwischen den Blättern hervor,
das heißt, im ersten Moment hätte man ihn für einen Bären halten können.

„Hoppla, kleines  Fräulein“, brummte das Wesen und half ihr beim Auf­

stehen. „Du hast es aber eilig.“

Der Bär war kein Bär. Schließlich haben lebendige Bären kein grünes Fell.

Wenn man genau hinsah, erkannte man die Nahtstellen der Plüschhülle. Und
aus   den   Bärenaugen   blickte   weder   Sanftmut   noch   Wildheit,   sondern   das
gleichmütige Leuchten einer elektronisch gesteuerten Sehzelle. Ein Roboter
oder wegen der grünen Verkleidung von den Kindern so genannt – ein Grü­
ner. Normalerweise hätte sich Anca an ihm vorbeigedrückt, denn wie alle im
Tal der Wigwams war sie mißtrauisch gegen diese elektronischen Aufpasser
und Lehrer, die wie Plüschtiere aussahen. Aber schließlich ging es dieses Mal
um Wichtigeres als um ihr Mißtrauen.

„Schnell“, keuchte sie. „Mein Bruder ist in ein Sandloch gefallen und kann

allein nicht wieder heraus.“

„Sandloch?“  wiederholte  der Grüne. „Das werden wir gleich haben. Zeig

mir die Stelle.“

Aufgeregt lief Anca dem Grünen voraus. Es fiel ihm sichtlich schwer, dem

Mädchen zu folgen. Er war um einen Kopf kleiner als Anca und hatte kürzere
Beine.

Als   sie   den   Trichter   erreichten,   glaubte   Anca   für   einen   schrecklichen

Moment, daß jemand dem Bruder etwas angetan hatte. Denn alles war ruhig.

„Harpo!“ rief sie, so laut es ging.
Erleichtert hörte sie ein leises Wimmern als Antwort.
„Es dauert nicht mehr lange“, versprach das Mädchen. „Ein Grüner ist hier

und wird dir helfen.“

Die Bezeichnung war ihr so herausgerutscht. Als artiges Mädchen hätte sie

„Lehrer“ sagen müssen. Doch der Roboter zeigte keine Reaktion.

„Ein stillgelegter Ventilationsschacht“, erklärte er, nachdem er die Ränder

des Trichters untersucht hatte. „Der Sand muß sich im Laufe der Zeit über
die Pflanzenblätter gelegt und den Eingang verdeckt haben.“

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Unter seinem linken Ohr machte sich ein hellgrünes Glimmen bemerkbar.

Aha, dachte Anca, jetzt ruft er über Funk Unterstützung herbei. Die Kinder
hatten es im Laufe der Zeit gelernt, so ziemlich alle Verhaltensweisen  der
Grünen zu deuten.

Einige Minuten später, während sie noch beruhigend in den Trichter hin­

einsprach, öffnete sich etwa hundert Meter entfernt eine Wand, die bisher
fugenlos erschienen war, und spuckte vier weitere Grüne aus. Einer trug ein
dünnes Drahtseil, ein anderer eine Handwinde. Ohne sich lange aufzuhalten,
ließ sich einer der Roboter in den Trichter gleiten. Die anderen warfen das
Seilende hinab, befestigten das Seil an der Winde und zogen wenig später
den Grünen und Harpo unter den Büschen hervor.

Erleichtert umarmte Anca ihren Bruder. Er wirkte etwas erschöpft, sonst

aber ganz normal. Nichts erinnerte mehr an den kreischenden, jammernden
Jungen in der Tiefe. Anca wußte aber, daß diese panische Angst kein Traum
war. Sie erlebte es nicht zum ersten Mal. Harpo war krank wie so viele Kinder
der Erde, die in ihrer Umwelt nicht glücklich sein konnten. Niemand durfte
außerhalb  der Städte spielen, und in den  Städten war es höllisch  eng. Im
Grunde   lebten   sie   in   einem   muffigen   Gefängnis.   Manche   Kinder   quälten
Alpträume. Auch Harpo. Er litt unter Fallangst und Schwindelgefühlen, aber
am schlimmsten wurde es, wenn er sich im Dunkeln alleingelassen fühlte.
Deshalb   hatte   man   ihn   auf   dieses   Raumschiff   geschickt,   und   Anca,   die
gesund war, durfte mit. Einsichtige Ärzte hatten erkannt, daß die Geschwister
zusammenbleiben wollten.

„Findet ihr allein zurück, oder soll ich euch zu eurer Siedlung begleiten?“

fragte der Grüne, der als erster am Ort des Unfalls gewesen war.

„Nein,   nein,   es   ist   alles   in   Ordnung“,   antwortete   Harpo   hastig.   „Und  –

vielen Dank.“

Es fiel ihm nicht leicht, dem Grünen zu danken.
„Wir werden den Schacht so absichern, daß sich solch ein Malheur nicht

wiederholen kann“, versicherte der Grüne. Wie übergroße Teddybären wat­
schelten die Roboter davon und verschwanden hinter jener verborgenen Tür
in der Wand.

„Am besten erzählen wir den anderen gar nichts davon“, meinte Harpo,

dem seine Angst, wie die Hilfe der Grünen, unangenehm war und der nicht
weiter darüber reden wollte.

„Wenn du meinst“, sagte Anca. Eigentlich verstand sie den Bruder nicht.

Wie konnte man sich für eine Krankheit schämen?

Harpo wollte ihr gerade den Kescher abnehmen, als sie plötzlich damit eine

blitzschnelle Bewegung ausführte.

„Juchhu!“ rief sie und hielt den zappelnden Fang in die Höhe. „Jetzt haben

wir am Ende die Maus doch noch gefangen!“

„Klasse!“ Harpo freute sich. Ihm war entgangen, was Anca aus den Augen­

winkeln erspäht hatte: daß die Maus neugierig ihr Versteck verlassen hatte.

Furchtlos griff Harpo in den Kescher und zog das strampelnde Tierchen

heraus. Er betrachtete es eine Weile und hielt es dann an sein Ohr.

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„Ach“, sagte er ganz enttäuscht. „Alles umsonst. Die Maus summt.“
Er reichte Anca das Tier. Tatsächlich: Die Maus summte. Und wenn man

genau hinsah, konnte man auch die winzigen Metallgelenke an den Beinchen
erkennen.  Achtlos  setzte Anca  den kleinen  Roboter­Mechanismus  auf  den
Boden. Wie eine echte Maus flitzte das künstliche Wesen in die Höhle zurück;
schließlich  besaß  es ein  kleines  Computergehirn,  das  ihm   die  Verhaltens­
weisen einer Maus aufprägte.

„Schade“, meinte Harpo. „Jetzt habe ich keine Lust mehr, noch einmal auf

Jagd zu gehen.“

„Aber Micel hat auf Deck 28 einen richtigen Frosch gesehen“, erinnerte An­

ca. Ob das nun Trotz war oder der Versuch, ihn zu trösten, wußte Harpo nicht
so genau.

„Micel Fopp ist ein Angeber“, gab er deshalb zurück. „Wenn ein Telepath

die   Gedanken   anderer   Kinder   liest,   dann   gibt   er   deren   Erlebnisse   immer
gleich als die eigenen aus. Micel war nie im Leben auf Deck 28. Also kann er
dort auch keinen Frosch gesehen haben.“

„Dann eben nicht. Aber einer auf dem Schiff hat einen lebendigen Frosch

gesehen“, trumpfte Anca auf. „Genügt dir das nicht?“

„Hm“,  machte  Harpo.  Er   ärgerte   sich,   daß   seine   kleine  Schwester  recht

hatte. „Wir wollen gehen“, lenkte er deshalb ab. „In zwei Stunden wird es
dunkel.“

Die Schlange

Harpo ging den Pfad entlang. Anca folgte ihm. Sie mußte laufen, um dem

Bruder folgen zu können.

Das Mädchen glich Harpo äußerlich nicht sehr. Sie hatte schwarzes Haar,

das glatt und voll ihr zierlich geschnittenes Gesicht umrahmte und so lang
war, daß es fast bis an die Hüften reichte. Obwohl alles an Anca klein und
niedlich wirkte, neigte sie doch ein wenig zur Rundlichkeit, was ihr den Spitz­
namen Pummelchen eingetragen hatte.

„Ich habe Kohldampf“, beschwerte sie sich nach einer Weile.
„Es ist nicht mehr weit“, antwortete Harpo. „Sicherlich wartet am Wigwam

auf uns ein großer Topf mit Bohnensuppe und viel Speck.“

Wenn man es genau nahm, dann war das mit der Bohnensuppe mehr ein

Wunschdenken. Harpo aß Bohnensuppe leidenschaftlich gern. Aber mit ihr
war heute kaum zu rechnen, denn Karlie Müllerchen, der Riese, hatte Kü­
chendienst. Und der aß für sein Leben gern Kartoffelpuffer. Brrrr ...

Der Pfad schlängelte sich wie eine dünne schwarze Linie durch das farben­

frohe Dickicht der Plastikpflanzen. Störende Blätter und Ranken bog Harpo
mit dem dünnen Metallstab zur Seite, den er vor einigen Wochen gefunden
hatte und seitdem immer bei sich trug.

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So unübersichtlich der Dschungel auch wirkte: Weder Harpo noch Anca

machten sich Sorgen, wie sie von hier in das Tal der Wigwams zurückfinden
würden. Sie kannten sich auf diesem Deck aus wie ein Floh in der Westenta­
sche.

Als sie vor zwei Jahren auf das Schiff gekommen waren, hatten sie noch

jede Einzelheit bestaunt: Die violetten Rhabarberblätter, dick und groß wie
Polsterkissen und genauso weich und elastisch; das hüfthohe Gras mit den
gelben und blauen Halmen, die mit jeweils einer Farbe ein Quadrat formten
und zusammen eine Fläche bildeten, die aus der Ferne wie ein Schachbrett
mit gelben und blauen Karos  aussah. Es gab Bäume, Schlingpflanzen und
viele Blumen, kleine und riesengroße, unterschiedlich in der Form und bunt
wie durcheinandergeworfene Farbnäpfe eines Malkastens.

In dieser Deckzone hatten die Alten alles so farbenfroh wie nur möglich

gestaltet.   Selbst   die   Wände   waren   mit   leuchtenden   Farben   bemalt.   Dort
allerdings schimmerte an einigen Stellen rostiges Metall durch. Die Farbe war
im Laufe der Zeit brüchig geworden und bröckelte ab. Die Plastikpflanzen
wirkten hingegen frisch wie am ersten Tag.

Es gab Bezirke auf diesem Deck, das die Nummer 27 trug, die anders aussa­

hen. Etwa das Tal der Wigwams. Dort sah man nur grünblaues Plastikgras
und einen strahlendgelben „Himmel“ mit einer künstlichen Sonne, die am
Ende des Tages erlosch. Manchmal machte es Harpo Spaß, sich zwischen
diesen bunten Pflanzen zu bewegen. Aber es gab auch Tage, an denen er sie
nicht ausstehen konnte und sich in Ecken zurückzog, wo es nichts gab als di­
cke, graue Felsbrocken.

Alle Kinder waren sich darin einig, daß es ihnen auf dem Schiff besser gefiel

als zwischen den grauen Betonklötzen der irdischen Städte oder dem kahlen
Umland. Unvernünftige Fabrikbesitzer hatten so lange schädliche Gase und
giftige   Flüssigkeiten   in   Luft   und   Wasser   geleitet,   bis   die   Menschen   krank
wurden und fast alle Tiere und Pflanzen starben.

Riesige Maschinen mußten fortan die Aufgaben übernehmen, die früher

den Pflanzen zugefallen waren. Sie wandelten Kohlensäure in den lebensnot­
wendigen Sauerstoff um und fraßen dabei gewaltige Energiemengen in sich
hinein. Doch so sehr sich die Wissenschaftler und Gärtner auch abmühten:
Die   wenigen   Tiere   und   Pflanzen,   die   die   Umweltverschmutzung   überlebt
hatten, kümmerten in überdachten Schutzgebieten vor sich hin und wollten
an der freien Luft nicht mehr gedeihen.

Die   meisten   Kinder   an   Bord   des   Schiffes   hatten   noch   niemals   frische

Pflanzen und lebendige Tiere gesehen und freuten sich über den Ersatz aus
Kunststoff, den sie hier vorfanden. Nicht so Thunderclap Genius. Er dachte
anders   und   hatte   seine   Freunde   mit   seinen   Ideen   angesteckt.   Der   blasse
Junge,   der   sich   nur   in   seinem   automatischen   Rollstuhl   vorwärtsbewegen
konnte, war einmal in einem Erholungsheim gewesen, zu dem ein Zoo mit
richtigen Tieren und Pflanzen gehörte. Seitdem litt er unter einer unstillbaren
Sehnsucht nach lebendigen Geschöpfen und verachtete den bunten Kunst­
stoff, der nicht altern mußte. Er war vor Aufregung ganz und gar aus dem

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Häuschen geraten, als Micel Fopp, der Junge mit dem sechsten  Sinn, von
dem richtigen Frosch erzählte, den er gesehen haben wollte. Nur mühsam
hatten die anderen Kinder Thunderclap davon abhalten können, mit seinem
Rollstuhl einen Weg nach Deck 28 zu suchen, wo er nach dem Tierchen for­
schen wollte.

Seltsam,  daß   sich  auf  dem   Schiff   lebendige   Tiere  aufhalten  sollten.   Wie

waren sie dorthin gelangt? Wovon ernährten sie sich?

Diese Gedanken gingen Harpo Trumpff durch den Kopf. Er war damit so

stark   beschäftigt,   daß   er   Sekunden   brauchte,   ehe   er   realisierte,   daß   seine
Schwester Anca aufschrie.

Harpo   wirbelte   herum   und   machte   ein   erschrecktes   Gesicht.   Aber   nur

deshalb, weil ihn Pummelchens piepsende Stimme aus seinen Überlegungen
gerissen hatte.

„Das ist doch – das ist doch eine Schlange!“ rief Anca und deutete auf eine

Stelle im Plastikgebüsch. Im ersten Moment konnte Harpo überhaupt nichts
erkennen. Aber dann bemerkte er zwischen zwei dicken Blättern ein kleines,
hellbraunes Tier, nur halb so lang wie sein Unterarm. Durch Ancas lautes
Rufen aufgescheucht, ringelte es sich gerade tiefer in das Dickicht hinein.

„Nicht entkommen lassen!“ schrie Harpo. „Es gibt keine Roboterschlangen

an Bord. Die ist echt!“

Er stürzte hinterher und brach ungestüm die Plastikblätter auseinander.

Anca folgte ihm und durchsuchte ein verfilztes Gestrüpp.

„Sie kann noch nicht weit sein“, versicherte sie eifrig und kroch selbst wie

eine Schlange über den Sandboden.

Der   gelbe   Sand   und   die   bunten   Gräser   und   Blätter   erleichterten   es  der

Schlange, ein sicheres Versteck zu suchen. Die Färbung ihres Körpers hob
sich kaum zu suchen. Die Färbung ihres Körpers hob sich kaum von der Um­
gebung ab.

Harpo klopfte mit seinem Metallstab gegen die Büsche und hoffte darauf,

daß sich die Schlange weiterschlängeln und dadurch verraten würde. Aber
das Manöver blieb erfolglos. Ärgerlich wollte er sich abwenden, als ihm Ancas
Stimme erneut durch Mark und Bein fuhr.

„Hier ist sie! Hier ist sie! Harpo, komm schnell, ich habe sie. Aaaaauuuu!“
„Was ist denn?“ rief Harpo verdutzt und rannte zu Anca hin.
„Ich glaube, sie hat mich gebissen“, sagte Anca mit zusammengepreßten

Lippen, um aufkommende Tränen zu unterdrücken. Sie zeigte auf ihren lin­
ken Fuß.

„Dort!“ rief sie und zeigte auf ein Gebüsch. „Laß sie nicht entkommen, Har­

po. Wir wollen sie doch den anderen zeigen.“

„Ach, das ist jetzt nicht mehr so wichtig“, meinte Harpo und kümmerte

sich besorgt um das Mädchen. „Wir sind ganz schön leichtsinnig gewesen“,
sagte   er.   „Hätte   uns   auch   früher   einfallen   können,   daß   Schlangen   kein
Spielzeug sind.“

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Auf den ersten Blick konnte er an dem nackten Fuß – wie alle Kinder lief

auch Anca stets barfuß – nichts Besonderes erkennen, aber dann entdeckte er
eine winzige Bißwunde, aus der zwei Tropfen Blut ausgetreten waren.

Sekundenlang fühlte er sich hilflos. Wäre Thunderclap Genius mit seiner

Begeisterung für Tiere und Pflanzen und deren Lebensgewohnheiten nicht
gewesen, hätte er auch nach drei Stunden nicht gewußt, was zu tun war. So
entsann er sich jedoch an einen der endlosen Vorträge des Jungen im Roll­
stuhl.

„Manche Schlangen sind giftig“, hatte Thunderclap gesagt. „Man muß ver­

suchen, das Gift auszusaugen, damit es nicht in den Blutkreislauf gerät. Und
man darf, wenn man von einer giftigen Schlange gebissen wurde, nicht weg­
rennen, weil sich das Gift dann noch schneller im Körper verteilt.“

Thunderclap   war   sicherlich   noch   weiter   in   Einzelheiten   vorgedrungen,

aber Harpo hatte nur diese Sätze im Gedächtnis behalten. Er mußte etwas
tun, das war klar. Denn ein zweites Mal würden sie heute kaum das Glück
haben, in einer Notlage auf einen Grünen oder gar einen Alten zu stoßen. Ja,
die Alten in ihren weißen Kitteln, mit ihren Spritzen, Tabletten und Abhorch­
geräten: Die hätten das Problem in Minutenschnelle aus der Welt geschafft.
Doch die saßen in ihrer Zentrale, irgendwo im Schiff, weit weg vermutlich.

„Stillhalten!“ befahl Harpo und beugte sich über das Bein seiner Schwester,

die jammernd auf den Pfad zurückgekrochen war. Er preßte seinen Mund auf
die  Wunde  und begann   mit   aller  Kraft  zu saugen.  Eine  salzige Flüssigkeit
sammelte sich schnell in seiner Mundhöhle. Harpo spuckte sie aus. Dort wo
er gesaugt hatte, war der Fuß ganz rot geworden, außerhalb dieser Zone hin­
gegen   weiß,   weil   hier   das   Blut   fehlte.   Noch   einmal   lutschte   er   an   Ancas
Wunde, bis er nicht mehr konnte. Leider hatte Thunderclap nicht erwähnt,
wie lange man saugen mußte.

Harpo versuchte zu verbergen, daß er Angst um Anca hatte. Sie mußten so

schnell wie möglich zu den Freunden zurück. Und von dort zu den Grünen.
Die würden auf jeden Fall helfen. Aber wie, wenn Anca doch nicht rennen
durfte?

Hoffentlich war kein Gift im Blut geblieben, hoffentlich wirkte es nicht töd­

lich, hoffentlich ... Harpos Gedanken bewegten sich wie in einem rasenden
Kreisel.

„Kannst du gehen?“ fragte er ängstlich. „Komm, ich stütze dich.“
„Laß nur“, antwortete Anca tapfer. Sie blickte Harpo mit großen,  leuch­

tenden Augen vertrauensvoll an. Als sie zum ersten Mal auftrat, sah ihr Bru­
der jedoch sofort, wie sich ihr Gesicht schmerzlich verzog.

„Leg deinen Arm um meine Schultern“, ordnete er an. „Wir haben es nicht

mehr weit.“

Anca tat, was er verlangte. Humpelnd bewegte sie sich an seiner Seite. Sie

kamen nur langsam voran.

Harpo   dachte   nur   daran,   daß   der   Schwester   nichts   geschehen   durfte.

Flüchtig überlegte er, daß sie ein richtiges Tier an Bord des Raumschiffs gese­
hen   hatten   und   daß   nach   diesem   Biß   überhaupt   nicht   mehr   daran   zu

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zweifeln war, daß die Gerüchte auf Tatsachen beruhten. Robottiere würden
niemals beißen. Aber er verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich
auf den vor ihnen liegenden Weg. Für alles andere war später noch Zeit.

Das Tal der Wigwams

„Das ist doch ... das sind doch ... ei der Dauz ... wenn das nicht ... ich glaub’,

mich  trifft  der  Psychoschlag  ...“, quakte  jemand, als  Harpo  und  Anca den
Dschungel verließen und in das Tal der Wigwams traten.

„Lonzo! Gott sei Dank!“ rief Harpo. „Du mußt uns helfen! Anca ist von einer

richtigen Schlange gebissen worden. Kannst du uns helfen? Oder müssen wir
zu den Grünen?“

Im letzten Moment verkniff sich Harpo den Zusatz: „zu den anderen Grü­

nen“. Das hörte Lonzo gar nicht gern, da er sich für einen Menschen hielt
und sich auch so benahm. Es wäre unfair gewesen. Gewiß, Lonzo war ein Ro­
boter wie die anderen Grünen auch, aber er war auf der Seite der Kinder,
während die anderen auf der Seite der Erwachsenen standen. Nachdem sie
gemerkt hatten, daß ihr Kollege Lonzo die Plüschverkleidung abgelegt hatte
und   nicht   länger   ihren   Befehlen   gehorchte,   wollten   die   Grünen   ihn   fort­
bringen. Aber die Kinder hatten ihren Freund versteckt. Niemand hatte das
Recht, ihn fortzunehmen und gegen seinen Willen in einen verkleideten Ted­
dybären zu verwandeln.

„Schlangenbiß?“ fragte Lonzo. „Potz Galaxis!“ Er beugte sich über das Bein

des Mädchens. „Nicht verzagen – Lonzo fragen!“

„Kannst du uns helfen?“ wiederholte Harpo seine Frage.
„Mir sollen gleich die Ohren abfallen, wenn ich das nicht kann“, knurrte

Lonzo. Zwar besaß er überhaupt keine sichtbaren Ohren an seinem glatten,
kugelförmigen Körper, aber er meinte es ernst.

Harpo sah, wie der kleine Roboter im unteren Bereich seines blitzblanken

Körpers ein paar Instrumente ausfuhr und sich damit an Ancas Bein zu schaf­
fen machte. Das Mädchen guckte ein bißchen bange, aber sie weinte nicht.

„Wirst du mir auch nicht weh tun?“ fragte sie nur ein wenig besorgt. Sie

mochte Lonzo gern, aber das war nicht außergewöhnlich. Alle Kinder im Wig­
wamtal mochten ihn.

„Aber nicht doch, mein kleines, dickes Pummelchen“, krächzte Lonzo be­

ruhigend. „Wie könnte ich das denn, wo ich dich so gern habe wie meine
eigene Tochter?“

„Du hast mich schon wieder Pummelchen genannt!“ fuhr Anca wie von

einer  Hornisse   gestochen  zornig   auf.  „Du  weißt   doch,  daß du  mich  nicht
Pummelchen nennen ... Aaaauuuuh!“

„Operation geglückt, Patient gerettet“, krähte Lonzo. „Macht drei Pfennig

achtzig. Ich schicke die Rechnung.“

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Seine Tentakelarme wirbelten so schnell durch die Luft, daß man sie ein­

zeln gar nicht mehr wahrnehmen konnte. Dann hielt er inne. Ancas Bein war
bereits verbunden.

„Blutanalyse: kein Gift. Wunde desinfiziert. Tetanus­Injektion erfolgt. Ver­

band mit Heilkulturen angelegt“, schnarrte er herunter.

Im  nächsten   Moment   schlug   Lonzo   ein   Rad   mit   seinen  Tentakelarmen.

„Kein Arzt zur Stelle – ruft Lonzo, gelle?“ blubberte es aus der Mitte des Me­
tallknäuels. Der Roboter verschwand mit glucksenden Geräuschen zwischen
den Dschungelpflanzen. Klatschend  kam  er zur  Ruhe,  als sein  Körper mit
einem dicken Plastikbaumstamm kollidierte.

„Zu Hülfe! Zu Hülfe!“ kreischte Lonzo und begann mit feierlichem Timbre

in der Stimme „In Lauterbach hab’ i mein’ Strumpf verlor’n“ zu singen.

„Ein verrückter Kerl“, sagte Harpo lachend. Aber er war überzeugt davon,

daß man sich auf Lonzo verlassen konnte. Er hatte eigenartige Angewohnhei­
ten entwickelt und zweifellos einen Defekt in seinem positronischen Gehirn.
Aber man konnte jederzeit auf ihn setzen, wenn Not am Mann war.

„Hallo, meine Kleinen“, kam eine zaghafte Stimme aus einem Grasbüschel.
„Trompo!“ jauchzte Anca, noch bevor sie ihren kleinen Spielgefährten zwi­

schen den blauen Halmen entdeckt hatte.

Ihre Verletzung hatte sie im gleichen Moment vergessen. Sie kniete nieder

und glättete mit den Händen die Halme am Rande des Weges. Ein seltsames
kleines Wesen stolzierte mit hocherhobenem Rüssel auf das Mädchen zu und
ließ sich bereitwillig auf den Arm nehmen.

Trompo glich bis auf die langen, pelzbedeckten Schlappohren in beinahe

allen Einzelheiten einem irdischen Elefanten – aber er war nicht größer als
ein Kätzchen und genauso anschmiegsam. Trompo war ihnen allen ein Rätsel
geblieben, obwohl er länger im Wigwamtal lebte als die Kinder.

Er war kein Robottierchen und stammte auch nicht von der Erde. Vielleicht

hatte ihn ein Raumfahrer vor langer Zeit von einem anderen Planeten mitge­
bracht und hier ausgesetzt oder vergessen. Jedenfalls konnte er sprechen. Die
seltsamen Trompetentöne, die Trompo von sich gab, wenn eines der Kinder
ein Lied anstimmte, hatten ihm zu seinem Namen verholfen.

Die Kinder kannten aus alten Filmen die riesigen Elefanten, die einst in

Afrika und Indien gelebt hatten. Nun waren sie ausgestorben, und zwar, wie
sie gelernt hatten, bereits bevor das große Sterben der Pflanzen und anderen
Tiere   auf   der   Erde   eingesetzt   hatte.   Elfenbeinjäger   hatten   sie   wegen  ihrer
Stoßzähne gnadenlos verfolgt, und Sonntagsjäger, die überall auf der Erde
nach einem Nervenkitzel suchten, hatten sie abgeknallt.

Auch Trompo besaß Stoßzähne, die aber so winzig wie alles andere an ihm

waren. Er erzählte niemals, woher er kam und was er bei den Kindern suchte.
Aber es schien ihm im Tal der Wigwams zu gefallen, denn er blieb. Er war
ebenso intelligent wie die menschlichen Talbewohner, doch wie Lonzo hatte
er größtenteils nur Unsinn im Kopf.

Anca   sah   schon   lange   nicht   mehr   so   blaß   aus   wie   kurz   nach   dem

Schlangenbiß. Sie humpelte zwar noch immer, mußte sich aber nicht mehr

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auf Harpo stützen. Mit Trompo auf dem Arm folgte sie dem Bruder, der zu
den Zelten schlenderte und dabei seinen leeren Kescher um den Finger wir­
belte.

Das Tal bestand eigentlich nur aus einer Mulde mit Sand und blaugrünem

Gras sowie einer Kunstsonne darüber. In der Mitte der Mulde standen drei
Zelte aus künstlichem Leder. Sie waren nach Indianerart erbaut: kegelförmig,
mit herausragenden Stangen und einem zum „Himmel“ offenen Rauchfang.
Hier lebten Harpo und seine Freunde.

Vor   dem   größten   Wigwam   loderte   ein   Feuer,   über   dessen   Flammen   an

einem Eisenhaken eine große Pfanne hing. Es machte eigentlich wenig aus,
daß die Kinder inzwischen herausgefunden hatten, wie das Feuer entstand:
durch mehrere Düsen im sandigen Boden, aus denen Gas drang. Natürlich
hätte ihnen ein Holzfeuer – wie sie es von den Indianergeschichten kannten –
mehr Spaß gemacht. Aber Holz gab es nicht auf dem Schiff, selbst auf der
Erde kaum noch. Trotzdem war es schön, das Feuer zu sehen und sich daran
die Hände zu wärmen. Im Tal roch es nach ...

„Kartoffelpuffer!“ rief Harpo mit gespielter Verzweiflung. Er hatte es doch

gleich geahnt.

„Was   dagegen?“   begrüßte   ihn   Karlie   Müllerchen,   der   fast   zwei   Meter

zwanzig   große,   riesenwüchsige   Junge   mit   kieksender   Fistelstimme   und
dünnem Kinnbart.  Die lebensfeindliche Umwelt der Erde hatte bei seinen
Eltern   genetische   Schäden   hervorgerufen.   Wenn   das   jungenhafte   Gesicht
nicht gewesen wäre, hätte man ihn für einen Erwachsenen halten können.
Aber Karlie war gerade erst fünfzehn Jahre alt geworden.

Verzückt leckte er sich jetzt die Lippen, als er die Produkte seiner Bratkunst

in der Pfanne betrachtete und dann mit einer gewaltigen Gabel wendete.

Thunderclap Genius saß neben dem Feuer und sah beim Braten zu. Karlie

und er waren gleichaltrig, boten aber wohl den denkbar größten Kontrast.
Während   Karlie   wie   eine   Bohnenstange   in   die   Höhe   geschossen   war,   er­
krankte Thunderclap als kleiner Junge an einer der neuen Krankheiten, die so
schnell   und   zahlreich   auftauchten,   daß   die   Wissenschaftler   machtlos
dagegen waren. Karlie wuchs immer noch, und niemand konnte sagen, wie
groß er eines Tages sein würde. Thunderclaps Körper war klein wie der eines
Siebenjährigen und bis auf die Arme und den Kopf beinahe bewegungsunfä­
hig.

„Wenn  Karlie   den   Koch   macht,  gibt   es  aber  auch  ewig   Kartoffelpuffer“,

maulte Harpo.

„Wenn gewisse andere Leute kochen, gibt es dagegen immer diese dünne

Brühe,   die   uns   als   Bohnensuppe   verkauft   wird“,   zahlte   es   ihm   der   Lange
heim.

„Ist doch sowieso egal“, meinte Thunderclap, „der Grundstoff ist in jedem

Fall Synthofood und enthält die gleichen Nährwertstoffe.“

„Aber auch synthetische Kartoffelpuffer schmecken eben wie Kartoffelpuf­

fer“, beharrte Harpo trotzig.

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„Thunderclap!“ platzte nun Anca heraus, die es nicht mehr ertragen konn­

te, als eigentliche Hauptperson des Tages unbeachtet zu bleiben. Dabei hatte
sie extra kräftig gehumpelt, als sie in Sichtweite der anderen kam. „Stell dir
nur vor: Mich hat eine richtige Schlange gebissen! Wahrscheinlich muß ich
sogar sterben!“

Im gleichen Moment versuchte sie ein bißchen zu weinen, was ihr aber

nicht gelingen wollte, weil sie die Sache gar nicht mehr so ernst nahm, seit­
dem Lonzo ihr Bein verbunden hatte. Und die Schmerzen hatten auch nach­
gelassen.   Außerdem   war   es   schwierig,   im   gleichen   Satz   Triumph   und
Schmerz unterzubringen. Leider.

Immerhin verfehlten Ancas Worte nicht die nötige Wirkung.
„Was!“ schrie Thunderclap Genius und richtete sich kerzengerade in sei­

nem Rollstuhl auf. Seine Augen begannen zu glühen.

„Das mit der Schlange ist wahr“, schwächte Harpo ab. „Aber davon, daß sie

sterben muß, kann überhaupt nicht die Rede sein.“

„Ich fühle mich aber schon ganz matt.“
„Unsinn!“ beharrte Harpo. „Lonzo hat sie versorgt. Es ist alles in Ordnung.“

Dennoch sah man ihm an, daß ihn seine Schwester ganz schön erschreckt
hatte.

„Na ja“, schränkte Anca ein, „vielleicht überlebe ich es wirklich, aber dann

nur um Haaresbreite. Ja, ich glaube, jetzt geht es mir tatsächlich schon etwas
besser ...“

„Erzähl von der Schlange“, befahl Thunderclap aufgeregt. „Da seht ihr es:

Es gibt doch richtige Tiere an Bord!“

„Für mich ist das nichts Neues“, meinte Micel Fopp, der gerade aus dem

Wigwam getreten war und der Unterhaltung unbewegt zuhörte. Er tat gelang­
weilt, aber man sah ihm an der Spitze seiner kleinen, krummen Nase an, daß
er nur schauspielerte.  Immerhin  hatte er gegenüber  den anderen Kindern
den Vorteil, daß er nicht darauf warten mußte, bis Anca ihre Geschichte er­
zählte. Er konnte nämlich Gedanken lesen. Talente wie seines waren eben­
falls   Produkte   der   irdischen   Lebensbedingungen,   bedingt   wahrscheinlich
durch die radioaktive Strahlung der zu Versuchszwecken gezündeten Atom­
bomben und die zahlreichen Schäden an Atomkraftwerken. Man wußte nicht
genau, ob Gedankenlesen Segen oder Fluch war, aber auf jeden Fall litten
Telepathen   wie   man   diese   Menschen   nennt   –   besonders   unter   einer   un­
freundlichen Umgebung. Deshalb war Micel an Bord des Schiffes. Doch es
gab noch einen zweiten Grund, der ebenfalls auf radioaktive Strahlung zu­
rückzuführen war: Seine Arme  hingen kraftlos  und verkrüppelt  an seinem
Körper, kaum halb so groß wie bei anderen Kindern.

„Sie hat übrigens recht: Es war eine Schlange“, fügte Micel hinzu, ließ seine

braunen Augen unter dem struppigen schwarzen Haar pfiffig aufblitzen und
setzte sich an das Feuer. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß er die Szene
in Ancas Gedächtnis „nachgelesen“ und nun selbst einen Eindruck von der
Schlange gewonnen hatte. Sollte er auch von Harpos Abenteuer im Venti­
lationsschacht erfahren haben, so schwieg er jedenfalls darüber.

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„Anc­cc­ca soll erz­z­zählen“, stotterte Brim Boriam. Er war hinter Micel

aus dem Zelt gekommen. Ein vierzehnjähriger Junge wie Micel, aber schwarz­
häutig, mit weißen Zähnen und krausen Haaren, die eigentlich gar nicht so
lang waren, den Kopf aber wie einen Helm umschlossen. Er hatte eine lustige,
dicke Nase und ein breites, freundliches Grinsen – wenn man ihn mal zum
Lachen bringen konnte.

Niemand machte sich über sein Stottern lustig. Sie hatten sich alle daran

gewöhnt,   daß   Brim   stotterte,   wenn   er   aufgeregt   war.   Und   je   weniger   die
Kinder auf seinen Sprachfehler achteten, desto sicherer wurde Brim. Denn
eigentlich war es vor allem Angst vor seiner Umgebung, die ihn stottern ließ.
Und natürlich – das war die Meinung aller Kinder im Wigwamtal – war es so­
wieso beknackt, über Stotterer zu lachen. Niemand ist vollkommen – die La­
cher am allerwenigsten.

Einer fehlt

Jetzt hatten sich alle Kinder um das Feuer versammelt und lauschten auf­

geregt Ancas Erzählung. Sie schmückte sie aus und würzte sie mit ruhmrei­
chen Einzelheiten. Brim Boriam und Karlie Müllerchen, Thunderclap Genius,
Fidel Flottbek und Fantasia Einstein, selbst Trompo und Lonzo hörten auf­
merksam zu. Nur Lucky Cicero lächelte wie immer glücklich vor sich hin und
verstand   nicht,   worum   es   ging.   Über   ihren   Gefährten   Lucky   wußten   die
Kinder kaum mehr, als daß er ungefähr zehn Jahre alt und ein Mongoloide
war. Das war die Schwierigkeit: Man kam an ihn einfach nicht heran, konnte
sich kaum mit ihm unterhalten und ihm höchstens ein freundliches Lächeln
schenken. Lucky war ein hübscher Junge mit großen, tiefschwarzen Augen
und   dichten   braunen   Locken.   Er   hatte   ein   glattes,   zierlich   geschnittenes
Gesicht, doch was sich hinter seiner Stirn abspielte, konnte selbst Micel nur
selten erfahren. Lucky war gehirnkrank. Aber alle liebten ihn, denn er war der
freundlichste und sanftmütigste unter ihnen.

Harpo   und   Micel   sahen   sich   während   Ancas   Bericht   vielsagend   an,

schwiegen aber, wenn das Mädchen besonders dick auftrug. Aus der fünf­
zehn Zentimeter langen Schlange war im Laufe der Erzählung eine sehr dicke
und lange Boa constrictor geworden,  die von dem Mädchen nach helden­
haftem Kampf in die Flucht geschlagen wurde.

„Oh,   Pummelchen“,   kommentierte   Lonzo   knarrend,   wackelte   mit   dem

stählernen   Kopf,   der   wie   ein   poliertes   Ei   aussah,  und   fuhr   zum   Spaß   am
obersten Punkt eine Antenne mehrmals aus und wieder ein. „Du bist ja ein
weiblicher   Tarzan.   Ich   hätte   das   niemals   in   dir   vermutet,   mein   kleines
Schmusekätzchen.“

„Du glaubst mir nicht?“ protestierte Anca zornig. „Und außerdem sollst du

mich nicht immer Pummelchen nennen!“

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„Aber natürlich glaube ich dir, Pum... äh, mein Schätzchen“, versicherte

Lonzo eilig und tat zerknirscht. „Wahrhaftig: Ich will sofort meinen Kopf auf­
essen, wenn das nicht wahr ist.“

„Nein, nicht Kopf aufessen“, weinte Lucky. Diesen Satz hatte er verstanden.
„Er tut es ja gar nicht, Lucky“, versicherte Fantasia. „Außerdem hat Lonzo

ja überhaupt keinen Mund. Er macht doch nur Spaß.“

Lucky verstand „Spaß“ und freute sich. „Das ist lustig“, meinte er.
Auch Fantasia freute sich. Über das schmale, weiße Gesicht des Mädchens

glitt ein Lächeln. Es war ihr wieder einmal gelungen, Luckys Ängste zu ver­
scheuchen.

„Die Kartoffelpuffer sind jetzt fertig“, meldete Karlie, der nur auf das Stich­

wort „Essen“ gewartet hatte. Er schlug energisch gegen einen großen Gong
neben der Feuerstelle.

„Seltsam“, sagte er dann. „Sonst ist Ollie beim Essen doch stets der erste.“
„Ja, wo steckt er denn?“ fragte Fidel. „Ich habe ihn seit Stunden nicht mehr

gesehen.“

„Oliver! Oliver! Oliver! Oooollliiieee!“ riefen die Kinder, so laut sie konnten,

aber niemand antwortete ihnen.

„Vielleicht hat er ein Gelübde abgelegt, niemals mehr zu essen?“ vermutete

Micel. „Und deshalb versteckt er sich, damit es ihm nicht so schwerfällt.“

„Ach wo“, antwortete  Karlie. „Solch ein Gelübde würde der niemals ab­

legen.“

„Bin ich mir nicht so sicher. Denkst du nicht mehr an das Gelübde, zehn

Jahre lang zu schweigen?“

„Er hat es nur zehn Minuten ausgehalten“, entgegnete Karlie grinsend auf

diese Bemerkung von Fidel. „Aber wir sollten jetzt wirklich mit dem Essen be­
ginnen. Wir lassen für Ollie eine reichliche Portion übrig.“

„Na?“   zweifelte   Harpo,   der   den   guten   Appetit   des   Riesen   kannte.   Kein

Wunder, der brauchte eine Menge Kalorien bei seiner Größe.

„Bei   meiner   Ehre   als   Küchenchef“,   schwor   Karlie,   teilte   die   ersten

Portionen aus und machte sich dann selbst schmatzend über einen Stapel
Puffer her.

Selbst Harpo langte tüchtig zu und vergaß seine geschätzte Bohnensuppe.

Der  lange Marsch  durch den Plastikdschungel hatte  ihn doch hungrig ge­
macht. Und wenn man richtigen Hunger hat, schmeckt eigentlich alles. Sogar
Kartoffelpuffer. In der Not frißt der Teufel bekanntlich Fliegen ...

„Wir suchen gleich nach dem Essen weitere Tiere“, schlug Micel Fopp vor,

der von Fantasia gefüttert wurde, weil er mit seinen kleinen, kraftlosen Händ­
chen die Gabel nicht halten konnte. Da Fantasia gleichzeitig auch ein Auge
darauf hatte, daß Lucky zu seinem Recht kam, mußten die Freunde sie ge­
legentlich daran erinnern, auch selbst etwas zu essen. An der fehlenden Nah­
rung   lag   es   allerdings   nicht,   daß   die   Rothaarige   so   dünn   war.   Und   ihre
Fürsorge ließ sie sich von keinem abnehmen.

„Es wird bereits dunkel“, erinnerte sie.
„Dann eben morgen früh.“

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„Aber nur, wenn die Aufgaben gemacht sind“, entgegnete das Mädchen mit

den   Sommersprossen   und   den   schmalen   Lippen   noch   einmal.   „Morgen
nachmittag kommen die Grünen, das wißt ihr ja. Wenn wir die Aufgaben bis
dahin nicht gelöst haben, wird es Ärger geben. Vielleicht reißen sie unsere
Gruppe sogar auseinander.“

„Hm“, machte Micel mißmutig.
Das wäre natürlich schlimm. Fantasia hatte nicht übertrieben. Die Grünen

kamen zweimal in der Woche, holten die Rechenaufgaben und Bastelarbeiten
ab, unterrichteten die Kinder und stellten ihnen neue Aufgaben. Man vermu­
tete, daß die Grünen mit den Lösungen zu den Alten gingen. Und wenn diese
nicht zufrieden waren, konnte die Weisung kommen, daß die Gruppe aufge­
löst   wurde.   Das   war   anderen   Kindergruppen   auf   anderen   Decks   bereits
passiert, wie Micel in Erfahrung gebracht hatte.

„Wir machen morgen früh erst einmal die restlichen Aufgaben“, entschied

Thunderclap. Alle waren seiner Meinung, denn schließlich liefen ihnen die
Tiere ja nicht  weg. Daß sie beieinander blieben,  war viel wichtiger. Über­
morgen war schließlich auch noch ein Tag.

„Anca und Harpo wissen noch gar nicht, was Brim gesehen hat“, stieß Fidel

plötzlich hervor. Seine Augen leuchteten begeistert wie selten. Er hatte lange
Zeit die meisten Schwierigkeiten gehabt, mit anderen Kindern Freundschaft
zu schließen, weil er überall Feinde sah, die ihm an den Kragen wollten.

„Ja, Brim soll noch einmal erzählen“, stimmten die anderen zu. Die Kunst­

sonne war bereits merklich dunkler geworden, und in zehn Minuten würde
sich die Nacht über das Tal der Wigwams und die Dschungellandschaft von
Deck 27 senken. Aber das machte nichts. Es machte Spaß, im Schein des Feu­
ers zu hocken und Geschichten zu erzählen.

Brim war nervös geworden, weil sich die Aufmerksamkeit aller nun ihm zu­

wendete, aber nach den ersten Sätzen wurde er ruhiger.

„I­i­i­ch hab’ die St­st­station der Gr­grü­grünen beobachtet“, sagte er. „Ihr

wißt schsch­schon, am Antigravlift. Plötzlich kamen zwei Alte aus dem Lift
und   gin­ging­gingen   zur   Station.   Sie   wirkten   ziemlich   nervös.   Der   eine
schwitzte so, daß er dauernd mit einem Tuch über das Gesicht fahren muß­
te.“

„Vergiß nicht den anderen“, unterbrach Fidel.
„Das   war   Doktor   Einbein“,   fuhr   Brim   fort.   Ja,   den   kannten   alle   in   der

Runde: den kleinen Arzt mit der Beinprothese, der jedes Kind bei seinem Ein­
treffen auf dem Schiff untersucht hatte. Im Gegensatz zu den kühlen Blicken
der anderen Ärzte und Wissenschaftler lag auf seinem Gesicht meistens ein
Lächeln, wenn er mit den Kindern sprach.

„Ja, ja“, sagte Brim weiter. „Die beiden wurden von einem Grünen bis ganz

in die Nähe meines Verstecks geführt. Ich sah erst jetzt, d­d­d­daß d­d­d­dort
ein weiterer Grüner im Gras lag. Er bewegte sich nicht. Der schwitzende Alte
öffnete seinen Rumpf, probierte eine ganze Zeitlang daran herum und setzte
mehrere Teile neu ein, bis sich der Grüne endlich wieder bewegte. Eigenartig
war aber der Satz, den der schwitzende Mann zu Doktor Einbein sagte, als die

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beiden   gingen:   ,Das   war   erst   der   Anfang.   Wir   werden   noch   unser   blaues
Wunder erleben!’“

„Doll!“ kommentierte Harpo. Das war wirklich eigenartig. Es waren schon

früher gelegentlich Grüne repariert worden, aber niemals in Sichtweite der
Kinder. Man brachte die Grünen dann an irgendeinen unbekannten Ort im
Schiff, und später kamen sie zurück und waren wieder ganz in Ordnung. Und
dann diese Bemerkung ...

Karlie Müllerchen  schielte nach  den kalten  Kartoffelpuffern,  die für den

kleinen Oliver gedacht waren und leckte sich verstohlen die Lippen.

„Mein Gott“, sagte er plötzlich. „Ollie ist immer noch nicht zurück. Lang­

sam mache ich mir wirklich Sorgen.“

Auch die anderen hatten ein ungutes Gefühl. So lange fortzubleiben, das

war   auch   für   Oliver   ein   ungewöhnliches   Verhalten.   Es   war   ein   unge­
schriebenes Gesetz in der Gruppe, daß die Nacht im Tal der Wigwams ver­
bracht   wurde.   Ob   sich   Ollie   verlaufen   hatte?   Aber   selbst,   wenn   er   mit  elf
Jahren einer der Jüngsten war, so kannte er sich doch auf dem Deck aus wie
in der eigenen Hosentasche.

„Dem heizen wir aber ein, wenn er wieder auftaucht“, verkündete Karlie.

Eigentlich  sagte er  es  nur, um  die  plötzlich  gedrückte  Stimmung   aufzulo­
ckern. Und die restlichen Puffer ließ er auch liegen.

Im Moment  konnten   sie  nichts  anderes   tun,   als  schlafen   zu gehen.  Am

Morgen würden sie den kleinen Oliver suchen.

Ein ungewöhnlicher Zwischenfall

An diesem Morgen regte sich im Tal der Wigwams das Leben zeitiger als ge­

wöhnlich. Karlie kletterte als erster schlaftrunken zum Vorratsbunker. Wenig
später duftete es nach heißem Kakao und knusprigen Brötchen. Synthofood
natürlich, aber es schmeckte.

Noch bevor die Kunstsonne den vollen morgendlichen Leuchtwert erreich­

te, saßen sie alle beim Frühstück. Die Kinder verhielten sich ungewöhnlich
still.

Der kleine Oliver blieb verschwunden. Niemand konnte sich erklären, wo

er steckte.

„Vielleicht ist er ausgerückt, weil er Schlangenbisse für ansteckend hält“,

witzelte Micel und spielte damit auf Ollies eingebildete Krankheiten an. Es
gab wenig auf der ganzen Welt, gegen das der kleine Oliver nicht allergisch zu
sein   vorgab.   Wenn   jemand   krank   wurde   oder   auch   nur   Bauchweh   hatte,
glaubte der winzige Krauskopf in der nach Indianerart fransenverzierten Le­
derhose im nächsten Moment an sich selbst bereits die gleichen Symptome
wahrzunehmen.

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Obwohl Micel ein Gedankenleser war, konnte er der Gruppe nicht helfen.

Seine Talente waren noch nicht so weit entwickelt, daß er in der Lage war, ge­
zielt nach den Gedanken eines bestimmten Menschen zu suchen. Es gelang
ihm zwar meistens, die Gedanken der Leute in seiner Nähe zu empfangen,
und manchmal fing er auch Eindrücke auf, die aus der Ferne kamen. Aber das
war alles.

Die Gruppe hatte beschlossen, nach dem verschwundenen Freund zu su­

chen.  Auch  wenn  die  Aufgaben  liegenbleiben  mußten.  Sie würden  es den
Grünen schon erklären.

Was   mochte   nur   geschehen   sein?   Unbekannte   Gefahren   gab   es   doch

eigentlich nicht. Zumindest hätte jedes der Kinder noch vor ein paar Tagen
so geredet. Jetzt waren sie alle nicht mehr ganz so sicher. Es gab Schlangen
und Frösche auf dem Schiff. Auch größere Tiere? Auf der Erde hatte es große
Raubtiere gegeben ...

Wenn dem Jungen nichts zugestoßen war, blieb eigentlich nur noch die Er­

klärung, daß er von einem plötzlichen Entdeckerdrang befallen in eines der
anderen Decks hinab­ oder hinaufgestiegen war und sich dort verirrt hatte.

Oder gab es noch eine andere Möglichkeit? Wenn es nur nicht so schwierig

gewesen wäre, sich mit Lucky Cicero zu unterhalten. Wann immer der Name
Oliver fiel, horchte er auf und murmelte das Wort „Grüne“. Aber er war nicht
in der Lage, sich näher zu erklären.

Thunderclap   und  Lucky   blieben   bei  den  Wigwams   zurück.   Die   anderen

Kinder streiften in Zweiergruppen durch das Deck. Auch Lonzo ließ es sich
nicht nehmen, mit den Freunden zu suchen. Er schloß sich Karlie und Brim
an, eilte ihnen singend und radschlagend voraus und machte dabei einen
solchen Höllenlärm, daß davon tausend Olivers aus tiefstem Schlummer hät­
ten erwachen müssen.

Trompo wollte gerne mit, aber er konnte den anderen nur mühsam mit sei­

nen kurzen Beinchen folgen. Da Lucky unbedingt mit ihm spielen wollte, lös­
te sich das Problem von selbst.

Anca   und   Harpo   zogen   gemeinsam   los,   um   nach   dem   so   rätselhaft

verschwundenen Jungen zu suchen. Lonzo hatte vorher Ancas Wunde neu
verbunden. Die Stelle heilte bereits, und Anca fühlte sich wieder quietsch­
fidel. Sie verfolgte sogar den gackernden Lonzo ein Stückchen, weil er sie in
den Po gekniffen hatte. Und da jetzt ein anderes Problem die Aufmerksam­
keit der Gemeinschaft in Anspruch nahm, strengte sie sich auch nicht beson­
ders an, durch Humpeln und Stöhnen Eindruck zu schinden. Insgeheim war
sie   allerdings   der   Meinung,   daß   man   ihren   Schlangenbiß   entschieden   zu
wenig beachtet hatte. Aber was sollte man machen? Wochenlang geschah auf
Deck 27 gar nichts, und dann jagte eine Sensation die andere.

Thunderclap hatte von irgendwoher eine Karte ihres Decks hervorgezau­

bert   und   jeder   Gruppe   einen   Suchbezirk   zugeteilt.   Er   war   der   geborene
Organisator, das mußten alle neidlos zugeben.

Es machte den Geschwistern nichts aus, daß sie eines der langweiligsten

Gebiete zugewiesen bekamen. Schließlich wollten sie keine Entdeckungsreise

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unternehmen.   Noch   nicht.   Die   Expedition   in   andere   Decks   stand   für   die
nächsten Tage auf dem Programm, falls man Ollie bis dahin nicht gefunden
hatte.

Die Südzone war das Revier der beiden. Hier gab es mehrere Kilometer lang

nur Sand und Felsbrocken, und ganz am Ende, an der Wand des Schiffes, so
etwas wie eine Oase mit Plastikpalmen und einem idyllischen See.

Das Gelände  war schwierig.  Immer  wieder sanken ihre Füße tief in den

gelben Sand ein. Die vielen Dünen und großen Felsen erschwerten den Über­
blick. Sie durchstreiften das Terrain mehrmals, bis sie sicher waren, daß ihr
Freund dort bestimmt nicht steckte.

Sie wurden müde, die Füße taten weh. Nicht zum ersten Mal wunderte sich

Harpo, daß die Decks so riesig waren. Das Schiff hatte einige hundert diese
Decks. Und gemessen an den gewaltigen Dimensionen des Schiffes lebten
nur verschwindend wenige Kinder hier – zumindest wenn man davon aus­
ging daß auf jedem Deck nur eine Gruppe existierte. Ob es stimmte, daß man
von Anfang an beabsichtigt hatte, das Schiff für die Gesundung verhaltensge­
störter Kinder einzusetzen?

Harpos und Ancas Großeltern – bei denen sie seit dem Tod ihrer Eltern ge­

lebt hatten – wohnten auf der Erde in einer winzigen Wohnung mitten in
einem Block, in dem es Tausende solcher Wohnungen in endlosen Korrido­
ren aneinandergereiht gab. Wenn sie aus dem Fenster sahen, guckten sie in
hundert Meter Entfernung auf einen anderen Block und rechts und links auf
weitere. Für sie war es unglaublich, daß zehn Kinder ein ganzes Schiffsdeck
für sich allein hatten.

Aber auch hier sollte es bald anders aussehen. Die Beamten der Psycholo­

gischen Abteilung hatten den Großeltern alles erklärt, und einiges davon war
in   Harpos   Gedächtnis   haften   geblieben:   Sie   bildeten   die   Vorhut   für   viele
hunderttausend Kinder, die später einmal in Gruppen auf dem Schiff leben
sollten. Dann würde es hier so eng werden wie auf der Erde. Vorausgesetzt
natürlich, das Experiment glückte.

„Es hat keinen Zweck“, sagte Harpo schließlich.
„Sicher haben die anderen ihn längst gefunden“, stimmte Anca zu.
Sie waren hundemüde und hatten keine Lust mehr. Aber sie hätten wei­

tergesucht,   wenn   ihnen   nur   noch   ein   Winkel   eingefallen   wäre,   den   sie
vergessen haben konnten. Ermattet traten sie den Rückweg an.

„Sieh   mal“,   meinte   Anca   plötzlich,   als   sie   ihr   Suchgebiet   verließen   und

dabei erneut in die Nähe einer Metallwand des Raumschiffs kamen.

„Na und?“ fragte Harpo, als er die Stelle in Augenschein genommen hatte,

auf die Anca deutete. „Eine Tür, schon ziemlich verrostet. Müßte mal wieder
gestrichen werden.“ Es gab so viele solcher Türen auf dem Deck. Ihr Zweck
blieb   weitgehend   unbekannt,   und   auf   jeden   Fall   waren   sie   fast   alle
verschlossen. Moment mal, diese Tür hier ...

„Sie steht vor“, sagte Anca aufgeregt.

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Neugierig näherten sich die beiden. Ja, wirklich, die Tür war nur angelehnt.

Harpo vergrößerte den schon bestehenden Spalt und lugte in den Raum, der
hinter der Tür lag.

„Ohh!“ entfuhr es ihm. „Das müssen wir uns näher ansehen.“
Er nahm Anca bei der Hand und zog sie hinter sich hinein. Die Tür schloß

er wieder bis auf den Spalt, der vorher ihre Aufmerksamkeit erregt hatte und
achtete darauf, daß sie nicht unvermutet ins Schloß fiel und ihnen den Rück­
weg versperrte.

Sie befanden sich in einem kleinen, engen Raum, wohl eher einem Gang.

Auf dem Metallboden lag ein Läufer aus Kunstfasern. Von den Wänden herab
leuchteten mattgelbe Lampen.

„Weiter“, flüsterte Harpo. Was ihn interessierte, lag am Ende des Ganges:

ein größerer Raum und dahinter noch ein weiterer. Atemlos traten die Kinder
ein. Auch hier tauchten Wandlampen das Innere in ein sanftes, angenehmes
Licht. Der Boden bestand aus einem weichen, schwammigen Kunststoff, in
den man beim Gehen einige Millimeter versank. Eine Wand war von oben bis
unten mit dicht gefüllten Bücherregalen bedeckt, eine andere mit schrank­
ähnlichen Fächern und Türen davor. In der Mitte des Raumes lagen einige
Sitzpolster, auf denen man es sich gemütlich machen konnte. Über der Ein­
gangstür stand in einer Konsole ein Bildschirm. Im Nachbarraum sah man
verschiedene Küchengeräte.

„Laß   uns   lieber   schnell   verschwinden“,   flüsterte   Anca.   „Diese   Räume

werden bestimmt von den Alten benutzt.“

Die Schwester hatte recht. Und die Alten würden ihre Neugier bestrafen,

wenn sie die Anwesenheit der Kinder entdeckten.

„Einen Moment noch“, bat Harpo.
Er   spähte   in   den   nächsten   Raum,   in   der   Hoffnung,   dort   vielleicht   den

kleinen Oliver zu finden. Doch er sah nur schmutziges Eßgeschirr. Oberhaupt
wirkte er unaufgeräumt.

„Sieh doch“, rief Anca leise, „ein Kleid!“
Sie hielt ein gelbes Kleid mit weißen Rüschen in der Hand. Der Größe nach

zu urteilen, mußte es einer Alten gehören.

„Lag   hinter   den   Polstern“,   erklärte   das   Mädchen.   „Und   in   einem   der

Schrankfächer ist Unterwäsche.“

Dann hörten sie Schritte und ein Rascheln. Es kam von jenseits der Küche,

wo Harpo eine weitere Tür entdeckt hatte.

„Nichts wie weg“, raunte Harpo.
Die beiden rannten zur Tür, schlüpften ins Freie, stießen die Tür wieder zu

und hasteten ins nahe Dickicht. Atemlos beobachteten sie die Tür.

Eine Weile verging, ohne daß sich etwas rührte. Harpo und Anca wollten

sich schon aus dem Staub machen, als sich die Tür schließlich doch noch be­
wegte.  Für  ein  oder  zwei   Sekunden  erschien  dort   ein  Gesicht  und   blickte
nach draußen. Dann wurde die Tür ins Schloß gezogen. Viel hatte man nicht
erkennen   können,   aber   Harpo   prägten   sich   ein   paar   seltsam   erschreckte
Augen im Gesicht einer jungen Frau mit blonden Haaren ein.

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Es fiel den Geschwistern schwer, sich einen Reim auf dieses Erlebnis zu

machen, so oft sie auf dem Rückweg auch über jede Einzelheit sprachen. Die
anderen Kinder waren ebenfalls ratlos, als sie davon hörten. Aber viel mehr
im Vordergrund stand, daß sie den kleinen Oliver nirgends gefunden hatten.

Denn die anderen Gruppen waren bereits früher zurückgekehrt. Alle guck­

ten enttäuscht, als Harpo und Anca allein in das Tal kamen. Ollie blieb wie
vom Erdboden verschluckt.

Ollie kehrt zurück

Dafür gab es eine andere erregende Neuigkeit! Fantasia und Micel hatten

einen  weiteren  Grünen  gefunden,  der sich nicht  mehr  bewegte.  Das helle
Funkeln in seinen Sehlinsen war erloschen. Das bedeutete, daß er tot oder
außer Betrieb war, wie immer man das nennen wollte. Seltsam war nur, daß
die anderen Grünen ihren Kollegen nicht abgeholt hatten!

Die große Uhr über dem Vorratsbunker zeigte auf zwei. Thunderclap hatte

Karlies Küchendienst übernommen und ein Reisgericht mit viel Rindfleisch
gekocht. Einige der anderen Kinder hatten bereits gegessen, aber es war noch
mehr als genug für die Nachzügler da.

Für die Aufgaben war es jetzt zu spät. Die Grünen würden exakt um vier

Uhr eintreffen. In den verbleibenden zwei Stunden konnten sie die Arbeiten
nicht   schaffen.   Sie   beratschlagten,   wie   man   den   Grünen   das   seltsame
Verschwinden des kleinen Oliver beibringen sollte.

„Sie hetzen uns die Alten auf den Hals“, prophezeite Fidel.
„Na und?“ meinte Fantasia trotzig. „Wenn sie uns helfen können? Willst du

vielleicht, daß Ollie verschwunden bleibt?“

Fidel   sah   stur   zu   Boden   und   schwieg.   Sie   alle   wußten,   daß   er   die

Erwachsenen haßte.

„Der Streit ist sinnlos“, griff Thunderclap schlichtend ein. „Die Grünen wä­

ren nicht die Grünen, wenn sie nicht auf den ersten Blick bemerkten, daß je­
mand fehlt. Was soll’s also?“

„Grüne?“ sprach Lucky dazwischen. Er nickte und fügte hinzu: „Ollie! Ja.“
Ein nachdenklicher Zug lief über das Gesicht von Micel Fopp. Er verharrte

einige Sekunden regungslos, dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen
die Stirn, daß es nur so klatschte.

„Ohhhh, Mann!“ stöhnte er. „Daß ich nicht gleich auf die Idee gekommen

bin. Ich bin doch wirklich ein Schussel.“

„Ich will sofort meinen Kopf aufessen, wenn das nicht wahr ist“, gab Lonzo

ihm recht.

„Du bist ein elender Klaubruder“, knurrte Micel ihn an. „Diesen Spruch

hast du dir gar nicht selbst ausgedacht, sondern bei Charles Dickens aufge­
pickt.“

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„Heute   so   und   morgen   gestern“,   philosophierte   Lonzo.   Aber   er   machte

einen ertappten Eindruck.

„Www­wolltest   du   uns   nicht   etw­w­was   Wichtiges   mitteilen?“   erinnerte

Brim Boriam. Seine großen Augen funkelten neugierig aus dem schwarzen
Gesicht.

„Ich  habe   Luckys   Gedanken  gelesen“,  verkündete  Micel  mit  wichtigtue­

rischer Stimme. „Und wißt ihr, was ich dabei herausgefunden habe?“

„Ja.“ Lucky nickte. Entweder hatte er verstanden oder nur seinen Namen

gehört. Jedenfalls strahlte er.

„Die Grünen haben Oliver abgeholt“, fuhr Micel lakonisch fort. „Eine Ab­

ordnung   von   vier   Grünen   war   es.   Sie   sagten,   sie   müßten   ihn   zu   den
Erwachsenen bringen, um einige Tests mit ihm durchzuführen.“

„Diese verfluchten Alten!“ schimpfte Fidel.
„Ach geh“, meinte Harpo. „Es ist doch nicht alles schlecht, was sie tun.“

Aber insgeheim fürchtete er wie die anderen, daß es nur einen Grund für das
überraschende   Eingreifen   der   Grünen   geben   konnte:   Ollie   sollte   aus   der
Gruppe entfernt werden. Wahrscheinlich würden sie ihn niemals wiederse­
hen.

Trompo raste wie ein Wiesel über Ancas im Sand ausgestreckten Körper.

Anca mußte lachen, weil die winzigen Füßchen des Wesens sie kitzelten. Sie
blickte zum Vorratsbunker hinüber zu der Uhr.

„Heee!“ entfuhr es ihr. „Seht doch mal. Es ist jetzt zwanzig nach vier. Aber

die Grünen sind immer noch nicht aufgetaucht!“

Alle schauten hin. Tatsächlich! Das war außergewöhnlich, denn die Grünen

hatten sich bisher niemals verspätet. Was mochte sie aufgehalten haben? Im
gleichen Moment tauchte eine kleine Gestalt am Eingang der Talmulde auf.
Ein Grüner? Im ersten Moment konnten sie es nicht erkennen.

„Ollie!“ jubelte  Fantasia und eilte dem Jungen mit wehendem Haar ent­

gegen.

Die anderen  folgten  ihr lärmend. Kein Zweifel: Es war Oliver. Begeistert

schlugen sie dem Kleinen auf die Schultern.

„Mann, hab’ ich ‘n Durst!“ krähte der kleine Oliver. „Ich könnt’ ‘n ganzes

Pferd aufessen, so müde bin ich!“ Er rang nach Luft. „Hoffentlich hab’ ich mir
bei dem Marsch nicht wieder jede Menge Krankheiten aufgehalst. Ich fühle
mich schon ganz mies.“

Bevor er Gelegenheit hatte, weiter von seinen Beschwerden zu berichten,

drückten   ihn   die   einen   ins   Gras,   während   die   anderen   die   Reste   von
Thunderclaps famoser Mahlzeit zusammenkratzten. Es war schon kalt, aber
für ausgehungerte Wanderer wie den kleinen Oliver war das kein Hindernis,
mit Appetit zu essen.

„Wo warst du denn, Menschenskind?“ überfielen ihn die Freunde mit ihren

Fragen. „Wir haben auf dem ganzen Deck nach dir gesucht!“

„Haben dich die Grünen zu den Alten gebracht?“
„Du sollst nicht so schlingen. Das ist ungesund!“
„Wie sieht es in der Zentrale aus?“

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„Hast du Mondkälber gesehen?“
„Was macht der Chefpü­püsch­püschologe?“
Ollie genoß die Aufmerksamkeit, die ihm sonst nur selten zuteil wurde. Als

Jüngster in der Gruppe wurde er eigentlich mehr als dankbares Publikum für
die Angebereien der Älteren angesehen. Er murmelte undeutlich mit vollem
Mund etwas.

„Waaaas?“ erkundigten sich die Zuhörer.
Trompo turnte sich an den glücklich wiedergefundenen Vermißten heran.

Er trug eine große Flasche mit einem Saft aus allerlei Heilkräutern im Rüssel
und mußte sich redlich damit abschleppen.

Jedermann   wußte,   daß   Ollie   auf   diese   Medizin   als   Allheilmittel   schwor.

Dankbar tätschelte er Trompos Köpfchen, nahm die Flasche und kraulte dem
kleinen Gefährten die Schlappohren. Nachdem er den letzten Bissen hinun­
tergewürgt hatte, schraubte er die Flasche auf und roch verzückt daran.

„Nur das kann mich noch retten! Trompo – du bist ein wahrer Kumpel“,

seufzte er. „Ich hab’, glaub’ ich, ‘n gefährlichen Hautausschlag.“

Er deutete auf einen einsamen Pickel auf der glatten Haut seines Armes.
„Den armseligen Pickel hattest du gestern schon“, bemerkte Karlie trocken.
„Nun   ist   es   aber   genug“,   schimpfte   Thunderclap   Genius.   „Würdest   du

vielleicht freundlicherweise erklären, was vorgefallen ist?“

„Soll ich es tun?“ grinste Micel, der natürlich schon alles wußte, weil er

Ollies Gedanken gelesen hatte.

„Nee!“ protestierte  Ollie entschieden. Er fürchtete, aus dem Brennpunkt

des Interesses zu rücken.

„Dann   mal   los“,   meinte   Fidel   Flottbek,   der   so   ungeduldig   war   wie   die

anderen.

„Is’ ga’ nich’ viel zu verzählen“, sagte der kleine Oliver. „Die Grünen ham

mich geholt und auf ihre Bas... Bis...“

„Basis“, half Thunderclap aus.
„... auf ihre Basis gebracht“, vollendete Ollie den Satz. „Und dann war auf

einmal Sense ...“

„Was heißt hier Sense?“ regte sich Thunderclap auf. „Kannst du nicht deut­

licher werden?“

„Na ja, die kippten einfach um, bums!“
Ollie verzichtete nicht auf eine kleine kabarettistische Einlage und demons­

trierte, wie die Roboter im Teddybärenfell zu Boden gefallen waren.

„Und dann?“ fragten die Umstehenden, nachdem sie sich von ihrem Lach­

anfall erholt hatten.

„Dann hab’ ich Mücke gemacht!“
„Mücke?“ fragte Brim Boriam verständnislos. Er hatte diese Redensart noch

nie gehört.

„Ich bin abgehau’n“, erklärte Ollie. „Ausgebüxt. Hab’ mich auf die Socken

gemacht. Verstehste?“

„Und die Grünen?“ fragte Fidel aufgeregt.
„Na, die waren doch kaputt“, sagte Ollie.

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„Du meinst, sie kippten nicht nur um, sondern waren endgültig im Eimer?“

forschte Harpo nach.

„Genauuuu!“ antwortete Micel für den kleinen Oliver. „Ich schätze, daß wir

hier vorläufig keinen Grünen mehr sehen. Es hat sich ausgegrünt!“

„Dann hab’ ich mich zu euch durchgekämpft“, holte der kleine Oliver zu

einer längeren Erlebnisschilderung aus. „Zuerst kam ich ...“

„Später“, unterbrach Micel. „Ist euch eigentlich schon aufgefallen, daß es

zwanzig nach vier ist?“

„Na und?“, fragte Harpo verständnislos.
„Weil es schon zwanzig nach vier war, als Ollie auftauchte“, antwortete Mi­

cel. „Deshalb!“

„Dann ist die Uhr stehengeblieben!“ rief Fidel.
„Du merkst aber auch alles!“
In diesem Moment geschah etwas, das die Kinder zutiefst erschreckte. Der

Boden   von   Deck   27   begann   heftig   zu   zittern.   Ein   harter   Stoß   folgte.   Die
Kinder purzelten durcheinander, und zwei ihrer drei Wigwams stürzten kra­
chend in sich zusammen. Ein lautes, quietschendes Geräusch drang in ihre
Ohren und wurde so laut, daß es fast weh tat.

Dann folgte ein erneuter Stoß. Und dann war Stille.

Aufbruch zur Basis der Grünen

Der Schreck war ihnen ganz schön in die Glieder gefahren.
Zum Glück blieb der Schock größer als der meßbare Schaden. Die Kinder

kamen mit Beulen und blauen Flecken davon.

Am ärgsten hatte es noch Thunderclap Genius erwischt. Der Rollstuhl war

umgestürzt und hatte den Jungen unter sich begraben. Nach dem zweiten
Stoß kümmerten sich alle um den Bedauernswerten und halfen ihm auf. Eine
Chromstange des Rollstuhls hatte sich leicht verbogen, ohne daß dadurch je­
doch die Funktion beeinträchtigt wurde.

Mit Jammern hielt sich Thunderclap nicht lange auf. Er strich nur ab und

zu mit den Fingerspitzen über seine Stirn, auf der sich ein dickes, rotblaues
Horn zu bilden begann. Da solche Beulen die Eigenschaft haben, nach einer
Weile in allen Regenbogenfarben zu schillern, erregen sie eher Spott als Mit­
leid.

Aber rasch merkten die Kinder, daß nun andere Probleme anstanden, als

sich  über rotblaue   Hörner  lustig  zu machen. Jeder  wußte, daß  ein Raum­
schiff, welches in einer festgesetzten Parkbahn die Erde umkreist, nicht von
einem   Erdbeben   erschüttert   werden   kann.   Erdbeben   sind   die   Folgen   von
Spannungen der Erdkruste, die deshalb entstehen, weil die feste Erdoberflä­
che nur eine verhältnismäßig dünne Schale über dem feurig­flüssigen Erd­
kern ist. Wenn sich im Erdkern mit starken Energieentladungen verbundene

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Prozesse   abspielen,   dann   kommt   es   zu   Eruptionen,   die   sich   mal   als  Vul­
kanausbrüche, mal aber auch als Beben äußern. So, als würde ein gefangener
Riese an seinen Fesseln zerren und dabei wild um sich schlagen. Aber im
Weltraum?

Auch das Schiff, auf dem sich die Kinder befanden, besaß einen „feurigen

Kern“, nämlich einen Atomreaktor, der die Energie für den Antrieb und alle
Lebensprozesse   lieferte.   Doch  soweit   sie  wußten,   war   er  von   dicken   Blei­
wänden   ummantelt.   Der   Atomreaktor   hatte   keine   Chance   gegen   sie.   Und
außerdem lief er auf kleiner Leistung, weil sich das Schiff auch ohne Antrieb
im Orbit der Erde stabilisierte. Wenn die Kreisbahn von den Wissenschaftlern
auf der Erde richtig berechnet war, hielten sich die Anziehungskraft der Erde
und die Fliehkraft aus der Eigengeschwindigkeit die Waage.

„Etwas ist geschehen!“ sagte Thunderclap nur. Mehr wußte er nicht. Woher

sollte er auch?

Ohne daß jemand Kommandos geben mußte, kümmerten sich die Kinder

zunächst   einmal   um   die   zusammengebrochenen   Wigwams.   Zwei   Stangen
waren geknickt, aber sie schafften es, die Zelte wieder aufzustellen.

Harpo machte sich Sorgen. Die ersten Probleme traten auf. Einige der Grü­

nen waren ausgefallen. Vielleicht sogar alle. Zwei der Wigwamstangen konn­
ten nicht mehr verwendet werden und Ersatz gab es nicht.

Doch das war im Moment nicht weiter schlimm. Aber was sollte werden,

wenn die Nahrungsmittel im Vorratsbunker aufgebraucht waren und kein Er­
satz eintraf? Wenn sich niemand auf Deck 27 blicken ließ, kein Grüner und
keiner von den Alten?

Zum ersten Mal wurde ihm so richtig bewußt, daß sie in einem gewaltigen

Raumschiff lebten, das über der Erde schwebte. Vielleicht stürzte es bereits
dem überbevölkerten Planeten entgegen? Auf sich selbst gestellt waren sie im
Grunde doch recht hilflos. Obwohl sie eine ganze Menge Neues dazugelernt
hatten, seit sie nicht mehr in den Betonkolossen der Erde lebten.

Thunderclap mochte von ähnlichen Gedanken geplagt sein. „Du solltest

mal ausprobieren, ob das Feuer noch in Ordnung ist“, bat er Karlie.

Karlie drehte an den Hähnen, die das Gas ausströmen ließen und bei Betä­

tigung gleichzeitig einen Zündfunken freisetzten. Nichts geschah.

„Wir haben kein Feuer mehr!“ rief Karlie enttäuscht. „Kartoffelpuffer ade!“
Thunderclap schwieg. Er schien damit gerechnet zu haben.
„Wir werden eben ohne Feuer auskommen müssen – für eine Weile“, warf

Harpo ein. Er wirkte ruhig, war es aber nicht. Sie hatten sich ein bißchen zu
sehr darauf verlassen, daß ihnen die gebratenen Tauben in den Mund flogen.
Nein, nicht ganz so. Ein gewisses Maß an Selbständigkeit hatten sie durchaus
erlangt. Aber immer noch nahmen sie Sachen als gegeben hin, die so selbst­
verständlich gar nicht waren. Vielleicht mußten sie sich jetzt an ganz neue
Maßstäbe gewöhnen.

„Micel“, beschwor Harpo seinen Freund. „Kannst du uns nicht sagen, was

geschehen ist?“

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Der Gedankenleser senkte den Blick, als sich mehrere Augenpaare auf ihn

hefteten.

„Es tut mir leid“, sagte er leise und ließ seine verkümmerten Ärmchen trau­

rig hängen. „Ihr erwartet zuviel von mir. Ich spüre nichts.“

Fidel Flottbek, der sich bisher aus den Gesprächen herausgehalten hatte,

meldete sich zu Wort. Er hatte eine Weile nachgedacht. „Gehen wir mal da­
von aus“, sagte er, „daß die Grünen nicht wiederkommen, daß sie niemals
wiederkommen. Wißt ihr, was das heißt?“

Er sah sich fragend im Kreis um, aber niemand hatte Lust, ihm zu ant­

worten.

„Das bedeutet“, gab er sich triumphierend selbst die Antwort, „daß wir un­

abhängig und frei sind! Niemand erteilt uns Befehle, niemand sagt uns, was
wir zu tun und zu lassen haben, niemand zwingt uns, Rechenaufgaben und
Bastelarbeiten zu erledigen!“ Vor Begeisterung hatte er sich richtig in Ekstase
geredet und war laut geworden wie ein Politiker bei einer Wahlrede.

„Immer langsam“, bremste Harpo. „Die Grünen sind nicht die Herren auf

diesem Schiff, Fidel. Du hast die Alten vergessen!“

„Wenn  die  Grünen  nicht   mehr  funktionieren“,  unterstützte  Micel  Fidels

Überlegungen, „dann werden die Alten alle Hände voll zu tun haben, um das
Schiff unter Kontrolle zu halten. Um uns werden sie sich dann gar nicht mehr
kümmern.“

„Zerbrecht  euch nicht  die Köpfe“,  meinte Anca.  „Wir werden  noch  früh

genug feststellen, wer recht hat.“

„Jawoll“, pflichtete der kleine Oliver bei. „Un’ solang machen wer Feeerien!

Juchhuuu!“

Thunderclap wiegte zögernd seinen Kopf. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“,

sagte er. „Ich finde, ihr seht die Sache zu rosig. Überlegt doch mal: Was den
Grünen   oder   den   Alten   gefährlich   wird,   das   kann   auch   uns   in   Gefahr
bringen.“

„Richtig!“ hakte Harpo sofort ein. Er scharrte unruhig mit den Füßen. „Statt

hier  rumzusitzen,  sollten  wir  lieber  eine Expedition  zusammenstellen  und
herauszufinden versuchen, was wirklich los ist! Und dann wäre es noch gut,
wenn   wir   mit   den   Gruppen   auf   anderen   Decks   Kontakt   aufnehmen.   Wir
könnten uns gegenseitig helfen.“

„Als erstes wollen wir eine Ratsversammlung einberufen, in der jeder Sitz

und Stimme hat“, rief Karlie begeistert.

„Eine gute Idee!“
„Klasse!“
„Mensch, Karlie, du hast ja mächtig einen drauf!“
Alle waren mit Feuer und Flamme dabei. Das Tal der Wigwams war ein

eigener Staat geworden, dessen Bewohner demokratisch darüber abstimm­
ten, was weiter geschehen sollte.

„Auch   Lonzo   und   Trompo   müssen   mitentscheiden“,   forderte   Anca

energisch.

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„Klar, Mensch“, stimmten die anderen zu. „Sie haben die gleichen Rechte

wie wir alle!“ Niemand hatte etwas gegen diesen Vorschlag einzuwenden.

„Lonzo“, fragte Thunderclap den fast kugelrunden Roboter, der auf seinen

elastischen Beinen herantanzte, „du wirst mir nicht böse sein, wenn ich dich
danach   frage,   nicht   wahr?   Warum   bist   du   nicht   von   dem   Schicksal   der
anderen Roboter betroffen?“

Die   Kinder  erwarteten,   daß  Lonzo  nun   wieder   steif  und  fest   behaupten

würde, daß er gar kein Roboter sei, sondern ein Mensch. Aber nichts derglei­
chen kam.

„Vielleicht deshalb, weil ich nicht mehr der Zentralschaltung des Großen

Elektronengehirns unterstehe“, gab Lonzo unerwartet ernsthaft zur Antwort.
„Ich bin ganz auf mich allein gestellt, weil die Funkverbindung zwischen mir
und der Zentralschaltung  kaputt ist. Die anderen Roboter bekommen ihre
Befehle vom Großen Elektronengehirn.“

Nachdenklich und mit in Falten gelegter Stirn sagte Thunderclap: „Könnte

es sein, Lonzo, daß es am Großen Elektronengehirn liegt, daß die Grünen
nicht mehr funktionieren?“

Und Harpo fügte hinzu: „Und der Stoß von vorhin? Könnte er auch da­

durch ausgelöst worden sein?“

Lonzo klickte nervös. Zum ersten Mal, seit er sich selbst das Bärenfell über

die Ohren gezogen hatte, benahm er sich nicht wie ein Clown. Dann gab er
zur   Antwort,   dabei   fast   traurig   mit   seinen   Tentakeln   wedelnd:   „Meine
Speicherbänke sagen mir, daß es am Großen Elektronengehirn liegen muß.
Es hat offenbar einen Defekt. Seine Verbindung zu den Grünen ist unterbro­
chen.“

Die Kinder schwiegen ratlos. Jedes einzelne von ihnen – außer Lucky Cice­

ro, der so aussah, als würde er gleich anfangen zu weinen – machte sich seine
Gedanken.  Lucky   merkte   genau,  wenn   die   anderen  etwas   bedrückte.   Und
wenn   das   Elektronengehirn   ausgefallen   war,   bedeutete   dies   eine   große
Gefahr   für   das   Schiff   und   seine   Besatzung.   Und   leider   war   es   nun,   nach
Lonzos   Aussage,   nicht   mehr   von   der   Hand   zu   weisen,   daß   der   riesige
Schiffscomputer, der nahezu alles steuerte, seinen Geist ausgehaucht hatte.

„Ob das Schiff nun steuerlos ist?“ fragte Harpo in das Schweigen hinein.
„Die Alten sind doch noch da“, meinte Anca zaghaft, als erwarte sie von ih­

nen die Rettung.

„Hast du überhaupt schon mal einen von denen gesehen?“ fragte Fantasia

zweifelnd.

Der kleine Oliver war blaß geworden, und sogar Thunderclap Genius, der

Junge, der von ihnen allen am meisten wußte und der besonnenste war, be­
kam blasse Lippen.

„Wir müssen nachsehen, was genau geschehen ist“, schlug Harpo vor und

stand auf. „Zuerst sollten wir zur Basis der Grünen gehen und herausfinden,
ob sie wirklich außer Betrieb sind. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.“ Sein
Vorschlag fand allgemeine Zustimmung.

„Wollen wir abstimmen?“

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„Hat jemand einen Gegenvorschlag?“
Einen Gegenvorschlag hatte niemand. Die Abstimmung ergab, daß Harpos

Vorschlag einstimmig angenommen war. Blieb nur die Frage, wer an der For­
schungsreise teilnehmen sollte, da es natürlich keinen gab, der gerne zurück­
blieb. Aber alle zusammen konnten sie nicht gehen, weil das zuviel Gepäck
und noch mehr Umstände erforderte, falls wirklich Gefahren drohten. Die
Existenz der Schlange hatte noch keines der Kinder vergessen ...

Thunderclap sagte: „Lonzo soll vorschlagen, wer von uns mit zur Basis der

Grünen   geht.   Er   ist   der   einzige   Neutrale   unter   uns,   weil   er   Gefühle   wie
Abenteuerlust nicht kennt und deshalb eine unbeeinflußte Auswahl treffen
kann.“

Nach diesen Worten gebärdete sich Lonzo wie in alten Tagen. „Ich und

keine Abenteuerlust kennen?“ krächzte er. „Haaah ... soll ich euch erzählen,
wie ich mit dem alten Käpt’n Kidd gegen Kunibert Krötenschreck und seine
fiesen Piraten kämpfte? Auf allen neun Weltmeeren? Ich könnte euch Dinge
erzählen, daß euch die Haare zu Berge stehen ...“

Der quäkende Tonfall, in dem er das sagte, löste die bedrückte Stimmung

der Kinder. Lachend hielten sich Harpo und seine Freunde die Bäuche. Der
ulkige Eisenmann hatte zu jeder Bemerkung eine kleine Geschichte parat.
Und er schreckte auch nicht davor zurück, furchtbar aufzuschneiden, wenn
es galt, seine witzigen Erzählungen an das Publikum zu bringen. Wer hatte je
von neun Weltmeeren gehört – wo es doch nur sieben gab, von denen vier
nichts   anderes   waren   als   stinkende,   längst   tote   Kloaken,   in   denen   keine
Fische mehr lebten.

Lonzo schritt mit vor der Metallbrust gekreuzten Tentakeln gravitätisch auf

und ab. Dann, als sei er Admiral Piratenschreck persönlich, fuhr er fort: „So
eine   Expedition   ist   eine   nervenaufreibende   Sache,   meine   Freunde!   Daran
können nur Leute teilnehmen, die das Herz nicht in der Hose aufbewahren.
Und gewieft müssen Expeditionsleute sein, furchtlos und allen Eisverkäufern
des Universums gegenüber standhaft bleiben!“

Er drehte sich um und schnarrte: „Wir brauchen zuerst jemand, der jede

Gefahr riecht! Und das ist Micel Fopp, der Junge mit dem sechsten Sinn!“

„Au ja!“ sagte Micel freudig.
„Und jemanden, der stark ist!“ Lonzos Blick fiel auf Anca, die sich soeben

hinter der Rückenlehne von Thunderclaps Rollstuhl verkriechen wollte, weil
sie schon ahnte, was nun kam.

„Anca hat mit einer Riesenschlange gekämpft“, kicherte Lonzo, „und sie in

die Flucht geschlagen! Sie soll die zweite sein!“

„J­ja“,   hauchte  das  Mädchen.   Anca  fühlte   sich  eigentlich   jetzt   gar  nicht

mehr so stark wie noch am Tag vorher. Dennoch freute sie sich, an dieser auf­
regenden Expedition teilnehmen zu dürfen.

„Dazu einen Jungen, der den genauen Weg zur Basis der Grünen kennt!“
„Ich! Ich!“ rief der kleine Oliver. „Ich war schon mal da. Ich kenn’ den Weg!“
„Richtig“, bestätigte Harpo. Die anderen nickten.

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„Und der vierte im Bunde“, sagte Lonzo. „Welche Fähigkeiten sollte der

haben?“ Er sah fragend in die Runde und wartete auf Vorschläge, wobei seine
roten Kunstlichtäuglein flackerten.

„Furchtlos soll er sein!“ trompetete Trompo, der es sich auf Thunderclaps

Schoß bequem gemacht hatte und mit den Ohren wedelte. „Und der Furcht­
loseste von allen ist Harpo Trumpff!“

Harpo glaubte vor Schreck im Boden zu versinken.

Eine geheimnisvolle Botschaft

Die Basis der Grünen lag in nördlicher Richtung hinter dem felsigen Land.

Da das Schiff einen eigenen Magnetpol besaß, konnte man die Himmelsrich­
tungen der Erde beibehalten und sich mit einem Kompaß orientieren. Die
Kinder   durchquerten   zunächst   ein   Wäldchen   und   gelangten   in   die
graubraune, felsige Öde, die sich fast einen Kilometer lang hinzog, ehe sie
wieder in eine allmählich absinkende Grünzone überging.

Als   das   Grünland   sich   vor   ihnen   abzeichnete,   deutete   Harpo,   der   die

Gruppe   anführte,   nach   unten.   Die   grünlackierte   Schiffswand   schnitt   die
Landschaft   abrupt   ab.  Sie  ragte   in   zweihundert   Meter   Entfernung   empor.
Und in ihr befand sich das große schwarze, runde Loch, das den Eingang zum
Lift bildete, der zu den anderen Decks führte.

Direkt neben dem schwarzen Loch standen vier kleine, aus künstlichem

Holz hergestellte und dennoch echt wirkende Blockhütten. Die Schornsteine
rauchten nicht. Alles wirkte verlassen.

Die Basis.
Die   Türen   der   Hütten   waren   geschlossen,   und   vor   dem   malerisch   aus­

sehenden alten Ziehbrunnen, der auf dem Vorplatz der Basis stand, lag der
Körper eines Grünen auf dem Rücken, leblos und starr. Das rechte Knie des
künstlichen Wesens war leicht angewinkelt, und ein Arm ragte steil in die
Luft, als sei der Roboter mitten in der Bewegung abgeschaltet worden.

Der   kleine   Oliver  sagte,   während  sie vorsichtig  den  Hügel  hinabstiegen:

„Zwei haben mich abgeholt. Wo is’ denn der andere?“

Sie entdeckten ihn bald. Er lag hinter dem Brunnenrand. Auch er rührte

sich nicht. Sein grünes Fell war staubig und verschmutzt. Die Äuglein, die
sonst so listig blitzen konnten, waren erloschen.

Harpo kniete neben den Grünen nieder und untersuchte sie, während Mi­

cel neben ihm stand und seine Gedankenströme in die Umgebung hinaus­
schickte.

„Liest du was?“ platzte Anca heraus, die beobachtet hatte, daß sich Micels

Blick versonnen nach innen gekehrt hatte.

Micel schüttelte den Kopf. „Es ist alles tot.“

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„Haben die Grünen überhaupt Gedanken?“ fragte Harpo, als sie die erste

Hütte betraten. Die Kleincomputer, die hier herumstanden, hatten ihre Tä­
tigkeit eingestellt. Auch sie waren abgeschaltet.

„Richtige   Gedanken   haben   sie   nicht“,   erklärte   Micel   stirnrunzelnd,   als

müßte er  sich selbst  erst über  die  Antwort  klar  werden.  „Aber ich  konnte
schon mal was von ihnen hören. Ein Kitzeln in meinem Kopf ...“

„Ein Kitzeln?“ fragte Harpo verblüfft. „Ein Kitzeln im Kopf?“ Das konnte er

sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Micel zuckte mit den Achseln. „Kein echtes Kitzeln ... Ach, ich kann es dir

nicht erklären. Das ist genauso schwierig, als müßtest du einem Blinden eine
Farbe erklären. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Auf jeden Fall spüre ich
hier nichts. Die Grünen strahlen kein ,Kitzeln‘ mehr aus.“

„Hab’ ich doch gesagt, daß die im Eimer sind“, meinte Ollie.
Neugierig betrachteten die Kinder die seltsamen Instrumente. Mit der In­

neneinrichtung der Hütten hatten sich die Alten nicht sonderlich viel Mühe
gegeben. Die Wände sahen kalt und grau aus. Nur die Maschinen blitzten vor
Sauberkeit.  Sie waren  verchromt  wie  medizinische   Instrumente oder  ganz
teure Autos und besaßen so viele Knöpfe, Schalter und Tasten, daß Harpo fast
schwindlig wurde, als er den zaghaften Versuch unternahm, sie zu zählen.
Anca deutete auf einen kleinen Bildschirm, auf dessen Sichtfläche sich ein
winziger weißer Punkt abzeichnete.

„Seht nur“, sagte Micel aufgeregt und zeigte ebenfalls dorthin.
Täuschten  sie sich   oder   wurde  der   Punkt  tatsächlich   größer?  Das   Gerät

summte leise. Die Kinder wußten, daß man es dazu benutzte, mit anderen
Menschen zu reden. Ein gewöhnlicher Bildschirm wie beim Fernsehen war
das nicht. In gewisser Hinsicht konnte man dieses Gerät als Weiterentwick­
lung des Telephons bezeichnen. Der Unterschied war nur, daß man seinen
Gesprächspartner nicht nur hören, sondern auch sehen konnte. Visiophon
wurde das Gerät genannt.

Der weiße Punkt war zuerst nicht größer als eine Erbse, aber er wuchs tat­

sächlich.   Der   Bildschirm   erwachte   zum   Leben.   Verzerrte   Linien   huschten
über die Mattscheibe. Das Gerät summte etwas lauter als vorhin, aber das
Geräusch war immer noch so leise, daß man schon den Atem anhalten muß­
te, um es überhaupt wahrzunehmen.

„Jemand versucht, hier anzurufen!“ rief Harpo. Er fuchtelte nervös mit der

rechten   Hand   durch   die   Luft   und   tastete   dann   nach   den   kleinen   weißen
Schaltknöpfen an der Vorderseite des Visiophons. Aber so recht traute er sich
nicht. „Soll ich mal versuchen, das Bild richtig reinzukriegen?“

„Paß bloß auf“, raunte Anca. „Vielleicht machst du es kaputt.“
Diese   Bemerkung   seiner   Schwester   hätte   Harpo   unter   normalen   Um­

ständen vielleicht wütend gemacht, aber jetzt störte er sich nicht daran und
ging so sanft zu Werke wie niemals zuvor.

Für zwei Sekunden blieb das Bild stehen. Erfreut bemerkten die Kinder,

daß das Gesicht eines Mannes sichtbar wurde. Er war dunkelhäutig wie Brim

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Boriam, trug jedoch einen buschigen Bart. Und das war etwas, zu dem es bei
Brim noch nicht gereicht hatte.

Dann verschwand das Bild wieder. Harpo fluchte wie ein Matrose, der sich

auf allen sieben Weltmeeren herumgetrieben hatte. Das Visiophon begann zu
knattern. Harpo verstummte. Erneut erschienen die farbigen Linien.

Der bärtige Schwarze war zurück.
„Geschafft!“ freute sich Harpo.
Das   Gesicht   des   Mannes   auf   dem   Bildschirm   zeigte   für   einen   Moment

Freude. Zweifellos hatte er auf seinem Visiophon jetzt die Gruppe der Kinder
im  Bild.   Dann  lief  jedoch  ein  Schatten  über   sein   Gesicht.   Er  bewegte   die
Lippen, begann hastig zu sprechen und ruderte wild mit den Händen durch
die Luft. Es sah komisch aus, wie er sich abmühte, ihnen etwas mitzuteilen,
ohne daß man ihn verstand. Ohne es zu wollen, mußten die Kinder lachen.

„Was will er denn?“ fragte der kleine Oliver schließlich. Er stand breitbeinig

vor dem Bildschirm und bohrte in der Nase.

„Uns etwas sagen“, zischte Anca aufgeregt. Sie hatte als erste den Ernst der

Situation erfaßt. „Man kann ja nix verstehen, Harpo! Kannst du nicht noch
einmal an den Knöpfen drehen?“

Harpo zögerte. Er kannte sich mit dieser Anlage nicht so gut aus, wie er zu­

erst gedacht hatte.

Und außerdem hatte er Angst davor, die Verbindung zu dem Unbekannten

zu unterbrechen. Was sollte er nur tun?

Der Retter konnte Micel sein.
„Kannst du seine Gedanken lesen?“ wisperte er hastig dem Freund ins Ohr.

„Erfahren, was der Mann will?“

Ehe Micel noch antworten konnte, veränderte sich die Szene erneut. Der

Bärtige hatte jetzt wohl bemerkt, daß man ihn nicht hören konnte. Er deutete
mit   dem   rechten   Zeigefinger   auf   seinen   Mund.   Dann   auf   seine   Ohren.
Schließlich zeigte er aus dem Bildschirm heraus auf die Kinder, schüttelte
fragend den Kopf und hob die Schultern.

„Er will wissen, ob wir ihn hören können“, sagte Micel. „Neeeiiiin!“
Auch   die   anderen   fielen   in   den   Ruf   ein   und   schüttelten   wild   mit   den

Köpfen.

Die   Reaktion   des   Mannes   war   erstaunlich.   Sein   Gesicht   spiegelte   nun

Verzweiflung. Er stand auf. Für einen Augenblick zeigte die Kamera nur sei­
nen breiten Brustkorb mit den blanken Uniformknöpfen, bis die Automatik
die Linse verstellt hatte. Der Mann bewegte sich im Raum auf und ab wie ein
gefangener   Tiger  und   raufte   sich   gelegentlich   die   Haare.   Dann   griff   er  zu
einem Raumanzug, der an einem Wandhaken hing, und zog ihn an. Ehe er
den Helm aufsetzte, sah er noch einmal in das Aufnahmeobjektiv. Er wirkte
unendlich traurig. Drei oder vier Sekunden lang schaute er so. Dann wandte
er sich ab und schlug mit der geballten Rechten in den offenen Handschuh
der linken Hand. Er machte eine Bewegung mit beiden Armen, die bedeuten
mochte, daß etwas explodierte. Mit dem Daumen zeigte er mehrmals nach
unten und auf die Kinder. Schließlich setzte er seinen Helm mit einem weh­

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mütigen Gesicht auf, winkte noch einmal und verließ den Raum. Eine Metall­
tür schloß sich hinter ihm.

Mit offenen Mündern hatten die Kinder die Szene verfolgt. Jetzt starrten sie

sich gegenseitig an.

„Wer war das?“ platzte der kleine Oliver heraus. „Den hab’  ich noch nie

gesehen. War das vielleicht der Schäff­Püschologe?“

„Er hatte eine Uniform an. Das war kein Arzt, nicht, Harpo?“ meinte Anca.

In ihrer Stimme schwang deutlich leise Angst mit. Harpo legte einen Arm um
die Schulter seiner Schwester, um sie zu beruhigen.

Micel schien der einzige zu sein, den die Szene nicht aus der Ruhe gebracht

hatte. Seine Augen hatten jenen seltsamen  abwesenden Ausdruck, den sie
immer   annahmen,   wenn   er   sich   auf   weit   entfernte   Gedanken   zu   kon­
zentrieren versuchte.

Ehe ihn Harpo fragen konnte, sagte er schulterzuckend: „Er war zu weit

weg, Harpo. Viel zu weit. Ich konnte nichts in ihm lesen. Da war nur so ein
komisches Gefühl ...“ Micel schüttelte sich, als liefe ein kalter Schauer über
seinen Rücken.

„Was für ein Gefühl? Micel!“ rief Harpo heiser. Er spürte, daß in ihm die

Angst wuchs. Gänsehaut bedeckte seine nackten Arme.

Micel antwortete nicht. Er verließ die Hütte als erster und ging vor dem

Brunnen nachdenklich auf und ab. Dabei murmelte er etwas, das weder Har­
po noch die anderen verstanden.

Was hatte Micel aufgefangen?
Doch andere Dinge nahmen nun die Aufmerksamkeit der Kinder in An­

spruch. Der kleine Oliver hatte – neugierig wie er war – an der Türklinke der
zweiten Hütte gerüttelt. Plötzlich sprang die Tür auf, und ein Knäuel kleiner
Tiere schoß aus der Hütte ins Freie. Geschickt wichen die Tiere den Kindern
aus und rannten ins freie Land hinaus, als ginge es um ihr Leben.

Harpo machte einen Satz und erwischte ein schwarzes Kätzchen, das sich

verzweifelt bemühte, seinen Händen zu entwischen.

„Eine Katze! Eine richtige Katze!“ Ollie war außer sich vor Freude. Ancas

Blicke folgten den anderen Tieren, von denen die meisten schon aus dem
Blickfeld geraten waren. Sie sah aber noch zwei langhaarige Hunde, einen
kleinen tolpatschigen Bären mit schneeweißem Fell, drei Eichhörnchen und
eine laut quakende Ente, die auf ihren Plattfüßen von dannen watschelte und
dabei   die   Flügel   schwang,   als   wollte   sie   sich   jeden   Moment   in   die   Luft
erheben. Dann hatten sich die Tiere hinter Plastiksträuchern, Hecken und
Steinen versteckt. Nur die Ente hörte man noch eine Weile aus der Ferne qua­
ken.

Micel sagte: „Das ist keine Katze, Ollie. Das ist eine verkleidete Robotma­

schine.“

Harpo, der das leise Summen des Tiers ebenfalls bemerkt hatte, gab es frei.

Allmählich   glaubte   er   nun   wirklich   nicht   mehr   daran,   daß   es   auf   diesem
Schiff  etwas   Echtes  gab,  etwas,   das  nicht   in   einer  Fabrik   nachempfunden

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worden war. Aber dann fiel ihm wieder die Schlange ein, die Anca gebissen
hatte.

In   der   zweiten   Hütte   lagen   zwei   weitere   Roboter   auf   dem   Boden   und

rührten   sich   nicht   mehr.   Die   Aufgaben,   die   sie   für  die   Kinder  vorbereitet
hatten, lagen auf dem Boden verstreut, als seien sie ihnen aus den Händen
gefallen.   Harpo   bückte   sich   und   hob   einen   der   vorgedruckten   Zettel   auf.
Geometrie.   Er   schüttelte   sich.   Das   war   eines   der   Fächer,   vor   denen   ihm
graute.

„Wir können hier wohl nichts mehr tun“, hörte er Micel hinter sich sagen.

„Wollen wir nicht zurückgehen?“

Anca stimmte ihm zu, während Ollie in den Schubladen herumkramte und

stoßweise Papier und Bücher zutage förderte, die er kichernd auf dem Boden
verstreute. „Keine Aufgaben mehr!“ rief er jubelnd. „Das ist der schönste Tag
in meinem Leben!“

Zusammen mit Anca legte er anschließend einen Indianertanz aufs Parkett,

wobei beide sich redlich bemühten, den anderen im Freudengeheul an Laut­
stärke zu übertreffen.

Micel,   der   ebenfalls   gerne   mitgemacht   hätte,   aber   aufgrund   seiner   ver­

kürzten Ärmchen nicht so konnte, wie er wohl wollte, stellte fest, daß Harpo
ein bedrücktes Gesicht machte.

„Was hast du?“ fragte er. „Freust du dich nicht, daß wir jetzt tun und lassen

können, was uns gefällt?“

„Doch, doch“, sagte Harpo zögernd. „Aber ... ich habe nicht vergessen, Mi­

cel.   Der   Mann   auf   dem   Bildschirm.   Dein   komisches   Gesicht   und   deine
Andeutungen. Ich weiß, daß du uns etwas verschweigst. Du weißt mehr, als
du zugeben willst, stimmt’s?“

„Du hast recht, Harpo“, gab Micel nun zu. „Ich weiß jetzt, welches Gefühl

der Mann hatte, als er den Raumanzug anzog und ging.“

„Und?   Heraus   mit  der   Sprache.   Du   mußt   es  uns   sagen.  Wir   sind   deine

Freunde.“

„Nun ... ich wollte es nicht für mich behalten. Aber ich war meiner Sache

nicht sicher.“ Micel druckste ein bißchen herum. Die Freunde hatten recht.
Das Geheimnis ging sie alle an, nicht nur ihn allein.

„Das Schiff hat sich aus seiner Erdumlaufbahn losgerissen, Harpo“, erläu­

terte er und stellte insgeheim erstaunt fest, daß es erleichterte, darüber zu
sprechen. „Es ist völlig außer Kontrolle. Die Erwachsenen sind anscheinend
alle geflüchtet. Und der letzte Mann – der auf dem Bildschirm – hatte Angst ...
Angst um uns, weil ihm keine Zeit mehr blieb, uns hier herauszuholen ...“

Anca und der kleine Oliver hörten auf zu tanzen. Micel drückte seinen Kopf

an Harpos Brust und begann zu weinen. Auf dem Rückweg ins Wigwamtal
sprachen sie kein Wort.

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Vorstoß nach Deck 28

Das Plastikparadies, in dem die Kinder bisher gelebt hatten, erschien ihnen

nun, nachdem sie genau darüber informiert waren, was geschehen war, gar
nicht mehr so rosig.

Im Gegenteil: Jede rostige Stelle an den Wänden fiel ihnen plötzlich auf,

und   auch   der   Duft,   den   die   zahllosen   bunten   Blumen,   Pflanzen   und   Ge­
wächse ausströmten, kam ihnen künstlich  vor. Die kleinen, putzigen Tier­
chen,   die   sich   gelegentlich   ins   Wigwamtal   verliefen   und   aus   schützender
Entfernung   den   Kindern   zusahen   oder   manchmal   mit   ihnen   spielten,   er­
schienen ihnen leblos.

Nur Lucky Cicero, der kleine Mongoloide, der geistig zurückgeblieben war,

schien von alledem nichts zu merken. Er konnte sich über fast alles freuen. Er
tobte   mit   Trompo   über   die   künstliche   Wiese,   lag   unter   den   Strahlen   der
künstlichen Sonne oder jagte den Eichhörnchen nach, die sich im Geäst na­
hegelegener Bäume tummelten.

Nachdem die Kinder drei Tage lang vor sich hingedämmert hatten, sagte

Thunderclap Genius nachdenklich: „Ich glaube, die Sonne ist nicht mehr so
warm wie früher.“

Erschreckt sahen die Kinder auf. Der gelbe Ball, der tagtäglich die gleiche

Bahn über die hohe Decke des Himmels zog, erschien den meisten von ihnen
unverändert. Oder doch nicht? Zweifel stiegen auf.

Karlie Müllerchen, den nicht einmal mehr – ohnehin kalte – Kartoffelpuffer

erfreuen   konnten,   meinte,   das   könne   Einbildung   sein.   Aber  sicher   war   er
nicht. Lonzo hatte sich seit dem letzten Tag nicht mehr sehen lassen, weil er
den kuriosen Plan entwickelt und verkündet hatte, einen Piratenschatz zu su­
chen, den er angeblich vor zweihundert Jahren hier in der Nähe vergraben
hatte. Aber es war ihm nicht gelungen, die Schar der Jungen und Mädchen
mit seiner Begeisterung anzustecken. Schließlich zog er ganz allein los.

Anca hatte sich beim Herumtollen einen klassischen Dreiangel in die Jeans

gerissen. Thunderclap, der die Vorräte verwaltete, gab ihr neue Jeans und Mi­
cel ein anderes Hemd für sein abgenutztes altes. Dabei machte er ein ernstes
Gesicht.   Gewiß,   noch   gab   es   genügend   Vorräte.   Aber   sie   würden   lernen
müssen, mit allem sorgfältig  umzugehen. Als erstes mußten sie damit be­
ginnen, die Wäsche selbst zu waschen – jetzt gab es keine Grünen mehr, die
schmutziges Zeug abholten und frische Wäsche brachten.

„Es ist gar nicht so schön, wenn man keine Aufgaben hat“, klagte der kleine

Oliver und zupfte Fantasia Einstein am Ärmel ihrer bunten Bluse. „Kannst du
mir nicht ‘n paar Rechenaufgaben stellen?“

Harpo lächelte. Die erwartete Gemütlichkeit, mit der alle Kinder gerechnet

hatten, war nicht eingetreten. Im Gegenteil: Man langweilte sich mit der Zeit,
weil alles das, was man sonst nicht tun konnte, nicht mehr aufregend war,
wenn man es jeden Tag machte. Harpo selbst hatte sich eigentlich vorge­
nommen, jeden Tag schwimmen zu gehen und die Plastikfische im See in die

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Schwänze zu zwicken, weil sie dann zu quieken anfingen. Aber er war nur
einmal hingegangen. Jeden Tag dasselbe Vergnügen macht bald keinen Spaß
mehr.

„Ich habe einen Plan“, sagte Thunderclap plötzlich. „Kommt doch mal alle

her!“

Seinem leicht geröteten Gesicht sah man an, daß er Feuer und Flamme

war. Die Kinder scharten sich um ihn; auch Lucky, der aus der Ferne gesehen
hatte, daß eine Versammlung stattfand, kam herbeigelaufen.

„Ihr   wißt   alle“,   begann   Thunderclap,   während   er   seinen   automatischen

Rollstuhl in die richtige Position bugsierte, „daß es auf den anderen Decks
noch   weitere   Gruppen   gibt.   Warum   nehmen   wir   unseren   ursprünglichen
Plan nicht wieder auf und stoßen bis zum nächsten Deck vor?“

„Ja!“ unterbrach ihn Brim begeistert. „Vielleicht ww­wissen d­die anderen

mm­mm­mm­mehr!“ Seine Augen leuchteten.

„Vielleicht“, meinte Fantasia mit leuchtenden Augen, „sind nur die Grünen

auf unserem Deck kaputt?“

„Dieses Mal bin ich aber mit dabei!“ rief Karlie. „Ich fange schon mal an,

Proviant zusammenzupacken!“

„Kartoffelpuffer!“   schrie   der   kleine   Oliver.   „Nimm   sie   nur   alle   mit!   Ich

bleibe   hier   und   esse   zusammen   mit   Thunderclap   sechs   Tage   lang   nur
Salami!“

Die anderen lachten. Natürlich hatte Karlie nur einen Scherz gemacht.
„Thunderclap hat recht“, stimmte auch Harpo zu. Er baute sich im Kreis

der anderen auf und stemmte die Arme in die Hüften. „Es hilft uns nichts,
wenn wir hier rumgammeln  und darauf warten, daß etwas passiert. Es ist
wahrscheinlich, daß wir Kinder allein auf dem Schiff sind. Die Erwachsenen
haben uns verraten. Wenn wir uns gegenseitig helfen, können wir vielleicht
ein paar Grüne finden, die das Gehirn wieder in Ordnung bringen! Vielleicht
können wir sogar Hilfe von der Erde herbeifunken.“

„Wenn wir die Zentrale finden“, sagte Fidel Flottbek finster. Ihm schien das

gar nicht zu gefallen. Er war auf die Alten nicht gut zu sprechen. Seine Eltern
hatten ihn als Baby in ein Kinderheim gesteckt, weil sie ihn nicht haben woll­
ten, und er hatte nie ein richtiges Zuhause gekannt. Das war auch der Grund,
daß   er   auf   der   Erde   oft   andere   Kinder   verprügelt   hatte,   als  sie  ihn   einen
Zigeuner nannten und hänselten. Seit Fidel auf dem Schiff war, hatte er sich
gebessert, aber die Erwachsenen konnte er immer noch nicht leiden. Für ihn
waren alle gleich, und das bedeutete: gleich schlecht.

Thunderclap sah Fidel an. „Ich habe noch gar nicht alles aufgezählt, was

auf  uns zukommen  kann, wenn wir   weiterhin  so  in den  Tag hineinleben,
Fidel. Sicher möchtest auch du nicht, daß hier alle Lichter ausgehen und wir
nichts mehr zu essen haben, weil die Maschinen nicht mehr arbeiten. Ich er­
innere nur daran, welche Probleme wir allein deshalb haben, weil das Gas
nicht mehr strömt. Und das war vielleicht nur ein winziger Vorgeschmack.
Stell dir einmal vor, wenn eines Tages die Sonne dort oben ausfällt ...“ Er deu­
tete auf die Plastikbäume. „Und die Pflanzen, die aus Kunststoff sind. Wir

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können sie nicht essen. Was ist, wenn unsere Vorräte erschöpft sind? Wovon
sollen wir uns ernähren?“

Harpo nickte. „Wenn das Große Gehirn gestört ist, werden nach und nach

alle   anderen   Mechanismen   ausfallen,   zumindest   erst   einmal   die   kom­
plizierten.“

„Wir   kommen   schon   durch“,   beharrte   Fidel   trotzig,   aber   seine   Stimme

klang unsicher.

„Aber du mmm­mm­mußt doch einsehen, daß sich nn­nn­nnicht alle P­

pp­pp­probleme so einfach lösen lassen wie der Verlust  des Feuers“, warf
Brim aufgeregt ein.

„Richtig“, stimmte Anca zu. „Und selbst, was das Feuer betrifft ... Karlie

mag es ja egal sein, ob seine Kartoffelpuffer warm oder kalt sind ...“

„Iss nich wahr!“ unterbrach Karlie protestierend. „So richtig heiß sind sie

am besten!“

„...   aber   ich   sehne   mich   jedenfalls   nach   einem   richtig   schön   warmen,

dampfenden Kakao“, beendete Anca ihren Satz.

„Nun  laßt  doch  mal  die  Kartoffelpuffer  und  den Kakao  aus  dem  Spiel“,

schimpfte Thunderclap.

„Na, ihr habt ja irgendwie recht“, brummte Fidel. Natürlich wollte auch er

nicht, daß sie eines Tages in totaler Dunkelheit vor Hunger sterben mußten.
Und vor allen Dingen wußte er, daß Harpo, der Junge, der am gesündesten
und kräftigsten wirkte, ganz schreckliche Angst vor der Finsternis hatte. Vor
allem dann, wenn niemand bei ihm war. Und Thunderclap? Wenn es dunkel
wurde,   konnte   er   mit   seinem   Rollstuhl   nicht   mehr   gefahrlos   durch   die
Gegend fahren. Die Kameraden in der Gruppe waren Fidels erste Freunde,
sonst hatte er in jedem anderen Menschen immer nur Gegner gesehen. Er
wollte nicht, daß sie litten. Widerwillig gestand er sich ein, daß es zumindest
einiges gab, was an den Alten nicht so übel war.

Die Kinder stimmten über Thunderclaps Vorschlag ab. Alle waren für die

Expedition, auch Fidel. Selbst Trompo hob zustimmend seinen kleinen Rüs­
sel.

Sie machten sich sofort daran, eine zweite Expeditionsgruppe auf die Beine

zu stellen, die dieses Mal versuchen sollte, an der Basis der Grünen vorbei in
das schwarze Loch zu gelangen. Das führte, soweit ihnen bekannt war, zum
Antigravlift, in dem man schwerelos wurde und langsam nach oben oder un­
ten schweben konnte, bis zum nächsten Deck.

Es   war   anzunehmen,   daß   die   zweite   Expedition   länger   unterwegs   sein

würde als die erste. Entsprechend viel Proviant mußte eingepackt werden.
Fantasia füllte mehrere Flaschen mit kaltem Tee, und Karlie stellte die Ver­
pflegung zusammen. Bei der Durchsuchung des Vorratsbunkers stellte sich
heraus, daß die Gruppe nur noch für knapp drei Wochen zu essen hatte. Sie
waren also gezwungen, sich schnellstens nach anderen Vorratsquellen umzu­
schauen.

„Ich habe mal gehört“, sagte Karlie, „daß es auf jedem Zwischendeck ein

Lebensmittellager geben soll. Da muß Essen für Jahrzehnte gelagert sein.“

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Da die Ausrüstung getragen werden mußte, teilte man der Expedition die

körperlich stärksten Kinder zu: Harpo und Anca, Brim Boriam und Karlie.
Und   weil   sich   jemand   um   Thunderclap   und   Micel   kümmern   mußte,   die
allein ziemlich hilflos waren, blieb Fidel mit Fantasia und dem kleinen Oliver
freiwillig zurück. Auch Lonzo tauchte noch auf, mit Lucky an der Hand. Also
hatte er schließlich doch noch einen Gefährten bei der Schatzsuche gehabt.
Natürlich kehrten die beiden mit leeren Händen zurück. Aber Lonzos kugel­
runder Metalleib war über und über mit wieselflinken Eichhörnchen bedeckt,
als er mit Lucky unter den Büschen hervorkroch.

„Heißt Flagge!“ krächzte Lonzo. „Das Schiff legt sofort zur neuen Schatzsu­

che ab. Täterätää!“ Er brachte wirklich so etwas wie ein Trompetensolo zu­
stande, in das Trompo mit seinem dünnen Stimmchen einfiel. Lucky lächelte
glücklich   und   winkte   der   Gruppe   zu,   bevor   er   wieder   hinter   den   Felsen
verschwand.   Genius   folgte   den   Schatzsuchern   mit   seinem   blitzschnellen
Rollstuhl so weit, bis der Boden eine gefahrlose Rückkehr nicht mehr zuließ.
Er gab noch ein halbes Dutzend gute Ratschläge und fuhr dann traurig zu­
rück.

Es dauerte diesmal nicht so lange, bis die Kinder die Basis der Grünen er­

reicht hatten. Früher hatten sie sich nicht so gern hier aufgehalten, weil sie
genauso dachten wie die meisten Kinder auf der Erde: Hier wohnten ihre
Lehrer. Und wer geht schon gern nach Schulschluß am Haus seines Lehrers
vorbei? Manchmal hatten sie kichernd auf den Hügeln gelegen und die Grü­
nen nach Indianerart beobachtet. Dabei hatten sie dem entfernten Rattern
der Fernschreiber gelauscht, mit denen die Grünen ihre Ergebnisse zu den
Alten hinauf oder hinunter? – niemand wußte ganz genau, wo sie auf dem
riesigen Schiff lebten – funkten.

Karlie und Brim, die zum ersten Mal die leblosen Grünen aus der Nähe sa­

hen, schüttelten sich. Irgendwie hatten sie die kleinen Maschinenbären doch
gemocht, die ferngelenkt reagierten.

Am Eingang des Liftlochs hielten sie an.
Brim hielt Harpo eine Taschenlampe hin. Er hatte offenbar nicht weniger

Angst   vor   der   Dunkelheit   als   die   anderen.   Wer   wußte   schon,   was   sie   in
diesem dunklen Schacht erwartete?

Harpo gab sich mutig, obwohl er insgeheim fürchtete, daß ihn in der Dun­

kelheit wieder diese entsetzliche Furcht befallen würde. Schon mehrmals war
es so gewesen, vor allem auf der Erde. Er hatte geschrien wie ein kleines Kind.
„Geht jemand mit?“ fragte er schüchtern.

Karlie  trat  vor.  Er   schlang   ein   Seil  um  seinen   Bauch   und  befestigte  das

andere Ende an Harpos Gürtel. Zusammen gingen sie dann zögernd in die
Dunkelheit hinein, während Anca und Brim beim Gepäck blieben.

Geisterhaft huschte der bleiche Schein der Taschenlampe über die röhren­

förmige Metallwand. Hier hatte man sich keine Mühe gegeben, eine natürli­
che Landschaft vorzutäuschen. Harpo und Karlie hatten das Gefühl, in einem
Metallrohr zu stehen, und genau das war der Gang ja auch. Unwillkürlich

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duckten   sich   die   beiden   Jungen,   obwohl   genügend   Platz   vorhanden   war,
selbst für den langen Karlie.

Harpo hatte Angst, aber er bemühte sich, sie nicht zu zeigen, denn Karlie

war ja bei ihm. Er wußte nicht, wie es kam, daß ein Junge in seinem Alter
noch Angst im Dunkeln haben konnte, aber er hatte von klein auf Angst ge­
habt, allein und ohne Licht in ein schwarzes Loch zu fallen. Überhaupt hatte
er Angst vor dem Hinfallen, und manchmal, wenn er ausrutschte, wurde er
sofort bewußtlos und konnte sich hinterher nicht mehr an alles erinnern, was
geschehen war.

Die Schritte  der beiden Jungen klangen  hohl und geisterhaft. Nahm der

Weg denn überhaupt kein Ende?

Der Lichtstrahl traf plötzlich auf ein rechteckiges Schild, das an zwei Ketten

befestigt von der Decke herabhing. Die Leuchtbuchstaben waren längst erlo­
schen, aber dennoch vermochten Harpo und Karlie zu lesen, was dort stand:

SIE VERLASSEN DECK 27

BITTE BEDIENEN SIE DIE ANTIGRAVSCHALTUNG

NUR UNTER HINZUZIEHUNG EINES

FACHINGENIEURS!

„Da haben wir den Salat!“ fluchte Karlie. „Woher sollen wir einen Fach­

ingenieur nehmen? Wir haben ja nicht einmal einen Ingenieur, der kein Fach
ist!“

Enttäuscht gingen sie einige Schritte weiter. Vor ihnen ragte ein zweitei­

liges, eisernes Tor auf, an dessen rechter Hälfte ein kleiner schwarzer Kasten
hing. Der Strahl der Taschenlampe huschte über mehrere Knöpfe. Sie leuch­
teten   auf.   Darunter   waren   kleine   Schilder   mit   Funktionshinweisen   ange­
schraubt.

„Verstehst du das?“ fragte Karlie. Harpo überlegte eine Weile. Er versuchte

sich daran zu erinnern, was der Grüne vor zwei Jahren getan hatte, als er Har­
po nach Deck 27 führte, aber es gelang ihm nicht. Was TOR ÖFFNEN und
TOR SCHLIESSEN bedeutete, war klar. Wenn man nach OBEN wollte – und
Deck 28 lag oben – mußte man auf AUFSTIEG drücken. Soweit gab es keine
Möglichkeit,   etwas   falsch   zu   machen.   Was   aber   bedeutete   der   rätselhafte
schwarze Knopf unter der Aufschrift ZIEL DECK 00031000?

Karlie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, daß es ordentlich

klatschte. „Bin ich bematscht“, sagte er zu Harpo. „Die Sache ist doch so klar
wie die Brühe, die du uns immer als Bohnensuppe vorsetzt! Damit stellst du
das Deck ein, auf welches du gebracht werden willst!“

Schnell   hasteten   die   beiden   Jungen   zurück.   Sie   informierten   Anca   und

Brim, schulterten dann eilig das Gepäck und liefen sofort den Röhrenweg zu­
rück.

Nervös warteten sie, als Harpo die einzelnen Knöpfe bediente. Zischend

und etwas schwerfällig, wie sie alle bemerkten, öffnete sich die linke Torhälfte
um einen Meter. Dunkelrotes Licht drang heraus. Für einen Moment waren
die Kinder geblendet. Dann sagte Anca erschreckt: „Aber ... aber das ist ja ein
bodenloses Loch!“

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Die Kinder gingen auf die Knie nieder und starrten in die Tiefe. Alle hatten

einen   Antigravlift   benutzt,   als   sie   auf   das   Schiff   gebracht   wurden.   Aber
damals hatte ein Grüner sie an der Hand gehalten, und alles war so schnell
gegangen,   daß   für   Angst   keine   Zeit   blieb.   Daß   der   Antigravlift   aus   einem
bodenlosen Abgrund bestand, war ihnen überhaupt nicht klar geworden.

Bebend starrten sie hinab. Vor ihnen lag ein endloser Schacht, der rund

und glatt war und einen Durchmesser von vielleicht drei Metern hatte. Wenn
man in einen tiefen Brunnen schaut, kann man mitunter in weiter Ferne die
Wasseroberfläche glitzern sehen, und ein hinabgeworfener Stein kündigt ir­
gendwann  durch sein  Aufplatschen an, daß der Brunnenschacht nicht ins
Leere führt. Aber dieser Schacht hier schien ohne Anfang und Ende.

„Kein Grund, in die Hosen zu machen“, faßte sich Harpo als erster. Seine

kleine Schwester hatte sich an ihn geklammert. Er streichelte ihr zärtlich über
das glatte, schwarze Haar. „Die Schwerkraft ist hier aufgehoben. Wahrschein­
lich führt der Antigravschacht quer durch das ganze Schiff. Man kann ruhig
in den Schacht springen und fällt trotzdem nicht nach unten.“

Er zeigte auf die Schalttafel. „Wenn ich hier Deck 00028000 programmiere,

trägt uns der Antigrav nach oben.“

Innerlich fühlte er sich längst nicht so kühn, wie seine Stimme klang. Es

war richtig, was er sagte. Aber würde der Schacht so funktionieren wie er
sollte? Es gab Dinge auf dem Schiff, die nicht mehr funktionierten: Feuer­
stellen, Roboter ...

Anca schüttelte sich. Zweifellos hatte sie ähnliche Gedanken. Auch Brim

schluckte und sah Karlie fragend an, der ebenfalls nicht den Eindruck mach­
te, als sei er von Harpos Worten restlos überzeugt.

Harpo sah ein, daß Worte in diesem Fall wertlos waren. Um zu beweisen,

daß   man   in   diesem   Schacht   tatsächlich   langsam   nach   oben   oder   unten
schweben konnte, stand er auf und drückte so lange den Knopf unter dem
Zählwerk, bis die Skala anzeigte, daß der Antigrav auf Deck 00028000 pro­
grammiert war. Dann warf er seinen Rucksack in den Schacht hinein. Mit
staunenden Augen folgten Anca, Brim und Karlie dem Gepäckstück, das ge­
mächlich nach oben segelte bis es verschwunden war.

„Na?“ fragte Harpo und konnte in seiner Stimme nicht eine dicke Portion

Stolz und Selbstzufriedenheit unterdrücken.

„Ich   habe   keine   Angst“,   sagte   Brim   tapfer   und   ohne   zu   stottern.   Er

verschwand  im Schacht.  Wenige  Sekunden  später  hörten  die anderen  ihn
jauchzen, als er nach oben schwebte und dabei wild mit den Armen ruderte.

„Ich fliege!“ rief er. „Ich fliiieeege! Juchhuuu!“

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Ein Schatten in der Finsternis

Deck 28 unterschied sich von Deck 27 für die Neuankömmlinge so gut wie

überhaupt nicht: Auch hier gab es am Eingang eine Basis der Grünen. Flach­
land erstreckte sich einige hundert Meter weit bis zu aufragenden Hügeln.
Dort standen Bäume, wuchsen Sträucher und Plastikblumen, und ein wenig
landeinwärts   plätscherte   munter   ein   Bächlein,   das   irgendwo   im   Boden
verschwand   und   dort   von   mächtigen   Pumpen   auf   unterirdischen   Wegen
wieder zur Quelle geleitet wurde, wo es erneut aus dem Boden sprang.

Die Kinder schenkten der Basis der Grünen keine große Aufmerksamkeit,

weil sofort zu sehen war, daß hier alles genauso außer Betrieb war wie auf
Deck 27. Sie machten sich deshalb sofort auf den Weg ins Inland, um nach
der anderen Kindergruppe zu suchen.

Weit kamen sie jedoch nicht, denn bald begann es zu dämmern. Die künst­

liche Sonne, die hier die bunte Landschaft mit ihren warmen Strahlen über­
warf, wurde ausgeblendet, als sie das Ende des Decks erreicht hatte.

Gemeinsam schlugen die Kinder auf einer Waldlichtung ein Lager auf. Kar­

lie, der wegen seiner Größe und Stärke das meiste Gepäck getragen hatte,
rollte   Decken   aus   und   organisierte   zusammen   mit   Anca   das   Abendessen.
Harpo, dem die Umgebung nicht ganz geheuer vorkam – was wohl daran lag,
daß er es nicht liebte, in der Dunkelheit ohne die schützenden Wände eines
Wigwams zu schlafen – lief eine Weile ziellos hin und her. Bereits beim Betre­
ten von Deck 28 hatten sie alle laut nach versteckten Kindern gerufen, aber
niemand hatte geantwortet.

Das  war   mehr   als   seltsam,  denn   so   groß   waren   die   Decks   auch   wieder

nicht. Wahrscheinlicher wäre gewesen, daß eines der Kinder dieser anderen
Gruppe den Ruf gehört hätte. Soweit Harpo wußte, betrug die größte Länge
von Deck 27 etwa zehn Kilometer, während die schmalste Stelle zwei Kilome­
ter breit war. Da es relativ wenig Geräusche gab, die eine Stimme verschlu­
cken konnten, und die niedrigen Decken und die seitlichen Begrenzungen
den Schall weiterleiteten, waren Rufe kilometerweit hörbar.

Nach dem Essen legten sie sich hin und schliefen. Karlie, der unbedingt

Wache   halten   wollte,   weil   er   befürchtete,   in   der   Dunkelheit   könne   sich
vielleicht jemand an ihnen vorbeischleichen und auf rätselhafte Weise den
Lift außer Betrieb setzen, nickte nach einer Weile ebenfalls ein und begann
wie ein Sägewerk zu schnarchen. Was wiederum Harpo aus den schönsten
Träumen riß. Er fuhr auf und musterte verstört die dunkle Umgebung.

Unter freiem Himmel war es finster wie in dem schwarzen Loch. Aber – was

war das? Ein Schatten in der Finsternis? Bog dort nicht jemand ganz in der
Nähe   die   dünnen   Zweige   eines   Plastikstrauchs   auseinander?   Betrachteten
nicht bohrende Augen die Schläfer und den einen, der nicht mehr schlief?

Harpo schüttelte den Kopf, als könne er die unheimliche Vision vertreiben.

Er  war  ein Narr. Wer sollte zu dieser Stunde um ihr Lager  schleichen? Es
mußte pure Einbildung sein. Und dennoch ...

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Waren   nicht   Schritte   zu   hören?   Und   dieses   schleifende   Geräusch?   Das

Knacken zerbrechender Zweige?

Harpo   wußte,   daß   Plastikzweige   niemals   knackten.   Einen   echten   Zweig

hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen, geschweige denn, ihn knacken
gehört. Wie kam er nur darauf, daß Zweige knackten, wenn man auf sie trat!
Er  erinnerte  sich,  daß er vor langer  Zeit  auf der Erde einen Film  gesehen
hatte. Ja natürlich, das war’s. Dort hatten Zweige geknackt, als sich Feinde
des Helden aus dem dunklen Wald heranschlichen ...

Mitten in diesen Überlegungen fielen ihm die Augen zu, und der Kopf sank

nach hinten. Er träumte von Robin Hood, der die Armen beschützte und die
feisten Edelleute auf den Burgen bekämpfte. Als er am Morgen aufwachte,
fand   er   sich   eng   gegen   die   Körper   der   Freunde   geschmiegt,   Ancas   kleine
Hand fest umklammernd. Behutsam löste er seine Hand aus Ancas Hand. Sie
schien noch zu schlafen. Aber zog nicht ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht?
Und sah sie ihn nicht mit besonders blanken, fröhlichen Augen an, als sie
erwachte? Auf jeden Fall hatte ihm die Nähe Ancas und der Freunde sehr ge­
holfen, mit der Dunkelheit fertig zu werden.

„Sapperlot!“ schrie Karlie und sprang auf.
Verschlafen wischte sich Anca die Augen.
„Uuuuuaah!“ machte Brim Boriam wie ein Grizzlybär und gähnte.
Anca fragte: „Ist was?“ Harpo schüttelte seine langen Haare und setzte sich

auf.

„Man hat uns beklaut“, stieß Karlie empört hervor. „Seht ihr? Ein ganzes

Brot ist weg, und auch eine von unseren Teeflaschen!“

Erschreckt rief Harpo: „Bist du sicher, daß die Sachen fehlen?“
„Aber Harpo!“ Karlie war entrüstet und stampfte mit dem Fuß auf. „Ich als

unser bester Koch hüte den Proviant wie meinen Augapfel!“

Brim und Anca lachten. „Na, das mit dem besten Koch wollen wir mal links

liegen   lassen“,   grinste   Harpo.   „Aber   wer   sollte   uns   schon   beklauen?   Und
warum?“

„Vielleicht ist es ein hungriges Tier gewesen?“ warf Anca ein.
„Oder ein Grüner?“ meinte Harpo augenzwinkernd.
„Künstliche Tiere mögen kein Brot“, widersprach Karlie energisch. „Und

Tee trinken sie schon gar nicht! Grüne sind mit Batterien zufrieden – glaube
ich.“

„Aber echte?“ Anca sah ihn zweifelnd an. Da es auf der Erde kaum noch

echte Tiere gab, war sie sich nicht sicher, ob richtige Tiere Tee mochten. Oder
zogen sie Nahrungstabletten vor? Irgend etwas mußten sie ja essen.

Harpo   fiel   plötzlich   ein,   was   er   am   Abend   zuvor   beobachtet   zu   haben

glaubte. Nachträglich konnte er aber nicht mehr genau auseinanderhalten,
ob er wirklich etwas gesehen und gehört hatte, oder ob er nur geträumt hatte.
Er erzählte den anderen, was er wußte. Die staunten nicht schlecht.

„Warum hast du uns nicht geweckt?“ fragte Karlie verdrießlich, der Harpo

nicht   abkaufen   wollte,   daß   er   als   Wachmann   eingeschlafen   war   und
obendrein noch einen halben Wald Holz abgesägt hatte. Aber damit kam er

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bei Brim und Anca nicht durch: Daß er schnarchte wie ein Weltmeister, das
wußten sie alle nur zu gut.

„Ich war mir nicht sicher“, sagte Harpo und wurde sogar ein bißchen rot

dabei. „Ich wollte mich nicht lächerlich machen und euch mit irgendwelchen
Einbildungen den Schlaf rauben.“

„Ach, ist doch auch egal“, lenkte Karlie wieder ein. „Ich schlage vor, daß wir

jetzt einmal zünftig baden gehen, im Bach dort drüben. Mensch, Leute: Wißt
ihr überhaupt, daß dies unser erstes Bad im wilden Pionierland ist ...“

Jubelnd liefen die anderen ihm nach, hatten gegen seine langen Beine aber

keine Chance.

Doch der Bach war trocken.
Entsetzt standen die vier Freunde vor dem leeren Bachbett. Am Abend zu­

vor hatte es dort noch so lustig geplätschert. Erst jetzt fiel ihnen auf, daß es
ihnen   vorhin   schon   ungewöhnlich   still   vorgekommen   war.   Natürlich,   das
Murmeln des Baches hatte gefehlt.

„Das ist doch ...“ sagte Anca verblüfft. „Ich glaub’, mein Schwein pfeift!“
„Wwww­wasser ist weg!“ Brim rieb sich die Augen, als dürfe er ihnen nicht

mehr trauen. Aber davon kehrte das Wasser auch nicht zurück.

Harpo biß sich nervös auf die Unterlippe. Es wurde ja wirklich immer ver­

zwickter! Kam es am Ende doch so, wie Thunderclap es mit düsteren Farben
geschildert  hatte?  Stellten die untergeordneten Maschinen nach und nach
die Arbeit ein? Das Wasser war versickert, weil die Pumpen nicht mehr liefen.
Und die Pumpen liefen nicht mehr, weil die Energie ausblieb, mit denen sie
angetrieben wurden.

„Es ist kalt hier“, sagte Anca plötzlich und rieb sich fröstelnd die Arme. „Ich

glaube, die Gruppe, die hier wohnt, ist schon lange weg. Vielleicht sind sie auf
unser Deck hinabgestiegen?“

Auch die anderen meinten nun, daß es lange nicht mehr so warm wie am

Vortag war. Die Sonne strahlte zwar noch immer, aber es kam ihnen so vor,
als hätten die Strahlen an Intensität verloren. Und zog sie nicht ein wenig
dunkler als gewöhnlich ihre Bahn am Himmel des Decks? Und sah sie nicht
sogar kleiner aus als sonst?

Schnell packten Harpo, Anca, Karlie und Brim die Sachen und machten

sich auf den Rückweg zum Antigrav. Sie zweifelten nun nicht mehr daran,
daß auf Deck 28 bald eine Katastrophe ausbrechen würde.

Der Weg führte sie diesmal am Ufer des ausgetrockneten Baches entlang.

Hier  konnten  sie am ehesten damit  rechnen,  auf  Angehörige  der anderen
Gruppe zu stoßen. Sie fanden mehr als hundert leblose Plastikfische, die an
der   trockenen  Landluft   bereits   steif  geworden  waren  und   sich   wie  poröse
Gummiklumpen anfühlten. Harpo steckte einen davon in seinen Rucksack,
um ihn Thunderclap zu zeigen.

An der Basis hatte sich nichts verändert. Ein Eichhörnchen lief zutraulich

auf die Kinder zu und sprang auf Ancas Hand, als das Mädchen sich hinab­
beugte. Das kleine Robotwesen wirkte verstört, als könne es die veränderte
Welt nicht mehr begreifen.

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„Armes kleines Maschinchen“, meinte Anca. Als sie in dem dunklen Loch

verschwanden, um nach einem anderen Deck zu schweben, glaubte Harpo
zwischen den Gebüschen in der Nähe der Basis eine schattenhafte Gestalt zu
sehen, die sich eilig wegduckte.

Aber sicherlich war es nur eine Einbildung.
Deck   00029000:   Hier   war   es   duster   wie   in   Harpos   Hosentasche.   Die

Freunde steckten die Nasen durch die Schachttür und gingen einige Meter
weit.   Harpos   Taschenlampe   blitzte   auf.   Karlie   fluchte   und   fiel   hin.   Als   er
wieder aufstand, hielt er einen Rucksack in der Hand.

„Mann!“ schimpfte er. „Kannst du denn nicht besser aufpassen, Harpo?“
„Ich?“ machte Harpo erschreckt. „Ich habe doch gar nichts ...“
„He, Moment!“ rief Karlie plötzlich. „Ist das etwa gar nicht dein Rucksack,

über den ich gerade gestolpert bin?“

Harpos Lampe warf einen Lichtkegel auf einen grünen Beutel. Ein Namens­

schild baumelte daran. Derjenige, der ihn verloren hatte, trug den Namen
Lori Powitz. Aber Lori Powitz konnte natürlich auch ein Mädchenname sein.

„Hier ist niemand mehr. Wahrscheinlich ist der Beutel auf der Flucht verlo­

ren worden. Wir nehmen ihn mit“, entschied Karlie.

Deck 00030000: Dieses Deck war, wie die Kinder auf den ersten Blick fest­

stellten, noch nicht einmal voll ausgebaut. Ein riesiger schwarzer Raum, der
kein Ende zu haben schien, erstreckte sich vor ihnen. Neben dem Eingang
standen mehrere Baumaschinen und einige hundert Kisten und Materialsta­
pel.

Das Deck wirkte wie eine riesige, leere Blechkiste, war farblos  und roch

nach rostigem Stahl.

Angewidert rümpfte Brim die Nase. „Baust­stelle“, meinte er geringschät­

zig. „Nn­noch nn­nicht fertig!“

„Wollen wir noch weitergehen?“ fragte Anca. Sie begann allmählich unru­

hig zu werden. Was würde sein, wenn sie den Rückweg nicht mehr fanden?
Wenn der Antigrav aussetzte, wie die Pumpen unter dem Bächlein ausgesetzt
hatten? Es war nicht auszudenken!

Was sie am meisten  beschäftigte, war die Frage, wo die anderen Kinder

steckten. Zumindest auf den Decks 28 und 29 hatten welche gelebt, das stand
fest,   denn   Micel   konnte   gelegentlich   die   Gedanken   anderer   empfangen.
Waren sie noch weiter nach oben gefahren? Oder hatten sie den Weg abwärts
genommen und befanden sich schon längst in sicherer Obhut bei Thunder­
clap und den anderen?

Das bekannte Unbekannte

„Ein Deck durchsuchen wir noch“, hatte Harpo vorgeschlagen. Die Überra­

schung   der   Kinder   war   groß,   als   sie   feststellten,   daß   sich   dieses   Deck

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00031000 von allen, die sie bisher besucht hatten, unterschied. Zunächst ein­
mal gab es hier kein freies Land. Sie passierten das Tor der Einstiegsröhre
und   stießen   auf   eine   weitere   Tür.   Im   Gegensatz   zu   denen,   die   sie   bisher
kennengelernt   hatten,   schien   sie   aus  Holz   oder   Plastik   zu  sein.  Sie   besaß
keine Klinke, sondern nur eine kreisrunde, einen Zentimeter versetzte Vertie­
fung, über der ein kleines Schild angebracht war.

DRÜCKEN stand darauf.
Karlie faßte sich ein Herz und preßte seinen Daumen gegen die Scheibe.

Sie gab nach. Sanft schwang die Tür auf. Dahinter lag ein enger Korridor im
Halbdunkel. Vereinzelte Notlichter brannten. Mehr als zwei Dutzend Türen
zweigten von dem Korridor ab, und auf jeder befand sich ein Schild. Aufge­
regt liefen die Freunde den Gang entlang und lasen:

METEORITENKONTROLLE

ASTROGATIONSZENTRALE III

NACHSCHUBDEPOT EINHEIT B­VIII

Das   waren   mehr   als   seltsame   Wortkombinationen.   Keines   der   Kinder

verstand so recht, was die Namen zu bedeuten hatten, aber ein jedes vermu­
tete, daß sich Bedeutsames dahinter verbarg.

„Ob das die Zentrale der Alten ist? „ fragte Anca schüchtern. Ihr kam die

Totenstille unheimlich vor.

Karlie   zeigte  auf   eine   elektrische   Uhr   am  Ende   des  Ganges.   Ihre   Zeiger

standen auf zwanzig nach vier, wie die Uhr auf ihrem Deck.

„Hier ist bestimmt niemand mehr“, vermutete Harpo. Er legte beide Hände

trichterförmig an den Mund und schrie: „Hallo? Ist da jemand? Hallo!“

Keine Antwort. Nun versuchten sie es gemeinsam. Mehrere Minuten lang

bemühten sich die Kinder, eventuelle Bewohner des Decks auf sich aufmerk­
sam zu machen, aber ohne Erfolg. Erschöpft hielten sie inne.

Sie berieten eine Weile, was sie tun sollten. Karlie machte den Vorschlag,

die einzelnen Türen zu öffnen und nachzusehen, was sich in den dahinter­
liegenden Räumen verbarg. Sie hatten ein bißchen Angst vor dem Unbekann­
ten.   Oder   auch   nur   vor   einer   strengen   Stimme,   die   rufen   mochte:
„Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen!“

Aber schließlich zögerten sie nicht länger – und hatten Glück. Bereits die

erste Tür war unverschlossen. Neugierig steckten sie ihre Köpfe durch den
Türspalt. Die Wände wurden von Regalen verdeckt, auf denen unzählig viele
Metallkisten lagerten. Es war ungemütlich kalt in dem Raum, und er besaß
keinerlei Bullaugen, durch die man in den Weltraum schauen konnte.

In der Mitte stand ein hufeisenförmiger Metalltisch, davor ein gepolsterter

Schwenksessel. Auf der Tischplatte lagen allerlei Papiere verstreut.

„Pschscht!“   machte   Brim   plötzlich   und   legte   einen   Finger   quer   vor   die

Lippen. „Hört ihr?“

Die Gruppe erstarrte augenblicklich und horchte. Waren das nicht ...? Na­

türlich, vom Gang her näherten sich Schritte. Atemlos starrten die Kinder zur
Tür, die einen Spalt offen stand. Ein Schatten fiel durch den Türspalt in den

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Raum. Langsam wurde die Tür aufgezogen. Eine kleine Gestalt erschien in
der Türfüllung.

„Ollie!“ stieß Anca überrascht und erlöst hervor und eilte auf den Jungen

zu.

„Wie kommst du denn hierher?“ fragte Harpo verdutzt.
„War mir zu langweilig“, meinte der kleine Oliver, nachdem er sich aus An­

cas Armen befreit hatte. „Da hab’ ich mir gesagt, guckste mal, was die Kum­
pels so treiben.“

„Mann, du hast ‘ne Art, zu antworten“, schimpfte Karlie.
Nach einigem Hin und Her gelang es Harpo und Anca, aus dem kleinen

Oliver herauszulocken, daß er allein zum Antigrav gegangen war und zufällig
Zeuge wurde, wie sie von Deck 30 auf 31 überwechselten. Da er wie ein Fuchs
aufgepaßt hatte, wie die Grünen  den Lift bedienten,  machte er sich keine
großen   Gedanken   über   die   Gefahren   eines   Antigravlifts   und   war   den
Freunden gefolgt.

Nachdem sich die Aufregung über den Neuankömmling gelegt hatte, stu­

dierten sie gemeinsam den Raum. Mißtrauisch näherte sich Ollie den Pa­
pieren, in denen er Rechenaufgaben vermutete. Überrascht erkannte er, daß
es sich um Listen handelte, auf denen jemand etwas mit einer schwer leserli­
chen Handschrift eingetragen hatte.

„Milchpulver­Bestand“, las er mühsam buchstabierend. „He, was soll das

sein?“

„Milchpulver braucht man für Kakao“, erwiderte Anca und hob eine weite­

re Liste auf, während die anderen sich neugierig mit den Regalen beschäftig­
ten. An den Kisten waren Etiketten angebracht.

„Mann, ein Vorratsbunker!“ freute sich Karlie. „Und was es hier alles für le­

ckere Sachen gibt.“

Mit der Zunge über die Lippen fahrend raste er an den Regalen entlang.

„Salami, Eier, Mehl – Kartoffelpuffer!!“

Harpo stöhnte.
„Das erinnert mich daran, daß ich einen ungeheuren Hunger habe“, fuhr

Karlie seufzend fort. „Könnten wir nicht ...“

Er sah sich suchend um, konnte aber keine Kochgelegenheit entdecken.

Einstweilen schob er deshalb ein paar kalte Kartoffelpuffer in den Mund und
kaute begeistert darauf herum.

Harpo, der eine Weile vor dem Tisch­Visiophon gestanden hatte und sich

nachdenklich das Kinn rieb, sagte plötzlich: „Mhmm, sagt mal – kommt euch
das hier nicht irgendwie bekannt vor?“

Die anderen schüttelten die Köpfe. „Wie meinst du das?“ fragten sie.
„Ich weiß nicht“, meinte Harpo achselzuckend. „Aber mir kommt dieser

Raum merkwürdig vertraut vor. Als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte.
Dabei war ich sicher noch niemals hier. Vielleicht gab es mal einen ähnlichen
Raum in einem Film – halt! Jetzt fällt es mir ein!“

Er   klatschte   in   die  Hände   und   stellte   sich   hinter   das   Visiophon.   „Diese

Wand, diese Regale! Das war der gleiche Hintergrund, vor dem der schwarze

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Mann stand, den wir auf dem Bildschirm in der Basis der Grünen gesehen
haben.“

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ja, so war’s. Ich erinnere mich jetzt

genau. Von hier aus hat der Mann versucht uns anzurufen!“

„Klar!“ rief der kleine Oliver. Auch er glaubte, den Raum wiederzuerkennen.

Nur Anca war sich nicht so sicher. Sie meinte, daß es auf dem Schiff sicher­
lich Dutzende von Räumen gab, die diesem hier ähnelten  wie ein Ei dem
anderen.

Der kleine Oliver unterbrach den sich anbahnenden Streit, indem er plötz­

lich einen Zettel schwenkte und krähte: „Ich glaub’, hier hat jemand ‘n Brief
geschrieben!“

„Was?“ Schnell versammelten sich Harpo, Karlie Brim und Anca um den

Kleinen. Tatsächlich! Das Blatt war im Gegensatz zu den anderen nicht mit
Zahlen und einzelnen Worten bedeckt. „Gib her!“ Harpo riß dem Kleinen den
Brief aus dem Hand und las mit gefurchter Stirn vor: „Es hat alles keinen Sinn
mehr.   Das   Schiff   wurde   aus   seiner   Bahn   gerissen,   und   niemand   kann
verhindern, daß es an den Planeten vorbei in die Unendlichkeit rast. Bis Hilfe
von der Erde eintrifft, ist es längst zu spät. Habe versucht, mit der Zentrale
Verbindung aufzunehmen. Aber sie können mich nicht verstehen, weil mein
Visiophon defekt ist.“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Harpo seine Freunde an. Karlie hatte

vor Aufregung die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben, während
Anca rote Flecken auf den Wangen bekam. Nur der kleine Oliver sah zutrau­
lich zu den Großen auf, als erwarte er, daß sie ihm schon alles in einfacheren
Worten erklären würden.

„Aus   den   Lautsprechern   kommen   laufend   Alarmmeldungen“,   las   Harpo

weiter.   „Versuche,   mit   einer   anderen   Station   Verbindung   zu   bekommen,
blieben ohne Erfolg. Niemand meldete sich. Mein Gott, die armen Kinder!
Man kann sie nicht mehr retten! Soeben kam der Befehl zum Verlassen des
Schiffes.   Alle   Männer   sammeln   sich   am   Schleusenausgang   B­XII.   Die
Rettungsboote sind startklar. Ich kann sie nicht erreichen, weil ich zu weit
davon entfernt bin. Mir bleibt nur eine Lösung: Ich nehme meinen Raum­
anzug und gehe durch eine Nebenschleuse in den Weltraum  hinaus. Dort
warte ich auf Hilfe, bis sich Rettungseinheiten von der Erde nähern. Gott steh
mir bei, ich weiß: Was ich vorhabe, ist der reine Selbstmord!“

Harpo fror plötzlich. Hier stand es schwarz auf weiß. Ihre Vermutung war

bestätigt  worden.  Die Alten hatten das Schiff verlassen,  ohne sich  um die
Kinder   zu  kümmern.   Wenn   Fidel  davon  erfuhr,   war   das  Wasser   auf   seine
Mühlen.

Mit   blassem   Gesicht   fragte   Anca:   „Wir   –   wir   sind   wirklich   allein?   Ganz

allein?“ Sie schien es immer noch nicht glauben zu wollen.

Behutsam legte Ollie einen Arm um die Hüfte des viel größeren Mädchens.

„Ich beschütze dich, Pummelchen“, meinte er tröstend. „Du weißt ja, daß ich
dich später mal heiraten will.“

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Die Worte des Kleinen hätten Harpo und die beiden anderen Jungen nor­

malerweise zum Lachen gebracht, aber im Moment war ihnen nicht danach
zumute.

„Halten wir dieses eine mal fest“, sagte Harpo, während er sich ermattet in

den Schwenksessel fallen ließ und den Kopf in  beide Hände stützte: „Das
Schiff stürzt nicht ab!“

„Genau“, meinte Karlie erleichtert. „Aber was bedeutet das für uns?“
„Daß wir eben nicht mit abstürzen“, versetzte Harpo, jetzt wieder ein leich­

tes Lächeln hervorbringend. Er musterte seine Freunde der Reihe nach. „Wir
sind gekommen, um in Erfahrung zu bringen, was wirklich geschehen ist und
wie wir uns helfen können. Die erste Frage ist geklärt. Das zweite Problem
steht noch vor uns. Wollen wir weitergehen?“

Sie entschlossen sich nach einer kurzen Diskussion zur vorläufigen Rück­

kehr auf Deck 27. Thunderclap und die anderen warteten sicher schon auf
sie. Genauere Nachforschungen  konnte man auf später verschieben: etwa,
wohin das losgerissene Schiff trieb ...

Außerdem war eine Rückkehr schon aus dem Grund dringend notwendig,

weil sie nicht wußten, wie es mittlerweile auf Deck 27 aussah. Ollie war zwar
noch kürzlich dort gewesen, aber auch er war seit vielen Stunden auf Entde­
ckungsreise. Die Situation konnte sich schnell verändern. Im Grunde war die
Lage hier oben ziemlich besorgniserregend. Vielleicht stand es auch im Tal
der Wigwams nicht zum besten. Und es war kaum vorstellbar, daß die Zu­
rückgebliebenen sich helfen konnten, wenn die stärksten Kinder nicht bei ih­
nen waren.

Langsam   schwebten  sie im   Antigravschacht  abwärts,  ihrer   alten  Heimat

entgegen.

Eine böse Überraschung

Das unsichtbare Feld der Antischwerkraftlinien umfing die Gruppe wie ein

sanftes   Netz   und   trug   sie   programmgemäß   nach   Deck   27   zurück.   Dort
verharrte   es   regungslos.   Die   Sicherheitsschaltung   verhinderte   die   Ent­
stabilisierung auch dann noch, als mit dem kleinen Oliver längst der letzte
der Freunde zum Einstiegstunnel hinübergerudert war.

Irgendwie war es doch ein schönes Gefühl, wieder die altvertraute Umge­

bung zu erblicken, selbst wenn sie zunächst nur aus einigen Hütten, einem
alten Ziehbrunnen und zwei leblosen, im Staub liegenden Roboterkörpern
bestand.

Ohne sich weiter bei der stillgelegten Basis der Grünen aufzuhalten, mar­

schierte die Fünfergruppe zügig dem Tal der Wigwams zu. Karlie spielte den
Anführer. Da er die längsten Beine hatte, machte er naturgemäß auch die

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längsten Schritte. Die anderen hatten Mühe, ihm zu folgen und forderten ihn
schließlich mehrmals auf, das Tempo zu drosseln.

„Pah!“ machte Karlie verächtlich und sah auf seine Gefährten herab. Für

ihn waren das nur Knirpse. Aber er sah ein, daß es ihnen schwerfiel, Schritt
zu   halten.   „Dabei   schreite   ich   doch   wirklich   nur   ganz   gemächlich   aus“,
murmelte er. Immerhin wurde er für eine Weile langsamer.

Als er sich einmal zu den anderen umwandte, verhielt er allerdings so ab­

rupt mitten im Schritt, daß Brim gegen seinen Bauch prallte und Ollie mit
dem Kopf an Brims Rücken stieß.

„Bist   du   jeck?“   beschwerte  sich  Ollie   und  rieb   sich   die   Stirn.   „Ich  habe

meine   letzte  Versicherungsprämie  noch   nicht   bezahlt!“   Er  verstummte   je­
doch genau wie die anderen, als er Karlies verdutztes Gesicht bemerkte.

„Ich sehe was, was ihr nicht seht“, erklärte Karlie väterlich. „Und das ist –

rot!“ Er starrte grinsend über die Köpfe der „Knirpse“ hinweg nach hinten.
Alle sperrten die Augen auf.

Harpo entdeckte als erster, was Karlie gesehen hatte. Fünfzig Meter hinter

ihnen stand ein Mädchen zwischen den bunten Plastiksträuchern und sah zu
ihnen herüber. Es trug eine rote Bluse und Jeans von der gleichen Farbe. Mit­
tellanges, hellblondes Haar umrahmte ihr Gesicht.

„Zwick mich“, flüsterte der kleine Oliver.
Als hätte das Mädchen diese beiden leise hervorgestoßenen Worte gehört,

machte es eine unerwartete Wendung und sprang seitlich in die Büsche. Sie
tauchte im Blättergewirr unter.

„He, warte doch!“ rief Harpo.
„Ich hole sie“, meinte Karlie und wetzte mit seinen langen Beinen den Weg

zurück. Er verschwand genau an der Stelle im Dickicht, wo sie das unbekann­
te Mädchen gesichtet hatten. Es dauerte eine Weile. Die Gruppe verharrte in
atemloser Spannung.

Dann tauchte er zwischen den Sträuchern wieder auf wie der Turm eines

Unterseeboots. Aber er war allein. Ratlos zuckte er die Schultern.

„Ich habe sie noch aus der Nähe  gesehen“, gab er bedauernd zu, „aber

dann war sie wie vom Erdboden verschwunden.“

„Schon gut“, beruhigte ihn Harpo. „Sicherlich gehört sie zu einer Gruppe

von Kindern, die von einem anderen Deck hierher ins Tal gekommen sind.
Paßt mal auf – wir sehen sie dort gewiß wieder.“

„Warum ist sie denn abgehauen?“ fragte Anca.
„Du   irrst  dich   bestimmt“,   antwortete  Karlie   mit  der  überlegenen   Miene

eines Eingeweihten, der Unwissenden ein Geheimnis erläutern will. „Das war
nämlich gar kein Mädchen. Das war eine Alte!“

„Waaas?“ kam es wie aus einem Munde.
„Na ja“, schränkte Karlie verlegen ein, „vielleicht keine ganz alte Alte. Aber

ich habe ihr Gesicht deutlich gesehen. Die war erwachsen! Mindestens neun­
zehn Jahre alt, vielleicht sogar zwanzig!“ Er sagte das in einem Tonfall, als
spreche er von einer Zweihundertfünfzigjährigen.

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Kopfschüttelnd   meinte   Harpo:   „Wirklich?“   Aber   er   war   mit   seinen   Ge­

danken nicht ganz bei der Sache. Irgend etwas an diesem seltsamen Mäd­
chen   kam   ihm   bekannt   vor.   Waren   es   ihre   Augen   gewesen?   Mein   Gott,
vielleicht spielte ihm seine Phantasie nur einen Streich, aber auf rätselhafte
Weise fühlte er sich jetzt an die brennenden Augen erinnert, die ihn in der
letzten Nacht auf Deck 28 aus dem Dunkel heraus beobachtet hatten. Und
außerdem ...

„Wir gehen jetzt erst mal weiter“, schlug er vor. „Später können wir uns

immer noch um – um das Mädchen kümmern.“

Irgendwie paßte es Harpo nicht, den Ausdruck „Alte“ für die Erwachsenen

zu verwenden. Er war jetzt sechzehn. Schon heute fühlte er sich selbst nicht
mehr sicher, ob er noch zu den Kindern  oder schon zu den Erwachsenen
zählte. Auf jeden Fall würde er eines Tages ein Erwachsener sein. Jeder wurde
erwachsen,  und meist   ging das so schnell, daß  man  gar nichts  davon be­
merkte.

Aber deshalb mußte man doch nicht automatisch ein ganz anderer Mensch

werden? Warum sollte er dann zu seinen Freunden nicht genauso stehen wie
jetzt?

Wenn der kleine Oliver in Harpos Alter kam, würde er selbst schon ein­

undzwanzig sein – und damit nach ihrer heutigen Auffassung unvorstellbar
alt. Irgend etwas stimmte nicht an solchen pauschalen Einordnungen, fand
Harpo. Und je mehr er darüber nachdachte während des Weitergehens, desto
komischer kamen ihm die Wörter „alt“, „jung“, „Kinder“ und „Erwachsene“
vor. Wie kam es überhaupt, daß einige Leute solche Einteilungen für wichtig
hielten? Wer hatte ein Interesse daran? Wollte man mit diesem Blödsinn von
anderen Einteilungen ablenken, die entscheidender waren? Harpo erinnerte
sich daran, was sein Vater ihm einst erzählt hatte: Für ihn hatte es nur zwei
Sorten von Menschen auf der Welt gegeben, nämlich eine kleine Gruppe mit
viel Geld und viel Macht und eine riesengroße andere Gruppe mit wenig Geld
und ohne Macht. Und das hatte ihm eingeleuchtet.

„Es ist wirklich  eigenartig“, murmelte Karlie während des angestrengten

Marschierens durch den Plastikwald, „... diese Alte, dieses erwachsene Mäd­
chen   ...   sie   hatte,   glaube   ich,   richtige   Angst   vor   mir.   Unheimliche   Angst.
Wenn ich ehrlich bin, tat sie mir sogar ein bißchen leid – obwohl sie zu den
Alten gehört.“

Angst? Jetzt rastete etwas in Harpos Gehirn ein. „Ich hab’s“, rief er. „Dieses

Mädchen   hat   Anca   und   mich   in   den   geheimnisvollen   Räumen  hinter   der
Wandung von Deck 27 überrascht, und ich bin sicher, daß sie es auch war,
die mich aus der Dunkelheit angestarrt hat. Sie muß uns gefolgt sein. Aber
warum nur?“

Nachdem sich die Aufregung über diese Entdeckung gelegt hatte, stapften

wieder alle schweigend hinter dem Riesenjungen her.

Also   haben   doch  nicht   alle   Erwachsenen   das   Schiff  verlassen,  überlegte

Harpo. Aber warum nicht? Hatte man das seltsame Mädchen vergessen? Oder

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hatte auch sie es nicht bis zu den Rettungsbooten geschafft, wie der Schwarze
am Visiophon?

Irgendwie war ihm das alles nicht recht klar. Und schon gar nicht konnte

Harpo verstehen, weshalb sich das Mädchen vor ihnen versteckte.

Sie erreichten das Tal der Wigwams. Aber war das überhaupt noch ihr Tal?
„Das ... das kann ich gar nicht fassen“, stöhnte Karlie entsetzt. Er bekam

den Mund vor Überraschung gar nicht mehr zu.

„Ich schnalle ab!“ schrie der kleine Oliver wie verrückt.
„Was ist denn hier passiert?“ rief Harpo mit zitternder Stimme. Er wollte

nicht glauben, was er sah. „Micel! Thunderclap! Lucky!“ schrie er aufgeregt.

„Lonzo! Fantasia! Trompo! Fidel!“ ergänzte seine Schwester mit ängstlicher

Stimme. Ihre linke Hand krallte sich in Harpos Arm.

Niemand antwortete.
Niemand eilte ihnen entgegen.
Die Gruppe schlich in das Tal. Nicht wie ein fröhlicher Haufen, der mit

einem   Sack   voll   aufregender   Geschichten   von   einer   spannenden   Entde­
ckungsreise zurückkehrte, sondern wie ein Rudel geprügelter Hunde.

Je näher sie den Wigwams kamen, desto offensichtlicher wurde, daß sie aus

der Ferne keinem Trugbild aufgesessen waren.

Die Wigwams lagen zerstört am Boden, die Tür zum Vorratsbunker stand

sperrangelweit   offen.   Wer   immer   dies   getan   hatte:   Es   sah   aus,   als   seien
Vandalen durch das Lager gezogen, die alles dem Erdboden gleichgemacht
hatten.

Auf der Erde hätte man einen Orkan für die angerichteten Schäden verant­

wortlich machen können, aber an Bord des Schiffes gab es nichts weiter als
einen sanften Luftzug aus den Ventilatorschächten der Klimaanlage.

„Das ... ist gemein!“ heulte Anca und suchte in den Trümmern. Es gab nicht

eine Zeltstange, die nicht mehrfach gebrochen war, und keinen Fetzen Lein­
wand, der größer war als ein Handtuch. Der Lagerplatz glich einem Trüm­
merfeld, über und über besät mit zerschlitzten Zelt­ und Kleidungsstücken.

Über diese Trümmer einst nützlicher Gegenstände hatte man alle Kisten

und Kartons aus dem Vorratsbunker entleert: Mehl, zerbrochene Hartwürste,
zerteilte Kartoffelpuffer, Erbsen,  Bohnen,  Eipulver, Vitaminpillen, Synthos­
teaks und anderes mehr. Das Mehl hielt die Abdrücke etlicher Füße fest, die
offenbar in das Chaos hineingestampft hatten, um unbrauchbar zu machen,
was noch nicht zerstört worden war.

„Wo sind unsere Freunde?“ Harpo stellte die wichtige Frage. Doch so sehr

sie die nähere Umgebung des Lagers auch absuchten: Sie fanden nicht die
geringste Spur von ihnen. Nicht einmal einen Hinweis oder eine zurückge­
lassene Nachricht.

Harpo überlegte angestrengt. Er fühlte sich überfordert. Dennoch mußten

sie sich rasch etwas einfallen lassen.

„Ich beantrage, daß wir auf der Stelle eine außerordentliche Ratsversamm­

lung  einberufen“,   sagte   er  schließlich  zögernd.  Die  Freunde stimmten   zu.

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Jetzt mußten sie überlegen, wie man aus dieser verfahrenen Lage herauskam.
Einige Meter abseits vom Ort der Zerstörung setzten sie sich ins Gras.

„Wir stehen einem neuen Rätsel gegenüber“, begann Harpo. „Zum ersten

Mal wird unsere Gruppe offen bedroht. Wenn ich das richtig sehe, sind unse­
re Freunde von Unbekannten überfallen und verschleppt worden. Alles ist
zerstört. Wenn wir nicht andere Vorräte entdeckt hätten, müßten wir jetzt so­
gar verhungern.“

„Wir müssen Thunderclap und die anderen befreien!“ forderte Karlie und

schlug mit seinen Riesenfäusten in das künstliche Gras.

„Dazu müssen wir überhaupt erst einmal rauskriegen, wo sie gefangenge­

halten werden“, warf Brim fließend ein.

„Richtig!“ bekräftigte Anca, und der kleine Oliver nickte eifrig.
„In Ordnung“, stimmte Harpo zu. „Wir suchen das ganze Deck ab. Aber wir

müssen dabei vorsichtig sein! Ab sofort darf keiner von uns allein durch die
Gegend strolchen.“ Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, als er sich zu sei­
nen Freunden vorbeugte: „Unsere Feinde können überall lauern. Bewegen
wir uns schlau, wachsam und geräuschlos wie die Indianer auf dem Kriegs­
pfad!“

„Au ja!“ brüllte der kleine Oliver und stieß ein mordsmäßiges Indianerge­

heul aus. Anca warf sich erschrocken auf ihn und wollte ihm den Mund zu­
halten,   aber   Karlies   Riesenhände   hatten   den   Kleinen   schon   erwischt   und
bedeckten fast den gesamten Kopf. Ollie gurgelte nur noch.

Harpo seufzte. Das waren ja wirklich nette Indianer! Wie sollte er ihnen nur

klarmachen, daß es diesmal nicht um ein Spiel ging?

Karlie wurde als erster  wieder  vernünftig.  Er  zischte  heftig: „Ruhe!“ und

zerrte   die   beiden   auseinander.   Kurz   darauf   hielt   er   je   einen   zerzausten
Gegner am Schlafittchen und hielt die Arme weit auseinander.

„Laß mich los, du langer Lulatsch“, zeterte der kleine Oliver und zielte mit

seinen winzigen Fäusten nach Karlies Nase, die allerdings fast einen halben
Meter von ihm entfernt war. Anca machte eine Miene wie ein Kätzchen, das
am Nackenfell hochgehalten wird, und es war für Brim und Harpo nicht ganz
klar, ob sie im nächsten Moment lachen oder weinen wollte. Sie entschied
sich fürs Lachen. Dafür heulte der kleine Oliver auf, als Karlie dessen Auf­
forderung wörtlich nahm und ihn ins Gras plumpsen ließ.

„Ja, ist denn bei euch der Teufel los“, explodierte Harpo. „Ollie, hör sofort

auf zu weinen. Und du auch, Pummelch...“ Er verstummte im letzten Augen­
blick, aber dieser Ausspruch hatte auch so seine Wirkung nicht verfehlt.

„Du   sollst   das   Pummelchen   nicht   immer   Pummelchen   nennen“,   japste

Ollie. „Wo sie mich doch heiraten will!“ Er schniefte gewaltig durch die Nase,
während Anca ihrem Bruder einen giftigen Blick zuwarf.

„Nun hört mal gut zu“, sagte Harpo entschlossen. „Die Leute, die unsere

Wigwams in Fetzen gerissen haben, verstehen absolut keinen Spaß. Wenn die
noch hier in der Gegend sind und uns hören, dann wette ich, daß sie uns ver­
prügeln.   Vielleicht   stellen   sie   sogar   noch   Schlimmeres   mit   uns   an.   Wir

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müssen den Unfug jetzt für ‘ne Weile sein lassen, weil uns das alle in Gefahr
bringt. Klar?“

„Wer hat uns das bloß angetan?“ fragte Brim erneut. Er kam immer noch

nicht darüber hinweg, daß man die Wigwams in Grund und Boden gestampft
hatte und die Freunde verschwunden waren.

„Ob ... sie es war?“ schnüffelte Anca und deutete über die Schulter auf den

Taleingang, wo gerade der Schopf des rotgekleideten Mädchens verschwand.
„Warum verfolgt sie uns denn nur?“

„Sie allein?“ zweifelte Harpo. Das konnte er sich beim besten Willen nicht

vorstellen. Sicher wären Fidel und Fantasia mit ihr fertig geworden, wenn sie
das Lager alleine überfallen hätte. „Nein, nein, das glaube ich nicht.“

„Aber es könnten mehrere Alte gewesen sein, nicht?“ beharrte Karlie stur.

„Ich meine, vielleicht sind noch andere Erwachsene an Bord geblieben? Oder
verrückt gewordene Grüne, die Amok laufen?“

„Mal bloß nicht den Teufel an die Wand“, meinte Anca erschreckt. „Laß

uns lieber überlegen, was wir jetzt tun. Ich schlage vor, daß wir erst mal alles
untersuchen, was hier rumliegt. Vielleicht können wir doch noch was davon
gebrauchen. Und wenn es nur für ein Mittagessen reicht. Ich habe nämlich
einen unheimlichen Hunger!“

„Bravo!“ rief Karlie.
„E­e­endlich ein vernünftiger V­vorschlag“, fand Brim.
„Und anschließend suchen wir gemeinsam die anderen“, stimmte Harpo

zu. „Und wenn wir jeden Stein einzeln umdrehen müßten: Wir werden sie
finden!“

Die Kinder beendeten die Konferenz, weil keine anderen Wortmeldungen

mehr kamen. Sie machten sich daran, den Trümmerhaufen nach brauchba­
ren Überresten zu durchwühlen.

Trauriger Abschied und fröhliches Wiedersehen

Als sie von der Suche in das Tal der Wigwams – das sie jetzt schon als das

„Tal der Trümmer“ bezeichneten – zurückkehrten, hoffte Harpo insgeheim,
daß sich alles als böser Spuk erweisen würde. Daß im Lager wieder Leben
herrschte, daß die Wigwams wieder aufgebaut wären und Thunderclap und
Fidel fröhlich winkten.

Aber die Wirklichkeit sah leider anders aus. Die traurigen Überreste der

Zerstörung lagen noch immer so da, wie sie sie vor Stunden verlassen hatten.

Sie hatten Deck 27 von Norden nach Süden und von Westen nach Osten

durchkämmt. Und doch hatten sie keine Spur von den Verschwundenen ent­
decken können. Der Plastikwald schien sie und die geheimnisvollen Feinde
verschluckt zu haben.

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Wahrscheinlicher war allerdings, daß sie der Antigravlift verschlungen und

in unbekannten Decks wieder ausgespuckt hatte. Abgesehen von einigen Ro­
bottierchen hatten sie nur ein einziges Lebewesen hin und wieder in der Fer­
ne entdeckt: jenes erwachsene Mädchen, das ihnen wie ein Schatten folgte
und   immer  vorsichtig   an ihren   Fersen  klebte,  gelegentlich  durch  das  auf­
blitzende Rot ihrer Kleidung signalisierend, daß es noch in der Nähe war.

Die Einsamkeit und das Trümmerfeld bedrückte die Gruppe. Hier konnten

sie nicht bleiben. Außerdem mußten sie sich Lebensmittel besorgen. Und auf
gar keinen Fall wollten sie ihre Freunde für immer abschreiben. Sie faßten
den Entschluß, Deck 27 zu verlassen.

„Haben wir alles?“ fragte Karlie. Die Frage war eigentlich überflüssig, denn

er hatte selbst am schärfsten darüber gewacht, daß sie jeden noch verwertba­
ren Krümel von einem Kartoffelpuffer einpackten.

Schweigend nahmen die Kinder ihre Rucksäcke und machten sich auf den

Weg. Alle hatten ein komisches Gefühl dabei, als sie zum letzten Mal durch
den Plastikdschungel gingen. Dieses Deck war für sie alle eine Art zweiter
Heimat geworden, in der sie jeden Strauch und jeden einzelnen Felsen kann­
ten. Und jetzt mußten sie sie unter sehr traurigen Bedingungen aufgeben.

„Fräulein Unbekannt folgt uns immer noch“, meldete Karlie, der zurückge­

schaut hatte.

„Sie wird sich nun bald entscheiden müssen, ob sie mit uns kommen oder

ganz allein hier bleiben will“, meinte Harpo. Er konnte das seltsame Verhal­
ten der Verfolgerin nicht verstehen. Ob sie vielleicht krank war, so wie Lucky?

„Wir hätten eine Nachricht hinterlassen sollen“, meinte Anca.
Und   Brim   fügte   hinzu:   „F­für   den   F­fall,   daß   sich   die   anderen   al­leine

befreien und zurück­k­kommen.“

„Keine schlechte Idee“, sagte Harpo. „Laßt uns ...“
Aber dann fiel ihm ein, daß sie ja selber noch nicht wußten, wohin sie ge­

hen wollten. Was sollten sie ihren Freunden also mitteilen? Er äußerte seine
Bedenken laut.

„Und außerdem“, schloß sich Karlie an, „können auch die Leute zurück­

kommen,   die   alles   kaputtgeschlagen   haben.   Denen   würden   wir   mit   einer
Nachricht verraten, wo wir uns aufhalten.“

„Ich weiß was Besseres“, meldete sich nun Anca. Sobald wir ein neues Zu­

hause gefunden haben, bringen wir einen Hinweis auf der Basis der Grünen
an.   Irgendwas,   das   unsere   Freunde   verstehen.   Uns   wird   schon   etwas
einfallen. Thunderclap ist im Entschlüsseln von Geheimschriften ganz große
Klasse!“

Harpo dachte daran, daß die Anzeige des Antigravlifts auch jedem Verfolger

anzeigen konnte, wohin sie unterwegs waren. Aber nein, das stimmte nicht.
Fremde   konnten  nur   mit  dem   Lift   auf  Deck   27   gelangen  –   und  mit   ihrer
Ankunft löschten sie die letzte Anzeige des Antigravs.

„Also eines wundert mich“, grübelte der kleine Oliver halblaut.
„Und?“ fragte Anca nach.

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„Der Rollstuhl! Thunderclaps Elektroauto! Wo ist das Ding geblieben, he?

Ich meine, es is’ doch ungeheuer schwierig, das Fahrzeug mittenmang durch
das Gestrüpp zu kutschieren.“

„Mensch, Ollie“, lobte Harpo, „du bist ja heute richtig clever!“
Daß sie im unverwüstlichen Plastikgrün keine Spuren gefunden hatten, war

nicht   weiter   verwunderlich.   Aber   daß   der   Rollstuhl   ebenso   fehlte   wie   die
Freunde,   gab   ihnen   wirklich   zu   denken.   Denn   es   existierte   nämlich   kein
durchgehend befestigter Weg vom Tal der Trümmer zur Basis der Grünen
und zum Lift! Schwammiger Kunstsand machte weite Wegpassagen für einen
Rollstuhlfahrer nahezu unpassierbar. Darüber hatte sich Thunderclap mehr
als einmal lautstark beklagt. Gewiß, man konnte den Jungen tragen, er wog ja
nicht sehr viel. Aber warum sollte man sich die Mühe gemacht haben, auch
den schweren Rollstuhl mitzuschleppen? Das war doch nicht eben typisch
für Leute, die sonst alles kaputtmachten.

An der Basis der Grünen machten sie halt. Bislang hatten sie nur den Ge­

danken, das Deck verlassen zu müssen, auf der Suche nach ihren Freunden
und nach Nahrung. Doch langsam wurde es Zeit, einen Plan zu erstellen, wie
die Suche organisiert werden konnte.

Das zweite Problem war insofern gelöst, da sie ja bereits ein Vorratslager

gefunden hatten, auf das sie nach Belieben zurückgreifen konnten. Wenn es
nicht in der Zwischenzeit ebenfalls verwüstet worden war. Aber wo sollten sie
mit der Suche nach den Verschwundenen ansetzen? Sie waren nur zu fünft.
Gewiß: Harpo, Karlie und Brim konnten nicht eben als schmächtig bezeich­
net werden – und es fehlte ihnen auch nicht an Mut. Das Dumme war nur,
daß   sie   eigentlich   gar   keine   Vorstellungen   von   ihren   Gegnern   hatten.
Vielleicht   waren   drei   kräftige   Jungs   nicht   genug,   um   die   Gefangenen   zu
befreien. Was dann?

Unschlüssig hatten sie ihre Lasten neben den leblosen Grünen niedergelegt

und warteten  darauf,  daß einem von ihnen ein genialer Einfall  kam. Aber
wenn   man   auf   so   etwas   angewiesen   ist,   kann   man   meistens   sehr   lange
warten ...

„Das führt doch alles zu nichts, wenn wir uns hier die Beine in den Bauch

stehen und Löcher in die Luft stieren“, sagte Harpo schließlich. Er hatte ein
bißchen Angst davor, daß der anfangs vorhandene Schwung, der heilige Zorn
über die zerstörten Wigwams und die verstreuten Speisen und die entführten
Freunde   bei   dem   untätigen   Herumsitzen   schnell   wieder   verpuffte.   „Wir
müssen ganz fest dran glauben, daß Manitu uns beisteht!“

„Uff!“   bestätigte   Karlie.   „Der   schickt   uns   jede   Menge   Krieger   aus   den

Ewigen Jagdgründen, wenn’s brenzlig wird. Aber die brauchen wir gar nicht.
– Sollst mal sehen, wie ich unter den Brüdern aufräume, wenn ich sie erwi­
sche.“

Harpo sah etwas zweifelnd auf den dürren Riesen, aber Karlies Einstellung

gefiel ihm.

„Wenn man mich reizt“, knirschte der kleine Oliver, „kann ich ein Schwein

sein!“ Er trommelte mit seinen winzigen Fäusten auf seine Hühnerbrust und

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demonstrierte mit gefletschten Zähnen, tänzelnden Schritten und schnellen
Haken einem Schattengegner, wie ernst er es meinte.

Alle lachten. Der kleine Mann in der Lederhose als Cassius Clay des ein­

undzwanzigsten Jahrhunderts – das war denn nun doch zu lustig.

„Na gut“, sagte Harpo lachend. „Brechen wir also auf. Da wir die Decks 28

bis 31 schon kennen, sollten wir uns vielleicht mal um die darüber kümmern.
Was meint ihr?“

Alle   waren   Harpos   Meinung   und   griffen   nach   ihrem   Gepäck.   Ein

kratzendes Geräusch ließ sie mitten in der Bewegung verharren.

Was war das? Mit gefurchter Stirn ließ Harpo seinen Rucksack wieder sin­

ken und blickte zu der Hütte hinüber, in der bis vor wenigen Tagen noch die
Robottierchen gehaust hatten.

„Habt ihr das auch gehört?“ flüsterte Karlie.
„Vielleicht ist eins von den Tieren zurückgeblieben“, vermutete Anca und

wandte sich dem Einstieg der Röhre zu.

„Nehmt mich mit“, piepste eine dünne Stimme aus der Hütte.
Mit einem kleinen Überraschungsschrei warf Anca ihr Gepäck zu Boden

und rannte zu der Hütte. Ollie folgte ihr wie ein Sprinter bei einer Olympiade
und hätte sie vielleicht noch eingeholt, wenn er nicht über einen Stein gestol­
pert wäre. So bohrte er seine Nase in die Erde und schimpfte wie ein Rohr­
spatz.

„Trompo!“ riefen die Kinder wie aus einem Munde.
Anca flitzte in die Hütte und kam Sekunden später mit dem winzigen Spiel­

kameraden auf dem Arm zurück. Sie drückte ihn fest an sich, was dem Minia­
tur­Elefanten sichtlich gefiel. Er schnurrte wie ein Kätzchen und kitzelte mit
seinem kleinen Rüssel vor Begeisterung Ancas Näschen.

„Wo hast du bloß gesteckt?“ tadelte Anca Trompo. Nachdem sie ausgiebig

mit ihm geschmust hatte, entließ sie ihn aus ihren Armen. „Du humpelst ja!“
stellte sie dann erschrocken fest. Trompo zog ein Bein leicht nach. „Wie ist
denn das passiert?“

„Sie  haben Steine  nach  mir   geworfen“,  klagte  das  kleine  Wesen  traurig.

„Deshalb habe ich mich auch versteckt.“

„Wer   hat   das   getan?“   fragte   Karlie   und   begann   drohend   die   Fäuste   zu

schwenken.

„Die Fremden“, trompetete Trompo schüchtern.
Alle redeten jetzt durcheinander, wollten weitere Einzelheiten wissen.
„Dann weißt du also, was geschehen ist, während wir weg waren, Trompo?“

setzte sich Harpo schließlich mit lauter Stimme durch. Trompo deutete ein
Nicken an. „Seid jetzt mal alle ruhig! Trompo soll berichten!“

Und dies war Trompos Geschichte:
Sie waren am Eingang des Tals aufgetaucht, am frühen Morgen nach dem

Aufbruch der Expedition. Entweder waren sie im Dunkeln aus dem Antigrav­
lift geklettert – oder sie hatten bereits die Nacht im Plastikwald verbracht. Auf
jeden Fall überraschten sie die zurückgebliebenen Talbewohner.

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Ungefähr zwanzig Jungen und Mädchen im gleichen Alter wie die Kinder

aus dem Wigwamtal standen plötzlich vor den Schläfern, als diese die Augen
aufschlugen.

Im ersten Moment kam es noch nicht zu offenen Feindseligkeiten, obwohl

sich vor allem Thunderclap maßlos über den Anführer der Fremden ärgerte,
der arrogant seine eigenen Leute wie auch die Talbewohner herumzukom­
mandieren begann.

Er befahl, daß ein gutes Essen für ihn und seine Leute gemacht werden

solle und gab Fidel einen heftigen Knuff, als es seiner Meinung nach nicht
schnell genug ging. Fidel wollte sich zunächst auf den Fremden stürzen, den
seine Kameraden Big Tom nannten, aber Fantasia hielt ihn zurück.

Big Tom grinste nur. Im Gegensatz zu seinem großartigen Namen war er

kleingewachsen, aber dabei untersetzt. Er war vierzehn oder fünfzehn Jahre
alt und hatte ein puppenhaftes, weißes Gesicht, das einen deutlichen Gegen­
satz zu seinem muskulösen Körper bildete. Er schien so nervös zu sein, daß er
bei   jeder   Gelegenheit   an   seinen   Fingernägeln   kaute.   Eine   Weile   später
schimpfte er, weil kein Feuer vorhanden war, nannte die Talbewohner eine
„faule Bande“ und machte sich abwechselnd über Micels kurze Ärmchen und
Thunderclaps Rollstuhl lustig. Zu diesem Zeitpunkt lag bereits offene Feind­
schaft zwischen den Talbewohnern und den Neuankömmlingen in der Luft.
Aber Thunderclap und die anderen wußten, daß sie gegen die plötzlich auf­
getauchte Obermacht keine Chance hatten. Also beherrschten sie sich so gut
sie eben konnten und hofften darauf, daß die Fremden von selbst bald wieder
abziehen würden.

Die   schienen   aber   mit   keinem   Gedanken   diese   Absicht   zu   haben.   Zu­

mindest Big Tom nicht. Die anderen Jungen und Mädchen aus seiner Gruppe
kuschten vor ihm oder schienen keine eigene Meinung zu haben.

Trompo hatte sich – bereits von Anfang an nichts Gutes ahnend – beim Er­

scheinen der Fremden versteckt. Dennoch entdeckte ihn einer der Jungen
zwischen den Plastikgräsern.

„Vertreibt das Mistvieh“, ordnete Big Tom an, worauf seine beiden eifrigs­

ten Gefolgsleute damit begannen, Steine nach Trompo zu werfen. Es gelang
dem  kleinen  Wesen zu entfliehen,  aber  es  wurde  am Bein verletzt. Wahr­
scheinlich  wäre es ihm noch schlechter ergangen,  hätten sich nicht  Fidel,
Fantasia und Micel zwischen die Steinwerfer gestürzt. Die Folge war eine aus­
gewachsene Keilerei.

Und   gerade   in   diesem   Augenblick   kehrten   Lonzo   und   Lucky   von   ihrer

Schatzsuche zurück.

„Ein   Grüner!“   schrie   Big   Tom   über   das   Getümmel   hinweg.   „Los,   Jungs,

greift ihn euch und zerlegt ihn!“ Seine treuesten Anhänger ließen sofort das
Prügeln sein und rannten Lonzo entgegen. Sie trugen große Eisenstangen in
den Händen – die hatten sie schon mit ins Lager gebracht. Ihre Absicht war
unverkennbar. Der blanke Haß stand in ihren Augen, der durch die anfeuern­
den Rufe Big Toms noch geschürt wurde.

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Lucky wurde roh zur Seite gestoßen, ebenso Micel, der sich den Jungen in

den Weg stellte.

„Es ist kein Grüner, sondern unser Freund Lonzo!“ protestierte Micel em­

pört, als er sich vom Boden aufgerappelt hatte und sah, welche Gefahr Lonzo
drohte.

„Um so schlimmer für ihn – und für euch“, drohte Big Tom zähneknir­

schend. „Wir dulden keine Spione! Das Schiff gehört jetzt mir und meinen
Leuten. Na los, worauf wartet ihr noch?“

„Nicht so hastig, Seeleute“, begrüßte Lonzo die Angreifer. „Wir fanden Ju­

welen und kostbares Geschmeide. Der Piratenschatz ist für alle da!“

Der erste Junge holte mit der Eisenstange zum Schlage aus.
Lucky war bei der Rempelei ins Gras gefallen. Für einen kleinen Moment

sah er so aus, als wolle er in Tränen ausbrechen.

Dann geschah etwas Seltsames mit ihm.
Trompo war sich seiner Sache so sicher, weil er zu diesem Zeitpunkt genau

in Luckys Augen geblickt hatte.

Und die wurden jetzt so geistesabwesend wie die von Micel, wenn er ver­

suchte, Gedanken zu lesen. Luckys Pupillen nahmen einen goldenen Farb­
schimmer an.

Das war das letzte, was Trompo von Lucky, Lonzo Fantasia, Thunderclap,

Micel und Fidel sah.

Im nächsten Moment waren sie alle wie vom Erdboden verschluckt.
Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Trompo sah noch, daß die Fremden erschreckt und ratlos zurückblieben.

Sie waren so verwirrt, daß sie ihn gar nicht weiter verfolgten. Und so war
Trompo durch den Wald geirrt, hatte die Steppe durchquert und hatte sich in
der stillgelegten Basis verkrochen wo die Tür der Hütte hinter ihm zugefallen
war.

Die gläserne Sternenkuppel

Atemlos hatten die Kinder den Bericht ihres kleinen Gefährten angehört.

Kaum   einmal   unterbrachen   sie   ihn   durch   Zwischenfragen.   Als   Trompo
schließlich endete, dauerte es eine ganze Weile, ehe sie die Sprache wieder­
fanden.

„Dann hat man unsere Freunde ja gar nicht gefangengenommen“, stellte

Harpo erleichtert fest. Im Grunde fühlte er sich recht erleichtert, gleichzeitig
aber   auch   wieder   beunruhigt   durch   das   rätselhafte   Verschwinden   der
Gruppe. Ob Trompo am Ende geflunkert hatte, wie er es sonst so gern tat?
Nein, eigentlich klang alles echt. Und die Angelegenheit war so ernst, daß
sich auch Trompo keinen Spaß erlauben würde. Aber trotzdem: Hatte man je
davon gehört, daß sich Menschen einfach in Luft auflösten?

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„Sicher stecken die Alten dahinter“, vermutete Karlie mit gerunzelter Stirn.
„Quatsch“, meinte Anca. „Wenn irgend etwas nicht zu erklären ist, müssen

bei dir immer die Alten dahinterstecken, Karlie. Die können auch nicht zau­
bern.“

„Hast du vielleicht eine bessere Erklärung?“ fragte Karlie mit zusammenge­

kniffenen Augen.

„Pah“, machte Anca verächtlich. „Muß ich gar nicht haben. Ich finde es nur

blöd, daß du dir die Sache so einfach machst.“

„Karlies   Vermutung   ist   immerhin   nur   eine   von   vielen   möglichen   Erklä­

rungen“,   mischte   sich   Harpo   ein.   „Aber   ich   finde   auch,   daß   wir   die
Erwachsenen nicht überschätzen sollten. Und außerdem sind sie ja gar nicht
mehr an Bord, das weißt du doch, Karlie.“

„Das ist nur eine Vermutung“, verteidigte sich der Riesenjunge. „Oder hast

du schon vergessen, daß uns eine von ihnen verfolgt, seitdem wir Deck 27 be­
treten haben? Und vielleicht sogar schon länger?“

Was   sollte   man   darauf   sagen?   Karlie   hatte   recht.   Es   gab   keinen

stichhaltigen   Beweis   dafür,   daß   wirklich   alle   Erwachsenen   das   Schiff
verlassen hatten. Der gefundene Brief mußte nicht in allen Punkten stimmen.
Schließlich   hatte   der   schwarze   Mann   zuletzt   keinen   Kontakt   mehr   zur
Zentrale gehabt.

„Aber was haben Luckys Augen mit diesem rätselhaften Verschwinden un­

serer Freunde zu tun?“ fragte Harpo das elefantenähnliche Zwergwesen. Ihm
war aufgefallen, daß Trompo diese doch eigentlich belanglose Einzelheit für
bedeutungsvoll hielt.

„Ich weiß nicht“, quietschte Trompo. Um ihn besser verstehen zu können,

hatten sich die Kinder lang auf den Boden gelegt. „Aber mir ist niemals etwas
Ähnliches an Lucky aufgefallen. Und da es das letzte war, was ich von den
Verschwundenen sehen konnte, mochte ich es nicht verschweigen.“

War irgend etwas Besonderes mit Lucky? Keinem aus der Gruppe war bis­

her die Idee gekommen, daß ihr Lucky vielleicht ähnliche Talente besaß wie
der Gedankenleser Micel. Für sie war er bisher ein Spielkamerad gewesen,
den man mit ganz einfachen Dingen glücklich machen konnte. Sie wußten
alle, daß Lucky geistig behindert war.

Aber selbst wenn er wie Micel die Gedanken anderer Leute lesen konnte, so

erklärte das nicht im geringsten, weshalb die Freunde sich vor den Augen
Trompos in Luft aufgelöst hatten.

„Wo sollen wir denn nun suchen?“ fragte Anca kläglich. Die anderen fühl­

ten genauso. Die Erwachsenen, die Grünen oder andere Kindergruppen als
Gegner, die einen Überfall unternommen und Gefangene gemacht hatten –
das wäre schlimm gewesen. Aber zumindest hätte man gewußt, daß alles mit
rechten Dingen  zuging. Man hätte etwas unternehmen können. Aber  jetzt
war alles noch geheimnisvoller als vorher.

„He, Trompo“, flachste Anca, „jetzt verdrehst du aber die Augen wie Micel!“
Trompo schrak auf, als sein Name genannt wurde. Verwirrt schüttelte er

den Rüssel, als wolle er einen Traum verscheuchen.

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„Deck   Nummer   null“,   flüsterte   Trompo   plötzlich   mit   völlig   veränderter

Stimme.

„Klar,   Kumpel“,   beeilte   sich   der   kleine   Oliver   zu   versichern,   obwohl   er

keine Ahnung hatte, was jetzt wieder los war.

„Bitte?“ fragte Harpo.
„Keine Fragen stellen“, sagte Trompo in dem gleichen seltsamen Tonfall. Er

stellte sich auf die Hinterbeine. „Deck Nummer null. Da müssen wir hin!“

„Z­zum D­deck n­null?“ Brim machte runde Augen. Und Harpo, der zum

ersten   Mal   hörte,   daß   es   ein   solches   Deck   überhaupt   gab,   fragte:   „Aber
warum denn, beim Jupiter?“

„Deck null“, wiederholte Trompo und begann, sich langsam in Bewegung

zu setzen. „Keine Zeit verlieren. Schnell!“

„Na  schön“,  meinte  Harpo   achselzuckend  und  hob   sein  Gepäck  auf.  Er

winkte den anderen, ihm zu folgen. „Er wird schon seine Gründe haben.“

„Is’  doch sowieso schnuppe und schnurzpiepe, wo wir anfangen“, krähte

der kleine Oliver.

Sie folgten Trompo auf dem Fuße, der die Richtung zum Antigravschacht

einschlug, ohne sich dabei umzudrehen.

Mit der Bedienung kamen sie inzwischen so gut zurecht, daß es keine über­

flüssigen Fragen mehr gab. Harpo stellte im Vorwahlfeld Deck 0000000 ein,
fragte sich aber insgeheim, ob das überhaupt einen Sinn haben konnte. Si­
cherlich würde es ein Deck mit der Nummer 1 geben. Aber „null“ hieß doch
„nichts“. Wie konnte man ein „Etwas“ mit einer Null bezeichnen? Dann kam
ihm ein Gedanke. Es hieß ja „Deck null“. Was immer sich auch dort befinden
mochte – es war ein Deck!

„Nun bleibt Fräulein Unbekannt doch allein zurück“, stellte Karlie schau­

dernd fest. Sie schauten durch die Einstiegsröhre in die Plastiklandschaft ih­
res Heimatdecks. Adieu, Deck 27, dachten sie, du siehst uns wohl niemals
wieder. Das erwachsene Mädchen war nirgendwo zu entdecken.

„Die Anzeige wird ihr verraten, wohin wir gefahren sind“, erklärte Harpo.

Er hatte ein ungutes Gefühl, wenn er daran dachte, daß das Mädchen nun
ganz allein hier unten war. „Wenn sie will, kann sie uns folgen.“

Brim, der sich wie meistens bei Gesprächen im Hintergrund hielt, war der

erste, der seinen Fuß über den Abgrund setzte. Vorsichtig probierte er aus, ob
das Kraftfeld noch vorhanden war. Er spürte den Widerstand und trat in den
von rotem Licht erhellten Schacht hinein. Winkend segelte er nach oben.

Ollie folgte ihm so ungestüm, daß er im Kraftfeld einen Purzelbaum schlug

und den ganzen Weg in einer sanft ansteigenden Spirale zurücklegen mußte.
Da mochte Trompo auf seinem Arm noch so lautstark quietschen. Es half ihm
nichts, er mußte die Drehungen  mitmachen.  Hoffentlich  besitzt er keinen
empfindlichen Magen, dachte Harpo.

Harpo, Anca und Karlie folgten dicht an dicht und waren dazu verurteilt,

die ganze Zeit über des kleinen Olivers Klagelieder mitanzuhören.

„Mensch, ist mir schlecht!“
„Bin doch kein Kunstflieger!“

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„Das is’ aber gar nicht gut für meine Organe! Eiwei!“
„Wo  ich   sowieso   der  kränkste  Passaschier   von  diesem   ollen   Raumschiff

bin!“

„Ich protestiere! Das rollt einem ja sämtliche Fußnägel auf!“
„Mein Jott, Justav!“
Lachend   hielten   sich die anderen  die Ohren  zu.  Es war  eine sehr  lange

Fahrt bis zum Deck null. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto stiller wurde ihr
trudelnder Mitreisender. Und als sie Deck null endlich erreichten und zur
Plattform hinüberruderten war er ganz verstummt – dafür aber ganz grün im
Gesicht.

Mitleidig halfen Harpo und Karlie dem Kleinen auf die Plattform. Trompo

sprang  seinem  lebenden  Karussell  aus  den  Armen,  drehte  sich  dann  aber
noch mehrmals benommen um seine eigene Achse, ehe er stillstand.

„Kommt“, trompetete er schließlich, als er sich gefangen hatte. Er sprach

immer noch mit dieser völlig veränderten Stimme, die außer Harpo bisher
niemandem aufgefallen zu sein schien. Er eilte die glatte Metallröhre entlang,
die auch hier oben die Verbindung zwischen dem Schacht und dem eigentli­
chen Deck herstellte.

Der   Tunnel   wurde   von   Lampen   grellweiß   erleuchtet.   Nach   einigen

Schritten fiel den Kindern noch etwas auf, das anders war als auf den bisher
besuchten Decks. Der Tunnel führte nicht ins Freie, sondern endete in einer
Sackgasse. Eine glatte Metallwand verhinderte jedes weitere Vordringen ins
Unbekannte.

„Was nun?“ fragte Karlie ratlos.
„An der Seitenwand muß sich eine schwarze Platte befinden“, erläuterte

Trompo. „Man kann sie mit bloßem Auge nicht sehen. Aber fühlen kann man
sie.“

Die Kinder musterten die fragliche Wand, die jedoch trotz der hellen Be­

leuchtung   glatt   und   fugenlos   wirkte.   Schwarze   Platte   war   gut.   Der   ganze
Tunnel bestand aus schwarzem Metall.

„Karlie“, meldete sich nun wieder Trompo. „Du bist der Größte. Du mußt

in Kopfhöhe die Wand abtasten, verstehst du?“

„Hier ist was!“ rief Karlie freudig.
„Du mußt den Daumen deiner rechten Hand auf die Platte legen“, piepste

Trompo. Er sprach auf einmal wieder mit seiner alten Stimme, und das ließ
Harpo aufhorchen. Was hatte diese Veränderung zu bedeuten? Aber jetzt war
keine Zeit für neugierige Fragen. Etwas hatte ihn mit aller Kraft gepackt. Es
war wie Jagdfieber, als sei hinter diesem Gang etwas verborgen, das für sie
alle sehr wichtig war.

Karlie wich  zurück.  Mitten in  der fugenlosen  Stirnwand bildete sich ein

schnell wachsender Spalt.

„Hiiiinein!“ jubelte Harpo.
Das ließen sich die anderen nicht zweimal sagen. Hinter ihnen schloß sich

der   Spalt   so   geräuschlos   wie   er   sich   geöffnet   hatte.   Für   einen   Moment
standen sie wie gelähmt in der neuen Umgebung. Damit hatten sie nicht ge­

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rechnet! Nein, dies war kein gewöhnliches Deck mit Plastikpflanzen, Sand,
Felsen und einer Kunstsonne ...

Eine sanfte, indirekte Beleuchtung tauchte den riesigen Raum in ein mattes

blaues   Licht.   Vor   ihnen   ragten   Säulen   aus   dem   Boden,   die   aussahen   wie
Baumstümpfe, nur natürlich ganz glatt, eben und rund. Sie endeten in Hüft­
höhe und ließen dort Hebel, Schalter, Knöpfe und blinkende Lichtaugen her­
vortreten.   Auch   seitlich   waren   in  den  Säulen  Instrumente   verborgen,  und
davor sah man Sessel aus schwarzem Kunstleder, deren blinkende Metallfüße
mit dem bunten Glasmosaik des Bodens eine Einheit bildeten. Diese Einzel­
heiten bemerkten Harpo und seine Freunde aber erst auf den dritten oder
vierten Blick.

Was sie in stiller Bewunderung und mit offenen Mündern verharren ließ,

war die Decke des großen Raumes. Sie bestand aus einer gewaltigen gläser­
nen Kuppel, die wie die Hälfte einer Kugel den Raum abdeckte. Wären nicht
die winzigen roten Lichtfäden gewesen, die diese Rundung in Zonen unter­
teilte wie die Meridiane auf Landkarten und Globen von der Erde, hätte man
meinen können, daß der Raum überhaupt keine Decke besaß und direkt in
den Sternenhimmel hineinragte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben sahen die Kinder den funkelnden Glanz

der Sterne ohne den Filter einer Dunstglocke aus Staub und Abgasen. Die
Raumfähre,  die sie von  der Erde  einst   abgeholt   hatte, hatte  keine Fenster
besessen, und seither war ihnen nichts anderes unter die Augen geraten als
das unnatürliche Innenleben von Deck 27.

„Die Hauptzentrale!“ hauchte Harpo ergriffen. Er mochte sich überhaupt

nicht losreißen von dem Anblick der zahllosen Lichtpünktchen in der weiten
Schwärze über ihnen. Diese winzigen weißen Lichter waren Sonnen, die nur
deshalb so klein aussahen weil sie sich in unvorstellbarer Ferne befanden.
Dabei mochten die meisten so groß wie die Sonne sein, deren Licht die Erde
erreichte, manche sogar viel, viel größer.

Und ihr Raumschiff trieb als eine Miniaturwelt in diesem Sternenraum, los­

gerissen von der heimatlichen Sonne. Ein Erwachsener, der für diese Arbeit
geschult worden war, hätte ihnen jetzt vielleicht anhand der roten Leucht­
fäden auf der gläsernen Kuppel sagen können, welchen Kurs ihr Schiff nahm.
Aber die Kinder hatte niemand gelehrt, wie der Astrogator eines Raumschiffes
Position und Kurs bestimmte.

Auf Trompo hatte keiner mehr geachtet. Jetzt machte er mit einem trompe­

tenhaften Laut auf sich aufmerksam.

„Dort!“ piepste er und deutete mit dem Rüssel auf einen Fleck am Sternen­

himmel. „Seht doch nur! Dort hinten!“

Sie   hätten   lange   suchen   können,   wenn   nicht   der   Fleck   durch   sein

Anwachsen auf sich aufmerksam gemacht hätte.

Einer der Sterne am Glashimmel wurde immer größer. Dabei stellte sich

heraus, daß er gar kein Stern war. Er leuchtete, aber sein Licht entsprach bei
weitem nicht der gleißenden Helligkeit einer Sonne.

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Dann konnten die Kinder mit bloßem Auge erkennen, daß sich ihnen ein

fremdes Raumschiff näherte. Es sah ungewohnt aus. Soweit sie darüber in­
formiert   waren,   bestand   ihr   eigenes   Schiff   aus   einem   langgestreckten   Zy­
linder, der an beiden Enden kugelähnliche Fortsätze hatte. Harpo konnte sich
noch   erinnern,   daß   sein   Onkel   einmal   scherzhaft   von   einen   „fliegenden
Knochen“ gesprochen hatte.  Das fremde Schiff bestand hingegen  aus drei
diskusförmigen   Scheiben,   die   durch   ein   Geflecht   von  Versorgungstunneln
miteinander verbunden waren. Diese Scheiben lagen übereinander, und die
mittlere hatte einen erheblich größeren Durchmesser als die Außenscheiben.

Trompo   geriet   beim   Anblick   des   fremden   Raumschiffes   schier   aus   dem

Häuschen. Er machte die irrsinnigsten Verrenkungen, sprang durch die Luft,
machte einen doppelten Salto und stieß fremdartige Laute hervor. Die Kinder
wußten gar nicht,  was sie von dem sonderbaren Verhalten ihres Freundes
halten sollten.

Mehrere Minuten lang, während sie schweigend unter der Kuppel standen,

verharrte   das   andere   Schiff   regungslos   über   ihnen,   greifbar   nahe.   Dann
flammten auf der einen Seite mehrere Blitze auf, und es wurde mit atembe­
raubender Schnelligkeit kleiner.

Trompo quiekte protestierend und hielt in seinen Luftsprüngen inne. Dann

schrumpfte das Schiff wieder zur Größe eines kleinen Lichtpünktchens zu­
sammen und wurde vom Weltraum verschluckt.

Wieder beisammen

„Was ... war ... das?“ fragte Anca ungläubig.
„Haste doch geseh’n – ein Raumschiff“, sagte der kleine Oliver atemlos.
„Mann,   das   weiß   ich   selbst“,   empörte   sich   das   Mädchen.   „Aber   woher

kommt es? Was sind das für Leute, die es gebaut haben? Wieso begegnet es
uns mitten im All? Es ist doch wohl ein irrer Zufall, daß sich zwei Raumschiffe
im Weltraum begegnen, wenn man bedenkt, wie groß das All und wie klein
Raumschiffe sind!“

„Hallo!“
„Viel   interessanter  finde   ich   die  Frage,  warum  es  wieder  abgedreht   hat,

ohne Kontaktaufnahme“, schaltete sich Harpo ein. „Ob das Schiff nun zufäl­
lig auf uns gestoßen ist oder nicht: Normal wäre doch wohl gewesen, daß
man sich verständigt.“

„Hallooo!“
„W­wie stellst du dir das denn v­vor?“ fragte Brim. „Sollten die F­fremden

uns z­zuw­winken? V­vielleicht haben d­die nicht m­mal richtige Hände.“

„Hallooooo!“

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„Papperlapapp,   winken“,   meinte   Karlie.   „Die   hätten   in   Raumanzüge

steigen und uns besuchen können. Oder Lichtzeichen geben. Oder sonst et­
was machen.“

„Haaalllooooooooooo!“
„Und wenn sie es getan haben?“ entgegnete Brim. „Das weißt du doch n­

nicht. Vielleicht haben sie pau­pausenlos versucht, uns m­mit Funksprüchen
oder Bildsendungen zu erreichen. U­und da niemand antwortete, ha­haben
sie   es   aufgegeben.   Die   halten   u­unser   Sch­schiff   wahrscheinlich   für   ein
Wrack!“

„Haaallllooooooooooooooooooooooooo!“
„Was ja irgendwie auch stimmt“, meinte Harpo schulterzuckend. „Nur, daß

eben auf diesem Wrack noch Menschen leben ... Aber sagt mal, habt ihr nicht
auch eben was rufen gehört?“

„Silizium“, flüsterte der kleine Oliver und legte eine Hand hinter sein linkes

Ohr.

Augenblicklich  wurde es so still, daß man das Geräusch einer zu Boden

fallenden Stecknadel wahrgenommen hätte. Unwillkürlich hielten die Kinder
den Atem an. Der kleine Oliver übertrieb dermaßen, daß er im Gesicht rot wie
eine Tomate wurde.

„Haaalllooooooooooooooooooooooo!“
„Da war es wieder!“ rief Harpo aufgeregt.
„Es kommt von der gegenüberliegenden Wand“, behauptete Anca und deu­

tete mit der Hand darauf.

„Ja“, gab Karlie ihr recht. „Ich meine auch, daß es von daher kommt!“
Aufgeregt liefen sie zu der Wand hin. Dort, wo die gläserne Kuppel mit der

Bodenfläche   der   Hauptzentrale   zusammentraf,   gab   es   einen   Streifen   me­
tallischer Wand, der aus der Nähe gar nicht so niedrig war, wie sie zuerst
vermutet hatten. Die Wand, die sonst überall nur etwa  zweieinhalb Meter
hoch war, erreichte an dieser Stelle mindestens die doppelte Höhe.

Harpo preßte den Kopf dagegen. Da war es wieder ein Ruf, der kaum mehr

als ein Flüstern war, so weit schien er von ihnen entfernt: „Haaallloooo!“

„Wir rufen zurück“, sagte Harpo schnell. „Und alle zusammen, wenn ich

drei sage. – Eins, zwei, drei!“

„Haaalllooooooo!“   riefen   Brim,   Anca,   Karlie,   Ollie   und   Harpo   aus

Leibeskräften.

„Huhuuuuu!“   zuckelte   der   kleine   Oliver   noch   einmal   hinterher   und   er­

reichte dabei fast die Lautstärke der gesamten Gruppe. Seine Stimme kiekste
dabei ein bißchen im oberen Bereich.

„Haalloooo“, kam es zurück. „...iiir...ind...hie...speeerrtt!“
„Hast du das verstanden?“ fragte Harpo Anca.
„Das klang wie: Wir sind hier eingesperrt. Oder so ähnlich.“
„Es gibt hier sicher noch eine Tür“, überlegte Harpo laut. „Wahrscheinlich

mit einem ähnlichen Mechanismus wie die Tür zum Tunnel. Karlie, kannst
du nicht mal ...“

62

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Er brauchte gar nicht weiterzureden, weil Karlie schon in Augenhöhe die

Wand abtastete.

„Ob das nicht gefährlich ist, was wir jetzt tun?“ fragte Anca unsicher. „Wir

wissen doch gar nicht, wem wir da helfen wollen. Vielleicht sind es Big Tom
und seine Leute?“

„O­oder Erwachsene?“ Brim rieb nachdenklich sein Kinn.
„Ich beschütze euch“, knurrte der kleine Oliver und stellte sich auf die Ze­

henspitzen. „Ich mach’ Frikadellen aus denen!“

„Wir   dürfen   nicht   überall   gleich   Gespenster   sehen“,   mahnte   Harpo.

„Immerhin sind dort Menschen, die Hilfe brauchen.“

„Hier  ist  noch so ‘ne schwarze Platte“, rief  Karlie triumphierend dazwi­

schen und legte seinen Daumen darauf. Sekundenbruchteile später wurde
ein Spalt in der Wand sichtbar, der sich rasend schnell vergrößerte und zu
einem Eingang wurde.

Neugierig reckten die Kinder die Köpfe vor. Enttäuscht sahen sie sich an,

als sie entdeckten, daß die Öffnung nichts weiter freigab als eine enge, nackte
Metallkammer.

Allein  Karlie,  der  Superkoch,   ließ  sich  nicht   aufhalten.  Sein  mittlerweile

plattensuchgeübtes Auge hatte an der Wand der Kammer einen weiteren Öff­
nungsmechanismus entdeckt.

„Hinein“, sagte er und betrat die Kammer als erster. „Dies ist eine Art Flur –

nein, das könnte auch eine Luftschleuse sein.“ Ohne lange zu überlegen, leg­
te er erneut den Daumen auf die neu entdeckte Platte. Eigentlich hatte er da­
mit gerechnet, daß sich zunächst die hinter ihnen liegende Türe schließen
würde.   Normalerweise   war   dies   auch   so,   wenn   zwischen   dem   dahinter­
liegenden Raum und der Zentrale ein unterschiedlicher Luftdruck bestand.
Das fanden sie später heraus. Da der automatische Türschließer jedoch regis­
trierte, daß auf beiden Seiten die gleichen Druck­ und Atmosphäreverhält­
nisse herrschten, gab er unmittelbar den Öffnungsimpuls für die zweite Tür
frei.

In dem Lichtspalt erschien  ein Gesicht,  das im ersten  Moment genauso

fassungslos und verdutzt aussah wie die Gesichter von Harpo, Anca, Ollie,
Brim und Karlie.

„Micel!“ jaulte der kleine Oliver als erster wie eine Sirene los.
„Ihhhrrr?“ staunte Micel. „Bei allen Planeten! Ich glaub’, mich trifft der Psy­

choschlag!“

„Thunderclap! Fidel!“ jauchzte Ollie.
„Fantasia!“ kam das Echo von allen Seiten.
„Pummelchen!“ krächzte Lonzo. „Mein kleiner Sonnenschein!“
Für einige Minuten brach ein mittelschweres Chaos aus. Die Kinder fielen

sich gegenseitig um den Hals und klopften sich begeistert auf die Schultern.
Lucky gluckste vor lauter Glück still vor sich hin. Lonzo schlug einen Salto
nach dem anderen und wedelte mit seinen Tentakeln. Nur mühsam konnten
sie sich wieder beruhigen.

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Jetzt   waren   alle   wieder   beieinander.   Micel   und   Thunderclap,   Fidel   und

Fantasia, Lucky, Karlie, Harpo, Anca, Brim und der kleine Oliver. Nicht zu
vergessen Lonzo.

„Jetzt fehlt nur noch Trompo“, sagte Micel. „Wir haben ihn zuletzt auf Deck

27 gesehen. Wißt ihr, daß man uns überfallen hat und daß uns Lucky hierher
transportiert hat und ...“

„Langsam, langsam“, bremste Harpo Micels Redestrom. „Eins nach dem

anderen. Wir haben Trompo gefunden und wissen von dem Überfall. Wo ist
er denn? Er war doch eben noch bei uns ... Was hast du da eben von Lucky er­
zählt?“

„Trompo! Trompoooo!“ riefen die Kinder. Die Türen hatten sich noch nicht

wieder   geschlossen   und   so   rannten   einige   von   ihnen   wieder   in   die
Hauptzentrale des Raumschiffs zurück. Während Micel und Fidel zunächst
einmal andächtig  verharrten,  als sie die Sternenkuppel sahen, suchten  die
anderen alles ab und ließen keine Ecke aus. Allerdings umsonst, denn das
kleine Wesen Trompo war verschwunden!

„Lucky hat euch hierhergebracht?“ fragte Harpo inzwischen Thunderclap.

„Wie das? Ich verstehe das nicht.“

„Wir haben es zuerst auch nicht begriffen“, erläuterte Thunderclap Genius

lächelnd. „Aber Micel hat seine Gedanken gelesen und herausgefunden, wie
das kam. Lucky ist ein Mutant wie Micel. Aber er kann keine Gedanken lesen,
sondern  hat ein anderes  Talent. Er kann sich selbst und andere Personen
oder Dinge mit seinem Gehirn an einen anderen Ort versetzen! Wir wissen
noch nicht, wie er das macht, und Lucky weiß es selbst am wenigsten, aber es
hat funktioniert. Das können wir beschwören.“

„Das ist ... phantastisch!“ hauchte Harpo und klatschte in die Hände. „Un­

glaublich!“

„Das meint Micel auch“, erwiderte Thunderclap. „Und Lucky scheint der

erste Mutant zu sein, der so etwas kann. Nur schade, daß er dieses Talent
nicht einsetzen kann, wann er will. Er hat rein instinktiv reagiert. Er sah, daß
wir alle in Gefahr waren ... da versetzte er uns an einen sicheren Ort. Einfach
so.“

„Woher wußte er denn, daß dieser Raum sicher ist?“ fragte Harpo und sah

sich zum ersten Mal bewußt um.

„Keine Ahnung.“ Thunderclaps Augen  hefteten sich auf Harpos Gesicht.

„Wir wissen auch nicht mehr, als ich dir eben erzählt habe. Aber abgesehen
davon, daß wir hier eingesperrt waren, haben wir eigentlich alles: Vorräte,
eine Kochgelegenheit, ein Schwimmbecken ...“

Der Raum war etwas kleiner als die Hauptzentrale, aber immer noch riesig.

Am äußeren Rand befanden sich zehn oder mehr türlose, vom Hauptraum
abgetrennte Kabinen, in denen Sessel, Schreibtische und Betten standen oder
rätselhafte Instrumente aufgebaut waren. Die zum Wohnen und Schlafen ge­
dachten Räume wirkten elegant und gleichzeitig urgemütlich.

Der große Raum, in dem sich nun außer Harpo und Thunderclap niemand

mehr befand, hatte wie ihr Deck 27 eine künstliche Sonne und auch sonst

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Ähnlichkeit mit den Landschaften der anderen Decks. In der Mitte befand
sich ein kleiner See und darum herum wuchsen allerlei Pflanzen und kleinere
Bäume. Der See lag tiefer, terrassenförmig angelegte Stufen führten nach un­
ten.

„Wie habt ihr die Türe gefunden?“ fragte Thunderclap. „Wir haben selbst

alles Mögliche und Unmögliche ausprobiert ...“

„Es gibt da eine beinahe unsichtbare Platte ...“ murmelte Harpo geistes­

abwesend.   „Sag   mal,   das   sieht   ja   alles   so   echt   aus   ...“   Er   deutete   auf   die
Pflanzen in der Umgebung.

„Es ist auch echt“, erklärte Fantasia, die gerade aus der Zentrale zurück­

kam. „Dies sind richtige Pflanzen, richtige Blumen – kein Ersatzzeug aus Plas­
tik.“

„Dann gibt es hier auch richtige Tiere?“ fragte Harpo. Mittlerweile kamen

auch die anderen aus der Zentrale zurück. Trompo war und blieb fürs erste
verschwunden.

„Richtige Tiere haben wir noch nicht gefunden“, sagte Fantasia. „Aber wir

haben noch lange nicht alles erforscht. Es gibt hier so viele Türen. Mit Si­
cherheit können wir davon ausgehen, daß irgendwo an Bord auch echte Tiere
leben. Micels Frosch und Ancas Schlange sind sicherlich ausgerissen ...“

„Macht euch lieber Gedanken darüber, wo Trompo geblieben ist“, forderte

nun Anca. Nicht daß sie Angst um ihren kleinen Spielgefährten gehabt hätte:
dafür war der kleine Elefant zu listig. Aber etwas komisch war es ihr doch, daß
er so sang­ und klanglos untergetaucht war.

„Findet   ihr   nicht   auch“,   meinte   Harpo,   „daß   er   sich   reichlich   komisch

benommen hat?“ Er erzählte, wie Trompo ihnen den Weg nach Deck null ge­
wiesen hatte. Als ob er genau gewußt hätte, daß sich die Vermißten hier oben
befanden ...

„Und seine Stimme war so eigenartig“, fügte Karlie nachdenklich hinzu.
„Ja“, stimmte Harpo zu. „Schon beim Anblick des fremden Raumschiffes

hat er sich seltsam aufgeführt.“

„Was für ein Raumschiff?“ echoten Thunderclap und Micel wie aus einem

Munde.

„Erzählen wir euch noch“, gab Karlie großspurig zurück. „Was denkt ihr

wohl, was wir alles in der Zwischenzeit erlebt haben ...“

„Langsam, langsam“, stöhnte Harpo wieder. Seine Gedanken weilten noch

immer bei Trompo. Er hatte sich wirklich sehr ungewöhnlich benommen ...

Wußte er mehr, als er ihnen gesagt hatte? Deck null, die Hauptzentrale, das

Plättchen des Türschließers, das fremde Raumschiff – all das konnte doch
kein Zufall sein?

„Aber zuerst müssen wir euch unsere Entdeckung zeigen“, forderte Micel.

Da er längst die Gedanken der Freunde gelesen hatte, war er nicht mehr so
scharf auf ihre Erklärungen.

Weil er sonst schwerlich Ruhe geben würde, folgte ihm die ganze Gruppe in

einen der kleineren Nebenräume. Stolz zeigte Micel auf einen langgestreck­

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ten Behälter, dessen obere Hälfte aus einem durchsichtigen Material bestand.
Die untere Hälfte war mit rätselhaften Armaturen bedeckt.

Die Kinder erstarrten. In dem Behälter lag ein nackter, erwachsener Mann

mit langem rotem Haar.

„Ist er ... tot?“ brachte Harpo heiser hervor.
„Nein.“ Micel schüttelte den Kopf. „Ich spüre seine Gedanken. Er träumt

von   Dingen,   die   ich   nicht   verstehen   kann.   Er   schläft   seit   mehr   als   drei
Jahren!“

Fremde an Bord

Der unbekannte schlafende Mann – an dessen Behälter ein Metallschild

mit dem Namen Daniel Locke angebracht war – hatte die Kinder so verwirrt,
daß sie zwei Tage damit verbrachten, über ihn zu diskutieren.

Thunderclap schlug vor, ihn aufzuwecken. Fidel war dagegen, aber man

überstimmte  ihn. Das Unterfangen  erwies sich als sinnlos, weil  der  Mann
sich nicht aufwecken ließ. Er war wie tot. Und doch atmete er, was man deut­
lich sehen konnte. Er schien die lautesten Geräusche nicht wahrzunehmen
und zuckte mit keiner Wimper; selbst dann nicht, wenn Ollie sein marker­
schütterndstes IndianergeheuI anstimmte.

Schließlich gab man es auf und konzentrierte sich auf die anderen Bereiche

von Deck null. Die Kinder hofften doch noch irgendwo den verschwundenen
Trompo   aufzustöbern,   aber   auch   diese   Vermutung   erwies   sich   als   Trug­
schluß.

Brim, Harpo und einige andere verbrachten eine Menge Zeit unter der Ster­

nenkuppel, wo sie in den Ledersesseln Platz nahmen und ihre Blicke über die
ewige Weltraumnacht schweifen ließen. Die kleinen Lichter auf den Arma­
turen und Konsolen flackerten periodisch auf, andere brannten ununterbro­
chen.   Manchmal   fingen   die   Ohren   der   Kinder   das   feine   Klicken   von
eingebauten Relais auf und dann begann eine Computerstimme monotone
Zahlenkolonnen aufzusagen, mit denen niemand etwas anfangen konnte.

Es war gespenstisch und herrlich zugleich im ständigen Dämmerlicht der

Hauptzentrale. Das fand auch Harpo, der lange Zeit damit verbrachte, mit
Thunderclap Genius vor den geheimnisvollen Schalttafeln zu sitzen, wobei er
darüber Spekulationen anstellte, ob man es wagen könne, den einen oder
anderen Schaltknopf zu drücken.

Thunderclap war von dieser Idee allerdings weniger angetan, denn er wuß­

te   genau,   daß   zur   Bedienung   eines   Raumschiffes   eine   Hundertschaft   von
Wissenschaftlern und Ingenieuren nötig ist.

„Würde das Große Gehirn noch funktionieren“, gab er zu bedenken, „sähe

die Sache anders aus.“ Dann könnte das Schiff von einem halben Dutzend
Leuten bedient werden. Aber so ...“

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Harpo   war   begeistert   von   den   Kenntnissen   des   Freundes.   Thunderclap

konnte ihm leicht erklären, woher er dies alles wußte: Erstens hatte er viel
über Raumschiffe gelesen, und zweitens war einer seiner Vettern Ingenieur
auf  einem zwischen  der  Erde und  den Jupitermonden  verkehrenden  Lini­
enraumschiff.   Dieser   Vetter   hatte   Thunderclap  viel  beigebracht,  wenn   ihn
sein Urlaub mal nach Hamburg führte, wo Thunderclap gewohnt hatte.

„Daß du aus Hamburg kommst, wußte ich gar nicht“, sagte Harpo über­

rascht. „Du hast doch einen englischen Vornamen ...“

Thunderclap wischte die Anspielung auf seinen Namen sichtlich verlegen

beiseite. „Das ist nur ein Spitzname“, meinte er so nebenbei.

Aus der Wohneinheit kamen die Geräusche sich eilig nähernder Schritte.

Mit den Armen rudernd tauchte Karlie Müllerchen in der Zentrale auf, stieß
sich den Kopf an der Türfüllung, fluchte erbärmlich und fragte: „He, seid ihr
da irgendwo?“

„Hier, Karlie“, gab Thunderclap zurück. Er brachte seinen Rollstuhl in eine

Position, in der Karlie ihn und Harpo sehen konnte. „Was ist denn los?“

Karlie kam hastig näher. „Irgend jemand schleicht da rum“, flüsterte er ge­

heimnisvoll. „Ollie und Fidel haben was gesehen. Drüben am See. Kommt
ihr?“

„Trompo?“ fragte Harpo zaghaft.
„Nicht Trompo.“ Karlie schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Ahnung, wer

das ist. Vielleicht ein Spion von Big Tom oder so was.“

Thunderclaps   Rollstuhl   setzte   sich   mit   mahlenden   Reifen   in   Bewegung.

Eigentlich war es recht unwahrscheinlich, daß sich Big Toms Leute nach hier
oben   verirrt   hatten.   Die   letzten   Nachforschungen   mit   den   teilweise   noch
funktionierenden   Visiophonen   der   Hauptzentrale   hatten   ergeben,   daß   die
andere Gruppe sich vor zwei Tagen im erst halb ausgebauten Deck 84 aufge­
halten hatte, wo es auch ein Vorratslager gab.

Der  Wechsel  vom Dämmer  der Zentrale  in die strahlende Helligkeit der

Wohneinheit von Deck null blendete die Jungen zunächst. Aber ihre Augen
gewöhnten sich rasch an die Umgebung. Die anderen hatten sich in der Nähe
der Büros und Schlafräume versammelt und deuteten zum See hin. In dem
Gebüsch kroch etwas herum. Aber was?

Harpo fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Das Mädchen! Eilig

erklärte er Thunderclap um wen es sich handelte. Offenbar war ihnen das
rotgekleidete   Mädchen   von   Deck   27   gefolgt   und   hatte   sich   während   der
Nacht durch die leere Zentrale in den großen Raum vor den Wohnkabinen
geschlichen.

„Ist sie gefährlich?“ fragte Thunderclap.
Harpo verneinte. „Wir hatten bisher keinen Grund, das anzunehmen. Ganz

im Gegenteil. Sie hat eher Angst vor uns, meint Karlie. Übrigens: Sie ist eine
Erwachsene.“

„Eine Erwachsene?“ zischte Fidel entgeistert. Er biß sich auf die Unterlippe

und kniff die Augen zusammen.

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„Mach keinen Unsinn, Fidel“, warnte Thunderclap freundlich. „Sonst fahre

ich mit meinem Feuerstuhl dazwischen!“

Ollie sagte laut: „Das Fräulein ist krank, nicht, Harpo?“ Er hatte auch er­

kannt, was Harpo vermutet hatte.

„Vielleicht. Wir wollten sie jedenfalls in Ruhe lassen. Dann kommt sie eines

Tages ganz von selbst zu uns.“

Thunderclap  winkte  die anderen zurück.  Lonzo murmelte: „Sie hat eine

rote Jacke an. Oh! Lonzo liebt rote Jacken!“

„Hauptsächlich aber rote Krawatten und Sockenhalter.“ Micel lachte.
Sie kehrten in die Zentrale zurück. Natürlich war es hauptsächlich reine

Neugier, die sie dazu getrieben hatte, hinter der Unbekannten herzuspähen.
Immerhin war es für alle sehr sonderbar, daß ein so großes Mädchen sich vor
ihnen verbarg. In der heimeligen Atmosphäre der Zentrale wollten sie das
neue   Problem   eingehender   beraten.   Aber   dort   wartete   bereits   eine   neue
Überraschung auf die Gruppe. Fantasia deutete plötzlich aufgeregt auf einen
Bildschirm, den bis jetzt niemand hatte in Betrieb nehmen können.

„Was ist das?“ fragte Harpo.
Das   Visiophon   war   aufgeflackert,   zeigte   anstelle   eines   Bildes   aber   eine

Leuchtschrift.

MANNSCHLEUSE SÜDWEST III STOP

ÖFFNUNGSVERSUCH VON AUSSEN STOP

„Nanu?“ fragte der kleine Oliver. „Was is’ denn ‘ne Mannsch­Schleuse?“
Die Augen der Kinder saugten sich an den Buchstaben fest. Sie flackerten

mehrmals auf.

Dann erschien eine neue Schrift:
ÖFFNUNGSVERSUCH WIEDERHOLUNG STOP SICHERHEITSSYSTEM AN

KOMMANDANT   STOP   NACH   EINGEHENDER   ÜBERPRÜFUNG   DER
CHECKLISTEN WURDE KEIN DEFEKT GEMELDET DER EINE AUSSENRE­
PARATUR ERFORDERT STOP LOGISCHE SCHLUSSFOLGERUNG STOP ALLE
MANN AN BORD STOP WEITERE SCHLUSSFOLGERUNG STOP UNBEFUG­
TER VERSUCH DAS SCHIFF VON AUSSEN ZU BETRETEN STOP.

„Wißt ihr, was das zu bedeuten hat?“ fragte Micel nervös. Ollie fragte: „Was

ist das denn, ‘ne Tschäcklist? Ich kenn’ nur Tschaschlick.“

Niemand antwortete. Alle hielten den Atem an, denn die Schrift veränderte

sich erneut.

ÖFFNUNGSVERSUCH   GELUNGEN   STOP   REGISTRATION   STOP   QOCD

STOP  QOCD  STOP ERWARTE ANWEISUNGEN  ERWARTE ANWEISUNGEN
ERWARTE ANWEISUNGEN ...

„Jemand  hat  das Schiff  betreten“,  brummte  Thunderclap.  „Das ist  doch

klar! Das Sicherheitssystem scheint also noch zu funktionieren, obwohl seine
Informationen lückenhaft sind. Wäre es das nicht, hätte es zumindest wissen
müssen, daß die ursprüngliche Besatzung sich längst in alle Winde zerstreut
hat.“

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„Es teilt uns mit, daß jemand unbefugt eingedrungen ist“, wiederholte Har­

po. Und dann: „Kann es sich nicht irren? Ich meine, wenn es schon nicht
weiß, daß wir allein hier sind ...“

„Was is’ ‘ne Mannsch­Schleuse denn?“ krähte der kleine Oliver ruhelos da­

zwischen. „Nu erklär’ mir doch mal einer ...“

„Eine  Nebenschleuse“,  gab  Karlie  von  oben  herab   zurück.  „Für  Männer

und Frauen. Nicht für Beiboote. Kapiert, Kleiner?“

„Wenn sie auch für Frauen ist“, bohrte der Kleine weiter, „warum heißt sie

dann nich’ Frau­Schleuse?“

Karlie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, obwohl ihm das Wort

auch komisch vorkam.

Atemlose Spannung und Nervosität machte sich jetzt breit. Wer waren die

geheimnisvollen   Eindringlinge?   Ein   Rettungstrupp   von   der   Erde?   War   ein
Bergungsschiff in der Nähe? Wollte man sie retten?

„Die Fremden ...“ flüsterte Brim Boriam plötzlich. Und dann schrie er laut:

„Ja, klar! Die Fremden, die wir vor ein paar Tagen hinter der Kuppel gesehen
haben. Sie sind zurückgekommen und ...“

„Und?“ echote Micel heiser. „Was führen sie im Schilde? Wollen sie unser

Schiff kapern? Oder uns helfen? Sie kennen uns doch gar nicht ...“

Diese Worte deprimierten die Gruppe ein wenig. Wer sollte ihnen helfen

wollen,   wo   sie   sich   in   einem   völlig   unbekannten   Sektor   der   Milchstraße
befanden? Wie mochten die Eindringlinge aussehen, die jetzt irgendwo da
unten   in   den   Korridoren   herumkrochen?   Welche   Absichten   mochten   sie
haben?

Harpo   erinnerte   sich   an   die   haarsträubenden   Geschichten   von   blut­

dürstigen Piraten und Freibeutern, die in der Vergangenheit die sieben Welt­
meere der Erde unsicher gemacht, jedes vorbeiziehende Schiff ausgeplündert
und seine Besatzung als Sklaven nach Afrika und Amerika verkauft hatten.

„Du bist verrückt“, lachte Thunderclap, als Harpo den anderen seine Ge­

danken   vortrug,   aber   es   klang   nicht   fröhlich,   eher   ein   wenig   ängstlich.
Schweigend nahmen die Kinder auf den Ledersesseln Platz. Unentschlossen
starrten sie auf die verschiedenfarbigen Blinklichter.

Der Bildschirm hatte mittlerweile die Schrift gelöscht. Nun prangte auf ihm

ein roter Blitz, und darunter stand in großen Buchstaben nur ein Wort:

A L A R M !

„Wir können nichts tun“, murmelte Karlie in die Stille hinein. „Oder doch?“
„Und   ob   wir   was   tun   können!“   erwiderte   Harpo   entschlossen.   Federnd

sprang er auf. „Zumindest können wir herausfinden, was sie vorhaben und
wieviele es sind! Wenn sie böse Absichten haben, müßte es möglich sein, sie
per Fernsteuerung irgendwo einzuschließen.“

Rasch  bildeten   sie   einen   Stoßtrupp,  der  aus   Micel,  Harpo  und   Fantasia

bestand. Thunderclap und die anderen blieben in der Zentrale zurück und
aktivierten alle Bildschirme, von denen sie mittlerweile wußten, daß sie dazu
dienten, Einblicke in die verschiedenen Decks zu gewähren.

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Fantasia, die ein Sprechfunkgerät gefunden hatte, blieb mit der Zentrale in

ständiger Verbindung. Fidel hatte hinter der Kontrollarmatur Platz genom­
men, von der aus man einzelne Decks abriegeln konnte.

„Fertig?“ fragte Fantasia über Funk.
Thunderclap   sagte:   „Ja“   und   setzte   einen   Funkhelm   auf.   Da   er   von

Elektronik einiges verstand, hatte er schnell herausgefunden, daß man sich
mit Hilfe dieser Helme drahtlos verständigen konnte. Er schob das winzige
Mikrofon, das an einer beweglichen Klammer am Helmrand befestigt war,
vor den Mund. „Fertig!“

Harpo, Micel und Fantasia verließen die Sternenkuppel und eilten zum An­

tigravschacht.   Aus   Fantasias   Handfunkgerät   drang   die   aufgeregte   Stimme
Thunderclaps, der ihnen jede Änderung übermittelte, die auf den von Fidel
gesteuerten Visiophonen stattfand.

„Bisher niemand im Bild ... Umschalten ... Deck 38 ... leer ... Deck 39 ...

leer ... jetzt Deck 42 ... leer ... Deck 42 ... Dunkelheit ... kann nix erkennen ...
Umschalten ...“

Harpo und seine Begleiter sahen in die Tiefe. Wenn die Eindringlinge durch

eine Nebenschleuse an Bord gekommen waren, mußten sie diesen Schacht
benutzen.   Aber  der  Antigrav   war  tief,   sehr   tief.  Die   rote   Beleuchtung,   die
verhinderte, daß einem schlecht wurde, wenn die Wände neben einem da­
hinflogen, trug nicht dazu bei, besonders viel zu erkennen.

„Nichts  zu  sehen“, meldete Fantasia  flüsternd.  Micel   konzentrierte  sich.

Zweifellos versuchte er die Gedanken der Fremden aufzufangen.

„Na?“ fragte Harpo ihn ungeduldig.
„Nichts“, gab Micel enttäuscht bekannt. „Sie sind noch zu weit weg. Der

Schacht ist ja kilometertief.“

Ein leises, kaum hörbares Summen ertönte. Ein warmer Luftzug strich über

die Gesichter der Beobachter.

„Achtung!“ zischte Micel.
„Der Antigrav ist jetzt in Betrieb“, gab Harpo schaudernd weiter. „Gib das

weiter, Fantasia!“

Thunderclap   erwiderte:   „Verstanden!“   und   gab   Fidel   die   Anweisung,

besonders aufmerksam zu sein. Sie mußten unbedingt wissen, auf welches
Deck die Fremden sich zuerst begaben.

Auch die Kinder – einschließlich Lonzo – saßen fiebernd hinter den Gerä­

ten. Mehr als zwei Dutzend Visiophone waren in Betrieb und übertrugen die
unterschiedlichsten Bilder von den einzelnen Decks und den verwaisten Ab­
teilungen.

„Kannst du den Antigravschacht nicht rein kriegen?“ forschte Anca nervös.
„Nix zu machen“, tönte es aus Fidels Ecke. „Da ist keine Kamera!“
Ganz unten im Schacht schien sich nun etwas zu bewegen. Harpo, Fantasia

und   Micel   hielten   den   Atem   an.   Es   sah   so   aus,   als   beabsichtigten   die
Eindringlinge   nicht,   Deck  für   Deck   abzuklappern.   Sie   schienen   direkt   zur
Hauptzentrale zu wollen!

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„Ja, wie kommt das bloß?“ fragte der kleine Oliver. „Woher wissen die, daß

wir hier oben sind?“

„Potz Galaxis!“ knarrte  Lonzo, der  die  Meldung  ebenfalls mitbekommen

hatte. „Dann gehen ja unsere ganzen feinen Pläne den Bach runter!“

„Pschschttttt!“ machte Anca beschwichtigend.
Harpo und die anderen starrten angespannt in die Röhre. Langsam wurde

ein Schatten sichtbar. Dann noch einer. Und ein winziger Punkt.

„Zurück“, ordnete Thunderclap an. „Es hat keinen Zweck. Die können wir

nicht reinlegen. Wir können uns nur noch in der Zentrale verrammeln und
darauf hoffen, daß sie den Türschließer nicht finden.“

Rasch zogen sich Harpo und seine Begleiter zurück. Lautlos schloß sich das

Schott der Hauptzentrale hinter ihnen. Mit klopfenden Herzen warteten sie
in der Zentrale auf das, was nun geschah. Es dauerte nur fünf Minuten, dann
merkten sie, daß von dem geschlossenen Schott ein warmer Luftstrom auf sie
eindrang.

Die Tür war offen!
Und zwei dunkle Schatten kamen langsam auf sie zu ...

Die Weltraumärzte

„T­t­trrrompppooo!“ schrie Brim auf. Etwas Kleines wetzte über den Boden

der Zentrale und sprang auf den Schoß des Jungen.

Die beiden Schatten verharrten. Sie standen immer noch in einem Bereich,

der ein genaues Betrachten unmöglich machte. Aber ihre Umrisse wirkten
menschlich.

„Keine Angst“, piepste Trompo fröhlich. „Rettung naht! Ich bin zurückge­

kommen und habe Leute mitgebracht, die uns helfen werden!“

Die vertraute Stimme des kleinen Wesens brachte es fertig, daß die Kinder

ihre wie hypnotisiert auf die Neuankömmlinge gerichteten Blicke abwandten
und wild durcheinanderredeten.

„Wer sind die Leute, Trompo?“
„Woher kommen sie?“
„Von der Erde?“
„Oder von dem anderen Raumschiff etwa?“
„Was ... wie ... warum ... weshalb?“ So ging es eine halbe Minute lang, in der

sich die Fremden nicht bewegten.

Thunderclap setzte seinen Rollstuhl in Bewegung und fuhr auf die Männer

zu. Erfreut streckte er ihnen eine Hand entgegen. Mit klopfendem Herzen be­
gann er: „Ich freue mich, daß Sie gekommen sind – Sir! Und Sie auch, Sir! Wir
hatten Sie in unserer Angst schon für Raumpiraten gehalten.“

Die beiden Fremden lachten leise, wirkten dadurch aber keineswegs un­

sympathisch. Es war ein freundliches, offenes Lachen. Langsam kamen sie

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aus der Dunkelheit und drangen in die Zone ein, die dem Sternenlicht un­
mittelbar ausgesetzt war.

„Erschreckt nicht“, lachte Trompo. „Aber es sind keine Menschen von der

Erde.“

Tatsächlich! Vor ihnen standen in silbernen, enganliegenden Anzügen zwei

schlanke Gestalten, die kaum größer waren als Harpo. Sie besaßen zwei Arme
und zwei Beine, zwei Augen, eine Nase, einen Mund und zwei Ohren – und
doch waren sie irgendwie anders! Das Licht der Sterne ließ ihre Gesichtsfarbe
bläulich erscheinen. Ihre Köpfe waren klein und hatten lediglich durch die
hochaufragenden Stehkragen im Halbdunkel so groß gewirkt. Die Fremden
waren völlig kahlköpfig; ihre Schädel glichen in der Form großen Birnen, de­
ren schlanke Seite nach unten gerichtet war. Sie hatten winzigkleine, spitze
Ohren und kugelrunde Augen. Als sie lächelten, konnten die Kinder ihr Gebiß
sehen:   Es   erschien   ihnen   wie   ein   einziger   fugenloser   Zahn,   der   sich   von
einem Mundwinkel zum anderen zog.

„Mannomann!“ keuchte Karlie verblüfft.
„Iss ja ‘n dolles Ding!“ stieß Harpo hervor.
„Ich schnapp’ sofort über!“ verkündete Ollie schniefend, aber mit großer

Überzeugungskraft.   Er   stiefelte   langsam   an   die   abwartend   verharrenden
Fremden heran, begaffte sie von allen Seiten und meinte dann: „Könnt ihr
mich verstehen, Leute? Ich bin der Ollie – der Bräutigam vom Pummelchen!“

Alles begann wie auf Kommando zu lachen. Das Eis war gebrochen, denn

selbst   die   beiden   blauhäutigen   Fremden,   die   kaum   ein   Wort   von   dem
verstanden haben konnten, was der Kleine ihnen erklärt hatte, begannen sich
amüsiert auf die Schenkel zu klopfen. Dann gingen sie reihum, drückten die
heißen und teilweise auch schwitzenden Hände der Kinder und nahmen zwi­
schen ihnen Platz, wobei Trompo von Brims Schoß zum Arm des ersten An­
kömmlings   wechselte   und   mit   einer   Erklärung   begann,   die   manches
verständlicher machte.

Wie alle Kinder wußten, war Trompo weder ein Tier der Erde, noch ein Ro­

boter. Er war überhaupt  kein  Tier,  sondern eine richtige Person. Sein Ge­
burtsort lag auf einem Planeten mit so einem unaussprechlichen Namen, daß
die Kinder ihn beim besten Willen nicht wiederholen konnten, ohne sich die
Zunge abzubrechen. Trompo war dort aufgewachsen. Eines Tages landete ein
fremdes   Raumschiff.  Die   Wesen   an  Bord   des   Schiffes   erschienen   ihm   zu­
nächst rätselhaft und seltsam. Sie gehörten zu einem Volk, das in der ganzen
Galaxis für seine medizinischen Wundertaten berühmt war. Man nannte sie
die Weltraumärzte.

Die Mediziner wollten auf Trompos Welt nach Kräutern und Heilpflanzen

suchen, aus denen man Medizin mixen konnte, denn sie vertrauten den na­
türlich   gewachsenen   Abwehrstoffen   mehr   als   den   synthetischen.   Aber   sie
hatten   wenig   Glück,   weil   der   Planet   nur   über   ein   karges   Pflanzenleben
verfügte.   Dennoch   gelang   den   Medizinern   eine   wichtige   Entdeckung:   Sie
fanden heraus, daß Trompos Artgenossen die Fähigkeit besaßen, mit ihnen
eine geistige Verbindung herzustellen, die man dazu verwenden konnte, eine

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neuartige Diagnose und Therapie zu entwickeln. Die Trompos fungierten in
Verbindung mit den Weltraumärzten als Gesundheitsspione, die Krankheiten
bereits   im   Frühstadium   aufspürten   und   an   die   Ärzte   meldeten.   Viele
Trompos   wechselten   daraufhin   von   ihrer   Welt   auf   die   Medizinschiffe   der
Weltraumärzte über, um dort als Helfer zu arbeiten.

Trompo   selbst   hatte   lange   Jahre   mit   einem   Arzt   ein   Team   gebildet.   Bis

dieser Arzt starb – mitten im Raum. Da sie allein auf einem kleinen Schiff leb­
ten, ließ Trompo sich wochenlang dahintreiben und wartete darauf, daß ihm
der lebensnotwendige Sauerstoff ausging.

Schließlich   kam   doch   noch   Rettung.   Ein   irdischer   Kurierflieger,   der   in

diesem Sektor des Weltraums zu tun hatte, spürte das treibende Arztschiff
auf. Er nahm Trompo mit zur Erde. Später gelangte Trompo bei einem Ku­
rierflug an Bord des Raumschiffes der Kinder und verpaßte den Abflug seines
Beschützers.   Nach   einigem   Überlegen   entschied   er   sich   dafür,   bei   den
Kindern zu bleiben und nicht zur Erde zurückzukehren.

„Und weil wir uns gegenseitig auf einigen tausend Kilometern Entfernung

aufspüren können“, sagte Trompo und deutete auf seine still zuhörenden Be­
gleiter, „wußte ich plötzlich, daß sie in der Nähe waren und daß ich von der
Zentrale aus eine Verbindung zu ihnen herstellen konnte.“

„Deshalb also hast du uns hier hinaufgescheucht“, sagte Harpo und nickte.

„Wir dachten schon, du hättest Thunderclap und die anderen ausfindig ge­
macht.“

„Davon wußte ich nichts“, piepste Trompo entschuldigend. „Ich sah nur

das   sich   entfernende   Schiff   der   Ärzte   und   bin   bald   übergeschnappt.   Ich
wollte etwas tun. Nur, was? Zum Glück hatte das Schiff zwei Ärzte mit einem
kleinen Beiboot ausgesetzt, die sich sofort an die Außenhaut unseres Raum­
schiffes hefteten und eine Einstiegsschleuse suchten.“

„Die   sie   dann   auch   gefunden   haben“,   beendete   Thunderclap.   Ihm   und

allen anderen fielen Steine vom Herzen, die einige Zentner wogen. Immer
deutlicher   wurde   ihnen   bewußt,   welches   Glück   sie   hatten.   Wäre   der   Ku­
rierflieger nicht gewesen, hätte Trompo niemals an Bord gelangen können.
Und ohne Trompo ...

„Wie heißen unsere Herren Doktoren denn eigentlich?“ wollte nun Anca

wissen, als die beiden Fremden ein geflüstertes Gespräch miteinander be­
gannen.

„Oh,   der   große   heißt   Rcxyklj,   der   kleine   Fghrstl“,   erläuterte   Trompo   la­

chend. „Da ihr das aber kaum behalten könnt, schlage ich vor, sie Robbie und
Freddie zu taufen. Einverstanden?“

Robbie und Freddie, die offensichtlich verstanden hatten, nickten freund­

lich.

Micel sagte: „Ich kann ihre Gedanken lesen. Sie sprechen über Thunder­

clap und Lucky und ob sie ihnen helfen können.“

Thunderclap   horchte   auf.   Er   hatte   eigentlich   längst   alle   Hoffnung   be­

graben, als die Ärzte auf der Erde sagten, daß er niemals wieder würde laufen
können. Micels Worte wirkten auf ihn wie ein Bombeneinschlag.

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„Meinst du ...“, begann er aufgeregt.
Aber Micel hatte schon wieder den Gesichtsausdruck angenommen, den er

immer   hatte,   wenn   er   las.   Lucky,   der   nichts   so   richtig   verstanden   hatte,
quetschte sich zwischen die beiden Fremden und bot ihnen Kaugummi an.

Die   Weltraumärzte  bedankten   sich,  was   Lucky   noch   mehr   freute.   Dann

meinte Trompo: „Sie wissen noch nicht, ob sie da was machen können, aber
sie schließen es nicht aus. Sie werden sich erst mal die defekten Geräte auf
dem Schiff ansehen, um herauszufinden, was das Große Gehirn mattgesetzt
hat. Wenn das Medizinerschiff wiederkommt – etwa in einer Woche, da es zu
einem Noteinsatz gerufen wurde – können sie mit der Reparatur anfangen.“

Damit war die inoffizielle Versammlung beendet. Unter der Anleitung von

Thunderclap, Micel und Trompo nahmen die Weltraumärzte ihre Arbeit auf.
Diejenigen,   die   im   Moment   nichts   zu   tun   hatten,   verschwanden   in   ihren
Wohneinheiten. Karlie stürzte sich zusammen mit Anca auf die Kochgeräte,
um ein schmackhaftes Essen zuzubereiten.

„Ob die Doktoren auch Kartoffelpuffer mögen?“ fragte er grinsend.
Harpo war einem Schlaganfall nahe, hielt sich die Nase zu und rannte zum

See  hinunter.  Hier  hatten   sich   bereits  der   kleine   Oliver,   Fidel,   Lonzo  und
Brim Boriam versammelt.

Unwillkürlich fiel Harpo das fremde Mädchen wieder ein. Wo steckte es?

Hielt es sich immer noch zwischen den Sträuchern am Seeufer verborgen? Zu
entdecken war allerdings nichts. Die Hände in den Hosentaschen versteckt,
rannte er glücklich pfeifend durch die Gegend. Dann fiel ihm ein, daß es an
der Zeit war, die Abenteuer ihrer Gruppe niederzuschreiben. Wenn sie eines
Tages zur Erde zurückkehrten, würde es allerhand Wirbel geben. Vielleicht
war es ganz wichtig, daß man sich die möglichen Fragen der Zeitungs­ und
Fernsehreporter schon mal vorher überlegte und einige dazu passende Ant­
worten niederschrieb.

Noch immer fröhlich vor sich hin pfeifend suchte Harpo seine Unterkunft

auf, eine kleine Kabine, in der es neben einem Bücherregal einen Schreib­
tisch   mit   einem   Drehstuhl,   einen   Wandschrank,   eine   bequeme  Liege   und
einige Fotos an den Wänden gab. Auf den Bildern waren Landschaften zu se­
hen, die es auf der heutigen Erde gar nicht mehr gab: grüne Wiesen, schwarz­
weißgefleckte Kühe, die verschlafen in das Objektiv des Fotografen glotzten,
darüber ein strahlend blauer Himmel mit milchigweißen Kumuluswölkchen.

Harpo setzte sich und zog Papier und Bleistift aus einer Schublade. Eine

ganze Weile kaute er an dem Bleistiftende herum, weil ihm nichts Rechtes
einfallen  wollte.   Ein  Blick   zur   Seite  zeigte  ihm,   daß   die   Kleiderschranktür
nicht richtig geschlossen war. Ein Hemdsärmel lugte durch den Türspalt.

Da Harpo keine Unordnung leiden konnte, stand er auf und öffnete den

Schrank, um das Hemd richtig aufzuhängen.

Er blieb wie vom Blitz getroffen stehen.
Vor  ihm  – im Schrank  – stand  das rotgekleidete  Mädchen.  Große  blaue

Augen sahen Harpo ängstlich an. Sie hatte beide Hände abwehrend erhoben,
als erwarte sie, daß er auf sie einschlagen würde.

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„Nein“, sagte sie. „Nicht.“
Harpo machte einen Schritt zurück, ließ fahrig seine Arme baumeln. Was

hatte sie denn? Warum hatte sie Angst?

„Ich tu’ dir doch nichts“, sagte er beschwichtigend. Er mußte seine eigene

Nervosität   verstecken.   „Komm   doch   raus.   Ich   heiße   Harpo   Trumpff.   Und
du?“

Er machte eine einladende Bewegung und ging rückwärts zur Liege zurück,

auf deren Fußende er Platz nahm.

Das Mädchen sah ihn wohl eine Minute lang schweigend an, ohne sich zu

bewegen. Ihm wurde ganz heiß. Wie sollte er sich verhalten? Er klopfte einige
Male sanft mit der rechten Hand auf die Liege und sagte: „Setz dich doch. Du
brauchst   nicht   im   Schrank   zu   bleiben.“   Innerlich   dachte   er:   Mein   Gott,
warum kommt denn niemand und hilft mir?

Das Mädchen  machte einen zögernden  Schritt aus dem Schrank heraus

und sagte: „Ich ... habe ... Hunger.“

„Du kannst was von mir haben“, sagte Harpo schnell und wollte zum in die

Wand   eingebauten   Vorratsfach   gehen.   Sofort   machte   das   Mädchen   einen
Rückzieher.

Ich darf mich nicht so schnell bewegen, dachte Harpo. Sonst hat sie Angst.

Langsam legte er ein Stück Brot und etwas Käse auf die Schreibtischplatte.

Das   Mädchen   näherte   sich   zögernd   und   setzte   sich   vorsichtig   auf   den

Drehstuhl. Hungrig begann sie zu essen. Als sie fertig war, drehte sie sich
wieder um und sah Harpo dankbar an.

„Ich heiße Babs“, sagte sie schüchtern – und brachte sogar ein kleines Lä­

cheln zustande.

Harpo musterte sie ungeniert. Sie hatte ein hübsches Gesicht, stellte er fest.

Und sie war wirklich mindestens achtzehn Jahre alt. Karlie hatte also doch
recht behalten.

Er beschloß, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Schließlich mußte er sie nä­

her   kennenlernen.   „Wo   kommst   du   her,   Babs?   Warum   hast   du   Angst   vor
uns?“

Sie lächelte freundlich, antwortete aber nicht. Vielleicht hatte sie ihn nicht

verstanden?   Babs   stand   auf,   betrachtete   die   Fotos   an   den   Wänden,   fuhr
spielerisch mit dem Zeigefinger über die Glasscheiben und sagte: „Schön.“

Harpo   begriff.   Babs  verstand   ihn  wirklich   nicht.  Sie   war  so  ähnlich   wie

Lucky. Sie konnte ihn nicht verstehen, weil mit ihrem Gehirn etwas nicht in
Ordnung war. Ob die Weltraumärzte ihr helfen konnten?

Zunächst mußte er ihr die Scheu vor der Gruppe nehmen. Und die anderen

davon in Kenntnis setzen, daß ihnen von Babs keine Gefahr drohte.

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Die Erde sieht uns nicht wieder

Vier   Tage   später.   Die   Weltraumärzte   Robbie   und   Freddie   hatten   nach

harter Arbeit die Hauptfehlerquellen des Großen Gehirns gefunden und be­
seitigt.   Als   erfahrene   Raumfahrer   besaßen   sie   neben   ihren   medizinischen
Kenntnissen ein umfangreiches technisches Wissen. Denn nicht zum ersten
Mal machten sie die Erfahrung, daß manche ihrer Patienten nicht allein mit
gesundheitlichen Problemen zu ihnen kamen. Wie sie herausfanden, war der
Grund für das Versagen des Gehirns eine durchgeschmorte Leitung, die von
der ursprünglichen Besatzung leicht hätte repariert werden können. Wieso
die Besatzung derart in Panik geraten war und das Schiff aufgegeben hatte,
blieb weiterhin ein Rätsel.

Auf   den   einzelnen   Decks   begannen   die   Sonnen   wieder   aufzuleuchten.

Knarrend setzten sich die Pumpsysteme in Bewegung und beförderten das
Wasser in die dafür vorgesehenen Bachbette. Gurgelnd schossen die Fluten
aus den Rohrleitungen. Auf den Decks mit ausgefallener Heizung wurde es
endlich wieder warm.

Thunderclap saß in der Hauptzentrale. Er hatte den Rollstuhl mit dem Ses­

sel des Kommandanten vertauscht. Der halbkugelförmige Funkhelm gab ihm
im Zwielicht des Raumes das Aussehen eines erwachsenen Mannes. An den
übrigen Kontrollen: Micel vor den Beobachtungsgeräten, Brim an der Meteo­
ritenkontrolle und Karlie an der Funkleitstelle, wo er dafür sorgte, daß alle
Helmträger miteinander sprechen konnten, wo sie sich auch befanden.

Fantasia hatte mit Freddie und Robbie einen Posten als Astrogator über­

nommen und bestimmte mit den komplizierten Geräten die genaue Position
des Schiffes. Trompo fungierte wieder als Dolmetscher.

Thunderclap, der die Baupläne des Schiffes auf den Knien liegen hatte, gab

Micel   seine   Anweisungen.   Es   galt   nun,   die   noch   an   Bord   befindlichen
anderen Kinder aufzuspüren und mit ihnen Kontakt aufzunehmen.

„Deck 12!“
Nacheinander flammten die Bildschirme auf. Tiere hoppelten über Kunst­

landschaften. Sanfte Winde wehten. Die Klimaanlagen funktionierten eben­
falls wieder. Auf diesem Deck lief alles zur besten Zufriedenheit.

„Deck 13!“
Micel bediente seine Kontrollen wie ein erfahrener Ingenieur. Robbie und

Freddie hatten allen in einem Hypnoselehrgang beigebracht, was man wissen
mußte, um ein Schiff von dieser Größe wenigstens einigermaßen in den Griff
zu   bekommen.   Automatisch   spulte   sich   dieses   Wissen   jetzt   ab,   als   es  er­
forderlich wurde. Gemeinsam inspizierten die Kinder über die Visiophone
die einzelnen Decks.

Erst   als   die   Kameras   die   Basis   der   Grünen   auf   Deck   46   zeigten,   sah

Thunderclap zwei Mädchen und drei Jungen, die dort in Decken gehüllt auf
dem   Boden   saßen.   Sie   machten   einen   müden,   hungrigen   Eindruck.   Kein
Wunder. Auch auf Deck 46 war die Heizung ausgefallen. Wenn die Kinder

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sich nicht getraut hatten, den Antigravlift zu benutzen, war ihnen keine ande­
re Wahl geblieben, als dort zurückzubleiben.

Thunderclap   bediente   einige   Knöpfe.   Seine   Stimme   dröhnte   verstärkt

durch   die   verborgenen   Lautsprecher.   Die   eingemummten   Kinder   hoben
erstaunt die Köpfe.

„Hier spricht Thunderclap Genius von Deck 27“ sagte Thunderclap. „Ihr

braucht keine Angst zu haben. Wir sind in der Zentrale und bringen das Schiff
wieder in Gang. Habt ihr noch etwas zu essen?“

Eines der Mädchen schüttelte den Kopf. Die anderen schienen Thunder­

claps Worte gar nicht verstanden zu haben. Sie waren bereits so schwach,
daß sie nicht mehr aufnahmefähig für Botschaften schienen.

„Bleibt wo ihr seid“, sagte Thunderclap. „Wir schicken ein Rettungskom­

mando.“

„Ich gehe schon“, rief Brim. „Anca, kommst du mit?“ Sie nickte. Gemein­

sam eilten sie zum Lift.

Die nächsten Kinder entdeckten sie auf Deck 112. Es war eine Gruppe von

zwölf Personen, unter denen sich auch Big Tom befand. Offensichtlich waren
bereits   einige   seiner   Leute   abgesprungen   und   hatten   sich   selbständig   ge­
macht.  Thunderclap   konnte   sich  einen   kleinen   Triumph  nicht   verkneifen,
wenngleich er auch mittlerweile zu der Ansicht gelangt war, daß der Anführer
dieser Gruppe für sein aggressives Verhalten wohl nichts konnte.

„He, Tom!“ rief er laut.
Big Toms Kopf fuhr herum. Auch seine Leute spähten angestrengt um sich,

ohne jedoch den unbekannten Sprecher zu entdecken.

Thunderclap lachte. „Du kannst mich nicht sehen Tom. Erinnerst du dich

an mich? Ich bin Thunderclap Genius, der Junge mit dem Rollstuhl von Deck
27.“

Big Tom zuckte zusammen, als hätte ihm jemand einen Stoß in den Rücken

versetzt.

„Wo bist du?“ fragte er dann mit unsicher flackerndem Blick, wobei er sich

langsam im Kreise drehte. „Wo hast du dich versteckt?“

„Wir sind in der Zentrale“, informierte ihn Thunderclap kurz. „Deck null.

Ganz oben. Wie geht es euch? Habt ihr genug zu futtern?“

„Allemal“, erwiderte Tom. Irgendwie kam ihm die ganze Sache nicht ge­

heuer vor, das merkte man. Aber vor seinen Leuten wollte er sich natürlich
keine Blöße geben. „Willst du was?“

Thunderclap verneinte. Wenn es Big Tom gut ging, konnten sie sich erst

einmal um hilfsbedürftigere Kinder kümmern. Sie fanden noch sieben Kinder
in Deck 129, die offensichtlich erst jetzt festgestellt hatten, daß die dortigen
Grünen   ausgefallen   waren   und   sich   kopfschüttelnd   über   deren   leblose
Gestalten beugten. Auch sie wurden in aller Schnelle darüber informiert, was
in den letzten Tagen geschehen war.

Auf Deck 137 schließlich stießen die Kameras auf die restlichen acht Leute

aus Toms Gruppe, die sich hier häuslich niedergelassen hatten. Ihr Deck un­
terschied sich stark von allen anderen, die sie von der Zentrale aus gesehen

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hatten: Es war voller gläserner Behälter, in denen Fische schwammen, Terra­
rien, in denen Spinnen wimmelten und Schlangen umherkrochen. Und es
gab eine Menge von kleinen Käfigen und Zwingern, in denen sich Hunde,
Katzen und Mäuse tummelten.

„Aha!“ sagte Thunderclap. „Da haben wir den Platz, von dem die richtigen

Tiere abgehauen sind.“

Die Kamera zeigte mehrere zerbrochene Glasbehälter, in denen sich kein

Leben   regte.   Aber  die   Temperaturanzeige  gab   an,   daß   es  hier   unten   sehr
warm war. Wahrscheinlich waren die acht Kinder deshalb nach hier geflüch­
tet. Und sie versorgten die Tiere mit Futter wie man später herausfand.

Robbie, der Weltraumarzt, näherte sich Thunderclap und reichte ihm seine

Berechnungen. Micel, der sich von seinem Sessel erhob, machte ein betrof­
fenes Gesicht, als wisse er schon, was Robbie Thunderclap und den anderen
mitteilen wollte.

Trompo hüpfte mit einem Satz auf Thunderclaps Schoß und machte es sich

inmitten  der Schiffspläne gemütlich. Harpo,  der  in der Mitte   der Zentrale
gestanden und fasziniert die leuchtenden Sterne bewundert hatte, bemühte
sich, über Robbies Schulter zu spähen.

Robbie sagte etwas, und Trompo übersetzte.
„Das Große Gehirn funktioniert in fast allen Einheiten“, erklärte Robbie.

„Bis jetzt sind noch außer Betrieb: die Grünen, die Abteilung der automa­
tischen Baumaschinen – ihr wißt schon, in den Decks, die noch nicht ganz
fertiggestellt sind – und der Schiffsantrieb.“

„Und was bedeutet das?“ fragte Harpo atemlos.
Thunderclap klopfte auf die Lehne seines Sessels. „Kruzifix! Ich hab’ doch

so was geahnt.“ Er sah sich in der Runde um und erklärte dann: „Ohne An­
trieb keine Kurskorrektur, ohne Kurskorrektur keine Drehung, ohne Drehung
kein Rückflug, ohne Rückflug keine Erde!“

Peng! Das saß.
Allen wurde nun schlagartig klar, daß sie die Erde so schnell nicht wieder­

sehen würden. Sie würden immer weiter ins All hinaustreiben, immer weiter,
Jahre und Jahrzehnte, bis in die Unendlichkeit – oder ...

„Oder?“ fragte Karlie.
„... oder bis wir in  das Schwerefeld einer Sonne geraten und in sie hin­

einfallen“, ergänzte Micel, der bereits Thunderclaps Antwort kannte.

Harpo beschwichtigte: „Nun mal langsam, Leute. Genausogut können wir

in das Schwerefeld eines Planeten gezogen werden. Und dann können wir in
eine Kreisbahn gehen und landen ...“

„Landen? Mit diesem Kasten? Du spinnst wohl!“ rief Karlie.
„Aber mit einem Rettungsboot!“
„Und wenn der Planet unbewohnbar ist?“ forschte Thunderclap.
„Und wenn, und wenn ... Das wird er schon nicht sein“, versetzte Harpo

und gab sich optimistischer, als er eigentlich war. Bittend fragte er Robbie:
„Könnt ihr gar nichts machen? Ich meine, den Antrieb reparieren?“

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Trompo   dolmetschte:   „Leider   nicht.   Die   verschmorte   Leitung   hat   einen

Brand   entfacht,   der   wichtige   Teile   zerstörte,   auch   jene   Zellen   des
Elektronengehirns, mit denen die Antriebselemente kontrolliert wurden. Da
wir selbst einen ganz anderen Antrieb verwenden, verfügen wir auch nicht
über passende Ersatzteile. Das Schiff wird weiter und weiter fliegen, bis es ir­
gendwo abgestoppt werden kann. Aber – das Weltall ist riesig und das Schiff
verhältnismäßig   klein. Die  Möglichkeit,  daß es auf  eine Sonne  oder einen
Planeten trifft, ist eine Milliarde zu eins.“

Harpo stellte gar nicht erst die Frage, ob die Ärzte nicht Hilfe von der Erde

herbeiholen konnten. Kein Mensch von der Erde war bisher so weit ins All
vorgedrungen   wie   dieses   Raumschiff   mit   den   Kindern   an   Bord.   Niemand
würde ihnen helfen können.

„Können wir nicht mit euch kommen?“ fragte Micel.
„Könnt   ihr   keine   Arztlehrlinge   gebrauchen?“   meinte   der   kleine   Oliver.

„Dann könnte ich mir meine Allergien vom Halse schaffen. Das wäre un­
heimlich günstig für die Krankenkassen.“

Robbie schüttelte traurig den Kopf. „Wir würden euch wirklich gern mit­

nehmen“, ließ  er Trompo  übersetzen. „Aber  ihr   könnt  auf unserem  Schiff
nicht  leben. Wir haben eine andere Atemluft als ihr. Ihr würdet ersticken.
Oder wollt ihr euer ganzes Leben in einem Raumanzug verbringen, mit einer
Sauerstoffflasche auf dem Rücken?“

„Und wieso könnt ihr dann in unserer Luft leben?“ bohrte Harpo weiter.

Das war ihm nun doch zu kompliziert.

„Wir müssen auf vielen verschiedenen Welten arbeiten“, erwiderte Robbie.

„Unsere Lungen sind durch operative Eingriffe in den unterschiedlichsten At­
mosphären funktionsfähig. Diese Operationen werden im Kindesalter vorge­
nommen. Ihr seid dafür bereits zu alt, fürchte ich.“

Es dauerte weitere drei Tage, ehe die Kinder sich wieder mit dem Thema

ihrer Zukunft auseinandersetzten. Inzwischen waren sie in ihrer Wohneinheit
auf Deck null nicht mehr allein: Bis auf die Mannschaft von Big Tom waren
alle oben, und so wimmelte es in der Zentrale und den umliegenden Räumen
von Kindern. Auch Lori Powitz war dabei, ein kleines Mädchen, das auf Deck
29   seinen   Rucksack   verloren  hatte.   Die   Kleine   war   nett,   nur   hatte   sie  die
komische   Angewohnheit,   sich   jedesmal   dann   mit   dem   Rücken   zu   den
anderen zu setzen, wenn sie sich länger als drei Minuten nicht ausreichend
beachtet fühlte. Harpo und die anderen konnten das nicht verstehen, denn
Lori war ihnen allen sehr sympathisch.

Dann tauchte das Schiff der Weltraumärzte wieder aus dem Dunkel der

kosmischen Nacht auf. Es blinkte mehrmals. Der Kommandant nahm Funk­
verbindung mit dem Raumschiff der Kinder und Freddie und Robbie auf.

Thunderclap hielt dies für den geeigneten Augenblick, eine Entscheidung

herbeizuführen. Zwei Kuriere wurden zu Big Tom hinuntergeschickt, damit
auch diese Gruppe informiert wurde.

Big Tom kam. Ehrfürchtig betrat er an der Spitze seiner Freunde die Ster­

nenkuppel. Er hatte überhaupt kein großes Mundwerk mehr, sondern erschi­

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en beinahe schüchtern und ängstlich. Die Anwesenden setzten sich auf den
Boden, weil es nicht genug Sitzgelegenheiten für alle gab.

„Ich eröffne die Konferenz“, quäkte Lonzo, der sich diesmal unbehelligt

den Weg durch die Schar der einstigen Widersacher bahnte. Er war immer
noch der einzige Roboter, der funktionierte.

„Hauptverhandlungspunkt ist: Was bei allen Planeten der Milchstraße tun

wir jetzt?“

Seine lustige Formulierung löste die Stimmung etwas. Hier und da brach­

ten Vereinzelte ein Lachen  zustande. Man hatte  jeden darüber informiert,
daß eine Rückkehr zur Erde gänzlich außerhalb der Möglichkeiten lag. Lonzo
verknotete   seine   Tentakel   vor   der   Kugelbrust   und   schmetterte:   „Verhand­
lungsleiter: Pitter Sausewind ... äh ... ich meine, Thunderclap Genius!“

Thunderclap   wurde   rot   und   fauchte:   „Lonzo!   Wie   konntest   du   das

verraten?“

Alles   lachte,   denn   nun   wußten   die   Kinder   endlich,   wie   Thunderclap

wirklich hieß. Aber er erholte sich rasch und wandte sich grinsend wieder der
Versammlung zu.

„Ich hoffe, ihr habt nichts von dem gehört, was dieser gemeine Ölschlucker

behauptet hat. Falls doch, so glaubt ihm nicht! Nun, Schwamm drüber! Wir
wollen jetzt beraten, wie wir weiter vorgehen.“

Thunderclap Genius führte mit Harpos Unterstützung in aller nötigen Brei­

te aus, was die Weltraumärzte, die von Tom und seinen Leuten gebührend
bestaunt wurden, herausgefunden hatten: daß es keine Möglichkeit gab, den
Antrieb anzuwerfen und daß Menschen an Bord des Arztschiffes nicht atmen
konnten.

Im Gegensatz zu Harpos und Thunderclaps Erwartungen schien das die

meisten der Anwesenden nicht sonderlich zu stören.

„Na und?“ hieß es. Oder: „Dann steuern wir das Schiff eben selbst!“ Oder:

„Döskopp, das können wir doch gar nicht.“ Oder: „Dann lernen wir es eben!“

Harpo staunte wortlos, er hatte damit gerechnet, daß einige in Tränen aus­

brechen, verzweifelt sein würden. Und nun das? Beschämt gestand er sich
ein, daß manche Kinder mehr Mut hatten als er selbst mit seinen sechzehn
Jahren.

Nachdem Robbie dargelegt hatte, daß es seinen Leuten möglich war, mit

vom   Arztschiff   stammenden   Ersatzteilen   zumindest   einige   der   Grünen
wieder flottzumachen, stieg die Stimmung sogar noch an. Ein Junge aus Big
Toms Gruppe erzählte, daß er mit einer Krankenschwester des Raumschiffs
verwandt sei, die ihm berichtet hätte, daß die Grünen, wenn man sie mit der
Steuerungsautomatik koppelte, in der Lage waren, das Schiff jahrelang allein
zu steuern. Diese Nachricht brachte das Faß zum Überlaufen.

Die   Abstimmung  ergab,  daß   alle   dafür   waren,   weiter   auf  dem   Schiff   zu

bleiben, und zwar so lange, bis sich die Kinder selbst gut genug mit den Ma­
schinen auskannten, um den Antrieb unter die Lupe zu nehmen. Und wenn
bis dahin zwanzig Jahre vergehen sollten!

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Aufbruch zu neuen Planeten

So etwa mochte es in der Hauptzentrale ausgesehen haben, als Harpo und

seine Freunde noch im Tal der Wigwams spielten und die Erwachsenen das
Zepter fest in der Hand hielten. Das vermutete Harpo jedenfalls mit einigem
Stolz, als er sich umsah. Wirklich gesehen hatte er die Zentrale ja erst, als die
Erwachsenen das Schiff bereits verlassen und die Kinder den Gewalten des
Kosmos überlassen hatten.

Harpo stand neben Thunderclap in der Mitte der Sternenkuppel und ließ

wie der Junge im Rollstuhl seine blanken Augen über die pulsierenden Licht­
ketten huschen, die nun wieder über fast alle Instrumententafeln flitzten. Die
Signallampen   gaben   derart   viel   Helligkeit   ab,   daß   man   sich   beinahe   ge­
blendet fühlte. Das frühere Halbdunkel des riesigen Raumes war durch das
Funkeln taghell erleuchtet.

Über ihnen – oder unter ihnen: denn im Weltraum gab es ja eigentlich kein

Oben und kein Unten – breitete sich das glitzernde Sternenband der Milch­
straße aus. Dieser Blick in die kosmische Unendlichkeit hinaus hatte nichts
an magischer  Anziehungskraft  verloren. Oftmals  erwischte man den einen
oder anderen, wie er gedankenverloren zu den Sternen hinausstarrte. Man
mußte sich nur einmal vorstellen, daß dieses Licht seit Millionen von Jahren
im Universum unterwegs gewesen war, bis es die Augen des Betrachters er­
reichte. Schließlich konnte es sich nur mit 300 000 Kilometern pro Sekunde
bewegen, während die Sterne selbst mitunter so weit entfernt waren, daß ein
Lichtstrahl Millionen von Jahren brauchte, um diese Entfernung zu durchei­
len.  Einige   der   ganz  fernen  Sterne   gab  es inzwischen   vielleicht   schon  gar
nicht   mehr:   Sie   waren   erloschen   oder   hatten   ihre   Energien   im   Zeitraum
weniger Jahre als grell aufflammende Nova vergeudet. Aber ihr Licht würde
noch  eine halbe Ewigkeit  lang im Kosmos  scheinen.  Harpo  seufzte, als er
diese weißen, grünen, blauen und roten Lichtpunkte sah. Jeder einzelne da­
von war eine Sonne, mal ferner, mal näher. Und viele davon mochten ein
Planetensystem   besitzen   wie   die   Sonne   der   Erde.   Eines   Tages   würde   aus
einem dieser Punkte ein feuriger Sonnenball werden. Und vielleicht würden
sie dann ...

Aber bis dahin  konnte  noch viel  Zeit vergehen. Die  Kinder an Bord des

Raumschiffes würden langsam erwachsen werden. Die hypnotische Lehrbe­
handlung durch die Weltraumärzte war eine gute Grundlage zum Studium
der Fachliteratur an Bord. Sie würden wachsen und lernen. Sie würden mit
der Zeit all das begreifen lernen, was ihnen jetzt noch verschlossen blieb. Ir­
gendwann würden sie das Schiff von seinem Geradeaus­Kurs abbringen und
es steuern lernen. Sie würden den Antrieb zünden und ihren eigenen Weg
wählen.

O ja, sie würden es schaffen. Vielleicht würden sie eines Tages sogar ver­

stehen, weshalb man eine Handvoll Kinder in einem Riesenraumschiff sich

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selbst   überlassen   hatte.   Weshalb   die   Erwachsenen   das   Schiff   verlassen
hatten ... Vielleicht würden sie den Erwachsenen sogar verzeihen.

Langsam schweifte Harpos Blick über die Anwesenden. Die Weltraumärzte

hatten gute Arbeit geleistet: Elf Grüne waren repariert und zur Steuerung des
Schiffes umprogrammiert worden. Sie saßen vor den Kontrollen und über­
wachten die Schiffsfunktionen. Und wenn die Zeit für den Unterricht kam,
dann lauschten die älteren Kinder – unter ihnen auch Harpo, Thunderclap,
Karlie,   Fantasia,   Micel   und   Fidel   –   begierig   den   Erklärungen   ihrer   ma­
schinellen Lehrer. Sie erklärten ihnen jedes Detail, das mit dem Schiff zu tun
hatte und webten ein Gewebe aus theoretischen Grundlagen darüber.

Schon   jetzt   kristallisierte   sich   heraus,   daß   bei   einigen   Kindern   das

technische   Verständnis   überdurchschnittlich   ausgeprägt   war:   Daran,   daß
Fantasia   einmal   eine   Spitzeningenieurin   würde,   zweifelte   niemand   mehr.
Und Karlie hatte intensives Interesse an der Astrogation. Er würde einmal das
Schiff lenken, kein Zweifel.

Was   Harpo   betraf,   so   wurde   er   von   der   Versammlung   für   das   Amt   des

Chronisten   und   Logbuchführers   bestimmt.   Man   wußte,   daß   seine   ganze
Liebe den Büchern gehörte. Inzwischen schrieb er auch schon an der kurzen
und turbulenten Geschichte des „Raumschiffs der Kinder“ – das jetzt einen
Namen hatte.

„Ich finde es blöde, daß wir immer nur von dem Raumschiff sprechen“, be­

klagte sich Anca eines Tages auf einer Versammlung. „Laßt uns diesem ...
diesem ... Eukalyptus­Bonbon endlich einen Namen geben!“

Natürlich sah das Raumschiff nicht wie ein Eukalyptus­Bonbon aus, aber

andererseits: Ein bißchen  Ähnlichkeit  hatte es vielleicht doch damit. Anca
wußte selbst nicht so genau, warum ihr gerade dieser Vergleich eingefallen
war. Möglicherweise hatte sie auch ein wenig an Weltraumärzte und Medizin
gedacht?

Auf jeden Fall wurde der Name mit großem Hallo begrüßt. Und obwohl

noch   ein   paar   andere   Vorschläge   gemacht   wurden   –   Harpo   notierte   ge­
wissenhaft in seinem Protokoll: GALAKTIKUS, STELLARIS, MÜLLERCHENS
BLECHDOSE und PARANOIA­EXPRESS –, war von Anfang an klar, daß Anca
unfreiwillig den Taufnamen schon genannt hatte. Mit übergroßer Mehrheit
entschieden sich die Kinder dafür, „ihrem“ Raumschiff den Namen EUKA­
LYPTUS zu geben. In einem feierlichen Taufakt wurde eine Flasche Champa­
gner   aus   den   Vorräten   der   Erwachsenen   an   der   Säule   des   Steuerpults
zerschlagen, und Harpo malte den Namen mit dicken, fetten Buchstaben in
die Schiffspapiere: RAUMSCHIFF EUKALYPTUS.

Die Weltraumärzte hatten sich, nachdem sie ihre Mission erfolgreich be­

endeten, wieder verabschiedet. Sie flogen einen Einsatz nach dem anderen
und verfügten kaum über Freizeit. Sie waren froh, den Kindern geholfen zu
haben.   Nun   konnten   sie   aus   eigenen   Kräften   ihre   Lage   meistern.   Die
Anwesenheit   der   Ärzte   war   nicht   mehr   erforderlich.   Andere   Patienten   an
allen Ecken und Enden der Galaxis warteten auf ihre Hilfe.

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Bevor die Ärzte abflogen, untersuchten sie alle Kinder noch einmal gründ­

lich auf Herz und Nieren. Brim Boriam wurde von ihnen für einen Schnell­
kursus   ausgesucht.   Er   lernte   hypnotisiert   einige   Geheimnisse   der
Weltraumärzte und konnte künftig in Zusammenarbeit mit Lonzo und den
anderen Grünen ärztliche Hilfe leisten.

Besonders gründlich wurden Thunderclap, Lucky und Babs von den Welt­

raumärzten untersucht. Aber es stellte sich heraus, daß die Medikamente hier
im Weltraum für eine Behandlung nicht ausreichten. Vielleicht konnte man
ihnen   in   der   Zentralklinik   auf   dem   Heimatplaneten   der   Ärzte   helfen.   Die
Weltraumärzte verschwanden mit dem Versprechen, eine Botschaft an alle
anderen Patrouillenschiffe zu schicken.

In dem voraussichtlichen Zielgebiet der EUKALYPTUS sollten die Ärzte in

einigen  Monaten  oder Jahren  nach den  Kindern  Ausschau  halten. Irgend­
wann   würde   man   sich   wiedersehen.   Und   dann   sollte   den   Dreien   auf   der
Heimatwelt der Weltraumärzte geholfen werden.

Thunderclap fieberte schon jetzt diesem Moment entgegen, so fern er auch

noch sein mochte. Er war felsenfest davon überzeugt, daß die Ärzte Wort hal­
ten würden.

Trompo   war   entgegen   den   Befürchtungen   aller   nicht   mit   den   Welt­

raumärzten abgeflogen. Er hing inzwischen so sehr an den Kindern, daß er
sich nicht von ihnen trennen mochte.

Der Mann im Tiefschlaf, der auf den Namen Daniel Locke hörte, lag noch

immer in seinem Behälter und regte sich nicht.  Die Weltraumärzte hatten
auch ihn untersucht und festgestellt, daß er an einer Krankheit litt, die sie
nicht   heilen   konnten.   Es   war   besser,   wenn   man   ihn   schlafen   ließ.   Wahr­
scheinlich war Daniel Locke gerade deshalb eingefroren worden, weil man
ihm nicht helfen konnte und auf die medizinischen Fortschritte der Zukunft
hoffte.

Babs,   das   geheimnisumwitterte   Mädchen   aus   Harpos   Kleiderschrank,

sprach so gut wie nie, war aber stets zur Stelle, wenn man Hilfe benötigte.
Harpo  hatte  nachgeforscht:  Ihr   Name   stand  nirgendwo  auf  der   Passagier­
oder Mannschaftsliste der EUKALYPTUS.

„Vielleicht ist sie ein blinder Passagier“, vermutete Thunderclap.
„Mag sein“, antwortete Harpo und zuckte mit den Schultern. „Oder sie hat

uns einen falschen Namen genannt. Na, irgendwann werden wir das schon
noch herausfinden.“

Big Tom hatte seine ruppige Art noch immer nicht ganz abgelegt, aber er

bemühte sich, den anderen Kindern ein echter Partner zu sein. Fidel nahm
sich seiner besonders an, vielleicht deshalb, weil er eine ähnliche Entwick­
lung durchgemacht hatte und ihn deshalb gut verstehen konnte.

Während Fantasia, Karlie, Harpo und Brim schon ziemlich deutlich sahen,

welche Funktionen sie auf der EUKALYPTUS zu erfüllen hatten – was Karlie
nicht davon abhalten konnte, so oft wie möglich seiner Kochleidenschaft zu
frönen und immer wieder neue Kartoffelpuffer­Rezepte auszuprobieren – ,
versuchten   die  anderen,   möglichst   viel   Wissen   zu  speichern.   Das   war   ein

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ganz  anderes   Lernen,  als  sie  es von früher  her  kannten.  Sie  lernten  nicht
deshalb, weil ein Lehrer, ein Erwachsener oder ein Grüner sie zwang, sondern
deshalb,   weil   sie   wußten,   daß   dieses   Wissen   der   Gemeinschaft   an   Bord
diente. Es machte einfach auch Spaß, Grundgesetze der Elektrotechnik zu
lernen und anschließend selbst eine Schaltung zu bauen. Wenn man dann in
der Zentrale die Lichterketten über die Schalttafeln huschen sah, verstand
man plötzlich, wie alles funktionierte und was die Signalleuchten meldeten.

Anca und der kleine Ollie hielten sich meistens bei den echten Tieren auf.

Sie brachten ihnen Futter, säuberten die Käfige und studierten die Lebensge­
wohnheiten   ihrer   neuen   Freunde.   Anca   bezwang   sogar   ihre   Angst   vor
Schlangen   und   lernte   dabei   zum   Beispiel,   daß   einige   Tiere   gar   keine
Schlangen waren, obwohl sie so aussahen. Eine Blindschleiche etwa konnte
man unbedenklich anfassen. Sie fühlte sich weich und glatt an und konnte
gar nicht beißen. Ein kleiner Dackel namens Moritz durfte bald die Käfige
verlassen. Er tollte mit Trompo durch das Schiff und neckte ihn. Trompo ließ
es sich gern gefallen und mimte Angst vor dem kleinen Kläffer.

Seit der erfolglosen Schatzsuche waren aus Lucky und Lonzo die besten

Freunde geworden. Sie stöberten auch weiterhin nach verborgenen Schätzen,
und niemals zuvor hatte man Lucky derart viel lachen gehört wie jetzt. Sein
rätselhaftes Talent, andere Leute und sich selbst von einem Ort zum anderen
zu versetzen, schlummerte unter der Oberfläche seines freundlichen Gemüts.
Brim, der nur noch selten stotterte, plante bereits eine Testreihe, um her­
auszufinden, wie man Luckys Begabung bewußt einsetzen konnte.

Micel   Fopp,  der Telepath,  wollte Brim   bei  diesen Versuchen   so gut  wie

möglich helfen. Einstweilen wurde er nicht müde, die vielen neuen Freunde
ausgiebig kennenzulernen. Für einen Menschen, der Gedanken lesen konnte,
war das sicherlich ein noch größeres Abenteuer als für alle anderen Leute.

So  haben wir  unsere   Freunde   noch   einmal  Revue  passieren  lassen.  Der

letzte Blick aber, den wir in das immer noch führerlose Raumschiff EUKA­
LYPTUS werfen, gilt Thunderclap Genius, dem Jungen im Rollstuhl, von dem
wir inzwischen wissen, daß er eigentlich Pitter Sausewind heißt. Wir sehen
ihn   vor   einem  Bildschirm   sitzen   und  auf  einen  blaugrünen  Stern   starren.
Täuschen wir uns, oder ist dieser Stern in den letzten Wochen tatsächlich
größer geworden? Wir blicken auf Thunderclaps Gesicht. Seine Augen haben
sich verengt, und mitten auf der Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. Er hat
es also auch gemerkt.

Ja, kein Zweifel. Das Raumschiff EUKALYPTUS nähert sich einer fremden

Sonne.

Ende

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Die Besatzung der EUKALYPTUS

Harpo Trumpff:
Sechzehn. Blondes, schulterlanges Haar. Hat gelegentlich Angst vor dem

Alleinsein in der Dunkelheit. Grund seines Aufenthalts auf dem Sanatoriums­
schiff:   Schwindelanfälle,  Gedächtnisstörungen   nach  Stürzen.  Chronist  und
Logbuchführer der EUKALYPTUS.

Anca Trumpff:
Harpos Schwester. Zwölf. Langes schwarzes Haar. Klein. Etwas pummelig.

Regt sich auf, wenn man sie „Pummelchen“ nennt. Liebt Tiere. Mit Ollie sehr
eng befreundet. Übertreibt gern. Wurde auf das Schiff geschickt, damit Harpo
sich nicht allein fühlt.

Brim Boriam:
Vierzehnjähriger Negerjunge. Krauses Haar. War anfangs sehr schüchtern.

Litt unter starken Sprachstörungen. Stottert jetzt nur noch, wenn er sehr auf­
geregt   ist.   Hat   medizinisches   Talent.   Wurde   von   den   Galaktischen   Medi­
zinern in einem Schnellhypnose Verfahren zum Arzt ausgebildet.

Thunderclap Genius:
Deckname eines gelähmten fünfzehnjährigen Jungen. Hütet seinen echten

Namen sorgsam. Hochintelligenter Tüftler. Technisch begabt. Alleswissende
Leseratte mit eidetischem Gedächtnis (vergißt kaum etwas, was er einmal ge­
hört oder gelesen hat). Hobby: Entschlüsseln von Geheimschriften.

Lucky Cicero:
Zehn.   Kann   nur   wenige   Worte   sprechen.   Mongoloide.   Sehr   verspielt.

Freundlich.   Verfügt   über   geheimnisvolle   parapsychologische   Geisteskräfte.
Ist   sich   ihrer   nicht   bewußt.   Kann   sie   nicht   steuern.   „Telekinet“   und
„Teleporter“  (Kann Gegenstände mit reiner  Geisteskraft  bewegen). Verfügt
über die Gabe, seinen Körper aufzulösen und an anderer Stelle wieder kom­
plett   zusammenzufügen.   Verbringt   seine   Zeit   hauptsächlich   damit,   zu­
sammen   mit   Lonzo   nach   nicht   existierenden   Schätzen   zu   suchen.   Beste
Freundin: Fantasia Einstein. Kümmert sich um ihn, als wäre er ihr kleiner
Bruder.

Lonzo:
Roboter. Im Gegensatz zu seinen maschinellen Kollegen, die wegen ihrer

teddybärartigen Aufmachung die „Grünen“ genannt werden, ohne Verklei­
dung. Behauptet von sich, überhaupt keine Maschine, sondern ein ehema­
liger   Seeräuber   zu   sein.   Ist   zweifellos   defekt.   Steht   voll   auf   der   Seite   der
Kinder. Akzeptieren ihn, so wie er ist. Klopft gern Sprüche. Hat so ziemlich je­
des Buch über Piraten gelesen. Ist in  der  Lage, kleinere  Verletzungen und

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Krankheiten   mit   einem  eingebauten   medizinischen  System  zu   behandeln.
Besitzt   aus   Metallringen   zusammengesetzte  Beine   und  einen   kugelrunden
Kopf.

Fantasia Einstein:
Fünfzehn.   Rothaarig.   Sensibel.   Blaß.   Wirkt   nervös.   Sehr   still.   Lerneifrig.

Kümmert sich rührend um Lucky Cicero. Möchte eines Tages Raumschiff­
bauingenieurin werden.

Fidel Flottbek:
Dunkelblond. Hat Pickel. Neben Harpo und Thunderclap der älteste Junge

an Bord der EUKALYPTUS. Hatte eine schlimme Jugend. Wuchs in Waisen­
häusern auf. Ist daher den Erwachsenen gegenüber nicht besonders positiv
eingestellt. Hält sie alle für schlecht. Kann aggressiv sein. Ist aber nicht ver­
stockt, sondern kann einsichtig sein, wenn man ihm eine andere Meinung in
den richtigen Worten nahebringt.

Micel Fopp:
Vierzehn.   Schwarzhaarig.   Dunkle   Augen.   Wurde   durch   falsche   Medi­

kamente, die seine Mutter während ihrer Schwangerschaft einnahm, mit ver­
kürzten Armen geboren. Hände klein wie die eines Fünfjährigen und direkt
an seinen Schultern angewachsen. Ansonsten körperlich unversehrt. „Tele­
path“ (ist in der Lage Gedanken zu lesen).

Karlie Müllerchen:
Fünfzehn.   2,20   Meter   groß.   Niemand   weiß,   wann   er   aufhören   wird   zu

wachsen. Bürstenhaarschnitt. Liebt nichts mehr als Kartoffelpuffer. Tischt sie
jedesmal, wenn er mit Küchendienst an der Reihe ist, den anderen in hundert
Variationen auf. Hat Humor und starkes Interesse an Funktechnik und Astro­
navigation.

Tom Schlitz:
Genannt   „Big   Tom“.   Fünfzehn.   Kaut   ständig   an   den   Fingernägeln.   Hat

puppenhaftes, weißes Gesicht und einen muskulösen Körper für seine Größe.
Anfangs ein ziemlich ruppiger Bursche. Wird später den anderen mehr und
mehr zum Partner. Freundet sich mit Fidel Flottbek an, der in seiner Kindheit
eine ähnliche Entwicklung durchmachte.

Ollie:
Elf. Strubbelkopf. Fransenbesetzte Lederhose. Ziemlich frech. Sogenannter

„Hypochonder“ (eingebildeter Kranker). Kerngesund, redet sich aber ständig
ein, gegen alles und jeden allergisch zu sein. Schreit nach Medizin, sobald er
einen einsamen Pickel auf seiner Haut entdeckt. Sein Ziel: rasch erwachsen
zu werden, weil er Anca Trumpff heiraten will.

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Moritz:
Dackel. Ollies Liebling. Darf eigentlich nicht in die Zentrale. Wird von Ollie

immer wieder eingeschmuggelt. Hat es auf Lonzos Metallbeine abgesehen.
Und auf Trompo, den er für eine Art Hund hält.

Trompo:
Außerirdisches Wesen von Katzengröße. Sieht wie ein rosafarbener Elefant

aus. Schlappohren. Haut ist von einem Fell bedeckt. Ist kein Tier, sondern ein
intelligentes Lebewesen von einem Planeten mit unaussprechlichem Namen.
Lebte als eine Art „Krankheitsaufspürer“ bei den Galaktischen Medizinern,
bevor er auf das „Raumschiff der Kinder“ kam.

Babs Monroe:
Geheimnisvolles, achtzehnjähriges Mädchen. Anwesenheit auf der EUKA­

LYPTUS bislang unerklärlich. Große blaue Augen. Mittellanges, hellblondes
Haar.

Daniel Locke:
Mehr ein Mythos als eine Person. Ein Mann in einem gläsernen Sarg. Die

Kinder können mit ihm keine Verbindung aufnehmen, weil er im Tiefschlaf
liegt.

EUKALYPTUS:
Den Namen erhielt das Schiff erst durch die Kinder. Obwohl es ja eigentlich

eher  wie  eine  riesige   Hantel   aussieht.  Zwei   Kugeln,   ein  zylindrisches   Ver­
bindungsstück. Besteht aus  einer Vielzahl von Decks, jedes kilometergroß,
viele davon als künstliche Wüsten und Dschungel ausgestattet.

Ob das Raumfahrzeug ursprünglich als eine Art Auswanderungsschiff für

interstellare Reisen vorgesehen war, weiß man nicht so genau. Sicher ist nur,
daß es einen neuartigen, vorher nicht getesteten Antrieb besitzt, der mehrfa­
che Lichtgeschwindigkeit zuläßt. Es umkreiste als Hospitalschiff für kranke
und umweltgestörte Kinder die Erde – bis es sich aus noch ungeklärter Ursa­
che aus seiner Umlaufbahn riß. Die ursprüngliche Besatzung ließ das Schiff
und die Kinder im Stich. Diese mußten selbst lernen, das Schiff zu steuern.
Daß sich die EUKALYPTUS überhaupt wieder manövrieren läßt, verdanken
die Kinder  vor allem den hilfreichen „Weltraumärzten“, einer  extraterrest­
rischen Rasse. Die EUKALYPTUS hat mehrere Beiboote, Fabrikationsstätten
für alles, was an Bord benötigt wird, Wartungsroboter – und natürlich eine
sehr tüchtige, aber auch fröhliche Besatzung.

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