Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn
Bei den Nomaden
des Weltraums
Band 4
aus der Reihe
„Raumschiff der Kinder“
ungekürzte Originaledition
der nicht mehr aufgelegten
Einzelausgabe von 1977
© Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1977. Sämtliche
Rechte, auch die der Verfilmung, des Vortrags, der Rundfunk und
Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten
sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.
ISBN 3770904036
Fremder an Bord
Sie lebten in ihrem Raumschiff weit draußen am Rande der Milchstraße.
Dort, wo die Sterne seltener sind als im Zentrum und die Galaxis wie der
flachgedrückte Körper einer Schildkröte aussieht. Ihr Ziel war das nächstge
legene Sonnensystem. Die große rote Sonne, von der man wußte, daß sie
Planeten besaß, hatte das Interesse der Besatzung geweckt.
Sie – das waren:
Harpo Trumpff, sechzehn Jahre alt, ein mittelgroßer Junge mit blondem,
lockigen Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel ...
Anca, seine Schwester, nun bald dreizehn, schwarzhaarig und gelegentlich
völlig zu Unrecht als Pummelchen bezeichnet ...
Micel Fopp, vierzehn, dunkelhaarig und mit verträumten braunen Augen.
Ihn umgab eine geheimnisvolle Aura. Obwohl man auf den ersten Blick nur
erkennen konnte, daß er viel zu kurze Arme besaß, weil seine Mutter wäh
rend der Schwangerschaft ungenügend erprobte Medikamente eingenom
men hatte. Was man nicht sehen konnte: Micel konnte die Gedanken anderer
Menschen lesen. Und nicht nur die von Menschen ...
Brim Boriam, vierzehn wie Micel, ein Afrikaner mit krausem Haar und
dunkler Haut. Sein Wissen um den menschlichen Körper, seine Krankheiten
und deren Heilung brauchte sich nicht hinter dem eines irdischen Arztes zu
verstecken – im Gegenteil. Das verdankte er einer kurzen Hypnoschulung
durch außerirdische Lebewesen, die auf vielen Planeten der Milchstraße als
Weltraummediziner oder Galaktische Ärzte bekannt waren.
Dieses Quartett hielt sich gerade in der riesigen Zentrale des riesigen
Raumschiffes auf, dem sie den Namen EUKALYPTUS gegeben hatten.
Die Besatzung bestand nicht aus ihnen allein. Da war zum Beispiel Karlie
Müllerchen, eine wahrhaft aufsehenerregende Erscheinung. Denn der sech
zehnjährige Karlie überragte mit seinen zwei Metern zwanzig jedes andere
Lebewesen im Umkreis einiger Lichtjahre. Den Riesenwuchs, die Fistel
stimme und den dünnen Kinnbart „verdankte“ er der bedrohlichen Verseu
chung der Erde. Eine Ursache, die auch für das abweichende Aussehen und
Verhalten der meisten anderen Besatzungsmitglieder verantwortlich war.
Außenseiter gab es an Bord der EUKALYPTUS nicht. Deshalb hatte auch
Karlie niemals seinen Humor verloren. „Irgendwie“, sagte er manchmal, „hat
eben jeder seine Macke. Hauptsache, daß mir die Kartoffelpuffer
schmecken!“ Und sie schmeckten ihm wirklich wie sonst nichts auf der Welt.
Seine zweite Liebe galt der Technik. Niemand an Bord konnte es mit seinen
geschickten Fingern aufnehmen, wenn es galt, die komplizierten Steuerappa
raturen zu bedienen.
Ausgenommen vielleicht Thunderclap Genius, den eine Krankheit an den
Rollstuhl fesselte. Thunderclap war fünfzehn, und er machte ein großes Ge
heimnis um seinen wahren Namen, den er für noch komischer hielt als den,
unter dem er lebte. Von frühester Jugend an auf den Rollstuhl angewiesen,
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hatte er viel Zeit damit verbracht, wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften
zu lesen. Da er ein gutes Gedächtnis besaß und logische Folgerungen ziehen
konnte, war er lebendiges Lexikon und gewiefter Denksportler zugleich. Er
behielt immer den Überblick und konnte organisieren wie kein zweiter.
Harpo, der schon erwähnt wurde, litt unter Platzangst und fürchtete die
Dunkelheit. Ihm wurde leicht schwindlig. Sonst war er okay.
Der kleinste Mann an Bord war Ollie, von dem überhaupt niemand wußte,
wie sein Familienname lautete. Und Ollie war der sicherlich gerechtfertigten
Meinung, daß er als einziger Ollie an Bord sowieso mit keinem verwechselt
werden könne. Im Erfinden von Gruselgeschichten, bei denen sich jedem Zu
hörer die Nackenhaare sträubten, galt der Dreikäsehoch als unschlagbar.
Ollie war ein Elfjähriger mit Strubbelkopf und vielen Fransen an der
Trapperhose. Er war ein ziemlich cleverer Bursche – wenngleich er schon den
kleinsten Pickel auf seiner Haut für den Beginn einer tödlichen Krankheit
hielt.
Die beiden seltsamsten Wesen an Bord des Schiffes waren Lonzo und
Trompo. Lonzo war ein Roboter, der keiner sein wollte. Aber er hatte große
Ähnlichkeit mit den elf übrigen Robotern an Bord. Allerdings hatte er als
einziger eine Persönlichkeit entwickelt und sich schon auf die Seite seiner
heutigen Freunde geschlagen, als es an Bord des Schiffes noch ganz anders
aussah. Zweifellos war bei Lonzo irgendwo eine Schraube locker, da er stän
dig behauptete, ein ehemaliger Seeräuber zu sein. Er erklärte, bereits in
jungen Jahren ein Gefährte des Piraten Captain Kidd gewesen zu sein und mit
ihm im fünfzehnten Jahrhundert die damals noch sauberen sieben Weltmee
re unsicher gemacht zu haben. Auf jeden Fall war er nun ein unersetzlicher
Gefährte für die Raumfahrer auf der EUKALYPTUS.
Nun zu Trompo, einem Winzling, der äußerlich in mancher Beziehung
einem Elefanten ähnlich sah – einem nur kätzchengroßen Elefanten. Er hatte
ein rosarotes, weiches Fell, Miniaturstoßzähne und lange Schlappohren. Aber
Trompo war keineswegs ein Tier. Seine Heimat lag auf einem fernen, uner
reichbaren Planeten, und nur ein Zufall hatte ihn zunächst auf die Erde und
dann auf die EUKALYPTUS geführt. Er war sehr verspielt, zärtlichkeitsbedürf
tig und selten ernsthaft.
Die Zentrale der EUKALYPTUS war ein riesiges Rund mit einer durch
sichtigen Kuppel darüber. Abgesehen von einigen Lämpchen an den Steuer
instrumenten herrschte Dunkelheit. Das Licht der Sterne konnte ungehemmt
einfallen und bestimmte die Atmosphäre dieses Raums.
Hier residierte Schwatzmaul, das Bordgehirn. Das heißt, eigentlich steckte
ein Stück von Schwatzmaul überall an Bord, in jeder kleinsten Elektronik.
Aber in der Zentrale schlug gewissermaßen das Herz dieses Computers. Ohne
ihn wäre die Steuerung der EUKALYPTUS unmöglich gewesen. Als er einmal
für kurze Zeit ausfiel, bahnte sich eine Katastrophe an, denn Schwatzmaul
kontrollierte auch die Versorgung der Decks mit Licht, Luft und Wärme.
Wie der Name schon vermuten läßt, besaß er nicht nur eine Stimme, son
dern war auch ziemlich vorlaut und geschwätzig. Und das war gut. Die junge
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Besatzung, die nach einem Unglück unvorbereitet das Schiff übernehmen
mußte, wäre niemals in der Lage gewesen, die Symbolsprache eines norma
len Computers zu verstehen und ihm Anweisungen zu geben.
Alexander trat in die Zentrale. Er fehlt noch auf der Liste. Überall behaart,
auch im Gesicht, sah er auf den ersten Blick wie ein kleingebliebener, rotfel
liger Alaskabär aus. Aber er sah wirklich nur so aus. Die Kinder hatten auf
dem Planeten Nordpol, einer Schnee und Eiswelt, mit ihm Freundschaft ge
schlossen. Er war mit ihnen gekommen. So wenig ein Tier wie Trompo, zeich
nete er sich durch eine unersättliche Wißbegierde aus. Nur mit der
menschlichen Sprache haperte es noch ein bißchen bei ihm.
Gerade als Alexander den in einem weichen Schwenksitz liegenden Harpo
mit der Nase anstupsen wollte, schrillte eine Alarmklingel. Alexander verharr
te verdutzt mitten in der Bewegung, während Harpo seinerseits hochfuhr.
Auch Anca, Micel und Brim waren wie elektrisiert.
„Was ist denn los, Schwatzmaul?“ fragte Anca aufgeregt. „Oder wolltest du
uns nur ein bißchen munter machen?“
„Durchaus nicht“, antwortete die sonore Tonbandstimme des Computers
und verzichtete dieses Mal auf umständliche Umschreibungen. Gleichzeitig
ließ er die Alarmklingel wieder verstummen. „Ein unerklärlicher Vorfall auf
Deck 16.“
Die große Bildschirmwand leuchtete auf und zeigte auf zwanzig kleinen
Monitoren jene Teilansichten von Deck 16, die von den Fernsehkameras
erfaßt wurden. Aber mehr als eine leblose Sandwüste war dort nicht zu er
kennen.
„Ich registriere die Körperwärme eines Wesens von etwa menschlicher
Größe“, erklärte das Bordgehirn. „Leider hält es sich außerhalb des durch die
Kameras erfaßbaren Territoriums auf, etwas links von diesem Bildaus
schnitt.“
Schwatzmaul ließ jetzt nur den erwähnten Ausschnitt in starker Vergröße
rung auf der gesamten Bildwand erscheinen. Man sah ausschließlich Sand.
„Was macht dieses Wesen? Wo kommt es her?“ wollte Harpo wissen.
„Es verhält sich ganz ruhig, abwartend – wenn ich das so sagen darf. Wenn
mir diese Bemerkung gestattet ist: Ich glaube fast, daß es die Position der
Kamera kennt und sich ihr nicht zeigen will ...“
Harpo lachte laut auf. „Das ist bestimmt wieder so ein Scherz von Ollie.“
„Nein“, kam die Antwort. „Ich habe alle Besatzungsmitglieder im Bereich
der Kameras auf den verschiedenen Decks. Ollie zum Beispiel füttert gerade
Moritz mit einem großen Stück Fleisch ...“
„Aha!“ grunzte Alexander. „Deshalb heute beim Essen so verdächtige Bewe
gungen gemacht. Dabei Dackel Moritz sowieso viel zu dick!“
„Karlie befindet sich ...“ wollte Schwatzmaul fortfahren, aber Harpo fiel
ihm ins Wort. Er kannte den Genauigkeitsfimmel des Gehirns. Jetzt inter
essierten nur minutiöse Informationen.
„Wir glauben dir auch so, daß es sich nicht um ein Besatzungsmitglied
handelt!“ rief er. „Aber wer könnte es sonst sein? Vielleicht eines der Tiere, die
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wir bei unserer letzten Expedition von dem Wrack übernommen haben?
Nein, nein, das könnte unmöglich auf dieses Deck gelangt sein ...“
„Das Wesen ist weg!“ unterbrach Schwatzmaul.
„Was heißt ,weg‘?“ fragte Brim. „Es bbbbbbbewegt sich also irgendwo auf
Deck 16?“
„Weg heißt weg“, beharrte Schwatzmaul. „Ich kann es nicht mehr wahr
nehmen, es ist verschwunden. So plötzlich, wie es aufgetaucht ist.“
„Was denn?“ staunte Harpo. „Es ist aus dem Nichts aufgetaucht und jetzt
wieder im Nichts verschwunden? Meinst du nicht auch, daß es wahrscheinli
cher ist, daß deine Wärmesensoren defekt sind?“
„Ausgeschlossen! Eine Vielzahl meiner Instrumente hat die Anwesenheit
des Wesens angezeigt.“
„Du mußt dich irren. Schließlich gibt es keine Raumgeister oder Raumge
spenster!“
„Da ist es wieder!“ sprudelte Schwatzmaul los. „Dieses Mal auf Deck 40. Es
bewegt sich in den Bereich einer Kamera! Verdammt – oh, Verzeihung! –, die
Kamera ist ausgefallen. Aber Moment, ich schalte schnell um.“
Sekundenlang herrschte auf dem großen Bildschirm ein Tohuwabohu aus
gezackten Farblinien. Aber dann, für den Bruchteil einer Sekunde, sahen die
Freunde in der Zentrale vor dem Hintergrund einer grauen Metallwand tat
sächlich eine Gestalt. Sie trug einen Raumanzug mit einem durchsichtigen
Helm. Man sah gleich, daß der Anzug nicht aus den Werkstätten der EUKA
LYPTUS kam, obwohl es funktional Parallelen geben mußte. Das Wesen hatte
etwa die Größe und Statur eines Menschen, soweit man das aus dieser Per
spektive beurteilen konnte. Und hinter dem durchsichtigen Helm war ein
menschenähnliches Gesicht zu erkennen ...
Aber alles ging viel zu schnell. Aus unerklärlichen Gründen fiel auch die
zweite Kamera aus, und wenig später meldete Schwatzmaul, daß der Fremde
abermals verschwunden war. Sie warteten gespannt auf sein nächstes Er
scheinen, aber er kehrte nicht zurück. Keine neue Meldung erfolgte.
„Wir werden die beiden Decks untersuchen“, sagte Harpo schließlich.
„Und Schwatzmaul wird uns Fotoabzüge von dem Fremden machen. Wir
kommen schon noch dahinter, was das zu bedeuten hat!“
Nachdem sich die Aufregung ein bißchen gelegt hatte, kam Alexander end
lich dazu, seinen Freund Harpo anzustupsen. „Wollte nur sagen, daß heute
nix spielen können Schach mit dir“, sagte er. „Hab’ Verabredung mit Lonzo.“
Das klang recht geheimnisvoll, aber Harpo gingen andere Dinge durch den
Kopf. „Gut“, sagte er abwesend. „Wir holen die Partie morgen nach.“
Alexander gab Anca ein Zeichen, und beide verschwanden aus der Zentra
le. Der Antigravlift brachte sie schnell an ihr Ziel. Sie wurden bereits von
Lonzo und Karlie Müllerchen erwartet.
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Lonzo hat Probleme
„Was willste nun eigentlich?“ erkundigte sich Karlie Müllerchen und beugte
sich aus seiner luftigen Höhe zu Lonzo hinab. „Entweder du legst Wert dar
auf, von Captain Kidd als knallharter und rostfreier Freibeuter anerkannt zu
werden. Gut, aber dann darfste keinen Raumanzug tragen, kannst dich mit
Freund Alexander nur durch die Vermittlung unseres Computers Schwatz
maul unterhalten ...“
„Brrrr“, machte Lonzo und ließ alle Tentakel gleichzeitig wie Peitschen in
der Luft schnalzen, „der versaut mir wieder alle Poengten!“
„Die was?“ fragte Anca kichernd.
„Großes Steuermann Lonzo meinen Dinger, wo machen Witze witzig:
Pöngten!“ platzte Alexander heraus. Man sah ihm an, daß er sich auf seine
Vokabelkenntnisse einiges zugute hielt. Und das durfte er auch, denn für den
bärenhaft aussehenden Jungen vom Planeten Nordpol waren die bisherigen
Lernerfolge trotz seiner teilweise drolligen Aussprache eine stramme Leis
tung.
Trotzdem konnte Anca sich nicht zurückhalten, als sie merkte, daß Alex
ander es ernst meinte, und kicherte hinter vorgehaltener Hand.
Karlie gab ihr einen kleinen Knuff, denn er mochte nicht, daß sich jemand
auf Kosten anderer amüsierte. Außerdem war er sauer, weil es dem cleveren
Lonzo wieder einmal gelungen war, seinen ernsthaften Vortrag zu un
terlaufen.
„Also“, fuhr er gedehnt fort, damit ihm die gebührende Aufmerksamkeit
zuteil wurde, „die zweite Möglichkeit ist, daß man dir einen Raumanzug
schneidert, nebst Helm und Funkgerät. Dann kannst du mit Alexander so viel
quatschen wie du lustig bist.“
„Die Schneider an Bord dieses Schiffes sind aber miserabel“, klagte Lonzo
verzweifelt und fuhr hochnäsig fort: „Außerdem bezweifle ich, daß sie dazu in
der Lage sind, ein ansprechendes Gewand für meinen Luxuskörper zu
entwerfen. Mein preisgekrönter Korpus kommt nur nackt richtig zur Geltung.
Ihn durch Kleidung zu verdecken, wäre eine nicht wiedergutzumachende Be
leidigung für mich!“
Dabei stolzierte er wie ein Mannequin auf und ab, drehte seinen me
tallenen Körper hin und her und versuchte das Schwingen seiner nicht vor
handenen Hüften durch ein halsbrecherisches Schlingern seiner ganzen, aus
Kugeln gefertigten Gestalt zu ersetzen. Gleichzeitig ließ er die Schutzblenden
seiner Sehschlitze zur Hälfte herab und warf seinen Freunden Kußhändchen
und wilde Blicke zu, die wohl eindrucksvoll wirken sollten.
Anca, Karlie und Alexander fielen einander lachend und prustend in die Ar
me. „Jetzt verstehe ich auch“, keuchte Karlie nach einer Weile, während er
sich gleichzeitig mit dem Handrücken die Lachtränen aus den Augen wisch
te, „weshalb du dir damals selbst das Teddybärenfell über die Ohren gezogen
hast: Lonzo ist ein Exhibitionist!“
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Während Anca erneut loskicherte, weil sie die Bedeutung dieses Wortes
verstand, erstarrte Alexander mitten in der Bewegung und richtete die Ohren
steil auf. „Ein Exhubi... Exhabu...?“ grollte er wißbegierig. Das nachfolgende:
„Wat is’ dat denn?“ hatte er zweifellos von Ollie gelernt.
„Ein Exhibitionist“, half Karlie stolz aus, „ist jemand, der seinen nackigen
Körper anderen Leuten zeigt und Spaß dabei hat.“
„Aha“, brummte Alexander. „Aber weshalb hat kleines Pummelchen jetzt
gekriegt dicke rote Backen?“
„Ja, äh ... das ist nämlich so ...“ stotterte Karlie, aber Anca fuhr ihm sofort in
die Rede: „Ha! Pummelchen!“ rief sie Alexander empört zu. „Du sollst mich
nicht Pummelchen nennen, du ... du ... du dicker Bär! Und außerdem heißt
das nicht Backen, sondern Wangen! Wangen! So, und damit du es genau
weißt: Wenn ich dir meine Backen zeigen würde – dann wäre ich ein Exhibi
tionist!“
Alexander schüttelte verwirrt den Kopf. Jetzt verstand er überhaupt nichts
mehr. Dabei hatte er doch nur darum gebeten, ihm ein Fremdwort und das
für ihn unglaubliche Phänomen der Hautrötung zu erklären. Au weia, die
Menschen mochte verstehen, wer wollte! Für einen wissensdurstigen Rotpelz
waren sie manchmal ein Buch mit sieben Siegeln.
Zu allem Überfluß ließ jetzt auch noch Lonzo ein meckerndes „Hähähähä“
los.
„Was ist denn hier los?“ rief plötzlich eine Stimme von der Tür her, die so
eben lautlos auseinandergefahren war, weil sich das Rad eines Rollstuhls in
die Lichtschranke geschoben hatte. Thunderclap Genius tauchte auf. Hinter
ihm leuchtete von weither Harpo Trumpffs grinsendes Gesicht.
„Wir versuchen gerade Lonzo klarzumachen, daß er nicht drum herum
kommt, einen Raumanzug anzuziehen, wenn er Alexander mit seinen Pi
ratenstorys draußen besoffen reden will“, erklärte Karlie. Und etwas verlegen:
„Um ehrlich zu sein, wir sind dabei ein bißchen vom Thema abgekommen.“
„Ein Raumanzug für Lonzo?“ meinte Harpo skeptisch, während er den Kör
per des Eisenmannes einer eingehenden Musterung unterzog. „Das dürfte
aber schwierig werden. Vor allem, was den Helm angeht. Wenn ich Lonzos
Knubbelkopf so aus der Nähe betrachte ...“
„Ha, Elender!“ dröhnte Lonzo los. „Das ist Piratenbeleidigung! Zieht die
Messer, Jungs! Mein herrliches Lockenköpfchen als Knubbelkopf zu bezeich
nen! Welch ein Frevel!“ Er ließ empört einen seiner Tentakel wie einen Hub
schrauberrotor über seinem Kopf wedeln.
„Und was wollt ihr draußen?“ warf Harpo rasch ein. „Etwa ‘ne Prise Vaku
um schnuppern?“
„Denkste!“ rief Alexander. „Wollen uns nachgucken, ob Haut von famoses
Raumschiff EUKALYPTUS hat nich’ Beulen und Löcher!“
„Hm“, machte Harpo. Das war ein vernünftiger Gedanke. Denn seit ihrem
letzten Abenteuer auf dem im All treibenden Schiffswrack war ihnen klarge
worden, daß auch die EUKALYPTUS einem ständigen Trommelfeuer von kos
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mischem Staub und Meteoriten ausgesetzt war. Das Wrack hatte an seiner
Oberfläche wie eine Kraterlandschaft ausgesehen.
Sicher war es richtig, die Außenhaut der EUKALYPTUS vorsorglich zu un
tersuchen.
„Aber sorgt nicht Schwatzmaul mit seinen Robotern dafür, daß eventuelle
Lecks sofort abgedichtet werden?“ wollte Thunderclap wissen.
„Pah, Roboter“, sagte Lonzo überheblich. „Diesem selbstgefälligen
Quatschautomaten liefern wir uns doch nicht aus! Und den Blechkameraden
erst recht nicht. Trau keinem Roboter mit mehr als dreißig Schrauben! Ein
altes Sprichwort“, fügte er hinzu.
„Du bist doch selber ...“ setzte Anca an, biß sich aber im allerletzten
Moment auf die Zunge. Wenn Lonzo etwas ignorierte, dann die Tatsache, daß
er ebenfalls ein Roboter war.
„Bei der nächsten Batterieaufladung gibt es für Lonzo als Strafe einhundert
Volt weniger!“ dröhnte es aus den Lautsprechern. Das war Schwatzmaul, der
sich anscheinend auf die Zehen getreten fühlte. Lonzo schwieg, sichtlich be
troffen.
„Das verstehe ich nicht“, grübelte Thunderclap vor sich hin. „Erstens sitzt
Lonzos Lautsprecher auf der Brust. Da würde die Mikrofonanlage eines
Astronautenhelms gar nichts nützen. Und zweitens: Wäre es nicht wirklich
einfacher, wenn Lonzos Funkanlage durch einen Modulator ergänzt würde?
Funken kann er ja sowieso. Und der Modulator XL430 kann die Funksymbo
le gleich in Worte umsetzen.“
„Thunderclap!“ jauchzte Karlie Müllerchen begeistert. „Du bist ein As! Daß
mir das nicht gleich eingefallen ist!“ Er schlug sich mit der flachen Hand
gegen die Stirn.
„Juchhu!“ quietschte Lonzo lauthals. „Thunderclap – du bist ein richtiger
Genius! Jetzt werde ich dich auch niemals mehr mit deinem richtigen Namen
rufen, Pitter Sause...“
Die letzte Silbe wurde von Thunderclaps lautem „Ruhe“Gebrüll sofort ver
schluckt. Natürlich war es sinnlos, den richtigen Namen, den er trug, noch
immer geheimzuhalten, denn mittlerweile kannte ihn selbst das kleinste
Mäuschen auf der EUKALYPTUS.
Ohne zu zögern machte sich Lonzo daran, Thunderclaps Vorschlag in die
Tat umzusetzen. Er brummelte zwar so etwas wie: „Wo ist der Narkosearzt?“
und: „Die Monteure haben immer so eklig kalte Finger!“, verschwand aber
schließlich im schiffseigenen Ersatzteillager. Innerhalb von zehn Minuten
löste ein anderer Roboter den auf Lonzos Rückseite angebrachten Deckel
einer Montageöffnung, verlötete den nur daumengroßen Modulator XL430
mit dem Funkaggregat und schloß den Deckel wieder. Quietschfidel kehrte
Lonzo zurück. Er schien sehr zufrieden zu sein.
„Stell dir vor, Harpo!“ jubelte er und führte einen Freudentanz auf. „Er hat
überhaupt nicht gebohrt!“
Alexander hatte die Zeit genutzt und war in seinen Raumanzug gestiegen.
Der war natürlich maßgeschneidert wie alle anderen, weil man sich sonst in
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ihm nicht bewegen konnte. Die Raumanzüge aus dem Spezialstoff Bodyskin
hatten ihnen bereits bei ihrem letzten Abenteuer mit dem geheimnisvollen
Wrack nützliche Dienste erwiesen.
Die beiden waren zweifellos ein lustiges Paar. Lonzo tänzelte auf seinen
schlanken Metallbeinen voran und schlenkerte wild mit seinen drei Tenta
keln, während Alexander behäbig hinterhertappte. Selbst unter Bodyskin
Anzug und Raumhelm ließ sich seine Bärennatur nicht ganz verbergen – ob
wohl man ja von seinem roten Pelz nur das feinhaarige Gesichtsfell hinter der
Plexiglaskugel erkennen konnte. Alexander trug selbstverständlich Magnet
schuhe, während Lonzo keine benötigte: Er konnte nach Belieben Teile sei
nes Körpers magnetisieren und sich so an jeder Metallfläche halten.
Die beiden Inspekteure winkten ihren Freunden noch einmal zu, dann
verschwanden sie im GleitbootHangar. Die riesige Halle wirkte unter den
blauweiße Lichtbündel auswerfenden Deckenstrahlern wie ein nackter
Schlund, eine Vorstufe zur Leere des Weltalls. Zumindest dann, wenn man sie
mit den warmen und gemütlich eingerichteten Räumen verglich, die sie ge
rade verlassen hatten.
Im Hintergrund ruhten die Gleitboote auf ihren Magnetankern. Sie waren
nur schemenhaft zu erkennen und hatten Ähnlichkeit mit den gewaltigen
Walfischen, die einst zu hunderttausenden die Meere der Erde bevölkert
hatten. Heute gab es auf der Erde nicht einen einzigen Wal mehr. Jene Tiere,
die den Fangunternehmen ausbeuterischer Fischereigesellschaften ent
gingen – die sich den Teufel darum scherten, daß sie Raubbau an der Natur
betrieben –, waren inzwischen längst eingegangen. An durchaus menschli
chen Krankheiten wie Krebs oder Asthma. Denn die Meere waren zu riesigen
ChemieKloaken geworden, und die verseuchte Luft war wie ein Pesthauch in
die Lungen der Meeressäugetiere gedrungen.
Alexander kam nicht von der Erde. Er hatte nie im Leben einen Wal gese
hen. Sein Volk, die Rotpelze lebte – wie die Clans der Raufbolde und all die
anderen Lebensformen des Planeten Nordpol – in Einklang mit der Natur.
Aber auch er fühlte beim Anblick der Gleitboote einen leichten Schauer über
seinen Rücken jagen. Die fernen Schemen erschienen ihm wie fremde Götter
einer technischen Kultur, die er noch immer nicht ganz verstehen konnte.
Das Bewundern und Verwundertsein hielten sich bei ihm die Waage. Er hatte
längst begriffen, daß Technik im Grunde eine großartige Sache war – aber nur
dann, wenn die soziale Entwicklung garantierte, daß sie nicht gegen die
Menschheit, sondern für sie eingesetzt wurde.
„Tür braucht lange“, knurrte Alexander beim Beobachten der langsam zu
fahrenden Luftschleuse.
„Dafür ist dieser garstige Chefcomputer Schwatzmaul verantwortlich“,
knurrte Lonzo piratenhaft zurück. „Der macht sich einen Spaß daraus, uns
hier in der Kälte stehenzulassen. Wenn ich nicht diese Bärenruhe, sondern
das Temperament unseres tapferen Captain Kidd besäße, würde ich ...“
Dann öffnete sich vor ihnen ein Spalt und wurde schnell zu einem klaf
fenden Maul. Sie stapften hinaus in das nachtschwarze All.
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Ein seltsamer Komet
„Dort eure Heimat?“ flüsterte Alexander ergriffen und deutete auf ein grell
weißes Band, zu dem sich unendlich ferne Sterne gruppiert hatten.
„Das ist eine andere Galaxis“, erläuterte Lonzo. „Nein, nein, Captain Kidds
Welt, von der auch wir wackeren Fahrensleute stammen, liegt nicht so weit
entfernt. Aber immer noch derart weit, daß sie für uns unerreichbar ist.“
Alexander betrachtete nachdenklich einen der helleren Sterne. Er hatte ihn
schon oft von der Zentrale der EUKALYPTUS aus beobachtet; aber von hier
aus war das doch ein ganz anderes Gefühl. Das war die Sonne, um die seine
Heimatwelt Nordpol kreiste. Alexander unterdrückte den Impuls zu winken.
Eine alberne Idee. Es mochte schon sein, daß einer aus seiner Sippe in der
Nacht zum Himmel hinaufsah und sich fragte, wie es dem kleinen Alexander
und seinen Menschenfreunden wohl ergangen war. Aber so scharfe Augen
besaß auch auf Nordpol niemand, um ihn hier, Milliarden und aber Milli
arden von Kilometern entfernt, entdecken zu können. Nicht einmal mit dem
starken Teleskop in der Station des dortigen Galaktischen Mediziners war das
möglich.
Ohne Eile spazierten Lonzo und Alexander weiter. Der metallene Leib der
EUKALYPTUS wirkte aus dieser Perspektive so gigantisch, daß sich Alexander
immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen mußte, daß dies die Außenhaut
eines Raumschiffes war. Eher konnte man annehmen, sich auf der Oberfläche
eines aus reinem Eisen bestehenden Metallmondes zu befinden: In der einen
Richtung krümmte sich die Oberfläche sanft dem All zu, der Horizont ent
schwand den Blicken. Sah man dagegen in die andere Richtung, so wirkte die
Raumschiffhülle wie eine riesige Talebene, die sich weiträumig zwischen
zwei mächtigen Wällen dahinzog.
Dieser Eindruck entsprach der äußeren Form der EUKALYPTUS, die
Ähnlichkeit mit einer Hantel besaß. Jemand hatte das Schiff sogar mit einem
Knochen verglichen und das gar nicht zu Unrecht: Ein mächtiger Zylinder
wurde von je einer riesigen Kugel abgeschlossen.
Dies alles zu wissen und es dann aus eigener Anschauung zu sehen, waren
durchaus verschiedene Dinge. Das stellte Alexander immer wieder fest, wenn
er sich vom Bordgehirn mit dem seltsamen Namen Schwatzmaul unterrich
ten ließ. Auf den dreidimensionalen Darstellungen erschien das Sternenschiff
wie ein Körper überschaubarer Größe, nicht länger als ein paar Meter. Aber
diese Aufnahmen waren aus einer Entfernung von vielen Kilometern ge
macht worden. So direkt auf der Außenhaut der EUKALYPTUS haftend, fühlte
sich Alexander eher wie eine Ameise, die an einem Fernsehturm hochkrab
belt. Es war sehr beeindruckend.
„Alles klar bei euch draußen?“ fragte Thunderclap über Funk.
„Aye, aye, Käpt’n“, erwiderte Lonzo. „Windstärke null, Wassertiefe unend
lich. Schiff macht stramme Fahrt. Nur die vielen Leuchttürme stören die
Sicht etwas. Ahoi!“
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„Habt ihr schon Schäden entdeckt?“ wollte Harpo wissen.
„Nix“, gab Alexander etwas verlegen zu. Natürlich war ihm – wie auch allen
anderen – klar, daß die Suche nach den Meteoritenlöchern oder Rissen nur
ein Vorwand gewesen war. Der wirkliche Grund für diesen Spaziergang
waren Neugier und Abenteuerlust, nichts weiter. Schließlich waren die vielen
elektronischen Spürsinne Schwatzmauls viel gründlicher und zuverlässiger,
als Lonzo wahrhaben wollte. Abgesehen davon, hätte schon die gesamte
Mannschaft der EUKALYPTUS ausschwärmen und dann tagelang Meter für
Meter abschreiten müssen, um auch nur einen oberflächlichen Eindruck da
von zu gewinnen, wie es um den Zustand der Außenhaut wirklich bestellt
war.
Aber da Alexander schon einmal unter diesem Vorwand hinausgegangen
war, schaute er sich die Metallfläche, mit der seine Magnetschuhe ihn ver
banden, natürlich trotzdem genau an. Zu entdecken gab es nichts.
Anfangs hatte Alexander einen Kampf mit sich selbst ausgefochten. Auf der
einen Seite trieb ihn die Neugier dazu, sich die EUKALYPTUS mal von außen
anzusehen, auf der anderen Seite hatte er eine gewisse Angst davor. Beides
war verständlich.
Er konnte sich nur schwer vorstellen, daß dieses Raumschiff mit einer un
vorstellbar hohen Geschwindigkeit durch das All raste und trotzdem keine
Gefahr bestand, wie ein lästiges Insekt abgestreift zu werden und in die Tiefe
des Nichts zu fallen.
Alexander kannte das anders: Wenn die Rotpelze mit ihren Kufenschlitten
durch Schnee und Eis brausten, mußte man sich gehörig festhalten, um nicht
vom Fahrtwind hinausgeschleudert zu werden. Aber das war der springende
Punkt! Hier, im Weltenraum, gab es nämlich keinen Luftwiderstand und
deshalb natürlich auch keinen Fahrtwind. Weil das All, abgesehen von den
weit verstreut liegenden Himmelskörpern und dem kosmischen Staub, leer
ist.
„Ein Komet!“ rief Alexander begeistert und deutete auf einen auffällig
hellen Punkt. Tatsächlich! Der Komet fiel nicht nur durch seine Helligkeit
und den leuchtenden Schweif auf, sondern bewegte sich auch bemerkens
wert schnell. Man konnte seine Geschwindigkeit mit bloßem Auge regis
trieren.
„Ganz unter uns Pastorentöchtern“, sagte Lonzo, „das ist fürwahr ein
seltenes Exemplar von einem Kometen! Enterhaken bereithalten, Matrosen!“
Alexander prustete los. „Du kriegen wirklich fertig, ganze Komet zu kapern!
Oder mit Piratensprüche so verschrecken, daß Komet abhauen.“
„Wir sehen ihn nun ebenfalls“, rief Thunderclap aufgeregt über Funk.
„Lonzo hat recht: Es ist in der Tat ein seltsamer Komet! Oder habt ihr je da
von gehört, daß Kometen abrupt ihre Geschwindigkeit und ihren Flugkurs
ändern? Genau das macht aber dieser hier!“
„Donnerwetter, dann ist das Komet wohl gar nicht ein Komet!“ meinte
Alexander überrascht.
„Verrat!“ quäkte Lonzo. „Der Schurke segelt unter falscher Flagge!“
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„Das darfst du aber laut sagen“, bestätigte Harpo. „Schwatzmaul hat gerade
eine Vergrößerung des Objekts auf den Hauptbildschirm projiziert. Also ehr
lich: So was hat noch niemand von uns gesehen. Es sieht aus wie ...“
„Es hält genauen Kurs auf die EUKALYPTUS“, unterbrach Karlie Müller
chen von seinem Kontrollpunkt aus. „Jungejunge! Dieser kleine Kasten will
uns doch nicht etwa rammen?“
„Ach was, jetzt wird er schon langsamer!“ Das war wieder Thunderclap.
„Alexander! Lonzo! Das Ding schießt genau auf euch zu. Ihr müßt türmen!
Schnell zur nächsten Schleuse! Beeilt euch!“
Ohne zu zögern setzten sich die Angesprochenen in Bewegung. „Wie sieht
das Ding denn nun aus?“ stieß Lonzo hervor. O ja, das Objekt war jetzt so hell
und nah, daß man versucht war, nach ihm zu greifen. Die wahren Größenver
hältnisse blieben jedoch noch unklar. Sicher war allerdings, daß sich der
Lichtball mit atemberaubender Geschwindigkeit näherte, von Sekunde zu Se
kunde an Größe zunahm und einen konkreten Zielpunkt auf der Hülle der
EUKALYPTUS im Auge hatte: den Standort von Alexander und Lonzo.
„Wir nix schaffen bis Schleuse“, keuchte Alexander. „Bei Captain Kidds ver
blichenen Gebeinen!“ rief Lonzo theatralisch. „Defaitismus wird nicht ge
duldet! Nur Mut, Matrose Alexander, hinter der Schleusentür warten ein Faß
Rum, ein meterlanges Stück Kautabak und eine Lore Bratkartoffeln auf uns!
Mir nach – und immer fröhlich bleiben und dem Teufel in die Suppe
gespuckt!“
Er schlug einen Haken und raste im rechten Winkel zur vorherigen Rich
tung weiter. Vielleicht lag eine andere Schleuse näher als die, aus der sie ge
kommen waren. Lonzo mußte es wissen; diese Informationen waren in
seinem elektronischen Gehirn gespeichert. Alexander folgte ihm prustend.
Langsam wurde ihm bewußt, daß die ganze Zeit über Stimmen an seine Oh
ren gedrungen waren, die ihm möglichst plastisch zu beschreiben versuch
ten, wie das Gebilde, das sie verfolgte, aussah. Aber in der Aufregung hatte er
gar nicht zugehört.
Und dann wurde eine weitere Beschreibung unnötig. Alexander und Lonzo
sahen ihren geheimnisvollen Verfolger direkt über sich. Er hatte ihren Haken
schlag mit einem blitzschnellen Manöver nachvollzogen.
Das Ding, das ihnen so zu schaffen machte, sah völlig absurd aus, selbst in
Alexanders Augen: Es war ein Raumfahrzeug, das wurde jetzt deutlich, und es
war etwa dreimal so groß wie eines der EUKALYPTUSGleitboote. Aber im
Unterschied zu ihnen ließ es jede aerodynamische Form vermissen.
Mehr noch: Es wirkte willkürlich zusammengesetzt aus Einzelteilen, die für
andere Zwecke gedacht schienen und in mühsamer Bastelarbeit notdürftig
aneinandergefügt waren.
„Ha!“ schrie Lonzo. „Da fehlt ja nur noch die Kurbel, dann sieht das Ding
aus wie die olle Kaffeemühle von Captain Kidds Großmutter!“
Alexander konnte damit wenig anfangen, aber die Freunde an Bord muß
ten zugeben, daß der Vergleich nicht an den Haaren herbeigezogen war. Sol
che altmodischen Formen hatten sie wirklich bisher nur in historischen
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Filmaufzeichnungen gesehen. Das Licht, das den vermuteten Kometen be
reits aus der Ferne verraten hatte, drang aus dem kuppelförmigen Oberteil
der „Kaffeemühle“.
„Hat nix mehr Sinn abhauen“, preßte Alexander hervor und bremste ab, als
sich ein Lichtfinger aus dem Unterteil des Objekts vortastete, die beiden
blendete und sie schließlich in das Zentrum einer weißgelben Arena
gleißender Energie versetzte.
„Was die bloß wollen von uns?“ fragte Alexander mit trockener Kehle. Er
zweifelte nicht mehr daran, daß fremde Wesen in diesem seltsamen Gefährt
hockten.
„Die sind sicher neugierig und fragen sich, was ihr da auf der Hülle treibt“,
vermutete Harpo. „Aber ihr könnt ganz beruhigt sein: Zehn Roboter sind zu
euch unterwegs.“
„Ach, bis die hier sind ...“
Trotzdem fühlte sich Alexander ruhiger als zuvor. Von einem geheimnis
vollen Lichtball gejagt zu werden – das hatte ihn beunruhigt, weil er es nicht
verstehen konnte. Jetzt, da er zu wissen glaubte, daß es sich bei diesem Licht
ball um eine Art Raumschiff handelte, das eine Besatzung haben mußte, fühl
te er sich gleich mutiger. Mit Lichtbällen konnte man sich schwerlich
verständigen, mit Astronauten – und mochten sie noch so fremdartig wirken
– aber sehr wohl. Vielleicht waren sie wirklich nur neugierig. Und hinterher
würde es viel zu erzählen geben.
„Unbekanntes Raumobjekt – bitte melden! Was wollen Sie?“ raste Thunder
claps Funkruf inzwischen alle Frequenzen rauf und runter. Aber vom
fremden Raumfahrzeug kam keine Antwort.
Alexander fühlte sich plötzlich auf geheimnisvolle Weise hochgehoben. Sei
ne Magnetschuhe wollten nicht mehr an der Schiffshülle haften. Lonzo er
ging es ebenso, auch wenn er dagegen lauthals protestierte. Gemächlich
trudelten die beiden Körper inmitten des Lichtfeldes auf die Öffnung des
fremden Objekts, die auch der Standort der Lichtquelle war, zu.
„Ich protestiere im Namen von Captain Kidd, Klaus Störtebeker, dem Ro
ten Eddy und der gesamten Schwarzen Bruderschaft der Piraten aller Welt
meere!“ zeterte Lonzo. „Diese Behandlung ist ungehörig Sir oder Madam, je
nachdem. Ich verlange Satisfaktion! Wählen Sie zwischen Fingerhakeln,
Knallerbsenwerfen und Juckpulverschießen!“
Dann verschluckte das Tor des fremden Raumfahrzeugs die beiden
Freunde, und der Lichtstrahl, der offensichtlich weitaus mehr war als es zu
nächst den Anschein hatte, erlosch.
Traktorstrahlen, kam es Alexander in den Sinn. Irgendwo hatte er darüber
gelesen. Aber das war nur eine Theorie gewesen. Auf der EUKALYPTUS gab es
jedenfalls nichts dergleichen.
Bevor sich eine schwere Schleusentür zwischen sie und den Weltraum
schob, sah Alexander einen Lichtfleck auf der Oberfläche der EUKALYPTUS,
gar nicht weit weg. Mehrere Roboter flitzten aus der dort entstandenen Öff
nung und suchten die Außenhülle ab. Aber sie waren zu spät gekommen.
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Nachdem der letzte Spalt verschwunden war, fanden sich Lonzo und Alex
ander in einem stockdunklen Raum wieder. Der Schwerelosigkeit des Alls
entsprechend, trudelten sie von Wand zu Wand.
Dann preßte sie unerwartet eine sanft anschwellende Gravitation auf den
Boden. Sekunden später griff die Faust der Schwerkraft voll zu und heftete die
beiden Körper mit Gewalt an das Metall. Sie waren bewegungsunfähig.
Schwer atmend berichtete Alexander den Freunden auf der EUKALYPTUS
von seinen Eindrücken.
„Tut uns leid, daß die Roboter es nicht mehr rechtzeitig geschafft haben“,
meinte Thunderclap zerknirscht. „Ihr entfernt euch jetzt mit affenartiger Ge
schwindigkeit. Zunächst ist nichts zu machen. Die EUKALYPTUS startet viel
zu schwerfällig, um diesen Flitzer sofort zu erwischen.“
„Mein Testament liegt in der Schublade im zweiten Fach von oben“, brab
belte Lonzo jetzt dazwischen. „Meine Zahnbürste vermache ich ...“
„Aber Lonzo!“ fuhr Harpo hoch. „Du glaubst doch nicht, daß wir euch eu
rem Schicksal überlassen? Schwatzmauls Schaltkreise sind bereits heißge
laufen, so verzweifelt knobeln wir an einer Rettungsaktion herum!“
Lonzo lachte. „Das wärmt mir richtig das Herz! Nur Mut, Matrose Alex
ander! Ich bin ja bei dir!“
„Hab’ ich denn gesagt etwas?“ fragte Alexander überrascht. Er wunderte
sich, daß sein Begleiter zuerst den Angsthasen spielte und nun so tat, als habe
er nie an einer Rettung gezweifelt.
„Das heißt also, wir sind zunächst mal allein auf uns angewiesen“, fuhr
Lonzo fort.
„Aber nnur gganz kkurz!“ schaltete sich nun Brim Boriam von der EUKA
LYPTUS her in das Gespräch ein. „Wir geben nicht auf, kkeine Sorge! Es dau
ert nur ein bißchen. Wir folgen euch, Schwatzmaul hat schon auf volle Pulle
geschschaltet. Auf Dauer sind wir nnatürlich schneller als die Fremden. Nur
müssen wir erst mal beschleunigen – und ddas braucht eben seine Zeit.“
„Wir ändern bereits den Kurs“, ergänzte Thunderclap. „Und die Instru
mente sagen uns genau, wo ihr seid. Sicher steuert der komische Kasten das
nächstliegende Sonnensystem an.“
„Ihr müßt damit rechnen, daß die Funkverbindung abreißt“, fügte Anca
hinzu. „Das wird bald geschehen, weil die Entfernungen zu groß werden.“
„Haltet die Ohren steif!“ brüllte Ollie noch schnell dazwischen, dann be
gannen die Stimmen von der EUKALYPTUS bereits schwächer zu werden.
Als letztes hörten die beiden Entführten die Stimme Harpos, der in das of
fene Mikrofon hinein grübelte: „Da kann man ja verrückt werden. Erst dieser
mysteriöse Fremde an Bord, jetzt ein handfestes Kidnapping. Ob es da einen
Zusammenhang gibt ...?“
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Gefangene der Truuks
Mehrere Stunden lang geschah nichts weiter, als daß sich durch die unter
schiedliche Beschleunigung Momente, in denen weder Alexander noch
Lonzo zu größeren Bewegungen fähig waren, mit Augenblicken ab
wechselten, in denen sie schwerelos herumschwebten.
Beide Gefangenen nutzten es jedesmal sofort aus, wenn die Gravitation
einmal nicht wie Blei an ihren Gliedern hing. Sie konnten aber nichts
Wesentliches feststellen. Ihr Verlies war nicht größer als vier mal vier Meter.
An der Decke war eine vergitterte Projektoröffnung zu erkennen, wenn Lonzo
seinen Brustscheinwerfer darauf richtete. Möglicherweise hatte diese Öff
nung mit dem Traktorstrahl zu tun. Ansonsten bestand der Raum aus kahlen
Metallwänden.
„Pilot muß sein sternhagelblau“, knurrte Alexander verärgert, als er wieder
einmal während einer solchen nutzlosen Expedition von plötzlich
einsetzender Beschleunigung bei gleichzeitiger Richtungsänderung in eine
Ecke gedrückt wurde. Nur gut, daß die Raumanzüge einiges aushielten.
„Oder Captain Thunderclap und seine Mannen sind diesem schurkischen
Räuber bereits auf den Fersen und zwingen ihn zu solchen Manövern“,
frohlockte Lonzo. „Na, ich bin sicher, daß der Käpt’n diesen Seelenverkäufer
in spätestens zwei Stunden gekapert haben wird!“ Er sah sich forschend um
und meinte dann: „Du kannst übrigens den Helm ablegen, Alexander. Die
Luft ist genießbar.“
„Nee, danke“, wehrte der Rotpelz entsetzt ab. „Wie sagen Menschen? Vor
sicht ist Mutter von Porzellangeschäft? Oder Elefant ist Mutter von Porzellan
kiste? Egal, ich denken, daß Kiste sowieso bald auseinanderfliegen. Besser
Helm aufbehalten deshalb.“
Überrascht war Alexander trotzdem. Die unsichtbaren Entführer waren
also Wesen, die ein Gemisch aus Sauerstoff und Stickstoff zum Atmen benö
tigten. Wie mochten sie aussehen?
Diese Frage wurde beantwortet, als die hektischen Manöver durch eine ru
higere Flugweise mit gleichmäßig sanfter Gravitation ersetzt wurden. Für’s
erste – so schien es – hatten die unbekannten Entführer ihre Verfolger abge
schüttelt oder wähnten sich aus anderen Gründen in Sicherheit. Vielleicht
näherten sie sich aber auch ihrem Stützpunkt. Da Alexander doch neugierig
war, klappte er schließlich den Helm herunter und schnupperte mißtrauisch.
Aber an der Luft gab es tatsächlich nicht viel auszusetzen.
Wenig später hörten die beiden Gefangenen ein von außerhalb des Raumes
kommendes Schlurfen, das das leise Summen des Antriebs überlagerte.
Angespannt warteten sie die weiteren Ereignisse ab.
Ein Zischen ließ sie zusammenfahren. Dann versank die gesamte Wand zu
ihrer Linken im Boden. Nach dem Schattendasein im Licht ihrer leistungs
schwachen Brustscheinwerfer stach die aus dem Nachbarraum eindringende
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Lichtflut Alexander so sehr in die Augen, daß er gezwungen war, sie für eine
Weile zu schließen. Allein Lonzo starrte ungerührt in die Helligkeit.
„Hummel, Hummel, Seeleute!“ hörte Alexander ihn vergnügt krähen, wäh
rend seine Augen höllisch brannten. „Ahoi, allzeit gute Fahrt und fette Beute!
Empfehlen Sie mich dem Herrn Kapitän und seiner Gemahlin! Haben Sie die
Speisekarte für das heutige Dinner gleich mitgebracht? Ich hätte gern See
zunge und ...“
Dann schaffte Alexander es, die Augen zu öffnen. Wie durch einen Schleier
sah er drei Wesen auf sich zukommen, die etwas kleiner waren als er selbst.
Ihre Haut war grauschwarz und glänzend. Sie trugen keine Kleidung.
Als seine Augen sich endlich so weit an die Lichtfülle gewöhnt hatten, daß
er sie ohne zu blinzeln aufhalten konnte, waren die Fremden bereits in
nächster Nähe. Jetzt erst fiel Alexander auf, woran sie ihn erinnerten: an die
Robben seines Heimatplaneten. Und die wiederum glichen den ausgestor
benen Robben der Erde, wie er aus dem Mikrofilmarchiv der EUKALYPTUS
erfahren hatte. Aber – was hatten Robben im Weltraum zu suchen?
„Lubberr sjaii truuk?“ fragte eines der Wesen und blickte Alexander voll ins
Gesicht. Ja, wirklich, es war ein Robbengesicht mit rundem Schädel, seitlich
abstehenden Augen, vorgereckter MundNasenPartie und herabhängendem
Schnurrbart. Das Wesen blickte intelligent und nicht unfreundlich. Gleichzei
tig wirkte es jedoch ungeduldig und eine Spur hochnäsig. Die Flügel der
winzigen Nase blähten sich auf und schrumpften wieder.
„Oh, vielen Dank der freundlichen Nachfrage“, dröhnte Lonzos lautes
Organ neben ihm los. „Nur das regnerische Wetter macht unsereinem zu
schaffen. Rheuma, wenn Sie verstehen. Alte Seefahrerkrankheit. Weil es
immer so zieht im Krähennest, gelle!“
Natürlich hatte Lonzo den Fremden ebensowenig verstanden wie Alex
ander, aber wann hätte das einem Lonzo je etwas ausgemacht?
„Lubberr sjaii truuk?“ wiederholte das Wesen erneut, vielleicht noch etwas
ungeduldiger als zuvor. „Ach Gott“, meinte Lonzo verschämt, „abgesehen
von ihrem Zipperlein geht es der alten Dame noch recht gut. Hat in der
Jugend zu viel Rock ’n’ Roll getanzt, verstehen Sie? Nein, nein, wir werden be
stimmt nicht vergessen, sie von Ihnen zu grüßen!“
Fieberhaft überlegte Alexander, wie man die Situation verändern könnte.
Es war unbedingt nötig, sich verständlich zu machen, auch wenn Lonzo im
Moment nur an seinen Spaß dachte. Sicherlich war die ganze Verschlep
pungsaktion nur ein Irrtum, denn Alexander hatte erfreut festgestellt, daß
keiner der vermeintlichen Kidnapper einen Gegenstand trug, den man als
Waffe deuten konnte. Entweder fühlten sie sich an Bord ihrer „Kaffeemühle“
völlig sicher, oder sie hatten wirklich nichts Böses im Sinn. Wenn er doch nur
einen Translator ...
Siedendheiß fiel ihm ein, daß er ja tatsächlich einen bei sich trug! An Bord
der EUKALYPTUS mußte er ihn längst nicht mehr benutzen, da er die Spra
che der Menschen sprechen und verstehen konnte. Aber er trug das arm
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banduhrgroße Gerät noch immer am Handgelenk, weil es das erste Geschenk
seiner neuen Freunde und entsprechend kostbar für ihn war.
Mit hastigen Bewegungen fummelte er am Magnetverschluß der Hand
schuhe herum, um sein linkes Armgelenk freizulegen und den Aktivator zu
drücken.
Eine der Robben beobachtete ihn dabei mit Anzeichen der Unruhe, griff
aber nicht ein. Der Sprecher der drei Fremden hatte sich Lonzo zugewandt
und betrachtete ihn mit unverhohlener Neugier.
„Tsaaakki lubberr patzzzej zizi truuk?“ richtete es eine andere Frage dies
mal ausschließlich an Lonzo. Hoffentlich gelang es dem Roboter, den
Fremden in ein Gespräch zu verwickeln, damit der Translator die Möglichkeit
hatte, dieses Idiom zu analysieren, wünschte sich Alexander.
Lonzo, der mit einem Seitenblick festgestellt hatte, was sein Freund plante,
ging sofort darauf ein und erwiderte artig und verschämt: „Vielen Dank. Man
tut, was man kann. Aber ich muß gestehen, daß diese Begeisterung für meine
Konstruktion mich verlegen macht, wenn Kameraden in der Nähe sind. Be
such mich doch mal in einer halben Stunde in meinem Appartement oder
so ...“
Alexander konnte trotz der angespannten Situation einen Lachanfall nur
mühsam unterdrücken. Dabei entfuhr ihm ein spitzer Ton, der alle drei Rob
ben dazu brachte, bisher verborgengehaltene, winzige Ohren im Nackenbe
reich aufzustellen.
„Sjaii truuk jrr zizi truuk paharazzj“, meinte die Robbe, die sich bisher
vergeblich um eine Verständigung bemüht hatte. Sie gab den anderen einen
Wink, woraufhin sie sich zögernd näherten.
Jetzt setzte sich das Übersetzungsgerät schnurrend in Bewegung. Dem
winzigen Wunderwerk der Technik – die Geräte waren auf der Heimatwelt
der Galaktischen Mediziner entwickelt worden – hatten die wenigen Worte
bereits genügt. „Felltruuk und Eisentruuk ... Wilde ... dumm ...“ leierte es her
unter.
„Bei allen Raumgeistern!“ schepperte Lonzo los. „Niemals in meinem
Leben sind mir solche Unverschämtheiten an das lockenprächtige Köpfchen
geworfen worden. Saubande!“
Der Translator versuchte diesen Text stockend in die Robbensprache zu
übersetzen. Das mußte zumindest teilweise gelungen sein, denn die Fremden
zuckten betroffen zusammen.
„Dein Volk ... mit Handgelenk ... sprechen?“ klang es jetzt deutlich.
Alexander erklärte, so gut es ging, die Funktion des Translators, brachte
dann aber sofort seinen Protest vor: „Warum ihr uns entführt?“ brummte er
aufgebracht. „Haben nichts getan was liefert Grund. Wollen zurück auf Schiff
EUKALYPTUS, aber dalli!“
„Entführt ... Raumschiff“, kam es wie ein Echo zurück. Das Robbenwesen
schien erstaunt zu sein. „Besser Metalltruuk und Felltruuk uns danken für
Rettung aus Raumnot. Sonst verhungert auf garstigem Metallplaneten!“
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„Was sein los?“ rief Alexander. „Verstehe ich richtig? Ihr behaupten, daß
uns gerettet aus Raumnot! Nonsens! Wir niemals nicht in Raumnot gewesen.
Machten Mondscheinspaziergang auf Außenhaut von Raumschiff, zum
Donnerwetter!“
Diese Erklärung rief Heiterkeit unter den drei Robben hervor. Der Anführer
schlug sich vor Vergnügen mit seinen Händchen auf den runden Bauch.
Diese Händchen hatten jeweils vier Finger, zwischen denen sich Schwimm
häute befanden, und wirkten weitaus gelenkiger als die Flossen irdischer
Robben. „Hahaha!“ prustete er. „Felltruuk will uns erzählen Märchen! Wann
haben je gehört von Raumschiff, das so groß wie Planet, he?“
Verärgert registrierte Alexander, daß der Translator es wieder mal überge
nau nahm. Inzwischen wäre das Gerät normalerweise längst in der Lage ge
wesen, stilistisch einwandfreie Sätze zu formulieren. Da Alexander jedoch die
Menschensprache benutzte, um Lonzo und eventuellen Zuhörern auf der
EUKALYPTUS das Verstehen zu ermöglichen – und sein Satzbau nicht fehler
frei war –, versuchte der Minicomputer seine Redeweise nachzuahmen.
„Das sein ja wohl ein Ding“, meinte Alexander achselzuckend zu seinem
Gefährten. „Die hier doch glatt leugnen, daß unsere EUKALYPTUS ist ein
Raumschiff!“
„Seeleute, wir wollen uns doch nicht zanken“, ergriff nun Lonzo die Initia
tive. „Ob Raumschiff oder Eisenplanet ist doch wurscht. Jedenfalls waren wir
nicht in Not und wollen zurück!“ Der Sprecher der Robben grinste verlegen.
„Wir arm“, schnurrte er. „Nix Treibstoff. Nix können umkehren. Rettung hat
schon zu viel gekostet.“
„Das ist ja wohl die Höhe!“ schimpfte Lonzo. „Erst wird man ungefragt ge
rettet – und dann ist der Rettungsetat erschöpft, so daß man nicht zurück
kann.“
„Das sein keine Problem“, verkündete Alexander und warf sich in die Brust.
„Unsere Freunde auf Raumschiff euch riesig belohnen werden, wenn erfah
ren von euren guten Absichten. Treibstoff, Geräte – ihr alles haben könnt, was
ihr wollt.“
Das Robbenwesen schien angestrengt nachzudenken. „Ah“, meinte es
schließlich. „Das nix Grund für Entscheidung von kleine Mannschaftstruuk.
Captain Prong wird entscheiden.“
„Ah“, machten seine beiden Gefährten. Der Sprecher winkte Lonzo und
Alexander, ihm und seinen Leuten zu folgen. Er watschelte voraus. Alexander
sah Lonzo an und zuckte die Achseln. Was blieb ihnen anderes übrig? Sie
mußten mitgehen und versuchen den Kapitän dieses seltsamen Raumschiffs
von der Notwendigkeit der sofortigen Rückkehr zur EUKALYPTUS zu über
zeugen.
18
Der Pirat
Mit einer schwer definierbaren Mischung aus Unbehagen und Neugier
stapften Alexander und Lonzo hinter ihren Führern her.
Nach kurzer Zeit blieben zwei der Wesen zurück ließen die Freunde
passieren und schlossen wieder auf. Obwohl bisher noch keine konkrete Be
drohung stattgefunden hatte, war das Gefühl in Alexanders Magengrube
nicht angenehm. Ihm schien, daß die beiden Robbenwesen, deren Artbe
zeichnung offenbar das Wort Truuk war, nur deshalb den Schluß der Pro
zession übernommen hatten, damit sie ihn und Lonzo besser im Auge
behalten konnten.
Nach dem flüchtigen ersten Eindruck fielen Alexander beim näheren Be
trachten immer mehr Einzelheiten auf, in denen sich die Truuks von den
Robben unterschieden, die er kannte.
Zwar watschelten sie nach Robbenart, aber sie wirkten leichter und zierli
cher als die Meerestiere. Der untere Teil des Körpers schien jedoch erstaun
lich kräftig und flexibel zu sein. Die kurzen Beine waren stärker ausgeprägt
als bei irdischen Robben und ermöglichten ein aufrechtes Gehen. Gelegent
lich schienen jedoch abgelegte Gewohnheiten durchzubrechen, wenn sich
die Wesen bei heftigen Bewegungen nach vorn beugten und die Hände zum
Abstoßen des Körpers benutzten. Die meisten Bewegungen wirkten mühsam,
hatten im Ansatz aber eine erstaunliche Eleganz. Es schien so, als wären die
Truuks andere Bedingungen gewöhnt – vielleicht eine geringere Schwerkraft.
Deshalb wurden sie an der vollen Entfaltung ihrer Möglichkeiten gehindert.
So erstaunlich war das ja auch nicht. Robben sind nur an Land schwerfällig:
im Wasser dagegen sind sie pfeilschnelle Fischjäger mit präziser Körperbe
herrschung.
Alexander kannte sich mit Meerestieren gut aus. Deshalb fiel ihm auf, daß
der eigentliche Lebensbereich der Truuks nicht das Wasser sein konnte. Sie
besaßen Schwimmhäute zwischen Flossen und dem Brustkorb sowie zwi
schen den kurzen Beinen. Aber diese waren nicht nur übergroß, sondern
auch extrem dünn, fast pergamentartig. Beim Schwimmen mußten derart
große und instabile Häute eher hinderlich als nützlich sein. Fledermäuse
hatten solche Häute ...
Sie passierten mehrere Gänge. Auch innen machte dieses eigenartige
Raumschiff einen unfertigen, dilettantischen Eindruck. Die Schweißnähte sa
hen beängstigend ungenau aus, die Schweißraupen verliefen wacklig in stän
dig wechselnden Breiten, oft sträflich übereinandergelegt.
Es geschah mehrmals, daß die Kolonne über scharfe Kanten in tieferge
legene Korridore hinab – oder in höherliegende hinaufklettern mußte. Man
chmal halfen ihnen schiefe Leitern aus Metall, die jedem
Sicherheitsingenieur schlaflose Nächte bereitet hätten. Trotz allem: Die
lebensnotwendige Technik an Bord dieses Raumers schien zu funktionieren.
So wenig fachmännisch die Schweißarbeiten auch ausgeführt waren: Sie
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reichten offenbar aus, die Atmosphäre im Schiff stabil zu halten. Auch die
anderen wichtigen technischen Anlagen, wie etwa die Beleuchtung oder die
Heizung, funktionierten. Und was die Funktionstüchtigkeit des Triebwerks
anbetraf, hatten sich Alexander und Lonzo überzeugen können, daß hier
Zweifel unangebracht waren.
Endlich erreichten sie jene Kuppel, deren Lichtdom ihnen schon bei der
Annäherung des Raumers an die EUKALYPTUS aufgefallen war. Auf den
ersten Blick sah man, daß es sich um die Zentrale handelte, in der Captain
Prong residierte. Auch wenn die beiden Eintretenden zunächst einmal nur
einen Computer sahen, das Hirn des Schiffes, ohne dessen einwandfreies
Funktionieren jedes Raumfahrzeug nur ein wertloser Schrotthaufen ist.
Beim zweiten Blick stockte sowohl Alexander als auch Lonzo der Atem –
daß er gar nicht atmete, war ihm in diesem Moment nun wirklich egal! Denn
was sie im Schatten des Computers sahen, war schier unglaublich, ein Ana
chronismus, der mit dem technischen Standard von Weltraumfahrern nicht
vereinbar schien.
Der Metallboden der Zentrale war mit schweren Teppichen ausgelegt. Dar
auf ragte ein prunkvoll geschmücktes Zelt mit vier stabilen Masten in die
Höhe, so groß, daß sich in ihm bequem fünfzig erwachsene Männer hätten
aufhalten können. Die Wände bestanden aus prachtvoll getigerten Fellen.
Nur wer genau hinsah, entdeckte die feinen Drahtseile, die zur Decke hin
aufführten und dazu dienten, das Zelt bei Beschleunigungs und Bremsma
növern zusammenzuhalten.
Alexander schluckte und folgte ihrem winkenden Führer. Vorbei an neugie
rig starrenden Truuks, die in der Zentrale einen wohl eher nüchternen Dienst
versahen, traten Lonzo und Alexander in das Zelt. Das Robbenwesen hatte
zuvor seinen Kopf hineingesteckt, sich respektvoll verbeugt und dann auf
eine knurrige Zustimmung hin die Eingangsfelle zurückgeschlagen.
Alexander schluckte nochmals, als er die vier rauchenden Fackeln, das
große Stück Fleisch am Bratspieß über dem offenen Feuer und schließlich
einen ausgesprochen großen und fetten Truuk inmitten eines Berges ausge
wählt schöner Felle liegen sah.
Der Truuk hatte seinen grauschwarzen Körper von oben bis unten mit bun
ten Schärpen dekoriert und trug einen Stirnreif aus blitzendem, silbernen
Metall. Ihm zur Seite hockten zwei zierliche TruukMädchen, die ihm Früch
te und einen Becher reichten, in dem eine aromatische Flüssigkeit schwapp
te.
„Captain Prong“, sagte ihr Führer, wobei er auf Lonzo und den sich die tro
ckenen Lippen leckenden Alexander wies, „dies sind die beiden Gefange... äh,
die beiden Geretteten. Sie sind fähig, mit uns zu reden.“
Befriedigt registrierte Alexander, daß der Translator sich nun der exakteren
Sprechweise Lonzos angepaßt hatte.
„Hm“, knurrte Captain Prong und begutachtete seine unfreiwilligen Gäste.
„Der Felltruuk trägt einen interessanten Pelz, soweit man sehen kann. Muß
ich direkt überlegen, ob er nicht in meine Sammlung paßt.“ Dann stieß er ein
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dröhnendes Gelächter aus, als er Alexanders erschrecktes Gesicht bemerkte.
Mit einer gnädig wirkenden Gebärde erlaubte er den beiden Wartenden, sich
am Fußende seines Lagers niederzulassen. „Berichte mir, Drakh!“
„Die Fremden bestehen darauf, gar nicht in Not gewesen zu sein“, erklärte
der Angesprochene. „Sie behaupten, der Metallplanet sei in Wahrheit ein
Raumschiff.“
Nachdem sich Captain Prong von seinem Lachanfall erholt hatte, fuhr
Drakh fort: „Sie meinen, ihr Captain würde ein fettes Lösegeld, äh, eine gute
Belohnung zahlen, wenn wir sie zurückbringen.“
„Ah!“ Captain Prong nickte. Er kratzte nachdenklich sein Schwabbelbäuch
lein und kniff dann listig die Augen zusammen. „Aber das ist eine riskante Sa
che. Vielleicht klopft ihr Captain uns auch auf die Köpfe, wenn wir sie
zurückbringen. Nein, nein, auf dem Sklavenmarkt von Pecas bringen sie si
cher mehr ein. Da lümmeln genügend reiche Krämer herum, die viel ausspu
cken für einen Truuk aus Metall und einen aus Fell. Hm – schönes Fell. Paßt
wirklich in meine Sammlung.“
„Was?“ fuhr Alexander auf. „Dann ihr sein nix anderes als schäbige Piraten?
Hab’ ich mir doch gleich gedacht!“ Obwohl er jetzt deutlich sah, daß sie
Gaunern in die Finger gefallen waren, war Alexanders Empörung über diese
Schurken, die mit intelligenten Lebewesen Handel trieben, größer als seine
Angst.
„Ah – Felltruuk riskiert eine dicke Lippe!“ brummte Captain Prong.
Lonzo hatte der Diskussion mit wachsender Erregung zugehört, aber jetzt
schien er förmlich zu explodieren. „Bei der Totenkopfflagge!“ schnurrte er
los. „Ihr seid Gangster und keine echten Piraten. Captain Kidd und die Seinen
haben nur reiche Pfeffersäcke beraubt und deren Geld an die Armen verteilt.
Niemals wäre er auf die Idee gekommen, mit Menschen zu handeln. Ich
werde dafür sorgen, daß man euch aus der intergalaktischen Piratenbruder
schaft ausschließt!“
„He, he! Du willst dafür sorgen? Wer bist du denn überhaupt, he?“ grunzte
Captain Prong, sichtlich verärgert.
„Ich bin Lonzo Chevalier de Klamotte, der größte Dimensionspirat der be
kannten Galaxis, Vertrauter von Captain Kidd und linke Hand des gefürchte
ten Captain Thunderclap! Ihr hättet besser die Finger von uns gelassen!“
„Du willst ein Pirat sein?“ gluckste Captain Prong ungläubig.
„Ihr habt doch unsere Fregatte gesehen und wißt, daß euer Kahn dagegen
nichts als eine lächerliche Nußschale ist. Wartet nur ab, bis euch Captain
Thunderclap findet. Und das wird er, wenn er erst mal auf volle Pulle ge
schaltet hat!“
„Volle Pulle?“ keuchte Captain Prong entsetzt. „Was ist das? Eine Geheim
waffe?“ Offenbar war ihm dieser Ausdruck sehr verdächtig.
Lonzo ging jedoch auf den Einwurf nicht ein, sondern schimpfte weiter:
„... dann raucht es aber, und es rappelt im Karton! Habt ihr gewußt, daß Cap
tain Thunderclap der Urgroßvater vom berüchtigten Captain Bligh war ... äh,
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daß Captain Bligh die Urgroßmutter von ... Wie auch immer: Jedenfalls sind
die beiden eng verwandt. Das gibt euch hoffentlich zu denken!“
Aus der Tatsache, daß Captain Prong mit einer Antwort zögerte, konnte
man schließen, daß ihn diese Drohungskanonade doch irgendwie nach
denklich gemacht hatte. Er wechselte einen unentschlossenen Blick mit
Drakh, der ebenfalls nicht zu wissen schien, was er von Lonzos Worten halten
sollte. Im Rahmen seines Denkens jedenfalls schien es nicht total abwegig zu
sein, daß es andere Piraten mit weitaus größeren Schiffen in dieser Welt
raumgegend gab. Er beugte sich zu Captain Prong hinab und flüsterte mit
ihm.
Schließlich richtete sich Captain Prong auf und sagte: „Ihr seid keine Pi
raten, sondern Schaumschläger und Lügenbeutel. Ihr bringt uns eine fette
Prämie auf dem Sklavenmarkt. Peng! Legt den Metalltruuk und den Felltruuk
in Eisen!“
Den letzten Satz hatte er so laut gebrüllt, daß gleich ein ganzes Dutzend
seiner verwegen aussehenden Gehilfen in das Zelt stürmte und die
Gefangenen in ihre Mitte nahm. Zum ersten Mal entdeckten Lonzo und Alex
ander Waffen; lanzenähnliche Dinger mit Widerhaken an den Spitzen. Aber
auch ohne diese Bedrohung hätten die beiden nicht an eine Flucht gedacht.
Wohin hätten sie sich auch wenden sollen?
„Captain Prong!“ schnaufte Lonzo grimmig. „Das war Ihr größter Fehler!
Ich würde ein Auge dafür geben, wenn ich dabeisein dürfte, wenn Captain
Thunderclap über Sie Gericht hält!“
„Abführen!“ brummte Prong und streckte seinen Gefangenen die Zunge
heraus. „Aber hurtig!“
Noch ein Rätsel
„Kann unser lahmer Kasten nicht ein bißchen zügiger den Kurs wechseln?“
schimpfte Harpo, als das Raumfahrzeug mit den Entführern abermals eine
abrupte Kursänderung vornahm.
„Das ist so“, begann Schwatzmaul. „Die verhältnismäßig große Masse der
EUKALYPTUS erfordert eine parabelförmige Flugbahn von ...“
„Ich weiß das ja alles“, stöhnte Harpo. „Man darf sich doch wohl noch mal
lauthals ärgern, oder?“
„Aber warum denn?“ wunderte sich der Computer. „Wenn die Fakten fest
liegen und es keine unvorhergesehenen Ausfälle gibt, besteht doch über
haupt kein Grund, nicht der geringste.“
„Ich will mich aber ärgern!“ schrie Harpo aufgebracht. „Jawoll, verdammt
noch mal! Und einen Grund habe ich auch. Siehst du denn nicht, daß wir das
fremde Raumschiff schon in kurzer Zeit aus dem Bildschirm verlieren
werden?“
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Er zeigte auf den Kontrollschirm, wo das Objekt nur noch am oberen Bild
rand als schwaches Leuchtzeichen zu erkennen war. Dann war auch das
verschwunden.
„Da haben wir den Salat!“ schimpfte Harpo.
„Wenn wir die Nerven verlieren, ist auch nichts gewonnen“, meinte
Thunderclap beschwichtigend. „Trotz der wilden Manöver ist klar, daß nur
das vor uns liegende Sonnensystem das Ziel der Entführer sein kann. Das
Fahrzeug ist flink und wendig, hat aber keinen so großen Aktionsradius, daß
es den nächsten Stern erreichen könnte. Wir suchen Planet für Planet ab, bis
wir eine heiße Spur finden.“
Harpo beruhigte sich wieder. Na ja, Thunderclap hatte schon recht, und
Thunderclap war kein Schwätzer. Schließlich hatten sie ohnehin vorgehabt,
dieses Sonnensystem zu erforschen. Wenn nur die Ungewißheit nicht wäre ...
Eine Entführung, direkt von der Oberfläche der EUKALYPTUS weg, war nun
wirklich das allerletzte, was er erwartet hätte.
„Verzeiht, wenn ich eure Versunkenheit störe“, fistelte Schwatzmaul mit
gespielter Bescheidenheit, „aber meine Observatorien melden seit einigen
Sekunden ein seltsames Gebilde ...“
„Hurra!“ schrie der kleine Ollie los. „Die Schurken kommen zurück. Na,
denen werde ich eine Rumba auf die Augen boxen!“
„... bei dem es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht
um das verfolgte Objekt handelt ...“
„Hier herrscht ja ein Verkehr wie zu den Stoßzeiten am Broadway“, stöhnte
Karlie.
„... sondern um einen Apparat ohne jegliche erkennbare Antriebseinheit.
Was wirklich sehr seltsam ist, wenn ich mich so ausdrücken darf. In meinen
Speichern gibt es keine Informationen über Raumschiffe, die keine Raum
schiffe sind. Weiß gar nicht, wie ich mich da verhalten soll. Außerdem muß
ich Herrn Müllerchen recht geben, daß es wirklich recht ungewöhnlich ist, in
diesem abgelegenen Sektor der Milchstraße ...“ schnarrte Schwatzmaul.
„Uuuuuaaaah!“ brüllte Harpo und brachte Schwatzmaul zum Schweigen,
während die anderen sich vor Lachen kringelten. „Schwatzmaul, wann wirst
du es endlich lernen, dich wie ein ordentlicher Computer zu benehmen?
Nachrichten müssen kurz, präzise und ohne ausschweifende Kommentare
übermittelt werden.“
„Oh, Verzeihung, Herr General!“ bellte die Stimme des Computers. „Melde
gehorsamst: seltsames Objekt! Merkwürdig! Müllerchen hat recht! Viel Ver
kehr in der Gegend! Rühren!“
Harpo raufte sich die Haare. Mit gefalteten Händen fiel er auf die Knie und
bettelte mit weinerlich verstellter Stimme in das Aufnahmeobjektiv der
Computerkamera: „Bitte, bitte, liebes Schwatzmaul, sag uns doch, was deine
sternenguckenden Außensinne entdeckt haben. Ohne Randbemerkungen.
Und ohne Kommißton, ja? Sei so lieb, bitte!“
„Ach, lieber Harpo“, seufzte der Computer. „Wenn du mich so nett bittest,
kann ich dir nichts abschlagen. Nun gut. Das raumschiffähnliche Gebilde be
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wegt sich mit einer Geschwindigkeit von 0,126 Lichtjahren auf das vor uns
liegende Sonnensystem zu und hat eine Masse von 198549,54... Nun, um es
euch plausibler zu machen: Die Masse beträgt ein Sechsundvierzig
tausendstel der Masse unseres Raumschiffes. Aber wie schon gesagt: Ich bin
außerordentlich befremdet darüber, daß dieses Gebilde offenbar keinen An
trieb besitzt, trotzdem aber ein Fahrzeug zu sein scheint. Sogar Kurskorrek
turen werden vorgenommen!“
„Schwatzmaul ist übergeschnappt!“ rief Karlie erschreckt. „Holt sofort
einen Reparaturtrupp!“
„Immer mit der Ruhe“, meinte Thunderclap lächelnd. „Auch wenn es im
Moment so aussieht, als hätte diese Ecke des Raums für uns eine Menge ver
zwickter Rätsel parat – wir werden sie schon lösen, eines nach dem andern.
Zunächst einmal soll Schwatzmaul uns das fremde Objekt auf den Bildschirm
projizieren, sobald dies möglich ist. Dann sehen wir weiter!“
Sie mußten gar nicht lange warten, dann erschien eine hinreichend klare
Abbildung des Fahrzeuges auf dem Schirm. Es sah wirklich absonderlich aus.
Man sah zunächst nichts anderes als eine einzelne, sehr flache, sehr große,
runde Metallscheibe. Dann projizierte Schwatzmaul Ausschnitte des Gesamt
bildes, in denen deutlich wurde, daß diese Scheibe aus einzelnen Segmenten
bestand, die mit Gelenken miteinander verbunden waren. Sie waren in ver
schiedenartigen Winkeln zueinander verstellt. Die gesamte Anordnung sah
wie ein bizarr verformtes Stück Wellblech aus. Im Zentrum der Scheibe war
das spitze Ende eines Kegels befestigt, der in einen Zylinder überging. Der Zy
linder und der Kegel wirkten wie ein winziges Anhängsel gegen die mehrere
Quadratkilometer große Scheibe, besaßen aber immerhin noch eine Länge
von vierzig oder fünfzig Metern und an der dicksten Stelle einen Durch
messer von vielleicht zehn Metern. Und die Teilansichten auf den Monitoren
waren deutlich genug, daß man im zylindrischen Teil Öffnungen erkennen
konnte, aus denen Licht drang.
„Also doch ein Raumschiff!“ flüsterte Anca.
„Wenn das ein Raumschiff ist, dann will ich ...“ setzte Karlie an, sprach aber
nicht weiter, weil er plötzlich doch nicht mehr so sicher war. „Erst eine
fliegende Kaffeemühle – und jetzt ein gigantischer Pfannkuchen“, stöhnte er.
„Mein Gott, in diesem System müssen wahnsinnige Konstrukteure ihr Un
wesen treiben.“
„Oder auch nicht“, erwiderte Thunderclap grübelnd. ‚‚Mir ist da eine Idee
gekommen ...“ Seine Stirn legte sich in Falten, während er ungelenk auf
einem Stück Papier malte. „Vielleicht ist etwas dran“, sagte er schließlich.
„Aber die Rechnerei überfordert mich. Schwatzmaul, rechne doch mal bitte
aus, welche Beschleunigung eine, sagen wir, 1‚5 Quadratkilometer große
Scheibe unter den Lichtdruckkräften der Sterne dieser Region maximal erfah
ren kann.“ Die Freunde glaubten ihren Ohren nicht zu trauen. Was sollte
diese absurde Rechnerei? Lichtdruck? Aber Thunderclap schien mit den Zah
len, die ihm der Computer nannte, recht zufrieden zu sein.
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„Könnte tatsächlich funktionieren“, murmelte er. „Obwohl die natürlich
Wochen brauchen, um richtig in Schwung zu kommen. Sicherlich besitzen
sie irgendwelche Hilfsaggregate ...“
„Will mir nicht mal jemand verraten, was hier gespielt wird?“ wollte Ollie
wissen. „Mir dröhnt schon der Kopf, aber verstanden habe ich nix!“
„Freunde“, sagte Thunderclap feierlich und setzte sich in seinem Rollstuhl
zurecht, „ob ihr es nun glaubt oder nicht: Was ihr dort seht, hat es früher
auch auf der Erde in ähnlicher Form gegeben. Allerdings fuhr es auf dem
Wasser und wurde durch Wind vorangetrieben.“
„Ein Segelschiff!“ platzte Harpo heraus. „Du willst doch wohl nicht sagen,
daß wir es mit einem Raumsegler zu tun haben! Im Weltraum gibt es keinen
Wind, Mann!“
„Ich sagte ja, daß ein Segelschiff so ähnlich funktionierte“, verteidigte sich
Thunderclap und bekam vor Aufregung ganz rote Ohren. „Das weiß ich
selber, daß zum Wind eine Atmosphäre und zur Atmosphäre ein Planet ge
hört. Aber das heißt noch lange nicht, daß es im Weltraum nicht etwas gibt,
das entfernt mit Wind vergleichbar ist. Beim Segelschiff wird der Druck des
Windes ausgenutzt. Nun, und mit einem Raumsegler nutzt man den Licht
druck der Sterne aus. Klar?“
„Überhaupt nix is’ klar“, begehrte der kleine Oliver auf. „Hat man so was
schon gehört: Lichtdruck! Dann müßte ja jede olle Lampe wie ein Ventilator
funktionieren ...“
Alle lachten, als sie sich das bildhaft vorstellten, nur Thunderclap blieb
ernst.
„Und wenn euch das noch so absurd erscheint – auch eine ‚olle Lampe‘
erzeugt einen Druck. Nur ist der so gering, daß wir ihn nicht spüren können.
Aber vergleicht doch mal die Energien einer Lampe mit denen eines Sterns,
dann wird euch vielleicht der Unterschied klar. Und im Kosmos gibt es be
kanntlich eine ganze Menge Sterne. Wenn man mit einem großen Metallsegel
möglichst viele Druckwellen dieser nahen und fernen Sterne einfängt – zum
Beispiel durch Verstellen verschiedener Segmentflächen in Richtung der
Hauptdruckfläche – dann habt ihr einen funktionstüchtigen Raumsegler. Was
soll überhaupt das ungläubige Gerede? Seht doch auf den Bildschirm! Ihr
habt den Beweis vor Augen. Ihr müßt die Augen nur ein bißchen aufsperren!“
„Herr Genius hat durchaus recht“, meldete sich Schwatzmaul geschraubt
zu Wort. „Vielleicht darf ich die lieben Damen und Herren auf unseren
astrophysikalischen Unterricht aufmerksam machen. Ja? Nun, ein Pho
tonentriebwerk als Raumschiffsantrieb dürfte doch allen bekannt sein, nicht
wahr? Und wie funktioniert das?“
„Durch den Lichtdruck der ausgeschickten Photonen beziehungsweise
Lichtquanten“, antwortete Harpo verdattert. Plötzlich erschien ihm Thunder
claps Idee gar nicht mehr so absurd wie vorhin.
„Na also!“ rief Schwatzmaul zufrieden.
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„Das ist mir alles zu hoch“, maulte Ollie, der bei den PhysikLehrgängen
häufig gefehlt hatte und währenddessen mit Moritz über die Decks getobt
war.
„Also klar ist mir das noch lange nicht“, meldete sich Harpo wieder. „Bei
einem Segelschiff funktioniert die Ausnutzung des Winddrucks doch nur
deshalb, weil der über die Masten auf den Rumpf des Schiffes abgeleitet wird.
Der Wind drückt mit seiner Hauptkraft auf das Wasser, und nur eine ver
gleichsweise kleine Restkraft schiebt das Schiff voran. Gäbe es kein Wasser,
könnte man das Schiff überhaupt nicht steuern.“
„Wieso?“ fragte Anca. „Es gibt doch auch Segelflugzeuge – und die kann
man steuern.“
„Ja, aber nur deshalb, weil es einen Auftrieb und einen Luftwiderstand gibt!
Wo ist der im Weltraum?“
Das gab allen zu denken. Aber Thunderclap meinte schließlich: „Eine kom
plizierte Technik ist sicher nötig, um solch ein Fahrzeug zu beherrschen. Ich
könnte mir jedoch denken, daß man die Metallflächen so einstellt: Die
Hauptflächen werden auf die auszunutzenden Druckkräfte der nächsten
Sterne ausgerichtet und die Nebenflächen mit den Gegendruckkräften
anderer Sterne zum Stabilisieren benutzt.“
Darauf wußte nun wirklich niemand mehr etwas zu sagen. Wie hatte Lonzo
so schön gesagt: „Thunderclap Genius ist wirklich ein Genius!“
„Na schön“, sagte Ollie, der es satt hatte, den Theorien zuzuhören. „Dann
überlegt euch mal, was wir jetzt unternehmen. Sonst geht uns dieser ...,
dieser Raumsegler auch noch durch die Lappen.“
„Der nicht“, meinte Karlie. „Dieses Mal sind wir schneller und wendiger.“
„Wir nehmen natürlich Kontakt auf“, schlug Anca vor. „Selbst wenn die Be
satzung nichts mit den Entführern zu tun hat, kann sie uns sicher ein paar
Tips geben, wo die Entführer stecken könnten.“
Da sich kein Widerspruch erhob, nahm Ollie gleich die Gelegenheit wahr.
Er hatte in den letzten Tagen eifrig mit Karlie an der Großfunkanlage geübt
und wollte nun sein Können unter Beweis stellen.
Mit zitternden Fingern bediente er die Anlage und schickte einen Richt
funkspruch los. „Windjammer ahoi! Hier spricht Ollie von der EUKALYPTUS!
Wie geht es euch?“
Es kam keine Antwort.
„Er hat alles richtig gemacht“, sagte Schwatzmaul und erstickte so irgend
welche Zweifel an Ollies Fähigkeiten gleich im Keim. Natürlich hätte auch der
Computer den Funkspruch absenden können, aber er überließ dem Kleinen
gern diese Arbeit.
„Entweder sind die unhöflich – oder sie können uns nicht hören“, erklärte
Karlie. „Vielleicht haben die überhaupt keine Funkanlage!“
„Quatsch!“ rief Ollie. „Wie sollen sie sich denn sonst mit ihren Kumpels auf
anderen Seglern unterhalten? Mit Flaggensignalen vielleicht? Oder mit
Rauchzeichen?“
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Anca lachte hell auf. Aber seltsam war es schon, daß die Fremden nicht rea
gierten. Man sollte eigentlich erwarten, daß Raumfahrzeuge, die einander
selten genug begegneten, Grußbotschaften ihrer Besatzungen austauschten.
Auf den Weltmeeren der Erde war das früher jedenfalls üblich gewesen, wenn
sich Schiffe unterwegs kreuzten.
„Vielleicht schläft alles an Bord!“
„Oder die können mit akustischen Signalen nichts anfangen!“
Schwatzmaul versuchte es jetzt mit einem lustigen Zeichentrickfilm, den
Harpo und Anca eigens für solche Zwecke angefertigt hatten. Vielleicht rea
gierten die Fremden auf optische Eindrücke.
Keine Antwort.
„Sind die aber stur!“ schimpfte Anca. „Da fällt mir ein, daß die Leute in der
Kaffeemühle auch nicht reagiert haben.“
„Die hatten auch allen Grund dazu!“ rief Ollie empört. „Wo sie doch
meinen Kumpel Lonzo und meinen Kumpel Alexander geklaut haben.“ Die
Erinnerung daran übermannte ihn so, daß er mit den Tränen kämpfen muß
te.
„Ob die sich telepathisch verständigen?“ murmelte Micel und machte dann
eine angestrengte Miene. „So ein Mist. Wir sind noch immer zu weit entfernt.
Ich kann keinen Kontakt aufnehmen.“
„Wir werden den Brüdern so dicht auf den Pelz rücken, daß ihnen gar
nichts anderes übrigbleibt, als uns wahrzunehmen“, regte sich Ollie auf. „Ja
woll, genau das werden wir machen.“
Was der kleine Mann so großspurig als seine Idee hinstellte, wurde in
Wahrheit längst ausgeführt. Sie hielten auf das Sonnensystem zu, das offen
bar auch der Lichtdrucksegler ansteuerte. Er würde es zwar etwas früher er
reichen, aber entwischen konnte er ihnen wirklich nicht.
Schwatzmaul ratterte inzwischen Informationen herunter, die er durch
Spektralanalyse und seine scharfen „Teleskopaugen“ gewonnen hatte. Dem
nach besaß das System elf Planeten und zahlreiche Monde. Mindestens vier
Planeten wiesen Bedingungen auf, die für menschliche Lebensformen ge
radezu ideal geeignet erschienen. Zwei weitere Planeten waren kalte Ge
steinsbrocken, der nächste glich einem tropischen Gewächshaus mit
wolkenverhangenem Himmel – aber auch diese drei Himmelskörper besaßen
eine atembare Atmosphäre. Nur der Rest war für sauerstoffatmende Wesen
ungeeignet.
„Wenn überall auf den Sauerstoffplaneten Leute wohnen, dann können wir
uns nach den Piraten totsuchen“, flüsterte Anca traurig.
„Wir schaffen das schon!“ rief Harpo optimistisch. „Erst einmal nehmen
wir uns den Segler vor.“
Der Raumsegler hatte inzwischen die Bahn des elften Planeten erreicht und
seine Geschwindigkeit gedrosselt.
„Aha!“ rief Thunderclap triumphierend, als er dicke Lichtbündel vom
Rumpf des Seglers abstrahlen sah. Gleichzeitig wurde das Segel durch einen
unbekannten Mechanismus mit rasender Geschwindigkeit zu
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sammengefaltet. „Die haben also wirklich Zusatzaggregate. Das habe ich
vermutet.“
Daß der elfte Planet das Ziel des Raumfahrzeuges war, konnte als ziemlich
sicher angesehen werden.
„He!“ hörte man Karlies hohe Stimme. „Der verschwindet auf der Schatten
seite des Planeten!“
„Näher heranzugehen hat keinen Zweck“, stellte Harpo fest. „Wir nehmen
eines von den Gleitbooten und landen ebenfalls.“
„Klar!“ stimmte Micel zu. „Wenn wir uns beeilen, können wir die Landung
des Seglers noch verfolgen. Aber dieses Mal will ich zur Besatzung des Bootes
gehören!“
„Dann los, beeilt euch!“ rief Thunderclap. „Harpo, Micel und ... Anca ... und
Trompo.“
„Juchhu!“
Niemand maulte, weit er nicht mitdurfte. Jetzt war Schnelligkeit Trumpf.
Trompos Alleingang
Der elfte Planet war nicht größer als der irdische Mond und besaß auch nur
eine unwesentlich größere Schwerkraft. Dennoch war es ihm gelungen, eine
Atmosphäre aufzubauen und sie zu halten. Die riesige rote Sonne des Sys
tems besaß für diesen äußersten Planeten immer noch die Größe eines Fünf
markstücks und tauchte seine Umwelt in ein diffuses Licht, das an irdische
Sonnenuntergänge erinnerte. Dem Raumsegler auf den Fersen senkte sich
das Gleitboot A1 mit summenden Aggregaten zur Oberfläche hinab. Der
Raumsegler verschwand hinter Wolkenbänken am Horizont, aber es würde
nicht schwierig sein, ihn wiederzufinden. Er war nur den Augen verlorenge
gangen, nicht jedoch den Ortungsgeräten.
Nach dem Durchstoßen der abschirmenden Wolkendecke präsentierte sich
der Planet seinen Besuchern als pockennarbiger Felsklotz. Nur hier und da
konnte die Besatzung, die sich die Nasen an der RundumSichtscheibe platt
drückte, ein Fleckchen Grün erkennen. Von der Existenz irgendwelcher
Ozeane konnte keine Rede sein. Die grünen Farbflecke deuteten aber
immerhin auf Waldgebiete hin. „Unglaubliches Universum!“ meinte Harpo,
der genau wie die anderen seinen Blick von der trostlos wirkenden Land
schaft kaum abwenden konnte. „Das sieht ja nicht gerade wie Abrahams
Schoß aus.“
„Ich habe einen See entdeckt“, verkündete Micel mit stolzgeschwellter
Brust. „Natürlich werde ich ihn Fopps Pfütze nennen!“
Anca und Trompo kicherten. Der kleine, rosarote Miniaturelefant hockte
auf seinem Lieblingsplatz zwischen den verschränkten Armen des Mädchens
und rieb seine Wange an Ancas Nase. Seine kleinen Stoßzähne blitzten. „Viel
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Felsen, wenig Wasser“, verkündete er nach einem ausgiebigen Trompe
tenstoß. „Ich schlage vor, diesem Planeten den Namen Grauklotz zu geben.“
Harpo und Micel gratulierten ihm zu diesem Namen, während Anca flöte
te: „Wohlan denn, edle Herren, laßt uns Grauklotz die Ehre erweisen, ihn zu
betreten!“ Ganz bewußt imitierte sie dabei Lonzo, der sicherlich einen sol
chen Spruch losgelassen hätte, wäre er bei ihnen gewesen. Das machte sie
heiter und traurig zugleich. Denn: Wie mochte es Lonzo ergehen, in der Ge
walt der Entführer?
In der Tat sah die Landschaft durch den RundumSichtschirm betrachtet
öde und unbewohnbar aus.
Die Waldflecken, die ihre Neugier natürlich besonders stark anzogen,
erwiesen sich aus der Nähe allerdings als Flächen riesigen Ausmaßes.
Als die A1 sich näherte, erkannte die Besatzung, daß die Blätter der Bäume
seltsamerweise direkt aus den Stämmen herauswuchsen. Sie waren
riesengroß, und ihre Ränder rollten sich, so daß sie wie mittelgroße Kanus
wirkten, die an Stielen hingen, dicker als der Arm eines Menschen.
Dann flog unter ihnen ein ausgedehntes grünblaues Pilzfeld dahin. Auch
diese Gewächse besaßen eine überdimensionale Größe. Wenn nicht alles
täuschte, dann hatten gut hundert Menschen unter den Vorsprüngen der
Pilzhüte Platz.
Keines der Gewächse war kleiner als ein Einfamilienhaus.
„He!“ schrie Harpo aufgeregt. „War dort nicht eine Bewegung?“ Die
anderen fuhren herum und eilten zu Harpos Aussichtsplatz.
„Wo, Harpo, wo?“ quietschte Anca vor Aufregung. Tatsächlich, jetzt sahen
es alle. Zwischen den phantastischen Riesenpilzen erhob sich eine felsgraue
Gestalt, schüttelte sich, riß den Rachen auf und ließ zwei Reihen spitzer, kno
chiger Zähne sehen. Urwelthaftes Gebrüll ertönte, das in ein drohendes Fau
chen überging. Dann tauchte das schrecklich anzusehende Geschöpf, das
beim Aufrichten bis zu den obersten Pilzhüten reichte, wieder unter.
„Ein Saurier!“ stammelte Anca bleich. Sie klammerte sich an Harpo, der ihr
brüderlich die Wange tätschelte.
„Eine Flugechse war das, Schwesterlein, kein Saurier! Ähnliche Viecher gab
es vor Millionen Jahren auch auf der Erde.“
Anca schüttelte sich. Eine erneute Bewegung im Pilzfeld ließ sie sofort
wieder in Aufregung verfallen. Während sie wie gebannt auf ein anderes
spitzköpfiges Geschöpf starrten, das sich langsam erhob, rief Micel: „Es hat
Flügel, aber keine Federn!“
Im gleichen Moment sprang die Echse hoch – und segelte über den Pilzen
dahin.
„Flugechsen bewegen sich durch die Luft, indem sie die Häute zwischen
Armen und Hüften ausbreiten“, meinte Harpo. „Als Flügel würde ich diese
Häute nicht bezeichnen.“
„Uiii‚ die ist aber wirklich groß!“ zirpte Trompo mit seinem zarten Stimm
chen. Er hatte recht, die Echse wirkte nicht nur aus seiner Perspektive riesig.
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Das Boot bewegte sich auf dem Leitstrahl, der von der EUKALYPTUS aus
geschickt wurde, und hatte wegen der Bodennähe an Geschwindigkeit verlo
ren. Schwatzmaul sorgte dafür. Aber noch immer war das Boot nach
Maßstäben einer Flugechse wahnsinnig schnell. In Sekundenschnelle hatten
sie die Echse überholt und hinter sich gelassen. Das Tier kreischte empört
und flog eine Schleife, wohl unschlüssig, ob es die Verfolgung der vermeintli
chen anderen Echse aufnehmen sollte. Bis es sich besonnen hatte, war die
A1 längst außer Sicht. Wieder rasten die Wälder mit den astlosen Bäumen
unter ihnen dahin.
„Dort ist der Sternensegler!“ rief Micel, der wieder hinter den Bildschirmen
Platz genommen hatte. Einige Kilometer vor der A1 klaffte eine mindestens
zweitausend Meter lange Schneise im Wald. Langgestreckte Gebäude waren
dort zu erkennen, fensterlos, aber mit Eingangstüren versehen, die groß
genug waren, um Lastwagen passieren zu lassen. Der Raumsegler war soeben
vor den Gebäuden niedergegangen. Aber niemand erschien, um die Insassen
zu begrüßen. Ob hier keiner lebte?
„Drei, vier, fünf Gebäude“, zählte Anca laut. „Aber warum haben die keine
Fenster?“
Harpo, der Schwatzmaul die Anweisungen zur Landung gab, hatte nun
keine Zeit mehr für ausführliche Antworten. Gehorsam erledigte das Bordge
hirn der EUKALYPTUS seine Aufgaben und brachte die A1 sanft zu Boden.
Zwischen den Bäumen, knapp am Rande der Lichtung, war genügend
Platz. Dort setzte das Boot auf. Nur ein paar badewannengroße Blätter
wurden ein Opfer der Landung und fielen knarrend zu Boden. Leise erstarb
das Summen der Aggregate. Die ausgefahrenen Landeteller ließen die A1
einige Male in den hydraulischen Gelenken auf und abwippen, dann breitete
sich Ruhe aus.
„Und jetzt?“ fragte Micel. Er hatte seinen Helm aufgesetzt und aktivierte
mit einem Knopfdruck die Funksprechanlage. „Gehen wir hinaus, Harpo?“
Ehe Harpo seinen eigenen Helm aufsetzen konnte, bekam er von seiner
Schwester einen Knuff in die Seite. „Von wegen!“ fauchte sie. „Immer nur die
Männer! Jetzt sind wir Frauen dran mit der Erforschung eines Planeten!“
Harpo und Micel machten verdutzte Gesichter und brachten vor Überra
schung keine Silbe über die Lippen.
„Na gut“, meinte Harpo schließlich, „lassen wir mal die Frauen allein ge
hen. Aber – wer ist denn die zweite Frau an Bord außer dir?“
Anca schluckte. „Damit fängt ja die Ungerechtigkeit schon an“, meinte sie
schließlich. Aber dann packte sie ihren Bruder doch bei der Hand und sprang
mit ihm gemeinsam aus der geöffneten Schleuse. Mit einem Riesensatz
schloß sich ihnen Trompo an. Auch er wollte auf jeden Fall dabeisein, wenn
sich ein Abenteuer anbahnte.
„Du hältst die Stellung!“ rief der von den Ereignissen selbst überrollte Har
po dem zurückbleibenden Micel über die Schulter zu. „Wir bleiben ja in stän
diger Verbindung.“
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„Das ist gemein!“ schimpfte Micel, der sich zu Recht überfahren fühlte.
Aber er beruhigte sich schnell wieder. Die anderen hatten es ja nicht böse ge
meint. Und seine Position war ebenso wichtig.
Der Boden des Planeten Grauklotz war tatsächlich nicht so hart und
steinig, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Im Gegenteil, er federte
elastisch, gab weich nach und roch ein wenig modrig. Die riesigen Blätter
hatten wohl im Laufe der Jahrtausende für ausreichenden Humusboden
gesorgt, wenn sie von den Bäumen fielen und vermoderten. Die Luft war
recht kühl, und Harpo kam schon nach wenigen Minuten zu der Ansicht, daß
wärmere Kleidung kein Fehler gewesen wäre. Auf die Raumanzüge hatten sie
bewußt verzichtet, weil die Analyse eine atembare Atmosphäre ohne Risiken
ergeben hatte. Die Funkhelme, die das Gesicht freiließen, behinderten
weniger als Raumhelme und reichten für den Zweck aus.
Anca ließ sich nicht anmerken, daß sie ebenfalls fror, und ersetzte die
Wärme durch Abenteuerlust und Aktivität. Sie schleifte ihren Bruder regel
recht hinter sich her, so forsch rannte sie los. Nur Trompo war noch
schneller. Er genoß die frische Luft sichtlich und eilte schnuppernd wie ein
Hund voraus.
Sie vermieden es, den Schutz des Waldes jetzt schon zu verlassen und be
wegten sich auf die schmalste Stelle der Lichtung zu. Dort grenzten die Ge
bäude an den Wald. Beim Näherkommen bemerkten sie, daß die Langhäuser
aus Holz gezimmert waren. Die Schleusentore des Raumseglers standen of
fen und spuckten eine Gruppe von Wesen aus, deren Gesichter wegen der
Entfernung nicht zu erkennen waren. Jedenfalls wirkten die Umrisse
menschlich, und sie besaßen zwei Arme und zwei Beine – soviel stand fest.
Sie beschäftigten sich mit einem Gefährt, das wie eine schwebende Muschel
aussah, einen Durchmesser von vielleicht drei Metern hatte und nun mit
Ballen, Kisten und anderen sperrigen Gütern beladen wurde.
„Könnt ihr was erkennen?“ drang Micels Stimme aus Harpos Funkhelm.
Offenbar konnte er wegen der Entfernung ihre Gedanken nicht mehr emp
fangen. „Thunderclap und die anderen sitzen schon wie auf Kohlen. Sie
haben angefragt, was sich hier unten tut.“
„Pssst“, machten Harpo und Anca gleichzeitig, weil ihnen die Stimme von
Micel zu laut vorkam. „Fünf, sechs, nein, warte ..., acht Wesen verladen et
was“, antwortete Harpo leise. „Tolle Transportfahrzeuge haben die, Micel.
Platten, die auf Lichtsäulen über dem Boden schweben. Eines der Wesen
hockt sich gerade auf den Rand einer Platte und fummelt an einem Kästchen
auf der Brust herum. Jetzt bewegt sich das Fahrzeug auf eines der Langhäuser
zu. Klasse!“
„Wir gehen jetzt etwas näher heran“, flüsterte Anca in ihr Mikrophon.
„Seid bloß vorsichtig!“ wisperte Micel zurück.
Anca, Harpo und Trompo schlichen sich noch näher an das erste der Lang
häuser heran. Es kam ihnen gelegen, daß die Leute vom Raumsegler ihre
Fracht in ein weiter entferntes Gebäude transportierten. Außerdem gab ih
nen das Langhaus eine gute Deckung. Da der Segler nicht genau im Zentrum
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der Schneise zu Boden gegangen war, sondern schräg gegenüber von den Be
obachtern, blieben bis zum zylindrischen Teil des Raumfahrzeugs kaum
mehr als fünfzig Meter. Man sah hinter dem Zylinder einen haushohen Block
aus dünnen Metallfolien – ohne Zweifel das zusammengefaltete Segel.
Die unvermutet geringe Entfernung zum Segler machte ihnen Mut. Keiner
der Fremden war weit und breit zu sehen.
Trompo flüsterte: „Ich schau mir mal das Schiff an.“ Ohne eine Antwort
abzuwarten und bevor die Geschwister reagieren konnten, flitzte das kleine
Wesen auf die offene Fläche hinaus und verschwand nach etwa fünfzehn Se
kunden in einer Ladeluke.
„Das hätten wir nicht zulassen dürfen“, flüsterte Anca, obwohl sie ja wußte,
daß Trompo ihnen gar keine Chance gelassen hatte. „Was ist, wenn sie jetzt
zurückkommen und starten?“
„Ach, so schnell wird das nicht gehen“, antwortete Harpo, kaute jedoch
nervös auf seinen Fingernägeln herum – bis ihm seine Schwester einen Klaps
versetzte. Aber nervös waren beide. Sie erinnerten sich daran, daß die
Fremden nicht auf ihre Kontaktversuche reagiert hatten. Und die Entführung
von Lonzo und Alexander ging möglicherweise ebenfalls auf das Konto von
Wesen dieser Rasse. Vielleicht waren diese Fremden nicht so nett wie die bis
her kennengelernten Bewohner anderer Planeten. Oder sie scheuten sich da
vor, mit anderen Raumfahrern Kontakt aufzunehmen. Vielleicht führten sie
Böses im Schilde und wollten anonym bleiben.
Harpo wagte nicht, sich auszumalen, was derartige Finsterlinge mit
Trompo anstellen würden, wenn sie ihn erwischten. Der geheimnisvolle
Abtransport der Waren fiel ihm ein. Schafften so nicht Schmuggler und Dun
kelmänner ihre Fracht an abgelegenen Plätzen in Sicherheit?
Zögernd fragte er: „Sollen wir ihm nicht lieber nachgehen, bevor ein wei
teres Unglück geschieht?“ Er spielte damit auf Lonzos und Alexanders Ent
führung an.
Am Aufblitzen ihrer Augen erkannte er, daß Anca nur auf diesen Satz ge
wartet hatte. Aber gerade, als sie ihre Deckung verlassen wollten, löste sich
eine Gruppe von Fremden aus dem Schatten eines Langhauses und bewegte
sich auf den Raumsegler zu. Die schwebende Plattform überholte die Gruppe
und verharrte vor der Schleuse. Die Wesen halfen beim Beladen und
schlenderten dann zum Langhaus zurück. Das Fahrzeug folgte. Alles wirkte
ruhig und verlassen.
„Los“, zischte Harpo. Die Geschwister faßten sich an den Händen und
rannten los. Die Zeit erschien ihnen endlos, aber schließlich tauchte vor ih
nen die geöffnete Schleuse auf. Sie stolperten hinein, wobei Anca infolge der
geringen Schwerkraft wie ein Segelflugzeug an Harpo vorbeischoß.
„Au!“ klagte sie schon vor dem Aufprall und fiel dann zu Boden. Harpo half
ihr auf, während sie tapfer und mit Tränen in den Augen weitere
Schmerzensrufe unterdrückte. Sie rieb sich die Hüfte, aber dann tappte sie
hinter Harpo in das Dunkel hinein und rief leise Trompos Namen.
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Das kleine Wesen meldete sich nicht. Plötzlich verloren Harpo und Anca
zugleich den Boden unter den Füßen, schossen eine Schräge hinab, welche
die Qualität einer glatten Rutschbahn hatte, und landeten unvermutet weich
in einem riesigen Berg von Stoffballen. Trotz des unzureichenden Lichts vom
Eingang her sahen sie die dichte Staubwolke, die nach dieser Landung auf
stieg.
Anca und Harpo mußten husten und niesen.
„Ist etwas passiert?“ wollte Micel über Funk wissen, mußte aber vorerst auf
eine Antwort verzichten.
„Hier bin ich!“ fiepte es plötzlich. Mit einem Satz landete ein kleines
Bündel auf Ancas Schulter.
„Alter Ausreißer!“ sagte Anca lachend und doch erleichtert. „Trompo, wenn
dich die Fremden erwischt hätten ...“
„Leise“, mahnte Harpo.
Dann hörten sie ein Geräusch am Eingang und klammerten sich instinktiv
aneinander.
Eine Gestalt hob sich deutlich vor dem Hintergrund ab. Sie hatte Ähnlich
keit mit einem kapuzenvermummten Henkersknecht. Und bewegte sich ziel
strebig auf die Gruppe der Eindringlinge zu ...
Nomaden des Weltraums
Ein unterdrücktes Kichern drang von draußen herein. Es kam von mehre
ren Wesen, nicht nur von einem. Tatsächlich drängten sich hinter der ersten
Gestalt weitere Fremde in den Laderaum. Harpo und Anca schlossen ge
blendet die Augen, als unerwartet hellgrünes Licht aufflammte. Trompo legte
verwirrt die Ohren an.
Eine warme Stimme sprach einen Satz und schwieg dann wieder. Später er
fuhren sie, daß der Sprecher Rajah hieß und gesagt hatte: „Na, wen haben wir
denn da?“
Aber der Tonfall der Stimme allein genügte. Harpo blinzelte erstaunt und
stützte sich mit den Händen ab. Ehrlich verblüfft musterte er die seltsame
Gesellschaft, die sich über ihn, seine Schwester und Trompo beugte und
dabei nicht mit melodisch klingenden Kommentaren sparte.
Wie dumm sie doch gewesen waren! Daß diese zarten, beinahe elfenhaften
Geschöpfe keine bösen Absichten hegten, konnte man schon an ihren schalk
haft lachenden Augen erkennen. Vom Sternenlicht gebräunte Gesichter sa
hen zu ihnen herab. Feingliedrige Hände ohne jede Waffe waren zu
erkennen. Es waren zierliche Gestalten mit menschlichen Gesichtszügen,
kleinen Nasen, Mündern und Ohren. Sie waren harmonisch, fast engelhaft
schön. Unter den Kapuzen lugten silberne, silberblonde oder silberrote,
weißblonde oder kupferrote Locken hervor.
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Erst beim näheren Hinsehen erkannte Harpo, daß die Ohren ein klein
wenig spitz ausliefen und die Augen ungewöhnlich groß waren. Aber das
schienen die einzigen anatomischen Unterschiede zum Menschen zu sein.
Als die Kapuzen zurückgeschlagen wurden, konnte man die ganze Pracht der
vorher nur mühsam gebändigten Locken bewundern. Alle sahen jung und
gleichaltrig aus. Erst später sollte Harpo erfahren, daß mehrere Generationen
einer Familie anwesend waren. Aber selbst ein schärferer Beobachter hätte
nur an winzigen Kleinigkeiten Altersunterschiede feststellen können.
„Wir ... wir wollten gar nicht ... äh ... ich meine, wir meinen ... wir haben nur
...“ Harpo suchte stotternd nach Worten. Er warf seiner Schwester einen hilfe
suchenden Blick zu. Anca verstand, daß sie ihn unterstützen sollte, aber der
Kloß, der seit dem Auftauchen der Fremden in ihrem Hals steckte, war noch
nicht hinuntergeschluckt.
„Stimmt“, flüsterte sie schließlich. „Wir ... äh ... wollten nur ...“
Das erste der fremden Wesen kniete neben ihnen nieder und berührte die
beiden Kinder mit den Händen an den Schultern. Ein freundlicher Blick traf
Harpo und Anca. Die Augen erinnerten an funkelnde Rubine, wirkten aber
trotz ihrer Fremdartigkeit vertrauenerweckend. Es war ein Mann.
„Ihr braucht keine Angst vor uns zu haben“, sagte er. Der Translator an
Harpos Handgelenk, den er nach der ersten Verwirrung eingeschaltet hatte,
übersetzte ohne Schwierigkeiten. Offenbar hatten ihm die vielen Äußerungen
der Umstehenden bereits zur Analyse der Sprache gereicht.
„Wir tun keinem etwas“, fügte das Wesen hinzu.
„Wir heißen Harpo und Anca Trumpff“, sprudelte Harpo hervor. „Und
dieser kleine Wicht“ – er deutete auf den immer noch in Ancas Arme ge
kuschelten Trompo – „heißt Trompo und ist der eigentlich Schuldige. Er lief
hierher, und da dachten wir ...“
„Ihr müßt euch nicht entschuldigen“, sagte das Elfenwesen lächelnd. „Ich
heiße Rajah. Wir haben euch übrigens erwartet.“
Anca und Harpo wechselten erstaunte Blicke.
„Was? Aber woher wußtet ...“
Rajah lachte herzlich, und die anderen fielen fröhlich mit ein. „Glaubt ihr
wirklich, wir hätten euch nicht bemerkt? Euer Schiff ist ja nicht gerade klein;
man kann es schwer übersehen. Und euer Beiboot hatten wir auch die ganze
Zeit über auf unseren Schirmen.“
„Aber warum habt ihr nicht ...?“ fragte Anca.
„Du willst sicherlich wissen, warum wir auf eure Botschaften nicht reagiert
haben?“ Rajah sah in ihren Augen die Bestätigung und wandte sich seinen
Gefährten zu. Dann meinte er: „Nicht alle Wesen, die im Weltall unterwegs
sind, kann man als seine Freunde bezeichnen. Leider. Wir haben einige
schlechte Erfahrungen gerade in der Nähe dieses Sonnensystems gemacht.
Ein Schiff eurer Größe und Bauart haben wir noch niemals gesehen. Wir
waren vorsichtig und wollten erst einmal abwarten. Und es gefiel uns besser,
euch hier zu empfangen, zu unseren Bedingungen, wenn ihr so wollt.“ Er lä
chelte wieder. „Ernsthaft: Wir hielten euch anfangs sogar für Riesen, als wir
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euer Schiff sahen. Und die nehmen kleine Leute wie uns manchmal nicht
ernst ...“
Harpo ließ ihn trotz seiner Erregung erst einmal aussprechen, aber dann
redete er so schnell, daß der Translator kaum nachkam. „Und wir hielten
euch für Räuber und Entführer. Fremde haben nämlich vor einigen Stunden
zwei unserer Freunde direkt vor unserer Nase entführt.“
Rajah und die anderen Elfenwesen machten betroffene Gesichter und woll
ten Einzelheiten wissen. Nachdem Harpo den Hergang und das Aussehen des
Raumfahrzeugs ausführlich beschrieben hatte, sagte eines der Wesen, dessen
zarte Rundungen andeuteten, daß es ein Mädchen war: „Das können nur die
PecasPiraten gewesen sein.
Rajah nickte. „Das ist Yilmaz“, stellte er vor. Yilmaz lächelte und reichte ih
nen beide Hände. Harpo fand ihr Lächeln bezaubernd und war begeistert von
ihrem kupferroten Haar und der knabenhaften Figur. Wie alle anderen trug
sie einen enganliegenden Overall aus einem gelbseidenen Stoff.
Bei dieser Gelegenheit kamen auch die anderen näher, nannten ihre
Namen und berührten die Kinder mit den Händen. Thoris hieß ein Mann, der
wie Rajah silberne Locken hatte. Und Ursa war eine Frau mit weißblondem
Haar und reizenden Grübchen im Gesicht. Ein weiteres weibliches Wesen
hieß Allina, ein Mann hieß Kalo ... Die anderen Namen konnte Harpo so
schnell nicht behalten, vor allem deshalb, weil seine Augen und Gedanken
meistens bei Yilmaz waren. Zu gut gefielen ihm die langen, seidigen Wimpern
und die kirschroten Lippen.
„Wir sind der MaloiClan aus dem Volk der Akkais“, erläuterte Rajah. „Eine
große Familie, wenn ihr so wollt.“
„Ohne Kinder?“ wollte Anca wissen, die sich wunderte, daß alle gleich groß
waren – nicht ganz so groß wie sie – und gleichaltrig aussahen.
„Oh, nein“, antwortete Rajah. „Kalo hier ist unser Jüngster. Er ist fünf Jahre
alt. Bei uns wachsen die Kinder schnell heran. Er ist mein Enkel. Unsere sons
tigen verwandtschaftlichen Bindungen will ich euch lieber nicht aufzählen,
das würde euch nur verwirren. Wenden wir uns lieber euren Problemen zu.“
„Dann gehen wir aber an einen gemütlicheren Platz“, warf Ursa ein und
führte die ganze Gesellschaft in einen behaglich eingerichteten Raum im
Oberdeck. Reichverzierte Sitzkissen luden dort zum Ausruhen ein. Die
Wände der Kabine waren mit duftenden Seidenstoffen überzogen, und in
Nischen wuchsen großblättrige Pflanzen mit rotgelben Knospen, die ein biß
chen an Rosen erinnerten. Kalo erhitzte in einer Kanne ein dickflüssiges Ge
tränk, das rasch belebte und ein köstliches, mildsüßes Aroma hatte. Anca
nannte es „Teehonig mit Rum“, weil es von all diesen Sachen ein wenig an
sich hatte.
Harpo hatte dem drängenden Micel inzwischen einen Kurzbericht gegeben
und vertröstete ihn ansonsten auf später.
„Ich weiß gar nicht recht, wo ich anfangen soll“, sagte Rajah grübelnd. „Ob
jetzt bei den PecasPiraten oder bei den Akkais ...“
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„Oder bei dem Raumsegler ... ich meine, eurem ungewöhnlichen Raum
schiff!“ rief Harpo.
„Oder ihr erzählt uns zuerst etwas über euch“, meinte Yilmaz. „Ich bin sehr
neugierig.“
Rajah lächelte. „Bevor wir uns streiten oder alle durcheinanderreden, be
ginne ich am besten damit, daß ich über mein eigenes Volk berichte.“
Da niemand widersprach, machte er es sich gemütlich, indem er die Beine
zum Schneidersitz übereinanderschlug und begann: „Man nennt die Akkais
die Nomaden des Weltraums, denn wir kennen kein festes Zuhause, sind
nicht auf einem bestimmten Planeten seßhaft. Unsere Heimat ist vielmehr
unser Schiff. Das heißt, für den MaloiClan ist es dieses Schiff, für die anderen
Clans sind es andere Schiffe.
Die meisten von uns treiben Handel in diesem Sonnensystem und sechs
weiteren in der Nähe. Ihr habt euch vielleicht schon zusammengereimt, daß
wir die Energie der Sterne als Druckkraft ausnutzen und dabei nur langsam
vorankommen.“
Anca, Harpo und Trompo nickten eifrig, als sei dies ein ganz alter Hut für
sie. Schuldbewußt mußten sie sich eingestehen, daß sie vor ein paar Stunden
Thunderclaps diesbezügliche Feststellung entschieden angezweifelt hatten.
„Das setzt uns Grenzen“, fuhr Rajah fort. „Die ältesten von uns werden
hundert Jahre alt – da geht es nicht an, daß man für eine einzige Handelsfahrt
zwischen zwei Sternen zwanzig Jahre oder mehr braucht. Und das würde uns
nämlich passieren, wenn wir versuchten, außerhalb der umliegenden, eng
beieinanderstehenden Sterne weiter in den Kosmos vorzudringen. Wir errei
chen nur maximal 70 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Und außerdem gibt
es in diesem Bereich achtzehn Zivilisationen, die für den interstellaren
Handel in Frage kommen. Das genügt uns. Ein bißchen Handel treiben üb
rigens alle Akkais. Aber während wir uns nur davon ernähren, gibt es andere
Clans, die immer ein paar Jahre lang auf einem Planeten bleiben und sich
dort mit den verschiedenartigsten Tätigkeiten durchschlagen. Natürlich,
sofern es Welten mit geringer Gravitation sind. Denn wir halten es nicht
lange aus, wenn uns die Schwerkraft zu Boden drückt. Wir lieben die Schwe
relosigkeit des Raumes, die unermeßliche Weite, die Sterne ... Aber wir sind
auch rein körperlich gar nicht dafür geschaffen, lange auf einem Planeten zu
leben.“
„Aber ihr müßt doch von einem Planeten stammen“, wunderte sich Harpo.
„Ihr habt euch doch nicht im Weltraum entwickelt. Wo kommen eure Schiffe
her? Was macht ihr auf diesem Planeten? Ist das nicht eure Heimat?“
„Langsam, langsam“, wehrte Rajah die hitzigen Fragen ab, während Yilmaz
und einige andere fröhlich auflachten. „Also: Dieser Planet, den wir Alphacca
nennen, ist eine Art Anlaufstelle für uns und andere Clans. Er ist unbewohnt,
wenn man von Echsen und anderem Getier, vor allem in den Pilzwäldern,
einmal absieht. Hier haben wir unsere Magazine aufgebaut, in denen wir
Waren einlagern, die an der Atmosphäre ausdünsten müssen oder in irgend
einer Art von uns bearbeitet werden. Wir kommen zum Beispiel gerade vom
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Planeten Cariba im Nachbarsystem und haben dort Kunstgegenstände gegen
Samen eingetauscht, den wir mit einem Spezialverfahren für den Planeten
Extor brauchbar machen ... Aber ich schweife ab und wäre jetzt schon fast
zum Thema PecasPiraten gekommen, denn die machen uns hier gelegent
lich auch Ärger ...“
Bevor Anca die Chance hatte, eine Frage einzuschieben, hob Rajah
beschwichtigend die Hände. „Kommt ja alles noch“, sagte er. „Aber du hast
recht, Harpo. Obwohl wir manchmal drauf und dran sind, es zu vergessen:
Unser Volk hat sich auf einem Planeten entwickelt. Aber der ist unendlich
weit weg. Eine Schiffskatastrophe hat unsere Vorfahren vor vielen hundert
Jahren hier stranden lassen; sie konnten nicht mehr zurück. Aber sie besaßen
ein großes Raumschiff, vielleicht so groß wie eures, mit einem ausgebrannten
Antrieb – und ihr Wissen. Unsere Heimatwelt Akkai war ein Riesenplanet mit
äußerst geringer Schwerkraft, eine Zauberwelt, die vor allem aus einer gas
ähnlichen Materie bestand. Unsere Ahnen wußten, daß sie auf den um
liegenden Planeten keine Überlebenschance hatten. Wißt ihr, was sie taten?“
Rajah schwieg und sah die Gäste fragend an, antwortete dann aber selbst.
„Sie demontierten ihr riesiges Raumschiff und bauten Raumsegler daraus,
viele hundert Stück. Nichts blieb übrig. Sie verwendeten jede Schraube. Je
weils ein Pärchen, ein Mann und eine Frau, bekam einen Segler. So ent
standen die Clans. Und es funktionierte. Bis heute. Wir haben unser Wissen
gehütet und erweitert. Wir können uns im lebensfeindlichen Weltraum be
haupten. Wir können die wichtigsten technischen Geräte reparieren und neu
bauen. Und einmal in fünf Jahren treffen alle Clans zu einem großen Fest
mitten im Weltraum zusammen, feiern miteinander und tauschen ihr Wissen
aus – und Mitglieder ihrer Familien. In wenigen Wochen ist es wieder soweit.
Ihr seid schon jetzt herzlich dazu eingeladen!“
Harpo und Anca hatten ergriffen diesem Bericht gelauscht, zumal Rajah
mit großer innerer Anteilnahme gesprochen hatte. Selbst Trompo sah man
an, daß er beeindruckt war. Harpo bedankte sich höflich für die Einladung.
Nach Möglichkeit würden sie gern kommen, sagte er. Klar doch, das durften
sie sich nicht entgehen lassen.
„Was nun die Piraten angeht“, meldete sich Thoris nach einer Weile zu
Wort, „so kommen die von einem Mond des siebten Planeten. Es gibt dort
mehrere Banden mit selbstgebastelten Raumschiffen. Die haben uns und
anderen Rassen schon mehrmals Ärger gemacht. Aber von einem derart fre
chen Überfall habe ich noch niemals gehört. Meistens versuchen sie sogar,
friedlich mit uns zu handeln.“
„Ist es der einzige Mond des Planeten?“ wollte Anca gleich wissen. „Wir
müßten nämlich so schnell wie möglich aufbrechen und versuchen unsere
Freunde zu finden. Was machen die überhaupt mit Lonzo und Alexander?“
„Oh, die PecasPiraten handeln mit allem, was ihnen unter die Finger
kommt“, sagte Rajah. „Aber vielleicht kann ich euch einen Vorschlag ma
chen.“
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Er beriet flüsternd mit den anderen Akkais. Offenbar waren alle einer Mei
nung, denn es wurde nicht lange diskutiert.
„Bevor wir zu unserem Fest aufbrechen“, wandte sich Rajah schließlich
wieder an die Gäste von der EUKALYPTUS, „steht sowieso noch eine Fahrt
zum Pecas auf unserem Programm. Wenn ihr wollt, könnt ihr uns begleiten.
Wir würden euch bei der Suche helfen.“
„Mensch, klasse!“ rief Harpo erfreut.
„Da wir mehrere Tage für die Fahrt benötigen, werden wir am besten noch
heute aufbrechen“, schlug Ursa vor.
„Prima!“ jubelte Anca. „Darf Micel auch mit?“
„Wer ist Micel?“
„Er sitzt am Funkgerät unseres Gleitbootes und wartet sehnsüchtig darauf,
daß wir ihm etwas über euch erzählen. Angst hat er sicher auch.“
„Ja, dann laßt ihn schnell herkommen“, sagte Ursa und lächelte. „Wir
starten, sobald er an Bord ist.“
„Was wird aus eurem Boot?“ fragte Yilmaz. „Wollt ihr es hier zurücklassen?“
„Schwatzmaul – das ist nämlich unser Bordgehirn – wird es ferngesteuert
zur EUKALYPTUS zurückholen“, erwiderte Harpo.
Die Akkais lachten über den lustigen Namen Schwatzmaul, und Harpo
mußte nun erst einmal erzählen, was es damit auf sich hatte.
„Aber wolltet ihr nicht zunächst wichtige Arbeiten auf Alphacca erledigen?“
fragte Anca schuldbewußt. „Dieser Samen, der aufbereitet werden muß ...
Vermutlich bringen wir eure Pläne durcheinander.“
„Nein, nein“, wehrte Rajah ab. „Macht euch darüber keine Gedanken. Ein
paar von uns bleiben hier. Sie werden es schon allein schaffen.“
„Harpo, Harpo!“ meldete sich Micel aufgeregt. „Ich habe das meiste mitge
hört und bin direkt mit Thunderclap verbunden. Die Jungs auf der EUKALYP
TUS brennen darauf, auf Alphacca zu kommen und bei der Arbeit zu helfen.
Die Roboter können auch mit anfassen.“
„Prima!“
Harpo gab diesen Vorschlag gleich weiter. Die Akkais waren begeistert. Sie
hatten nämlich ein bißchen geschummelt, um den jungen Leuten von der
EUKALYPTUS zu helfen. Eigentlich hatten sie vorgehabt, erst die Arbeit zu
erledigen und nach dem Fest zum Pecas zu fahren.
„Micel, sag Thunderclap und den anderen Bescheid, daß sie willkommen
sind“, rief Harpo in sein Mikrophon. „Und dann nimm deine Beine in die
Hand. Wir starten zum Pecas!“
„Juchhu!“ rief Micel und gab die Neuigkeiten gleich an die EUKALYPTUS
weiter.
Wenig später haspelte er schon wieder in das Mikrophon, das ihn mit Anca
und Harpo verband: „Thunderclap läßt sagen, daß der Tisch schon gedeckt
werden kann. In spätestens einer Stunde landet das zweite Gleitboot auf Al
phacca. Nur Schwatzmaul hält die Stellung auf der EUKALYPTUS. Und stellt
euch vor: Ollie hat nicht einmal gefragt, ob es auf Alphacca heimtückische
Krankheitserreger gibt!“
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Harpo und Anca lachten hellauf. Sie stellten sich bildhaft vor, wie der
Kleine mit glühenden Wangen dem Abenteuer entgegenfieberte und keine
Zeit mehr hatte, über seine eingebildeten Krankheiten nachzudenken.
„Wir haben keinen Raumanzug für Trompo!“ fiel es Harpo siedendheiß ein.
„Vielleicht sollte er besser auf Alphacca bleiben. Wer weiß, was uns auf Pecas
erwartet? Da braucht man sicher druckfeste Kleidung ...“
„Kommt überhaupt nicht in Frage“, protestierte das kleine Wesen empört.
„Als alter Raumhase bleibe ich doch nicht auf einem Planeten zurück! Ich
komme auf jeden Fall mit! Notfalls warte ich auf euch im Raumsegler.“
„Klar!“ rief Anca. „Trompo muß mit. Ohne ihn würden wir vielleicht jetzt
noch im Wald hocken und die Akkais aus der Ferne beobachten.“
„Na gut!“ Harpo gab sich geschlagen und war gar nicht böse darüber.
„Auf zum Pecas!“ jubelte Anca, und Trompo ließ einen schrillen Trompe
tenstoß los.
„Unterwegs müßt ihr uns eine Menge über euch erzählen“, forderte Yilmaz
und machte einen Schmollmund, weil die drei neuen Freunde noch immer
so gut wie nichts über sich und ihr Raumschiff berichtet hatten.
„Klar, machen wir!“ riefen Anca und Harpo wie aus einem Mund.
Landung auf Pecas
„Das ist also Pecas“, sagte Harpo leise, während er interessiert durch das
Glas der engen Zentrale des Raumseglers starrte. Der Raum war schmucklos,
nüchtern und zweckbezogen, wie alle Abteilungen des Seglers, die nicht zum
direkten Wohnen gedacht waren. „Werden wir dort landen?“
„Wie man es nimmt“, antwortete Rajah. „Nicht mit dem Segler, obwohl die
Schwerkraft auf Pecas so gering ist, daß es mit den Projektoren möglich wäre.
Aber leider würde ein solches Manöver ein Riesenloch in unseren Energie
Etat reißen. Deshalb lösen wir den für Pecas bestimmten Teil der Handels
waren ab und landen zusammen mit dem Lagersegment.“ Anca betrachtete,
die Stirn in Falten gelegt, grübelnd den Mond. „Man kann sich gar nicht vor
stellen“, flüsterte sie, „daß dort überhaupt jemand lebt. Es sieht alles so
lebensfeindlich, so kalt und grau aus.“ Sie schüttelte sich.
„Lebensfeindlich?“ Micel Fopp lachte. „Was meinst du wohl, wie mir der
Schädel brummt! Ich habe noch nie zuvor auf so engem Raum konzentriert
derart viele Bewußtseinsströme zu spüren bekommen.“
„Ja, aber wo stecken die denn alle?“ fragte Harpo verdutzt. „Man sieht doch
nichts als leergefegte Krater und Höhleneingänge!“
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„Eben“, meinte Rajah lächelnd. „Höhleneingänge. Der ganze Mond ist ein
einziges Labyrinth weitverzweigter Höhlen. Obwohl hier mehrere Millionen
Truuks, Panquas und Truujiss leben – von den unzähligen Tier und
Pflanzenarten einmal ganz abgesehen –, hat man diese Höhlen erst zu einem
Bruchteil erforscht.“
„Kein Wunder, daß sich Piraten dort unten gut verstecken können“, er
widerte Harpo nickend. Zu Micel gewandt, sagte er: „Sag mal, auch wenn das
für dich wie eine Zumutung klingt: Hast du trotz dieses geistigen Wirrwarrs
Hoffnung, Lonzo und Alexander aufzuspüren?“
„Nein.“ Micel schüttelte den Kopf. „Auf mich dürft ihr dieses Mal wirklich
nicht zählen. Anders sähe das aus, wenn ich durch Zufall in ihre Nähe käme.
Es ist für einen NichtTelepathen wohl auch nicht vorstellbar, wie mich
dieses Tohuwabohu von Gehirnströmungen schafft. Da läßt sich überhaupt
nichts mehr voneinander trennen, wenn es etwas weiter entfernt ist. Es geht
alles in einem dichten Hintergrundsummen unter, versteht ihr? Stellt euch
vor, ihr versuchtet zu verstehen, was in der Ecke einer Bahnhofshalle geredet
wird. Das ist unmöglich, wenn dort einige Tausend Menschen gleichzeitig
durcheinanderreden und ihr zudem in einer anderen Ecke steht. So ungefähr
geht es mir jetzt.“
„Wie sieht es mit Funkkontakten aus?“ wollte Anca wissen.
„Pustekuchen“, entgegnete Harpo. „Die Höhlen stellen ideale Abschir
mungen dar. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß man Alexander und
Lonzo die Funkgeräte nicht abgenommen hat: Die Geräte sind einfach zu
schwach, um uns zu erreichen.“
„Aber vielleicht können wir sie mit unserem Sender anpeilen.“
„Aussichtslos“, sagte Harpo mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Auch der Empfangsteil der beiden ist zu leistungsschwach. Das einzige, was
wir mit einem solchen Versuch erreichten, wäre, daß wir ihre Entführer auf
uns aufmerksam machen.“
„Aber warum landen wir dann überhaupt erst auf Pecas, wenn alles so aus
sichtslos ist?“ fragte Anca niedergeschlagen. „Wenn die Höhlensysteme nicht
einmal von denen erforscht sind, die dort leben – wie sollen wir dann
Freunde finden können?“
„Nicht gleich aufgeben, kleines Menschenmädchen.“ Rajah zwinkerte ihr
zu. „Wir Akkais haben eine Menge Freunde auf Pecas, viele Augen, viele Oh
ren, viele Nasen. Unsere Freunde werden überall Ausschau halten. Wenn die
Piraten ihre Beute schnell verkaufen wollen, müssen sie damit auf den
schwarzen Markt gehen. – Glaubt mir, es wird sich schnell herumsprechen,
wenn zwei so fremdartige Wesen wie Alexander und Lonzo zum Verkauf
angeboten werden. Man muß ein bißchen Geduld haben. Wenn sich die
beiden Entführten wirklich auf Pecas befinden, werden wir sie mit Gewißheit
früher oder später auch finden.“
„Pecas hat keine Atmosphäre, nicht wahr?“ fragte Harpo.
„Gut beobachtet“, lobte Rajah. „Aber die meisten Höhlen haben eine. In
früheren Zeiten gab es viele Sauerstoffverluste durch Höhlenrisse, poröses
40
Gestein und Verbindungen zu Hohlräumen ohne Atemluft. Aber inzwischen
sind die Leckstellen im bewohnten Teil des Labyrinths perfekt abgedichtet.
Das haben die Truuks allein geschafft, mit ausschließlich natürlichen Hilfs
stoffen.“
„Ein Piratenvolk mit Phantasie?“
„Oh“ erwiderte Rajah, „ihr dürft die Truuks nicht mit ihren schwarzen
Schafen gleichsetzen. Die meisten von ihnen sind ausgesprochen liebens
werte Lebewesen. Lustig, verspielt und randvoll mit Ideen, dabei hand
werklich sehr geschickt. Ihr müßt euch vorstellen: Diese Leute waren bis vor
einigen Jahrzehnten reine Bauern, Jäger und Handwerker, wurden dann von
uns entdeckt und in den interplanetaren Handel einbezogen. Seither eilen sie
mit Riesenschritten der technischen Entwicklung nach, haben die Sache aber
natürlich noch nicht richtig im Griff. Nur so ist zu erklären, daß unsere Ma
schinen, Antriebsaggregate und Präzisionsgeräte auf den schwarzen Markt
gelangten oder einfach gestohlen wurden.“
„Dann lebten die Truuks bis vor kurzem am Ende noch unter feudalis
tischen Verhältnissen?“ wollte Micel wissen.
„Was heißt bis vor kurzem?“ meinte Rajah belustigt. „Dem TruukAdel
schwimmen erst jetzt allmählich die Felle weg. Unter den Truuks gibt es viele
Diebe, Piraten und andere Dunkelmänner. Zum Teil verstehen sie sich als
Rebellen und sind es wohl auch. Andere wollen sich einfach nur bereichern
und ein Leben führen, das dem des tonangebenden Adels entspricht. Man
kann schließlich nicht erwarten, daß sich durch ein paar Maschinen schlag
artig die sozialen Verhältnisse ändern. Langfristig geschieht das wohl, aber
vorher kommt es eben zu Auseinandersetzungen zwischen den verschie
denen Interessengruppen. Das ist überall im Universum so. Erst wenn sich
eine fortschrittliche Strömung durchsetzt, kommt es zu einer Weiterentwick
lung – in der Wirtschaft, in der Technik und natürlich auch in der Form des
Zusammenlebens.“
„Warum habt ihr denn überhaupt Kontakt mit ihnen aufgenommen?“
wollte Harpo wissen. „Hättet ihr sie nicht besser einen eigenen Weg finden
lassen sollen? Vielleicht sind sie sehr unglücklich darüber, weil die Technik
ihre ganzen Lebensbedingungen umgekrempelt hat.“
„Wir sind Händler“, gab Rajah schulterzuckend zurück. „Die Truuks hatten
uns Güter anzubieten, die wir brauchen konnten. Und wir haben sie zu
keinem Zeitpunkt übervorteilt. Das ist auch der Grund, warum wir so viele
Freunde dort haben. Als dann Händler von den anderen Planeten kamen,
haben sie schnell den Unterschied zwischen denen und uns gemerkt. Die
wollten betrügen, ungerecht tauschen.“
„Ich weiß nicht“, sagte Harpo unschlüssig. „Ganz richtig finde ich es trotz
dem nicht.“
„Dann mußt du aber kritisieren, daß wir überhaupt in diesen Raumsektor
eingedrungen sind. Und das war eine Existenzfrage für uns. Wir mußten
überleben, Kontakte aufnehmen. Pecas blieb viele Jahrhunderte lang unent
deckt, aber letztlich konnte sich der Mond dem Zugriff eben doch nicht ent
41
ziehen. Und die jetzt dort ablaufende Entwicklung hätte auch ohne unser Zu
tun stattgefunden. Nur langsamer. Und, wer weiß ...“
„Ach, das wird mir zu langweilig“, unterbrach Anca Rajahs Ausführungen.
„Laßt uns lieber die Lagersegmente abtrennen und landen, damit unsere
Freunde aus den Händen der Piraten befreit werden.“
Das mußten sie nicht zweimal sagen, denn alle waren ungeduldig und
voller Tatendrang.
Anca war als erste in einen Raumanzug gestiegen. Rajah half ihr bereits
beim Anlegen des SchwerkraftNeutralisators und zeigte ihr, wie sie damit
umgehen mußte. Harpo, Micel und die anderen Akkais schlüpften ebenfalls
in ihre Raumkleidung und wurden mit Neutralisatoren ausgestattet.
Harpo ertappte sich dabei, daß er zu Yilmaz hinüberschielte, während sie
sich umzog.
Das elfenhafte Mädchen bemerkte seine Blicke und lächelte ihm zu. Unge
niert und beinahe zärtlich. Als Harpo merkte, daß ihm die Röte ins Gesicht
schoß, klappte er schnell seinen Raumhelm zu. Er fühlte sich etwas verwirrt
und mußte mehrmals dazu aufgefordert werden, mit zur Schleuse zu gehen.
Was waren das für eigenartige Gefühle? Sicher, er mochte Yilmaz sehr gern.
Aber auch Anca. Und die war schließlich auch ein Mädchen. Weshalb wurde
er darin verlegen, wenn er Yilmaz sah? Wenn sie ihn anlachte? Und weshalb
mußte er dauernd an sie denken?
In den nächsten Sekunden wurden diese Gedanken verdrängt. Es gab eine
Menge zu tun. Von Yilmaz sah er nicht mehr als eine Gestalt in einem unför
migen Raumanzug und schattenhafte Konturen ihres zarten Gesichts hinter
der Scheibe ihres Helms.
Während der Segler auf einer Parkbahn um Pecas lag, kletterten die zehn
Akkais und ihre Freunde von der EUKALYPTUS zwischen den Lagerräumen
hin und her. Projektoren wurden an dem abzukoppelnden Segment ange
bracht und zusätzliche Vorräte eingeladen. Dann ging es an die Montage
arbeit. Mit großen Schraubenschlüsseln bewaffnet, lösten sie die
Verbindungen zwischen dem Lagersegment und den anderen Teilen des
Seglers. Das war eine Arbeit, die einfacher aussah, als sie war. Schließlich gibt
es im All weder Decke noch Boden, auf die man sich Stützen kann. Sie muß
ten sich in die Ecken und Winkel des Seglers stemmen, um genügend Kraft
zum Lockern der Schrauben aufbringen zu können. Nach mehr als sechs
Stunden war mit vereinten Kräften die Arbeit getan. Das Segment schwebte
frei neben dem Segler im All. Nun konnte es losgehen. Jeder suchte sich eine
Nische in dem bizarr geformten Lagersegment, das etwa so groß wie ein
kleines Einfamilienhaus war, und verankerte den Raumanzug mit Stahlseilen
und Magnethaken. Harpo gelang es, die Nische mit Yilmaz zu teilen. Eng an
einandergepreßt warteten sie auf den Start, aber fühlen konnten sie einander
nicht, dafür waren die Anzüge zu starr. Sie lächelten sich an.
Nur Trompo mußte zurückbleiben. Er winkte mit dem Rüssel aus der
Zentrale des Seglers herüber. Alle winkten zurück.
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Rajah schoß eine Signalrakete ab. Die drei Akkais an den Steuerprojektoren
schalteten die Geräte ein und justierten die Intensität der Traktorstrahlen.
Zunächst trudelte das Segment beträchtlich, aber Rajahs Kommandos brach
ten bald Ruhe in das Gefährt.
Schließlich lag es ganz ruhig und sank sanft der Oberfläche des Mondes
entgegen.
Die Höhlen von Pecas
Das Lastsegment des Raumseglers berührte die Oberfläche von Pecas.
Allem Anschein nach existierten weit und breit nur Höhlen und Krater. In der
Ferne, in der Nähe des Horizonts, sah man die undeutlichen Konturen eines
anderen Nomadenschiffes, das ebenfalls eine Parkbahn um den Satelliten be
schrieb. Die Szenerie wurde in ein grüngelbes Licht getaucht, das von dem
aus dieser Perspektive nur wagenradgroßen Mutterplaneten Caas ausging.
Oder, um ganz genau zu sein, aus dessen Reflexion der Sonneneinstrahlung
bestand. Pecas selbst lag im Schatten des Planeten und wurde niemals vom
direkten Sonnenlicht erreicht.
Es gab aber einen Beobachter. Unbemerkt von den Akkais und ihren
Freunden hockte eine Gestalt zwischen den Felsblöcken und starrte auf das,
was sich einige hundert Meter von ihm entfernt abspielte. Sein Raumanzug,
der an einigen Stellen golden schimmerte, war ansonsten rußgeschwärzt. Of
fenbar legte der Besitzer wenig Wert darauf, den Anzug zu putzen. Der Helm
war allerdings tadellos blank.
Niemand auf Pecas ahnte etwas von diesem Beobachter. Und niemand
hätte sich erklären können, wie er ausgerechnet hierhergelangt war. Die Tat
sache, daß dieser Mann ein winziges Raumschiff hatte, das viele tausend Ki
lometer entfernt im All auf einem Asteroiden verankert war, machte die
Anwesenheit dieses Wesens eher noch rätselhafter. Geduldig beobachtete es,
wie die Akkais ihre AntischwerkraftProjektoren in einer neuen Anordnung so
am Segment befestigten, daß eine Art Fahrzeug entstand.
Während das Segment einen halben Meter über dem Felsboden schwebte,
wurde es von gezielten Stößen anderer Projektoren horizontal in Bewegung
gesetzt. Das Ziel war offensichtlich ein nahegelegener, mächtiger Höhlenein
gang.
Die Akkais und die Menschen saßen zum Teil rittlings auf dem Segment,
zum Teil liefen sie neben ihm her.
Der geheimnisvolle Beobachter machte zum ersten Mal eine Bewegung. Er
erhob sich aus seiner knienden Position, richtete sich halb auf – und sackte
dann wieder langsam zurück. Er schien zu zögern, einen bereits gefaßten
Entschluß wieder umzustoßen. Das Manöver wiederholte sich noch einmal
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mit gleichem Ergebnis. Dann verschluckte die schwarze Höhle Kinder, Akkais
und ihre Waren.
Wieder erhob sich der Beobachter, dieses Mal entschlossener. Er richtete
sich auf und straffte seine Gestalt. Man sah jetzt, daß er nicht größer als ein
Akkai war. Nachdem er sich vorher, auf Tarnung bedacht, zwischen die
Felsen geduckt hatte, überraschte die Sorglosigkeit, mit der er nun seine De
ckung verließ und den Verschwundenen folgte. Er beeilte sich nicht, sondern
schlenderte wie ein Spaziergänger über das Geröll. Er kannte den Weg, den
die Akkais und die Menschen gegangen waren. Er würde ihnen in ange
messenem Abstand folgen.
Als er den Eingang der Höhle erreichte, war von den Eindringlingen nichts
mehr zu sehen. Der Höhleneingang lag schwarz und leer vor ihm.
Aber der Fremde schien weder überrascht noch zögerte er bei diesem An
blick. Dem dunklen Gang der Höhle, der sich allem Anschein nach tief in den
Mond hinein erstreckte, schenkte er nicht eine Sekunde lang Beachtung. Viel
mehr stolzierte er zum toten Teil der Höhle. Der Boden schimmerte eigen
artig im diffusen Zwielicht und wirkte erstaunlich glatt. Der Beobachter
dachte nicht darüber nach, daß dies ein Quecksilbersee war und schritt bein
ahe achtlos weiter. Im Nu stand er bis zu den Hüften im flüssigen Metall,
dann tauchte er ganz unter.
Sehen konnte er nichts mehr, und die Bewegungen waren mühsam wie
etwa das Schwimmen in dickflüssigem Honig. Ohne das kleine Brustaggregat
mit den Traktorstrahlen hätte er seinen Körper nur mit großem Kraftaufwand
unter dem Metall halten können. Dann spürte er über sich die Innenwölbung
der Felsschwelle und verminderte die Intensität der Traktorstrahlen. Der Auf
trieb sorgte dafür, daß er auf der anderen Seite der Sperre an der Oberfläche
des Quecksilbersees auftauchte. Er hatte eine weitere Höhle erreicht, von de
ren Existenz niemand etwas ahnen konnte, der den Quecksilbersee betrach
tete. Geheimnisse wie dieses hatten das Innere von Pecas lange Zeit
abgeschirmt. Es waren Launen der Natur, mit der die Sauerstoffatmosphäre
konstant gehalten wurde. Die Luft in diesem Teil des Höhlenlabyrinths war
atembar. Allerdings war es wegen der Quecksilberdämpfe gefährlich, bereits
hier die Schutzkleidung abzulegen.
In dieser Höhle war es keineswegs dunkel. Einige Teile des Bodens
schienen zu glühen und strahlten dabei rotgelbes Licht aus. Wenn man ge
nauer hinsah, bemerkte man, daß es sich nicht um den Boden selbst
handelte, sondern um gleißende Partikel, die in den Fels eingebettet waren.
Sie stammten aus dem Innern des Planeten und waren die Geburtshelfer des
Lebens im Mond gewesen. Denn sie gaben Licht und Wärme. Die Truuks
bargen das Material an nur ihnen bekannten Fundstellen und benutzten es
wie hier, um das Leben im Innern des Mondes erträglich zu machen. Nie
mand hatte bisher ergründen können, welcher Art diese ausgestrahlte
Energie war. Die Akkais nannten die Energiekörner Sternengold. Seinetwegen
besuchten sie diesen Mond. Obwohl es hier scheinbar so achtlos verwendet
worden war, galt es als kostbar.
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Man konnte es auch nicht so ohne weiteres aufsammeln, denn es ging mit
der Zeit eine glasurähnliche Verbindung mit dem Gestein ein – und strahlte
dann, ohne erkennbare Abnutzung, für Tausende von Jahren Licht und
Wärme aus. Immer gleichmäßig, niemals heller als dieses matte Rotgelb, nie
mals wärmer als 40 Grad Celsius.
Der Fremde schwamm bewegungslos im Quecksilbersee und beobachtete
die Ereignisse am Rande des Sees. Dort hielten sich unsere Freunde auf: Har
po, Anca, Micel und die Akkais vom Raumsegler. Sie hatten vor dem Fremden
den aufregenden Weg durch das flüssige Metall genommen. Die Kinder hät
ten zuerst nicht glauben wollen, daß so etwas möglich war – und jetzt waren
sie doch auf der anderen Seite der Höhle. Die Freunde auf der EUKALYPTUS
würden Augen machen, wenn sie ihnen erzählten, daß sie durch viele
tausend Tonnen Schwermetall geschwommen waren! Ohne die druckfesten
Anzüge und Helme wäre das unmöglich gewesen, denn Quecksilber war von
zäher Konsistenz und außerdem giftig. Aber die AntischwerkraftProjektoren
hatten geschafft, was der Atmosphäre im Innern der Höhle nicht möglich war
– das Metall zu verdrängen und einen Durchstieg zur anderen Seite zu
bahnen. Jetzt benutzten die Akkais die Projektoren wie Düsen und bliesen
damit die Quecksilberreste von den Anzügen und dem Schiffssegment.
Der Fremde wartete geduldig in der Ferne. Er dachte nach. Es gab viele
Millionen Tonnen massives Sternengold im Innern des Mondes. Bislang
wurde der Stoff von anderen Rassen nur als kostbare Spielerei angesehen. Die
Truuks ihrerseits empfanden so simple Dinge wie offenes Feuer als Kost
barkeit. Es konnte aber geschehen, daß man eines Tages den ökonomischen
Wert dieses Energiespenders, der weder Schmutz machte noch radioaktiv
strahlte, entdeckte. Dann würden die Truuks um ihren Reichtum kämpfen
müssen: gegen fremde Ausbeuter und gegen die eigenen Feudalherren, die
allein darauf bedacht waren, sich gegen Sternengold Luxusgüter einzu
handeln.
Niemand achtete auf den Fremden, von dem nur der Helm aus dem See
schaute. Aber der See lag ohnehin zu weit vom leuchtenden Boden der Höhle
entfernt. Auch ein scharfes Auge hätte kaum etwas erkennen können.
Endlich brach die Gruppe auf, bewegte sich auf eine Engstelle der Höhle zu
und verschwand in der Nachbarhöhle. Ohne Eile stieg der Fremde an Land,
säuberte seinen Anzug und folgte.
Es dauerte mehrere Stunden, bis die Kolonne und ihr Schatten bewohntes
Gebiet erreichten. Endlich tauchten die ersten Anzeichen einer lebensfreund
lichen Umwelt auf. Hin und wieder huschten kleine Tiere ins Dunkel ihrer
Wohnspalten und Grotten. Eine tiefe Humusschicht mit einem dicken
Pflanzenteppich ersetzte den Felsboden. Jetzt waren es meistens die Wände,
die Licht und Wärme abgaben. Das war teilweise auf die natürlichen Vorkom
men von Sternengold zurückzuführen, teilweise war es eine künstliche Be
schichtung. Die Akkais und die Kinder klappten ihre Helme zurück.
Der geheimnisvolle Beobachter tat das gleiche.
„Jetzt haben wir es bald geschafft!“ rief Yilmaz fröhlich.
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„Ich bin ganz überwältigt von all diesen Wundern“, gestand Harpo.
Die Akkais hatten ihren Freunden auf dem Weg alles erklärt, was es zu er
klären gab.
„Seht!“ rief Rajah, als sie durch eine Art Tunnel eine weitere Höhle erreich
ten. „Das ist unser Ziel!“ Sie befanden sich jetzt in einer der Haupthöhlen des
Mondes. Die dehnte sich weiträumig vor ihnen aus. Man war versucht, daran
zu zweifeln, daß es überhaupt eine Höhle war. Die Decke verlor sich weit
außerhalb des beleuchteten Blickfeldes im Dunkel, und die Wände wichen so
weit zurück, daß man sie nur noch als ferne Steilwände erkennen konnte. Ge
nausogut hätte dies ein gewaltiger, blühender Talkessel auf der Erde sein
können. Man sah die Eingänge mehrerer Nachbarhöhlen.
„Mann!“ stöhnte Anca. „Hier würde ich mich sofort verlaufen. Ich weiß
jetzt schon nicht mehr, aus welchem Tunnel wir gekommen sind. Sie sehen
alle gleich aus.“
Rajah lächelte nur. Sie passierten mehrere angebaute Felder mit drallen
blauen Früchten darauf. Zum ersten Mal sahen sie Truuks. Mehrere der rob
benähnlichen, unbekleideten PecasBewohner arbeiteten auf den Feldern,
andere schoben einen roh gezimmerten Karren mit Früchten, der, deutliches
Zeichen für den Handelskontakt zu fremden Kulturen, mit dicken Gummi
reifen ausgerüstet war. Die Truuks betrachteten die Ankömmlinge neugierig,
aber ohne übergroße Erregung. Fremde waren nichts Ungewöhnliches mehr
für sie. Einige winkten. Die Kinder und die Akkais winkten zurück.
Dann erreichten sie die Stadt und fühlten sich sofort von dem bunten Ge
wimmel überwältigt. Im Grunde bestand der Ort aus einem einzelnen Felsen
am Rande der Höhle. Man hatte ihn, der wohl von Anfang an aus porösem
Gestein bestanden hatte, völlig ausgehöhlt und aus ihm phantastische Bau
werke geformt. Weitere Bauten aus lehmähnlichem Material waren dem
Stadtfelsen mit der Zeit zugewachsen. Das Ergebnis sah wie ein Ameisenbau
aus oder auch wie eine enge, mittelalterliche Stadt – mit dem Unterschied,
daß alle Häuser, Gänge, Brücken und Gassen Teile eines zusammen
hängenden Ganzen waren. Ober steil ansteigende Gassen und Treppen zog
sich die Stadt wie ein babylonischer Turm in mindestens zehn Etagen über
einander hin.
Zum Glück lag der Marktplatz, wo die Akkais einen Teil ihrer Waren an
bieten wollten – ein ausgewähltes Sortiment wurde direkt an den Stadtherr
scher verkauft –‚ am Fuße der Stadt. Es war also nicht nötig, die Last durch
die winkligen Gassen zu transportieren.
„Sobald wir etwas Luft haben, werde ich Erkundungen über eure Freunde
einziehen“, versprach Rajah. „Am besten beim Obertruuk und seinen hohen
Beamten selbst. Und bei Geschäftspartnern.“
„Könnt ihr euch denn verständlich machen?“ wollte Harpo wissen.
„Wir wären schlechte Kaufleute, wenn wir nicht inzwischen die Sprache
unserer Kunden erlernt hätten“, gab Rajah lächelnd zurück. „Thoris und Yil
maz beherrschen diese Sprache fast perfekt, aber ich kann mich ebenfalls
ganz gut ausdrücken.“
46
„Wenn ich nicht gebraucht werde, zeige ich den dreien die Stadt“, schlug
Yilmaz vor. „Und sicherlich sind auch akkaiische Gaukler anwesend.
Vielleicht haben die etwas von Lonzo und Alexander gehört.“
„Geht nur“, antwortete Rajah. „Die Gaukler wären sicher eine große Hilfe,
weil sie viel herumkommen. Aber ich fürchte, daß die meisten Akkais schon
zu unserem Fest unterwegs sind. Ein Versuch kann jedenfalls nicht schaden.“
Harpo, Micel und Anca folgten dem AkkaiMädchen, während die anderen
Akkais ihre Lagerräume öffneten. Die Truuks strömten bereits in Scharen
dem Markt zu, wo sonst nur einige einheimische Händler ihre Sachen anbo
ten. Yilmaz wurde immer wieder angehalten und freudig begrüßt. Sehr
schnell kam die Gruppe daher nicht voran. Das Mädchen vergaß niemals,
sich bei jedem Bekannten nach Lonzo und Alexander zu erkundigen. Aber
niemand wußte etwas.
Den Kindern wurde beim Anblick der Truuks erst so richtig bewußt, daß
Pecas eine sehr geringe Schwerkraft hatte. Die Robbenwesen bewegten sich
gleitend durch die Luft, wobei sie mit den Häuten zwischen den Beinen und
unter den Armen steuerten. Den Boden berührten sie nur selten. Yilmaz
gestand, daß sie nur ihnen zuliebe noch ihren Raumanzug anbehalten hatte.
Das AkkaiMädchen war die Schwerelosigkeit gewohnt und empfand die
schwere Kleidung als Belastung. Grazil, wie Wesen ihrer Rasse gebaut waren,
stand sie den Robbenwesen wohl kaum an Geschicklichkeit nach.
Aber auch Harpo, Anca und Micel fragten sich neugierig, wie es wohl war,
wenn man sich hier bei geringer Schwerkraft ohne Raumanzug bewegte.
Deshalb kehrten sie nach kurzer Zeit zum Markt zurück, um die Anzüge mit
den leichten, seidenweichen Overalls der Akkais zu vertauschen. Der voraus
schauende Rajah hatte auch für die Terraner passende Overalls aus den Vor
räten des Raumseglers mitgenommen.
„Wißt ihr, was ich jetzt habe?“ rief Anca, als sie sich umgezogen hatte, und
machte einen riesigen Luftsprung.
„Hunger!“ riefen Harpo und Yilmaz zugleich und lachten.
„Wir haben gerade einen herrlichen Braten eingetauscht“, erklärte Rajah.
„Er steckt bereits auf dem Spieß!“
Jubelnd stürzten Harpo, Anca und Yilmaz halb fliegend, halb purzelnd, zur
Feuerstelle, wo es schon verführerisch duftete. Endlich mal keine Ersatznah
rung aus Synthofood.
„Gleich gar!“ verkündete Thoris und drehte den Spieß.
„He, Micel“, sagte Harpo und drehte sich nach ihm um. „Was ist mit dir?
Hast du keinen Hunger?“
Micel war langsam hinter den anderen her gesegelt. „Doch, doch“, ant
wortete er geistesabwesend.
„Ist was?“ wollte Anca nach einem langen Blick in sein Gesicht wissen.
Micel schien aufzuschrecken. Mit großen Augen sah er sie an. „Da war et
was“, sagte er dann. „Etwas sehr Eigenartiges. Ein fremdes Wesen hat ver
sucht, in meinem Gehirn zu lesen. Ganz kurz nur. Dann war es wieder weg.“
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Alle schwiegen, denn wenn Micel von seiner telepathischen Gabe erzählte,
konnten sie nicht viel mehr tun als zuhören.
„Seltsam“, sagte Micel so leise, als würde er zu sich allein sprechen. „Es war
ein Wesen wie wir, ein Mann, glaube ich. Aber er war so alt, so unendlich alt!“
Captain Prongs großer Coup
Der Fremde war den Kindern und Akkais bis in die Stadt gefolgt, wohl
wissend, daß er sich hier nicht allzu lange aufhalten durfte. Denn irgendwann
würden die Truuks erkennen, daß er nicht zu der Gruppe gehörte, der er in
einem Sicherheitsabstand folgte. Hatte er erst einmal die Neugier der Höh
lenbewohner geweckt, würden sie auch bald Fragen stellen – und schließlich
die Akkais informieren.
Aber war es nicht gerade das, was er wollte: Kontakt aufnehmen? – Irgend
wie scheute er davor zurück. Nach all diesen Jahren! Der Gedanke, daß es
vielleicht möglich war, zurückzukehren, mußte erst noch tiefer in sein Be
wußtsein vordringen.
Er hatte das riesige Raumschiff bemerkt, als es in der Nähe dieses Sonnen
systems seine Bahn durch das All zog, war heimlich an Bord gegangen und
hatte sich überzeugt. Tatsächlich, er hatte sich in seinen Vermutungen nicht
getäuscht! Dieses Raumschiff und seine Besatzung waren mit Sicherheit in
der Lage, den Abgrund zwischen den Sternen zu überwinden – nicht nur den
zwischen den zwanzig Sonnen dieses Raumsektors, sondern den großen,
viele tausend Lichtjahre tiefen Abgrund. Diese Erkenntnis hatte den Fremden
aufgewühlt. Aber entschieden hatte er sich immer noch nicht.
Und nun las er in den Gehirnen der auf Pecas gelandeten Kinder und fand
heraus, daß sie sich auf der Suche nach zwei Gefährten befanden. Die Tatsa
che, daß sich unter ihnen jemand befand, der übersinnliche Fähigkeiten be
saß, überraschte ihn. Es war der Junge mit den kurzen Armen, ein Telepath,
obwohl seine Gaben weitgehend verschüttet schienen. Und eben dieser
Junge hatte bemerkt, daß sich jemand auf geistigem Wege seinem Bewußt
sein näherte.
Der Fremde zuckte zurück und wünschte sich, eine Entscheidung treffen
zu können. Oder daß sie ihm von jemandem abgenommen wurde. Er verlor,
verwirrt wie er im Moment war, die Gruppe aus den Augen und stieß auf
einen Truuk, der sichtlich gelangweilt am Fuße einer Treppe herumlungerte.
Routinemäßig schickte der Fremde seine geistigen Fühler aus und las im Ge
hirn seines Gegenübers. Sofort stockte sein Schritt, denn das, was er erfuhr,
war höchst interessant. Der Truuk sah ihn mißtrauisch an, als er sich ihm nä
herte.
„Ich will etwas kaufen“, sagte der Fremde leise in dem Idiom, das der Truuk
verstand.
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Das Geschöpf setzte eine gleichgültige Miene auf. „Ich habe nichts zu ver
kaufen, AkkaiTruuk.“
„Mein Name ist Bharos“, sagte der Fremde. „Das mag wohl sein.“ Der
Truuk gähnte herzhaft. Er schien an einem Gespräch nicht interessiert zu
sein. „Ponchi sagte mir, daß du sehr wohl etwas zu verkaufen hast“, fuhr Bha
ros fort. „Du weißt genau, was ich meine. Oder muß ich noch deutlicher
werden?“ Den Namen Ponchi hatte Bharos soeben erst dem Gedächtnis des
Truuks entnommen, was dieser jedoch nicht wissen konnte.
Plötzlich kam Leben in das Robbenwesen. Es sah überrascht auf und
flüsterte dann: „Nicht hier, AkkaiTruuk.“ Es sah sich nervös um, als fürchtete
es, belauscht zu werden. Dann raunte es: „Folgt mir, ihr könnt mir ver
trauen.“
Bharos hatte erwartet, daß der Truuk ihn aus der Stadt hinausführen
würde, aber er täuschte sich. Nach einem Weg von wenigen hundert
Schritten durch die winkligen Gassen hielt sein Führer vor einer Haushöhle
an und wartete ungeduldig, daß sein vermeintlicher Kunde näher kam.
„Hier?“ fragte Bharos ungläubig.
Der Truuk gab keine Antwort. Er betrat die Höhle, wobei er sich erst verge
wisserte, daß niemand in der Nähe war, schob ein paar Felle beiseite und öff
nete eine mit einem Metalldeckel verschlossene Bodentür. Der
darunterliegende Gang führte in die Tiefe. Nervös bedeutete er Bharos, die
roh aus dem Stein gehauenen Stufen zuerst hinabzusteigen, während er
selbst die Tür lautlos wieder schloß.
Sternengold an den Wänden verhinderte, daß es hier unten dunkel wurde.
Es roch auch keinesfalls muffig; von irgendwoher wehte frischer Wind.
Bharos begriff. Dieser Gang führte unter dem Außenbezirk der Stadt in den
Felsen hinein und von dort in eine Nachbarhöhle. Tatsächlich verbreiterte
sich der enge Felsenkorridor rasch zu einem von der Natur geformten
Tunnel, der nach einigen hundert Schritten in einer kleinen Höhle endete.
Von Vegetation war hier weit und breit nichts zu sehen; Bharos registrierte
nur Felsen und Geröll.
„Könnt Ihr nicht schneller gehen?“ fragte der Truuk ungeduldig, während
er am gegenüberliegenden Ende der Höhle auf den staunenden Bharos
wartete. „Wir haben noch einen weiten Weg.“
Offenbar war das Robbenwesen ein wenig ungehalten, weil es Bharos zu
liebe auf seine flugähnliche Fortbewegungsart verzichten mußte.
„Ich kann meinen Projektor benutzen“, erwiderte Bharos nickend und be
diente das auf seiner Brust befestigte Steuergerät. Mit wenigen zielsicheren
Handgriffen erreichte er, daß sich eine Lichtsäule formte, auf der er sich vom
Boden abhob. Mit Hilfe der Traktorstrahlen konnte er sich nun ebenso
schnell fortbewegen wie sein Führer. Als Bharos ihm eine kleine Demonstra
tion seiner Fähigkeiten lieferte, schien der Truuk erfreut, aber keineswegs
überrascht zu sein.
„Los“, brummte er und stieß sich von der Wand ab. Bharos folgte ihm mü
helos. Es ging durch einen weiteren Tunnel in eine noch größere Höhle.
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Dann durch einen Quergang in eine Grotte. Und schließlich gab Bharos es
auf, all die Hohlräume zu zählen, die sie passierten. Einige waren nackt und
ohne Leben, andere wildwuchernde Oasen inmitten kalten Steins, randvoll
mit exotischen Pflanzen, die in den unterschiedlichsten Farben blühten und
herrlich dufteten. Wieder andere lagen abseits des natürlichen Sterngoldvor
kommens in Finsternis. Nur der Lichtbogen seines Projektors erhellte dann
eine Szene aus grauem Fels und unterirdischen Wasserströmen.
Schließlich verlangsamte Bharos’ Führer sein Tempo. Der Ausgang eines
schier endlosen Tunnels rückte näher.
Ungewollt schoß Bharos darüber hinaus und landete als erster in der Höh
le, von der er annahm, daß sie ihr gemeinsames Ziel war: Nicht groß,
vielleicht fünfzig mal dreißig Meter, besaß sie aber mehrere Zugänge, und das
war für Piraten geradezu ideal. Ursprünglich einmal steinig und ohne Leben
glich sie nun einem riesigen Ersatzteillager.
Bharos begriff sofort, daß dies ein Schlupfwinkel der PecasPiraten war.
Hier trugen sie ihre geraubten Schätze zusammen. Neben unzähligen mehr
oder weniger funktionstüchtig aussehenden technischen Geräten, erkannte
er Kistenstapel, Unmengen kostbarer Tierfelle und einige tausend Dosen mit
fast unbegrenzt haltbaren Nahrungsmitteln.
Mehrere mit Speeren bewaffnete Truuks eilten aus einem zeltähnlichen,
quadratischen, aus Fellen aufgestellten Unterschlupf, beruhigten sich aber
sofort, als sie Bharos’ Begleiter erkannten.
„Ein Kunde“, knurrte Bharos’ Führer. „Der bekannte Hehler Ponchi hat ihn
empfohlen.“
„Wenn Ponchi, dieser alte Schurke ihn aufgetrieben hat, muß dieser Akkai
Truuk ein reicher Krämer sein“, meinte der Anführer der Wache erfreut
grinsend. Seine Augen blitzten gierig. „Er soll mitkommen zu Captain Prong.“
Prong war allein und lag auf seinen Fellen, als Bharos seine Unterkunft be
trat und sich neugierig umsah. Telepathisch erkundete er das Gehirn des Pi
ratenhäuptlings und erfuhr, daß er es mit einem zwar einfältigen,
nichtsdestotrotz aber ziemlich hinterhältigen Burschen zu tun hatte.
„Willkommen, AkkaiTruuk!“ rief Captain Prong zur Begrüßung. „Ihr habt
also Interesse an meinen ... äh, Objekten?“
„Ich hörte, daß es sich um zwei seltsame Wesen handelt“, erwiderte Bha
ros. „Eines davon soll aus blitzendem Metall, das andere zum größten Teil
aus Haaren bestehen. Ich glaube, daß mir solche Wesen in meiner Sammlung
noch fehlen.“
„Oh“, sagte Captain Prong überrascht. „Ihr seid ein Sammler? Das freut
mich doppelt für Euch, denn auch ich bin einer!“ Er leckte sich die Lippen
und rieb sich eilfertig die Hände.
„Tatsächlich?“ fragte Bharos mit geheucheltem Interesse. „Was sammelt
Ihr denn, Captain?“
Captain Prong stieß ein brüllendes Gelächter aus. „Gold und Geschmeide.“
Er kicherte los und wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Bharos machte
gute Miene zum bösen Spiel und lachte gezwungen mit. Aber Prong kam
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ohne Umschweife zum Geschäft. „Es sind sehr gute Exemplare“, fistelte er ge
schäftstüchtig, „und dementsprechend teuer. Ich habe sie persönlich unter
Einsatz meines Lebens gefangen!“ Er brüllte einen Befehl nach draußen, wor
auf Alexander und Lonzo gefesselt hereingeführt wurden.
„Diese Behandlung spottet jeder Beschreibung“, zeterte Lonzo, als er Cap
tain Prong erblickte. „Es ist ein Skandal, daß man so tut, als gehörten wir zum
übelsten Gelichter! Ich werde eine Eingabe beim Piratengerichtshof von Ca
stropRauxel machen, wenn sich die Verhältnisse, unter denen wir leben
müssen, nicht bald ändern. Richter Blind Murphy ist ein persönlicher Freund
von mir und Captain Kidd. Und auch Sie werden ihn bald kennenlernen,
Captain Prong. Es ist der Einbeinige, der anstelle seiner Hände schmiede
eiserne Enterhaken trägt!“
Bharos wußte nicht, wovon der Roboter redete und vermutete einen Defekt
des Translators am Arm des Bärenwesens, der die Worte übersetzte. Aber
ganz ohne Zweifel standen hier die langgesuchten Freunde jener Leute vor
ihm, die vor kurzer Zeit auf Pecas gelandet waren.
„Stellt Euch nur vor, edler Fremder“, fuhr Lonzo fort, als er Bharos be
merkte, „man hat uns entführt und in diese finstere Räuberhöhle
verschleppt. Und was das schlimmste ist: Seit Tagen habe ich nichts zu essen
bekommen!“
„Mußt bei Wahrheit bleiben, Lonzo“, ermahnte ihn Alexander. „Nein, nein,
Essen war reichlich und gut. Behandlung auch sonst nix übel. Aber das alles
nicht entschuldigen schäbige Entführung!“
„Diese billigen Operettenräuber haben nicht mal soviel Kunstverständnis,
daß sie sich an meinen musikalischen Darbietungen erfreuen“, schimpfte
Lonzo weiter. „Sie grunzen nur mißmutig!“
„Und wollen nix sagen, wo wir überhaupt sein“, ergänzte Alexander. „Man
uns hat gestülpt schwarze Kapuzen über Kopf, dann aus Raumschiff geführt,
über Felsen und durch dicke Brühe gezerrt und erst wieder Augen freigege
ben, als hier in Höhle!“
„Aber ich lasse mich nicht täuschen!“ triumphierte der Roboter. „Meine
unvergleichlichen Extrasinne haben mir längst verraten, daß wir uns im In
nern eines Mondes des siebten Planeten befinden!“
Bharos schmunzelte. Aber dann tat er so, als würde er die beiden
Gefangenen geringschätzig mustern. „Was wollt Ihr für die beiden Elendsge
stalten haben?“ fragte er den Piratenkapitän.
„Einen Lonzo kann man nicht kaufen!“ rief der Roboter dazwischen. „Aber
da ich gerade meinen sozialen Tag habe: Für drei Sesterzen und ein Faß Rum
bin ich Euer!“
„Ruhe!“ donnerte Captain Prong und zwirbelte seinen Seehundschnurr
bart. „Die Geschäftsverhandlungen führe ich immer noch allein, verstanden?
Das fehlte mir gerade noch, daß mir die Ware dazwischenquatscht!“
„Hören Sie nicht auf ihn, edler Recke“, fiel Lonzo Captain Prong ins Wort.
„Im Vertrauen: Er hat nicht alle auf der Pfanne. Außerdem hat er den festen
Plan, Sie zu beschummeln.“
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„Ahhhh!“ stöhnte Prong. Er rollte die Augen. „Ich werde Euch die beiden
billig geben, AkkaiTruuk, wenn ich sie nur bald loswerde! Die Gesellschaft
dieses Metalltruuks hat mir mehr Gallensteine eingebracht als alle meine
Konkurrenten zusammen!“
„Wieviel?“ wiederholte Bharos gelassen.
„Was hat Euer Raumsegler für eine Ladung an Bord?“ fragte Captain Prong
listig.
„Ich besitze keinen Raumsegler.“
„Nicht? Gehört Ihr dann etwa gar nicht zu den AkkaiHändlern, die sich zur
Zeit hier aufhalten?“ wollte Prong wissen.
„Nein.“ Als Bharos diese Antwort gegeben hatte, las er sofort im Gehirn
Captain Prongs, daß er einen groben Fehler begangen hatte. Aber jetzt war es
zu spät.
„Hmmmm“, machte Prong langgedehnt. „Ein Gaukler seid Ihr auch nicht.
Also seid Ihr allein auf Pecas. Ihr müßt ein besonderer AkkaiTruuk sein.
Hmmm! – Wißt Ihr was? Ihr gebt mir Euer Raumschiff für die beiden
Gefangenen.“
„Komisch“, versetzte Bharos, der Captain Prong nun mit einem seltsamen
Blick musterte. „Man sieht es Euch gar nicht an.“
„Tatsächlich nicht?“ fragte Prong irritiert und betastete sein Kinn. „Äh ...
wenn ich fragen darf: Was sieht man mir nicht an?“
„Daß man Euch als Baby mit schlechtem Fisch gefüttert hat“, erwiderte
Bharos, ohne eine Spur unfreundlich zu werden.
Captain Prong war nun nahe daran, durchzudrehen. Allerdings wäre es un
klug von ihm gewesen, das zu zeigen. Es war eine althergebrachte Sitte seines
Volkes, bei geschäftlichen Verhandlungen freundliche Beleidigungen auszu
stoßen, aber ihm persönlich stand jetzt nicht der Sinn danach. „Raumschiff
oder nicht?“ knirschte er.
„Ich besitze kein Raumschiff“, wiederholte Bharos gelassen.
Das entsprach nicht der Wahrheit. Sein kleines Raumboot lag gut versteckt
im All, fern von Pecas. Er hatte seine besondere Methode, die Strecke zwi
schen dem Boot und dem Mond zurückzulegen.
Captain Prong lachte glucksend in sich hinein. Er glaubte dem Fremden
kein Wort. „Vermutlich seid Ihr dann auf einem Kometen hierhergeritten, ja?
Ihr müßt wahrlich ein besonderer AkkaiTruuk sein. Ich will aber Euer Raum
schiffff!“
„Tun Sie das nicht“, meldete sich Alexander zu Wort. „Captain Prong wird
Sie legen herein. Aber wenn Sie verständigen unsere Freunde, sie werden ge
ben eine gute Belohnung!“
Bharos lächelte. „Na gut“, sagte er dann zu Captain Prong. „Ich werde den
verlangten Preis zahlen. Wie soll die Übergabe erfolgen?“
„Aber das sein Wahnsinn!“ regte sich Alexander auf. „Sie sich geben diesem
Schurken in die Hand, wenn Sie ihm geben Raumschiff!“
„Ihr geht mit einigen meiner Leute zu Eurem Schiff“, schlug Prong vor,
„und anschließend geben wir dann die Gefangenen frei.“
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„Dieser Halunke lügt schneller, als die Piratengilde es erlaubt, Herr Inspek
tor“, quakte Lonzo.
Aber Bharos winkte ab. „Das ist mir zu unsicher. Ich gebe Euch den ID
Schlüssel für Einstieg und Antriebsaggregat, außerdem die Positionsangaben,
wie Ihr mein Schiff findet. Das muß Euch genügen, Captain Prong. Dafür
erhalte ich die beiden Gefangenen.“
Captain Prong überlegte einige Minuten, wobei er aufgeregt und sichtlich
mit sich selbst ringend unartikulierte Selbstgespräche führte. „Gut“, brumm
te er schließlich, „einer meiner Leute wird Euch aus unserem Versteck hin
ausführen. Aber denkt daran: Der Weg ist lang. Wir hingegen sind schneller
bei Eurem Schiff. Und wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist, werdet Ihr
mir mitsamt Euren Sklaven bald erneut Gesellschaft leisten!“
„Er wird uns so oder so wieder fangen ein“, klagte Alexander, der zwar froh
war, daß dieser geheimnisvolle Fremde sie freikaufen wollte, andererseits
aber nicht glaubte, daß man einem Burschen wie Prong vertrauen konnte.
„Wir bald wieder hier!“
„Nein“, gab Bharos in der Sprache der Truuks zurück. „Er wird es nicht
wagen, einen Akkai zu betrügen. Er würde niemals wieder Geschäfte mit
meinem Volk machen können. Gehen wir.“
Er gab Captain Prong ein kleines Magnetkärtchen, das als Schlüssel für sein
Raumschiff dienen sollte, und beschrieb dem Piraten, wo es zu finden wäre.
Prong befahl daraufhin dem Truuk, der Bharos in sein Versteck geführt hatte,
ihn mit seinen neuerworbenen Sklaven ziehen zu lassen.
Beim Hinausgehen drehte Lonzo sich noch einmal zu Captain Prong um
und giftete: „Denk dran, Dicker! Der Gerichtshof wartet auch auf deine
rabenschwarze Seele!“
Captain Prong schnaufte empört und warf ihm ein erbeutetes Spülbecken
nach.
Flucht
Mit Rücksicht auf Alexander und Lonzo kam die Gruppe nur langsam
voran. Bharos hatte den beiden zwar erklärt, daß er sie zu ihren Kameraden
in die Stadt bringen wolle, wich ansonsten allerdings konkreten Fragen nach
seinen Motiven aus.
Alexander konnte deshalb nur vage vermuten, daß er in irgendeiner Weise
im Auftrag der EUKALYPTUSBesatzung handelte. Auf jeden Fall freute er
sich, daß es nun bald ein Wiedersehen geben würde, denn es hatte Tage
gegeben, in denen er befürchtet hatte, niemals wieder das Licht der Freiheit
zu sehen. Wäre Lonzo mit seinen kauzigen Geschichten nicht bei ihm ge
wesen, hätte er gänzlich den Mut verloren.
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Als sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, gab es hinter ihnen
eine Bewegung. Ein Trupp bewaffneter Truuks schoß heran, überholte sie
und verstellte ihnen waffenklirrend den Weg. Eines der Robbenwesen tausch
te geflüsterte Worte mit ihrem Führer aus, worauf dieser grinsend die Fron
ten wechselte und sich zu den Bewaffneten stellte.
„Was hat das zu bedeuten?“ wollte Bharos wissen. „Wir haben einen
Handel mit Captain Prong abgeschlossen. Wenn ihr einer anderen Bande
angehört, dann laßt euch warnen. Ich glaube nicht, daß es Prong dulden
wird, wenn auf diese Weise seine Geschäfte gestört werden.“
„Ihr zieht falsche Schlüsse“, antwortete einer der Truuks triumphierend.
„Captain Prong selbst hat uns geschickt. Neuesten Informationen zufolge
kennt Euch niemand auf Pecas. Euch hat auch niemand beauftragt. Captain
Prong hat daraus den logischen Schluß gezogen, daß seine Beziehungen zu
anderen AkkaiTruuks also keinesfalls gefährdet werden, wenn er sich nicht
an die zwischen ihm und Euch gemachte Abmachung hält. Warum sollte er
nicht die Fremden ein zweites Mal verkaufen, Euch dazu, und außerdem
diese interessanten Anzüge und Geräte als Bezahlung für Quartier und Essen
einbehalten?“
„Diese Schufte!“ stieß Alexander zornig hervor.
„Hab’ doch gewußt, daß die nicht halten ihr Wort!“
„Verrat!“ trompetete Lonzo. „Wir lassen uns das nicht bieten! Wir setzen sie
mit gezielten Kopfstößen außer Gefecht. Attackeeeeee!“
Er wollte seinen Vorschlag gleich in die Tat umsetzen und losrennen,
wurde aber von Bharos mit einem kraftvollen Griff festgehalten. Mit der
anderen Hand zog er Alexander zu sich heran. „Preßt euch an mich!“ rief er.
„Gut festhalten!“ Gleichzeitig betätigte er das Steuergerät des Projektors. Wie
ein Gummiball hüpfte das Trio durch die Höhle.
Alexander war überrascht, bezweifelte aber, daß sie ihren Verfolgern ent
fliehen konnten. Schreie erklangen. Dann machten sich nach einigen Se
kunden der Verwirrung die Piraten schon daran, den Flüchtenden
nachzueilen, wobei sie mit eleganten Bewegungen durch die Luft glitten. Sie
waren zwar langsamer als die Flüchtlinge, aber geschickter im Manövrieren.
Sobald die Höhle wieder von engeren Tunnels abgelöst wurde, würden sie im
Vorteil sein. Und abgesehen davon drohte Alexander trotz der Unterstützung
durch Lonzos Tentakel abzurutschen.
„Aushalten! Wir haben es bald geschafft!“ rief Bharos. Er steuerte einen
dunklen Tunnel an. Nach seinem Gedächtnis erstreckte sich dahinter eine
der dunklen Höhlen, die von einem reißenden Strom durchquert wurde. Als
das Risiko eines Zusammenpralls mit den Felswänden zu groß wurde,
verminderte Bharos die Leistung des Projektors und setzte seine Last auf dem
Boden ab. Zu Fuß taumelten sie weiter. Noch hatten die Verfolger den Tunnel
nicht erreicht.
„Wir stoßen gleich auf einen unterirdischen Strom“, erklärte Bharos. „Fragt
mich nicht, woher ich das weiß. Aber dieser Strom führt genau in eine Grotte
ohne SauerstoffAtmosphäre. Dort sind wir sicher. Schließt eure Rauman
54
züge. Wenn wir in den Fluß springen, haltet euch an mir fest. Wenn wir uns
verlieren, kann das üble Folgen haben.“
Alexander nickte, schloß den Anzug und folgte dem Schatten ihres Befrei
ers, der ebenfalls den Helm zugeklappt hatte. Lonzo hatte keine Mühe mit
derlei Vorbereitungen, beschwerte sich aber über Funk, daß Wasser das
reinste Gift für seinen gepflegten Edelstahlkörper sei.
Mit geschlossenem Raumhelm konnte Bharos Lonzos Protest nicht hören.
Da Alexander und Lonzo weder seine Funkfrequenz kannten, noch sich ohne
Translator – der jetzt wieder unter dem Magnetverschluß von Alexanders lin
kem Ärmel lag – mit ihm verständigen konnten, wußte er nichts von dieser
Beschwerde.
Sie erreichten den Fluß, als vor der hellen Höhlenöffnung die Silhouetten
ihrer Verfolger auftauchten. Bharos winkte. Sie umklammerten sich wie
verabredet und sprangen in das Wasser. Schnell wurden sie unter die Ober
fläche gedrückt und von der reißenden Strömung fortgerissen.
Mehrmals kollidierte die Gruppe mit harten Gegenständen, was Lonzo
lautstark in Gejammer über häßliche Beulen ausbrechen ließ, die sein Ausse
hen angeblich ruinierten. In Wahrheit war gerade sein stählerner Körper am
wenigsten gefährdet und ging ohne die geringste Schramme aus dem
Abenteuer hervor. Es war vor allem ihm zu verdanken, daß die drei bei diesen
Stößen nicht auseinandergetrieben wurden. Er umfing die Körper von Bharos
und Alexander mit den schraubstockartigen Griffen seiner Tentakel. Eher
hätte er sich die Tentakel abreißen lassen, als auch nur einen einzigen
Millimeter nachzugeben.
Endlich beruhigte sich das Wasser, das nur durch den steilen Abfall des
Flußbettes eine derartige Turbulenz entfalten konnte. Was sich unter plane
taren Bedingungen als reißender Strom gebärdete, wäre unter den Schwer
kraftverhältnissen der Erde ein tobender Wasserfall gewesen, dessen Wucht
selbst stabile Schutzanzüge bei einem Zusammenprall mit Felswänden hätte
platzen lassen.
Als eine Strömung nicht mehr wahrnehmbar war, die Körper durch das Ge
wicht der Anzüge und des Roboters jedoch noch immer unter der
Wasseroberfläche gehalten wurden, sorgte Bharos mit seinem Antischwer
kraftProjektor für den nötigen Auftrieb. Lonzo durchbrach als erster die
Wasseroberfläche und imitierte ein heftiges Prusten.
„Doppelter Mastbruch! Wo bleibt die verdammte Küstenwache?“
beschwerte er sich.
Alexander mußte ungewollt kichern. Sie schwammen auf einem See, der
sich dort leicht kräuselte, wo der Strom einmündete. Irgendwo sickerte das
Wasser wohl auch wieder ab. Aber vorerst war nur zu erkennen, daß diese
Höhle außer dem See bloß noch aus einer Decke bestand, aber kein Ufer be
saß, auf das man hätte hinaufklettern können.
„Ich möchte gern wissen, wie wir kommen hier wieder raus“, seufzte Alex
ander. Er sah Bharos genauer an, eigentlich zum ersten Mal seit ihrer ersten
Begegnung. Da die Höhle durch Sternengold hell genug erleuchtet wurde,
55
konnte er sein Gesicht deutlich erkennen. Bharos sah alt und jung zugleich
aus. Das war seltsam, obwohl das Gesicht faltenlos war. Aber jetzt schaute er
recht zufrieden drein und blinzelte Alexander aufmunternd zu. Offenbar
kannte er diesen Ort und sah keine unüberwindlichen Schwierigkeiten
voraus.
In Wahrheit hatte Bharos zwar mit seinen Extrasinnen diesen See gespürt
und befürchtete auch keine ernsthaften Zwischenfälle, war sich aber immer
noch nicht schlüssig, was er nun unternehmen sollte. Ursprünglich hatte er
Lonzo und Alexander zu ihren Freunden in die Stadt bringen und dabei so
wenig wie möglich seiner Fähigkeiten und seiner wahren Identität preisge
ben wollen. Aber die neue Situation erforderte einen neuen Plan.
Alexander faszinierte diese Umwelt trotz der unangenehmen Lage. Das
Sternengold schimmerte sogar vom Boden des Sees herauf und brach sich
mit unzähligen Reflexen im Wasser. Die Höhle sah wie eine von allen Seiten
angestrahlte wassergefüllte Kristallkugel aus.
In diesem Moment brachen fast gleichzeitig mehrere Robbenwesen durch
die Wasseroberfläche. Alexanders erster Impuls war Bedauern, denn in der
Höhle gab es keine atembare Atmosphäre. Ob das die Truuks nicht gewußt
hatten? Dann jedoch bemerkte er, daß die Augen der Wesen mit einer
Hornhautschicht überzogen und ihre Atemöffnungen verschlossen waren.
Jetzt erst verstand er: Die Truuks waren Amphibien, allerdings von anderer
Art als die, die er aus den Erzählungen seiner Freunde von der Erde kannte.
Die Lebensweise im Innern des Mondes hatte dazu geführt, daß die Körper
der Truuks dazu geeignet waren, in Räumen ohne Atmosphäre zu überleben.
Wenn auch vielleicht nur für kurze Zeit – etwa so, wie Wale und Robben im
Meer leben, gelegentlich jedoch auftauchen müssen, um Luft zu holen. Wie
es aussah, waren ihre Körper gegen das von außen einwirkende Vakuum auf
natürliche Weise geschützt.
Aus, dachte Alexander.
Selbst Lonzo verzichtete in diesem Moment auf einen Spruch aus seiner Pi
ratenkiste.
Aber Bharos lächelte. Das Erscheinen der Verfolger hatte ihm die Entschei
dung abgenommen. Er schloß die Augen. Konzentration beherrschte seine
Gesichtszüge.
Die Truuks schossen zielstrebig auf ihre Opfer zu. Als sie ihre flossenähnli
chen Hände ausstreckten, um die Flüchtlinge in die Tiefe zu zerren und dann
durch ein nur ihnen bekanntes Unterwasserlabyrinth zu Captain Prong zu
rückzubringen, griffen sie ins Leere.
Dort, wo sich eben noch Bharos, Alexander und Lonzo befunden hatten,
schlug das Wasser schäumend zusammen. Die Verfolgten waren auf rätsel
hafte Weise verschwunden.
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Unverhoffte Rückkehr
Zwei lange Wochen hatten Anca, Harpo und Micel auf Pecas verbracht.
Aber trotz aller Mühen war es ihnen nicht gelungen, die verschwundenen
Freunde aufzufinden. Rajah, der auf dem ausgehöhlten Mond zahlreiche Be
kannte traf, verbrachte die Tage damit, sich bei ihnen nach allem Ungewöhn
lichen zu erkundigen, was sich während der letzten Wochen ereignet hatte.
Aber immer, wenn er zu den Kindern von der EUKALYPTUS zurückkehrte,
drückte seine Miene „Fehlanzeige“ aus.
Allerdings war unter der Hand durchgesickert, daß ein Raumpirat namens
Captain Prong zwei Sklaven angeboten und verkauft hatte, die aller Wahr
scheinlichkeit nach mit Lonzo und Alexander identisch waren. Mit Hilfe von
Bestechungsgeldern brachten sie schließlich in Erfahrung, daß niemand Ge
naues wußte, viele Truuks aber Gerüchte kannten, die besagten, daß der
mächtige und gefürchtete Prong zu gierig gewesen sei und versucht hätte sei
nen Kunden hereinzulegen. Es hieß, dieser habe Prong ein wertvolles Objekt
im Tausch gegen dessen Gefangene geboten, das allerdings auf ebenso rätsel
hafte Weise verschwunden sei wie er selbst.
Da die Geschichte bereits einige Tage alt war, war sie natürlich auch ganz
nach TruukArt abgeändert, ausgeschmückt und ergänzt worden. In den ver
schiedenen Versionen, die Rajahs Bekannte auftischten, tauchten mal hilfrei
che Zauberer, dann Unterwasserdrachen und Erdbeben auf. Mal hatte ein
Flußgott die Flüchtlinge verschluckt, mal hieß es wieder, ein wahnsinniger
Magier habe sie in Sternengold eingeschlossen.
Mehrmals war aber auch von einem uralten Akkai die Rede, der angeblich
eine nicht unwichtige Rolle bei der Befreiung der beiden Fremden gespielt
habe. Wäre Rajah nicht felsenfest davon überzeugt gewesen, daß seine Fa
milie die einzige war, die derzeit auf Pecas weilte, hätte er unweigerlich zu
dem Schluß kommen müssen, andere Akkais hätten Lonzo und Alexander
befreit. Aber er hatte selbst mit dem ClanÄltesten des AkkaiSchiffes gespro
chen, das sie im Orbit Pecas’ getroffen hatten: Dieser wußte nichts, und er
befand sich auch mit seiner Familie bereits wieder auf dem Rückweg.
Als sie Pecas wieder verließen, schaute Harpo aus den Bullaugen des Auf
enthaltsraumes auf den langsam kleiner werdenden Mond. Er hatte bis zu
letzt auf ein Wunder gehofft. Sogar beim Abheben des Lastenseglers hatte er
noch damit gerechnet, die beiden Vermißten würden jede Minute quietsch
fidel und mit einem Piratenliedchen auf den Lippen um die nächste Ecke
biegen. Auch beim Festschrauben des Segments an den Sternensegler hatte
er die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Die beiden Freunde fehlten ihm, Mi
cel und Anca sehr.
„Nun laßt mal nicht gleich die Köpfe hängen“, tröstete Yilmaz und strei
chelte dem völlig niedergeschlagenen Harpo übers Haar. „Wir kommen nach
dem Fest ganz bestimmt wieder, das verspreche ich euch. Wenn die beiden
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bis dahin nicht längst wieder aufgetaucht sind. Denn frei scheinen sie ja zu
sein, wenn man den Gerüchten glauben darf.“
„Sicher!“ Harpo nickte. „Aber in wessen Händen?
Es dauerte noch eine Weile, bis ihn Yilmaz’ Streicheln wieder etwas froher
stimmte. Schließlich nahm er allen Mut zusammen und berührte sanft die
Wange des Mädchens, das dies lächelnd geschehen ließ und erst lachend zu
protestieren begann, als Harpo sie plötzlich in seine Arme nahm und drückte.
Verwirrt ließ er sie wieder los, aber Yilmaz tat, als sei nichts geschehen.
„Tsss, tsss“, machte Anca, die alles beobachtet hatte. „So was machste mit
mir nie.“
„Ach, das verstehst du doch gar nicht.“
„Und ob ich das verstehe!“ erwiderte seine Schwester keck. „Das sieht doch
ein Blinder mit einem Krückstock, daß du verliebt bist. – Juchhu, Micel! Mi
cel! Stell dir vor, Harpo ist in Yilmaz verliebt und benimmt sich ganz
komisch!“
Zu allem Überfluß fühlte Harpo jetzt, wie ihm das Blut in den Kopf schoß.
Seine Schlagfertigkeit war wie fortgeblasen, und ihm fiel nichts ein, womit er
diese Kratzbürste von Schwester zum Schweigen bringen konnte. Ach, diese
Mädchen!
Yilmaz ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Lächelnd meinte sie:
„Nun laßt mir aber den Harpo mal in Ruhe.“ Sie zog Anca mit sich fort und
zwinkerte Harpo herzlich zu.
„Anca weiß ja wirklich nichts über solche Sachen“, verteidigte sich Harpo
lahm, weil er das Gefühl hatte, einfach etwas sagen zu müssen, damit ihn nie
mand für einen Deppen hielt.
„Ist ja überhaupt nicht wahr“, bekam er sofort von Anca Kontra. „Wo mir
der kleine Ollie andauernd Heiratsanträge macht! Ich bin Fachfrau!“
„Nun erzähl doch endlich was von diesem Fest, Yilmaz“, mischte sich Micel
in das Gespräch ein.
Harpo war ihm sehr dankbar für diesen Themenwechsel, und möglicher
weise hatte Micel dies nicht ohne Absicht getan. Denn sicher hatte er mit sei
ner telepathischen Gabe längst gespürt, daß Harpo nichts lieber war als seine
Hilfe.
„Ich verrate nichts“, sagte Yilmaz mit geheimnisvoller Miene. „Es ist zu
großartig. Man kann es einfach nicht schildern. Man muß es eben selbst mit
erleben!“
„Übrigens habe ich eben mit Thunderclap gesprochen“, meldete sich die
Stimme Rajahs, der gemeinsam mit Thoris den Aufenthaltsraum betrat. „Die
ganze Mannschaft der EUKALYPTUS hilft bereits eifrig beim Zusammenbau
der ... äh, ach ja.“ Rajah zwinkerte den Kindern zu, als er Yilmaz’ abwinkende
Handbewegung sah. „Auf jeden Fall nehmen alle an unserem Fest teil. Ich
soll euch grüßen, und ihr sollt euch nicht so viele Sorgen machen. Thunder
clap sagte, es sei doch eine Selbstverständlichkeit, nicht eher weiterzufliegen,
bis Lonzo und Alexander gefunden sind.“
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„Wir dürfen alle daran teilnehmen?“ jauchzte Anca. „Klasse! Damit hatte
ich gar nicht gerechnet.“
„Eigentlich ist es ja ein privates AkkaiFest“, erläuterte Rajah. „Aber ein
paar nette Gäste sind uns in der Regel immer willkommen. Eine so patente
Bande wie eure ist bei uns gern gesehen.“
Auf den Bildschirmen der Zentrale war Pecas jetzt nur noch ein dunkler
Punkt, der über seinem Mutterplaneten schwebte. Rajah schaltete die Projek
toren aus, weil der Segler inzwischen eine ausreichend hohe Geschwindigkeit
erreicht hatte. Ab sofort mußte Energie gespart werden. Die Servomotoren
fuhren die Raumsegel in Position. Die nächsten Tage und Wochen – drei Wo
chen benötigten sie bis zu dem geheimen Treffpunkt im All, wo das Fest statt
finden sollte, – würde allein der Lichtdruck der Sterne den Segler weiter
beschleunigen, langsam, aber stetig.
Micel, der eine Weile ziemlich schweigsam gewesen war, zappelte plötzlich
wie ein Aal auf seinem Sitz hin und her. „Ich schnappe über!“ schrie er plötz
lich mit einer solch lauten Stimme, wie sie ihm niemand zugetraut hätte. Die
helle Überraschung stand in seinen Augen. „Plötzlich habe ich Visionen. Ihr
werdet es nicht glauben, aber ich spüre ganz deutlich ...“
Anca, die eben zur Tür schaute, sperrte gleichzeitig Mund, Augen und Nase
auf und rief: „Spinne ich oder ... He!“ Einen ellenlangen Jodler ausstoßend
rannte sie los, wobei sie sich mehrmals überschlug, weil sie die Rechnung
ohne die geringe Schwerkraft gemacht hatte.
In der Tür standen ...
„Matrosen Alexander und Lonzo melden sich vom Landgang zurück“,
meldete eine kratzige Stimme, die unverkennbar einem alten Bekannten ge
hörte. „Irgendwelche Befehle, Captain? Liegt die Fregatte gut vor dem Wind,
Steuermann?“
Ein mehrstimmiger Aufschrei ließ Harpos Trommelfelle erzittern. Dann
wurde er zunächst einmal umgeworfen, als Lonzo, der sich vergebens vor An
cas feuchten Schmatzern zu retten versuchte, die Balance verlor. Sekunden
lang bildeten alle ein wirres Knäuel auf dem Boden des Raumes.
„Bitte“, quakte Lonzo, „ich gebe Autogramme nur freitags von vierzehn bis
neunzehn Uhr früh! Huch, Pummelchen, wie das kitzelt!“
„Das darf doch nicht wahr sein!“ stieß Harpo hervor, als sich die Lage
wieder etwas normalisiert hatte. „Seid ihr es wirklich, oder sind wir allesamt
verrückt geworden?“
Alexander legte ihm seine schwere Pranke auf die Schulter, deren Gewicht
ihn schnell davon überzeugte, daß er keinesfalls unter die Schlafwandler ge
raten war. Die beiden Entführten waren wieder da!
Auf Alexanders Gesichtszügen lag ein breites Grinsen. „Das sein mächtig
lange Geschichte“, meinte er verlegen, aber dann wurde auch er erst einmal
von den anderen fast erdrückt.
Rajah, Yilmaz und Thoris hatten sich von der Begeisterung natürlich eben
falls anstecken lassen.
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Als wieder Ruhe einkehrte, setzte sich Rajah mit seiner Stimme durch. Er
stellte sich, Thoris und Yilmaz vor und hieß die beiden Neuankömmlinge
willkommen. „Daß ihr zwei Lonzo und Alexander seid, ist mir inzwischen
klargeworden. Aber jetzt erzählt mal in Ruhe, was euch widerfahren ist.“
„Hoho!“ Lonzo schmetterte sofort los. „Es war ein Kampf auf Leben und
Tod mit dem blutrünstigen Captain Prong und seinen schrecklichen Halun
ken. Sie trugen Messer zwischen den Zähnen und ...“
„Der Reihe nach“, unterbrach Thoris ihn und lächelte schalkhaft. „Und ein
wenig wahrheitsgetreuer – bitte!“
„Na ja.“ Lonzo machte den Eindruck eines Anglers, den man gerade dabei
ertappt hat, daß er den angeblich soeben erbeuteten Achtzigpfünder beim
örtlichen Zoo ausgeliehen hat.
Alexander versuchte schließlich etwas Glaubwürdigkeit in Lonzos über
triebenes Seemannsgarn zu bringen, was ihm trotz seiner Sprachschwierig
keiten ganz gut gelang. Endlich ergab sich aus all den Einzelheiten ein
einigermaßen zutreffendes Bild der Vorfälle bis zu jenem Zeitpunkt, an dem
Bharos mit seinen freigekauften Schützlingen den Verfolgern entwischte.
„Ja, und dann ...?“ wollte Yilmaz wissen, deren Wangen vor Aufregung glüh
ten.
„Wir verschwanden“, näselte Lonzo, als sei das die einfachste Sache von
der Welt. „Die Piraten werden ziemlich doof geguckt haben, nehme ich an.“
„Ihr verschwandet?“ echote Micel, der diesmal nicht Alexanders Gedanken
las, weil er ihm keine Pointe vermasseln wollte.
„Tscha“, setzte Lonzo hinzu. „Wir verschwanden. Einfach so! Hihi!“
„Wir doch alle wissen, daß unser Freund Lucky, der jetzt lebt auf Planet
Nordpol, besitzt vortreffliche Gabe: Teleportation. Bharos ebenfalls in der
Lage, sich durch Kraft von seine Geist an andere Orte zu versetzen. – Er uns
also schnappen – flupp! –, und wir sind plötzlich auf klitzekleines Raumschiff.
Bharos sagt, er niemals hat vorgehabt, sein Schiff an Piratenschufte zu ver
schenken. Hat ihnen alte, vergammelte, wertlose Magnetkarte gegeben. Aber
er hätte ihnen sicher geschenkt andere wertvolle Sachen für Lonzo und mir,
hätte Captain Prong nicht versucht diesen ekligen Betrug. So Piraten eben nix
kriegen.“
Lonzo imitierte ein Nicken. „Bharos, der Gute, hat auf jeden Fall sofort
Segel gesetzt, noch bevor Captain Prongs Mannen mit ihrem Kahn auf der
Bildfläche erschienen. Die restlichen Tage haben wir mit ihm zusammen ver
bracht, auf seinem seltsamen Schiff. Und jetzt sind wir eben hier. Wieder mit
Teleportation.“
„Dann möchte ich jetzt aber endlich wissen, wer dieser geheimnisvolle
Bharos ist“, rief Harpo und sprach damit allen Anwesenden aus der Seele.
„Von ihm habt ihr bis jetzt kaum etwas erzählt, obwohl er die Hauptrolle in
diesem Abenteuer gespielt hat!“
„Da müßt ihr ihn schon fragen selbst“, meinte Alexander. „Er hat uns nicht
mehr verraten über sich, als wir schon haben erzählt. Warum ihr ihn nicht
selbst fragen, he?
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„Ja, aber ...“
„Sicher Bharos warten schon ungeduldig. Hat sich ganze Zeit über draußen
gewartet.“
Alle starrten wie gebannt auf die Tür, durch die die beiden Vermißten so
plötzlich erschienen waren. Aber sie bewegte sich nicht. Schließlich rannte
Alexander hinaus. Und kehrte zurück. Aber allein.
„Bharos schon wieder weg“, sagte er kopfschüttelnd und traurig. „Hat
vielleicht zu lange gewartet und Lust verloren. Wir haben zu viel von uns er
zählt. Aber daß er nicht hat Abschied genommen von alte Kumpels Lonzo
und Alexander ...“
„Er kommt sicher zurück“, tröstete ihn Anca.
„Glaub’ ich nicht.“ Alexander schüttelte den Kopf. „Bharos sein
verschlossenes Wesen. Viel grübeln, viel allein, viel einsam. Kann sich nur
schwer entschließen zu besuchen andere Wesen.“
Rajahs Augen starrten für einen kleinen Moment ins Leere. Er wirkte nach
denklich. „Ich kann mir einfach keinen rechten Reim darauf machen“, sagte
er schließlich zu Thoris. „Nach allem, was Alexander und Lonzo erzählt
haben – und nach dem, was wir von den Leuten auf Pecas wissen –‚ scheint
dieser Bharos ein Akkai zu sein wie wir. Aber er benimmt sich nicht wie ein
Akkai. Angehörige unseres Volkes treten stets in Gruppen auf und verstecken
sich nicht, gleichgültig, ob sie als Händler, Gaukler, Musiker oder Akrobaten
durch das All reisen. Gut, ich bin mir nicht sicher, ob es unter den einigen
tausend Akkais nicht vielleicht einen Bharos gibt – aber getroffen habe ich
noch nie einen Mann dieses Namens. Und ich kenne viele Akkais!“
Thoris lachte. „Aber Rajah“, meinte er mit einem leichten Vorwurf in der
Stimme, „du bist doch schließlich nicht allwissend. Warum sollte es nicht
einen Bharos geben, der ein Einzelgänger ist? Denke nur an den Clan der
Pollis. Der besteht aus drei Raumseglern und mehr als neunzig Akkais – und
selbst mit größter Anstrengung bekäme ich von denen höchstens zwanzig
Namen zusammen. Und die Pollis haben ungewöhnliches Verhalten richtig
gehend zu ihrem Motto gemacht.“
„Das gehört aber auch zu ihrem Auftreten als Gaukler“, entgegnete Rajah.
„Und gerade die Pollis halten unheimlich fest zusammen. Keiner von ihnen
würde eine solche Einzelaktion durchführen.“
„Ich weiß, daß dieser Gedanke absurd ist“, fuhr Rajah nach einer Weile
nachdenklichen Schweigens fort. „Aber eines geht mir einfach nicht aus dem
Kopf. Wißt ihr – es gab nämlich mal einen Akkai namens Bharos. Das war vor
langer, langer Zeit. Er hatte auch besondere Talente. Und ihr wißt, daß es
Sagen gibt, nach denen dieser Bharos gelegentlich wie ein Geist erscheint
und ... Es würde doch alles zusammenpassen, nicht wahr?“
„Huuuu!“ heulte Lonzo. „Ein Geist! – Der Bharos, den wir kennenlernten,
war aber sehr kompakt, wenn ich das mal so sagen darf.“
„Ach, komm, Rajah“, protestierte Thoris. „Wenn du den Bharos meinst, den
Telepathen unserer Tuna – das ist doch Unsinn! Er ist schon lange tot. Nein,
nein, das ist viel zu phantastisch!“
61
„Ja, du hast recht“, meinte Rajah nachgebend und stand auf. „Lassen wir
das Ereignis auf sich beruhen und behalten wir den mysteriösen Fremden in
guter Erinnerung. Er hat uns durch sein freundliches Eingreifen sehr gehol
fen. Uns allen.“
„Richtig! Schluß mit der Grübelei!“ rief Lonzo aus und wirbelte mit den
Tentakeln um sich. „Jetzt wird gefeiert! Früher wurden heimkehrende Seeleu
te mit Wein, Weib und Gesang begrüßt. Ist das heute etwa nicht mehr üblich?
Zapft die Weinfässer an, Kameraden, und zeigt mir meine Lonzorine! Für den
Gesang will ich schon selber sorgen!“
„Bitte nicht“, piepste Trompo. „Mir klingeln noch jetzt die Schlappohren
vom letzten Mal!“
„Was?“ brauste Lonzo auf. „Ich habe schon in der Oper gesungen!“
„Das stimmt“, pflichtete Harpo bei, der sich sorgfältig einen Fluchtweg
durch die nächste Tür offenhielt. „Nach zwei Stunden kam dann der Pförtner
auf die Bühne, gab Lonzo die Opernhausschlüssel und sagte: „Wenn Sie fertig
sind, vergessen Sie nicht, abzuschließen.“
Der Planetenballon
Drei Wochen waren seit dem Verlassen von Pecas und dem über
raschenden Auftauchen Alexanders und Lonzos vergangen. Aber schon jetzt
stand für Harpo und die anderen von der EUKALYPTUS fest, daß sich die
lange Reise gelohnt hatte. Der Anblick, der sich ihnen vom Aufenthaltsraum
des Lichtdruckseglers aus bot, war geradezu phantastisch.
Vor ihnen schwebte ein gigantischer, kupferfarbener Ballon zwischen den
Sternen. Er war so groß, daß er fast die Größe der den zylindrischen Rumpf
der EUKALYPTUS abschließenden Kugeln erreichte. Und die waren nicht ge
rade klein zu nennen. Aber die kupferne Farbe seiner Außenhülle, auf der
sich das Licht unzähliger Sterne brach, erweckte den Eindruck, daß man es
mit einem auf Hochglanz gewienerten Metallball zu tun hatte.
Anca entdeckte in einiger Entfernung die vertrauten Formen der EUKALYP
TUS. Die Freunde waren also nicht weit. Daß sie mit vereinten Kräften die
Arbeit auf Alphacca erledigt hatten und gemeinsam mit den zurückge
bliebenen Akkais an Bord vorzeitig zum vereinbarten Treffpunkt aufgebro
chen waren, wußte man inzwischen aus einer Funkbotschaft. Sie hatten beim
Aufbau des Ballons geholfen.
„Aus Metall ist diese Station natürlich nicht“, beantwortete Rajah lächelnd
die Frage Harpos. „In gewissem Sinn ist unser Versammlungsplatz wirklich
ein Luftballon. Mit dem Unterschied, daß man in ihn hineingehen kann. Er
wurde aus einem Stoff hergestellt, den wir Darnox nennen. Das Wort ent
stammt einem alten Dialekt unserer Sprache und bedeutet soviel wie ‚dehn
bare Welt‘.“
62
„Aber er ist sooo grooooß!“ stieß Trompo hervor. Große Dinge faszinierten
ihn immer.
„Ich könnte mir vorstellen“, meinte Micel, „daß allein die Hülle, ganz ohne
Luft, zusammengefaltet viel größer ist als der gesamte Laderaum des Raum
seglers.“
„Stimmt“, erwiderte Rajah. „Aber nicht alle Segler sind so klein wie unserer.
Und außerdem läßt sich die Ballonhülle in viele Bahnen zerlegen. Beinahe je
der Clan hat einen Teil der Hülle an Bord und hütet ihn wie einen Augapfel.
So, ihr Quälgeister, nun laßt mich in die Zentrale zurück. Wir bereiten näm
lich das Ankopplungsmanöver vor!“
Harpo und die anderen verteilten sich an den Fenstern, und Rajah eilte da
von. Der Segler näherte sich der glänzenden Kugel, bis sie den über
wiegenden Teil der Sichtfläche einnahm, und zog dann in einer weiten
Schleife daran vorbei, jetzt kamen die ersten Segler anderer Nomadenfamili
en in Sicht. Sieben, zehn, fünfzehn ... insgesamt fünfundzwanzig Segler zählte
Harpo allein im ersten zusammengekoppelten Pulk. Nicht einer glich dem
anderen, was Größe und Form der Segel – die teilweise noch ausgefahren
waren – oder den Wohn und Ladetrakt betraf. Unbeschreiblich abenteuerli
che Formen gab es zu sehen: viereckige Klötze mit Dreieckssegeln, anein
andergeballte Kugeln mit vier verschiedenen, fast quadratischen Segeln
darüber und anderes mehr. Die Kinder konnten sich nun bildhaft vorstellen,
daß die Segler tatsächlich einmal Teile eines riesigen Raumschiffes gewesen
waren, das man in der Not auseinandergenommen hatte.
Es gab zwei weitere Pulks mit jeweils mehr als zwanzig Seglern, aber Rajah
steuerte die letzte Ansammlung mit erst acht Fahrzeugen an. Gestalten in
Raumanzügen schwebten zwischen den Seglern und verknüpften sie mit
silbernen Tauen, die wie Nabelschnüre wirkten. Offenbar waren diese Fahr
zeuge erst vor kurzem eingetroffen. Ein kleines Raumboot mit dem charakte
ristischen Licht der Traktorstrahlen bewegte sich im Pendelverkehr zwischen
dem Ballon und den einzelnen Seglern hin und her.
Aus den mit der Zentrale verbundenen Lautsprechern drang plötzlich fröh
liches Stimmengewirr. Mehrere Nomadenclans hatten den MaloiSegler
gleichzeitig entdeckt und stimmten lautstarke Begrüßungen an.
Man hörte Rajahs aufgekratzte Stimme, die das Durcheinander lautstark
übertönte. „Auch das noch!“ rief er mit komischem Entsetzen in der Stimme.
„Die schrecklichen Melbars mit ihrer ganzen Bande sind wieder dabei!“ Ge
lächter aus vielen Kehlen kam als Antwort aus den Lautsprechern, dann rief
eine fremde Stimme: „Die furchtbaren Malois kommen, auweia!“
Der Raumsegler hatte mittlerweile die DarnoxKugel fast völlig umrundet,
und nun sahen die Passagiere, daß der Ballon auf dieser Seite unvollkommen
war. Ein gutes Viertel der Hülle fehlte. Ein riesiges Loch klaffte an dieser
Stelle. Zwanzig oder dreißig Akkais turnten wie Ameisen in der Nähe der Öff
nung herum, brachten Stützstreben an und zogen ein noch zu
sammengefaltetes Stück Wandung auseinander. Da sich die arbeitenden
Männer und Frauen dabei keinerlei Funkdisziplin unterwarfen, konnte man
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ihren rhythmischen Gesang bis in die Korridore des MaloiSeglers deutlich
empfangen.
Die Bildschirme in der Zentrale und im Aufenthaltsraum wurden hell. Das
Gesicht eines Akkais erschien. „Hallo, Freunde!“ rief er überschwenglich und
warf die Locken in den Nacken. „Nett, daß ihr pünktlich seid! Alles in Ord
nung mit eurem BallonSegment?“
„Alles klar“, antwortete Thoris. „Wir haben übrigens noch weitere Gäste an
Bord, die Freunde der ...“
„Wissen wir schon alles“, rief der andere lachend. „Fein, daß ihr Captain
Prong ein Schnippchen geschlagen habt.“
„Daran haben wir gar keinen großen Anteil“, stellte Ursa richtig. „Aber das
ist wieder eine Geschichte für sich ...“
„Wie steht’s mit eurem Ersatzstück?“
„Gut in Schuß“, sagte Rajah. „Benötigen wir es?“
Der andere nickte. „Voraussichtlich ja. Die Pasiks und die Zilas sind aufge
halten worden und können am Fest nicht teilnehmen. Es könnte knapp
werden. Am besten, ihr bringt die Ersatzbahn gleich mit.“
„Das geht klar. Bis gleich!“
Das Kopplungsmanöver hatte reibungslos geklappt, und draußen schweb
ten bereits mehrere Akkais mit Silberleinen heran, um den MaloiSegler zu
verankern. Rajah und die anderen kamen aus der Zentrale.
„Gut, daß wir das Ersatzstück mitgenommen haben“, sagte Ursa. „Um ein
Haar hätten wir es auf Alphacca zurückgelassen.“ Sie erklärte den Freunden,
daß gelegentlich Unfälle vorkamen, Familien sich verspäteten oder – wie in
diesem Fall – vom Kommen abgehalten wurden. Aus diesem Grund wurden
von einigen Seglern zusätzliche Teilstücke mitgeführt.
Und Rajah erinnerte an das traurige Fest vor dreißig Jahren, als ein
elektronischer Sturm durch das All fegte. Zwei Clans mit ihren Seglern
wurden damals vernichtet und zwanzig weitere Segler so weit abgetrieben,
daß sie nicht erscheinen konnten. Das Fest hatte trotzdem stattgefunden,
weil sich die Akkais durch Schicksalsschläge nicht aus der Bahn werfen
lassen. Aber richtige Stimmung war natürlich nicht aufgekommen. Zum
Glück waren solche Katastrophen selten.
„Natürlich helfen wir bei der Arbeit!“ schlug Harpo enthusiastisch vor, als
die Akkais ihre Raumanzüge anlegten. „Sicher könnt ihr draußen jede zusätz
liche Hand gebrauchen.“
„Ja, wenn ihr wirklich wollt ...“ meinte Ursa. „Alle werden sich riesig freu
en.“
Im Nu hatten die Kinder ihre Raumanzüge angelegt und liefen jubelnd zur
Luftschleuse, allen voran Lonzo. Nur Trompo mußte traurig zurückbleiben.
Er besaß noch immer keinen Raumanzug und hätte sich sowieso auf gute
Ratschläge beschränken müssen, da er für diese Arbeit viel zu klein war. „Mir
nachgekugelt, Seeleute!“ schrie Lonzo und stürzte sich kopfüber in das All
hinein. Mit seinen wirbelnden Tentakeln sah er wie ein Speichenrad aus.
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Selbst die Akkais, die Lonzo noch niemals in Aktion erlebt hatten, konnten
vor Lachen nicht an sich halten.
„Lonzo! Mein oller Kumpel Lonzo ist wieder da!“ ertönte in diesem
Moment von irgendwoher eine begeisterte Stimme.
„Matrose Ollie, ahoi!“ rief Lonzo zurück, denn niemand anderer als der EU
KALYPTUSDreikäsehoch hatte den Ruf ausgestoßen. „Wo hast du so lange
gesteckt, du alter Blechpirat?“
„Wir waren auf Kaperfahrt mit Captain Prong, dem intergalaktischen Erz
halunken. Warte nur ab, was ich dir für tolle Geschichten zu erzählen habe.“
„Juchhu! Und ich muß dir von meinen neuen Krankheiten erzählen! Ich
war so traurig über eure Entführung, daß ich eine gefährliche Pschüschose
hatte ...“
Aber jetzt wurde der Dialog von einer vielstimmigen Begrüßung überlagert,
weil die anderen Besatzungsmitglieder der EUKALYPTUS die Ankömmlinge
entdeckt hatten. Alle arbeiteten am Ballon. „Hallo, Karlie! Was machen die
Kartoffelpuffer?“
„Pummelchen, wie schön, daß du wieder da bist.“
„Alexander, du bist ja schon wieder dicker geworden. Wollten die Piraten
dich mästen, um das Lösegeld hochzujubeln?“
So ging es eine Weile hin und her, bis endlich wieder Ruhe ein kehrte. Har
po staunte nicht schlecht, als er sogar Thunderclap auf der Ballonhülle ent
deckte. Die Freunde hatten ihm in den Raumanzug geholfen. „Ich habe mich
selten so prächtig gefühlt!“ rief er und steuerte seinen Anzug geschickt wie
ein uralter Raumhase. Jetzt kam heraus, daß er schon seit einiger Zeit heim
lich, das heißt mit Unterstützung von Brim, geübt hatte.
Auch Harpo bewegte sich sicher und ohne Angst durch das All. Eigentlich
komisch, daß er jetzt gar keine Angst mehr hatte. Gerade ihm hatte der Auf
enthalt im All anfangs sehr zugesetzt, wo er sich doch so sehr vor der Dunkel
heit und dem Gefühl, in ein bodenloses Loch zu fallen, fürchtete. Er stellte an
sich selbst fest, daß er viele Ängste früherer Tage abgelegt hatte. Ein ent
scheidendes Erlebnis war sicherlich auch das Abenteuer auf dem Wrack ge
wesen. Dort hatte er seine Angst noch einmal bis zur Erschöpfung
hinausgebrüllt – und sie damit vielleicht wie einen bösen Geist verscheucht.
Von überall her schwebten Akkais heran, packten die Ballonhüllen des Ma
loiSeglers und zogen sie auseinander. Lonzo und die Kinder ließen sich nicht
lange bitten und halfen tüchtig mit. Harpo sah viele lachende Gesichter und
winkende Hände. Dann tauchte Yilmaz neben ihm auf, und sein Herz begann
zu pochen. Sie hatte sich rar gemacht in den letzten Tagen. Aber jetzt deutete
sie mit ihren Lippen einen Kuß an und ließ ihre schelmischen Augen blitzen.
Dann war sie wieder verschwunden.
Aus den wie Zigarren zusammengerollten Planen waren jetzt große Flächen
geworden. Damit würde sich das Loch im Ballon fast schließen lassen.
„Dieser Seemann hat eine sehr eigenartige Arbeitsauffassung“, zeterte
Lonzo. Er meinte damit Ollie, der kein freies Ende zum Anpacken mehr erwi
scht und es sich mitten auf der Plane bequem gemacht hatte.
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An der Ballonkugel angekommen, glaubte Harpo für einen Moment, von
dem Stimmenlärm irre zu werden. Von allen Seiten schossen Akkais heran,
lachten, begrüßten die Neuen, nannten ihre Namen, wollten deren Namen
wissen und gaben gute Ratschläge, wie die Plane zu befestigen war.
Ein Technikerteam näherte sich mit Schweißgeräten und verschloß die
Nähte mit flüssigem Kunststoff. Man mußte sich wundern, mit welcher
Schnelligkeit das geschah.
Aber die Stunden reihten sich doch aneinander. Weitere Ballonsegmente
wurden von anderen Seglern herangezogen und ebenfalls verschweißt.
Und dann war der Ballon so rund und tadellos, wie es sich gehörte.
Höchstens noch ein bißchen schrumplig, aber im Innern liefen bereits die
riesigen Aggregate an, die über ein Gewirr von Schlauchleitungen aus den
Lagersegmenten der Raumsegler flüssigen Sauerstoff und andere kom
primierte Gase pumpten.
Als die Kinder ermattet auf den MaloiSegler zurückkehrten, drückte der
Innendruck bereits die ersten Runzeln aus der Ballonhülle. Einige Akkais
arbeiteten noch an einer flaschenhalsähnlichen Luftschleuse, die als Einstieg
gedacht war.
Rajah hatte darauf bestanden, daß auch die anderen Mitglieder der EUKA
LYPTUSMannschaft zu einem Imbiß auf den MaloiSegler kamen. Als sie
sich aus ihren Anzügen schälten und in die bequemen Seidenkombinationen
der Akkais schlüpften, wartete bereits eine dampfende Zehnliterkanne „Tee
honig mit Rum“ auf sie. Dazu gab es eine Speise, die an Dattelfleisch er
innerte und auch so süß schmeckte. Thoris und Ursa schleppten außerdem
noch etliche Stapel würziger Brotfladen und Schälchen mit verschiedenen
Nußsorten herein. Für Lonzo hatte man ein Kännchen Öl bereitgestellt. Ursa
servierte es ihm und bemühte sich um ein todernstes Gesicht, prustete aber
schließlich vor Lachen los.
„Heidewitzka!“ knurrte Lonzo, als alle anderen in das Gelächter einstimm
ten, und tat sehr grimmig. „Immer muß ich in diesem Verein den Deppen
spielen! Sucht euch gefälligst mal einen Dümmeren aus.“ Dann schnupperte
er an dem Öl – was ohne Nase schwierig war, aber er tat sein Bestes. „Ich weiß
allerdings“, fügte er dann mit einem schweren Seufzer hinzu, „daß ihr den so
schnell nicht finden werdet.“ Von Lonzo abgesehen fielen jetzt alle hungrig
über die Speisen und Getränke her und redeten dabei wild durcheinander.
Ollie war am lautesten. Ungeniert versuchte er dem in einer anderen Ecke
des Raumes sitzenden Trompo über alle Köpfe hinweg einzureden, er sei vor
hin auf einem galaktischen Drachen geritten.
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Das Fest beginnt
Am Morgen des Festes sah der Weltraum vor den Sichtscheiben des Raum
seglers nicht anders aus als jeden Tag. Schwarz, tief, unendlich weit und leer.
Nur die funkelnden Sterne beleuchteten die phantastische Szenerie.
Über Nacht waren die letzten erwarteten Segler eingetroffen und ange
koppelt worden. Insgesamt waren es neunzig Raumfahrzeuge.
Die anderen waren bereits in der Schleuse versammelt, als Harpo und Anca
eintrafen. Rajah hatte jedem einen der seidenen Overalls geschenkt. Die
lagen jetzt zu einem Bündel verschnürt zum Mitnehmen bereit.
„Allgemeiner Aufbruch!“ brüllte Ollie aus Leibeskräften und schwenkte
einen würfelförmigen Kasten. Gemeinsam mit Lonzo und Thoris hatte er für
Trompo eine Box gebastelt. Der winkte hinter der Glasscheibe vergnügt mit
seinem Rüssel und schien sich pudelwohl zu fühlen. Es würde ja auch nicht
lange dauern, dann konnte er wieder aus seinem Gefängnis befreit werden,
ansonsten sorgte ein Sauerstoffbehälter für frische Luft.
Sie klappten ihre Helme herunter und warteten ungeduldig auf das Öffnen
der Schleusentür. Dann faßten sie sich an den Händen und sprangen hinaus.
Ein paar Stöße aus den Steuerdüsen korrigierten die Richtung, dann trieben
sie langsam auf die Flaschenhalsschleuse des Ballons zu. Auch an Bord der
anderen Segler rührte sich Leben. Überall purzelten Gestalten aus den
Schleusen und ordneten sich zu Gruppen, die aus der Ferne wie Schwärme
silberner Fische aussahen. Beim Näherkommen quirlte alles durcheinander.
Die Gruppe der Freunde von der EUKALYPTUS wurde rasch ausein
andergesprengt.
Jemand faßte Harpo an der Hand. Als er den Kopf zur Seite wandte, er
kannte er Yilmaz. Sie zwinkerte ihm zu und zog ihn hinter sich her.
Harpos Körper geriet dabei ein bißchen ins Trudeln. Er betätigte sein
Steuergerät, gab einen viel zu starken Schub ab – und schoß der mittlerweile
wohl tausendköpfigen Menge sofort davon.
Zuerst bekam Harpo einen ziemlichen Schreck, aber kurz vor der Ballon
schleuse bekam er das Gerät wieder unter Kontrolle. Pfeifend stieß er die Luft
aus und spürte, daß seine Stirn feucht vom Schweiß war.
„Vorsicht, junger Mann!“ rief jemand. „Oder willst du ein Loch in unseren
schönen Ballon schießen?“
Anca rief: „Harpo, ist alles in Ordnung?“
Und Ollie, dessen lautes Organ mal wieder alles andere überlagerte, krähte:
„Unkraut vergeht nicht, mein Schätzchen! Harpo wollte doch nur vor der
kleinen Elfe angeben!“
Harpos schüchterne Entschuldigung ging im Gelächter völlig unter. Mit ro
ten Ohren schloß er sich den ersten an, die in die Schleuse drängten. Die
Massen konnten nur schubweise ins Innere gelangen. Zu seiner Überra
schung sah er sich von bekannten Gesichtern umgeben: Thoris, Lonzo, Micel
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und Yilmaz. „Hoffentlich habe ich dich nicht allzusehr aus dem Konzept ge
bracht“, sagte sie sanft lächelnd.
„Nnnnein“, stammelte Harpo. Seine Ohren wurden noch ein bißchen roter
als sie schon waren. Ein Glück, daß sie hinter dem Plexiglas des Helms nicht
so deutlich zu erkennen waren. „Ich erwischte bloß einen falschen Knopf
und ...“
„Wenn dir schon niemand glaubt, Harpo“, sagte Micel über seine Helm
funkanlage, „dann bleibt dir wenigstens eine Genugtuung: Ich weiß, daß du
nicht angeben wolltest!“ Das war kein leerer Spruch, denn Micel hatte sich ja
telepathisch von der Wahrheit überzeugt.
„Danke schön, Micel, alter Junge“, flüsterte Harpo. „Du bist ein wahrer
Freund.“
In diesem Moment öffnete sich die Innentür der Schleuse.
„Ohhhhh!“ staunten Harpo und Micel wie aus einem Mund. „Ist das
schöööööön!“
„Wenn das Captain Kidd noch hätte erleben dürfen!“ stieß Lonzo begeistert
hervor. „Ich bin überzeugt davon, dafür hätte er mit Freuden glatt den Schatz
von WhiskyJones, dem Schrecken des Chinesischen Meeres, hergegeben!“
Was die Eintretenden so faszinierte, war wirklich eine phantastische Über
raschung. Vor ihnen dehnte sich das weite Rund der riesigen Kunststoffkugel.
In der Mitte, in geisterhafter Ferne, schwerelos auf der Stelle schwebend, gab
es eine Plattform, einen runden Teller von zweihundert Metern Durch
messer, nur wenige Zentimeter dick. Projektoren hingen darunter und sorg
ten für künstliche Schwerkraft. Auf der Plattform standen in zwangloser
Anordnung Tische und Bänke. Auf den Tischen standen Speisen und Blu
menbuketts, die Bänke waren eingebettet in eine bunte Pracht exotischer
Pflanzen, die sich aus unzähligen Behältern heraufringelten. Auf einem
besonderen Podium hantierten Akkais in weißen Gewändern an fremd
artigen Musikinstrumenten herum. Und unter dem Podium standen
Schwertschlucker, Akrobaten, Magiere, Jongleure, Zauberer und Clowns be
reit. All diese Einzelheiten konnte man aber erst erkennen und richtig be
wundern, wenn man näher heranschwebte.
Was die jungen Gäste im ersten Moment so fassungslos verharren ließ, war
etwas anderes. Der ganze Ballon glühte in einem wunderschönen Farben
meer, als sei er selbst eine einzige riesige Lampe, die sanftes Licht ausstrahlte.
Die Beleuchtungskörper konnte man nur entdecken, wenn man scharfe
Augen besaß. So gut waren sie getarnt. Aber sie waren auch nicht das Wesent
liche. Die Luft selbst war es, die flimmerte, glühte, flackerte. Sie wirbelte in
verschiedenfarbigen Schwaden durcheinander, die wie bunter Nebel aussa
hen und sich zu verwirrenden Mustern gruppierten. Daran war nichts Grelles
oder die Nerven Aufpeitschendes. Vielmehr vereinigten sich die verschie
denen Luftschwaden immer wieder zu harmonischen Farbkombinationen in
sanften Pastellfarben.
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Sie fanden später heraus, daß diese Effekte durch eine für Lebewesen un
schädliche Beimengung zur Atmosphäre erzielt wurden, die der Luft zugleich
ein herrliches Aroma nach Zimt und Nelken verlieh.
Ein Tusch der fernen Kapelle, mit dem jede Gruppe von Neuankömm
lingen begrüßt wurde, löste die Erstarrung.
Schub auf Schub drängte sich jetzt in den Ballon und die Musiker kamen
gar nicht mehr dazu, ihre Instrumente abzusetzen. Zu Harpos Freude hielt
sich Yilmaz eng an seiner Seite. Sie zeigte ihm unter der Plattform viele
tausend Magnetknöpfe, die für das Ablegen der Raumanzüge gedacht waren.
„Ist das nicht gefährlich?“ wollte Harpo wissen. „Angenommen, die Kugel
bekommt einen Riß und verliert ihre Atmosphäre ...“
„Ach wo!“ Yilmaz lachte, ergriff seinen Arm und segelte mit ihm zu dieser
MagnetGarderobe.
Dort herrschte bereits Gedränge, und Lonzo mußte sich ganz schön
winden, um sich zu ihnen durchzuschlängeln. Er trug das Bündel mit den
Seidenanzügen und verteilte sie an seine Freunde. Er murmelte dabei etwas
von seiner schönen Admiralsuniform, die jetzt leider bei Captain Kidd auf
dem Meeresboden lag, tröstete sich aber schließlich selbst damit, daß sein
Luxuskörper an Schönheit sowieso von keinem anderen erreicht werden
konnte.
Kichernd schlüpften Harpo und Yilmaz aus ihren Raumanzügen. Dieses
Mal musterte Harpo das zierliche Mädchen, ohne zu erröten. Sie hängte ihm
ein silbernes Kettchen um den Hals, an dem ein Metallschild mit einem un
bekannten Symbol baumelte.
„Das kann ich nicht lesen“, protestierte er.
„Macht nichts“, gab Yilmaz zur Antwort. „Ein Grund mehr für dich, die
ganze Zeit über hübsch in meiner Nähe zu bleiben. Sonst findest du deinen
Raumanzug nicht wieder.“
Sie hatte ein winziges Etwas an, das sich als ein Kleidchen erwies. Es
bestand wie die gelben Kombinationen aus einem dünnen Seidenstoff und
glitzerte silbern.
Harpo beeilte sich damit, den einteiligen Overall anzulegen. Er war so
leicht, daß man ihn kaum spürte, und schmiegte sich angenehm an den Kör
per. „Wieso ist es eigentlich so warm hier?“ wollte er wissen. „Der Weltraum
ist doch so eisig kalt.“
Yilmaz zeigte auf die gut getarnten Scheinwerfer. „Wir nennen es ,warmes
Licht‘“, sagte sie. „Eine Strahlung mit extrem langsamen Wellen. Nur so
gelingt es uns, mit wenigen Projektoren auszukommen. Aber die Präpa
rierung der Atmosphäre trägt auch dazu bei, die Wärme zu speichern.“
Sie faßte wieder nach seiner Hand, und dieses Mal konnte sich die Wärme
ihres Körpers auf ihn übertragen, weil keine klobigen Raumhandschuhe im
Weg waren. Gemeinsam schwebten sie zur Oberseite der Plattform.
Dort herrschte inzwischen ein unübersehbares Gewimmel. Die Schwer
kraft lag bei etwa zwanzig Prozent des Wertes, den Harpo von der EUKALYP
TUS her gewohnt war. Aber er wußte ja inzwischen, daß die Akkais keine
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Freunde großer Gravitation waren. Aus der Menge tauchte plötzlich
Thunderclap vor ihnen auf. Er stützte sich auf zwei lange Krücken, da ihn bei
dieser geringen Schwerkraft seine schwachen Beine nicht tragen konnten.
Aber er schien sich sehr wohl zu fühlen, brüllte nur kurz: „Wir sehen uns spä
ter!“ und tauchte dann wieder im Gedränge der Festgäste unter.
Ollie entdeckten sie direkt am Podium der KosmosBand, wo er gerade
dem Akkai mit der lautenähnlichen Elektrogitarre klarzumachen versuchte,
daß er seiner Meinung nach der beste Leadgitarrist seit Frank Zappa und Al
vin Lee sei.
Harpo hatte sich unter diesem Fest etwas vorgestellt, wie er es aus den Bü
chern und Filmen im Mikroarchiv der EUKALYPTUS kannte: Leute kamen
zusammen, aßen und tranken und ließen sich unterhalten. Er mußte umden
ken. Jeder der etwa dreitausendköpfigen Schar sah es als seine Aufgabe an,
sich aktiv an dem Fest zu beteiligen. Es gab unter den Akkais keine Trennung
zwischen Produzenten und Konsumenten. Die Plattform platzte nur so vor
bunter Aktivität. Man zog umher, suchte sich sein Publikum und blieb dann,
um Darbietungen der Leute zu sehen, die eben noch zugehört und zugesehen
hatten.
Und dabei ging alles ganz zwanglos vor sich, entwickelte sich aus der Situa
tion heraus. Die Gäste von der EUKALYPTUS wurden schnell in diese Gesel
ligkeit mit einbezogen. Es erwies sich, daß sie ihren Gastgebern vor allen
Dingen mit Berichten ihrer Abenteuer etwas zu bieten hatten.
Lonzo ließ es sich natürlich nicht nehmen, tentakelschwingend radzu
schlagen und mit knarrender Stimme Seemannslieder vorzutragen. Und von
Captain Kidd zu erzählen.
Harpo und Yilmaz sahen sich bald inmitten eines Knäuels von Zuhörern.
Nach einigem Zögern – es ist schließlich nicht jedermanns Sache, vor einer
großen Zahl von Leuten zu reden – erzählte Harpo munter alles, was sie auf
der EUKALYPTUS bisher erlebt hatten: daß das riesige Raumschiff für einen
unbekannten Zweck gebaut wurde, dann aber auf Druck der Bevölkerung
kranken Kindern einen Erholungsurlaub von der umweltverseuchten Erde
ermöglichte. Daß dieses Schiff durch eine Katastrophe aus der Umlaufbahn
der Erde gerissen und in die Tiefen des Weltalls geschleudert wurde. Daß die
ursprüngliche Besatzung geflüchtet war und die Kinder erst lernen mußten,
das Schiff zu führen und die beschädigten Teile zu reparieren.
Yilmaz kannte diese Geschichten schon und ergänzte sie durch Einzelhei
ten, die Harpo ihr früher bereits erzählt hatte. Es gab viele „Ahhhs“ und „Oh
hhs“ und tausend Fragen, so daß Harpo bald ganz heiser vom vielen Reden
war. Yilmaz erlöste ihn schließlich. Sie zog ihn lachend aus dem Knäuel her
aus zur Tanzfläche, wo der kleine Ollie eifrig mit einer kleinen Blondine aus
dem MelbarClan rockte und die Haare wild schüttelte, als sei er schon als
Rocker zur Welt gekommen. Um das Pärchen hatte sich eine Gruppe von
staunenden Akkais gebildet, die eifrig den Rhythmus klatschten, die Tänzer
anfeuerten und sich schließlich selbst an Ollies RockFiguren versuchten.
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„Ich ... ich kann eigentlich gar nicht tanzen“, konnte Harpo gerade noch
hervorstoßen, aber es nützte ihm nichts mehr. Das rothaarige Elfenmädchen
wirbelte ihn schon herum. Und ehe er sich versah, hatte ihn der Rhythmus
der elektronischen Musik in den Bann gezogen. Harpo warf die Beine wie ein
Profi.
Die Zeit verging wie im Fluge, und als die Musik leiser wurde und schließ
lich ganz verstummte, war er in Schweiß gebadet. Sanft legte er einen Arm
um die Schultern des Mädchens. Yilmaz lächelte und umfaßte ihn ihrerseits
an der Hüfte.
Ein Akkai in einem fließenden Purpurgewand stieg auf das Podium der Mu
siker und hob die Hände. Alle Anwesenden blickten zu ihm auf. Plötzlich
breitete sich Stille aus.
Er benutzte eines der Mikrophone, um sich bei jedermann verständlich zu
machen. „Wir wollen uns nun an unsere Vorfahren erinnern, die mit dem
Raumschiff Tuna in diesen Teil der Galaxis gelangten und nicht mehr zurück
kehren konnten. Und wir wollen das Bild jener Welt beschwören, aus der die
Vorfahren einst kamen. Zuvor jedoch laßt uns jener gedenken, die dieses Fest
nicht mehr erleben dürfen.“ Der Akkai verlas eine Liste von Namen und
schwieg danach eine Weile. Dann fuhr er fort: „Für andere ist dieses Treffen
das erste Fest, das sie miterleben. Wir möchten sie in unserer Mitte ebenfalls
willkommen heißen wie unsere Gäste vom fernen Planeten Terra.“
Unter dem Jubel der Anwesenden verlas er die Namen der Akkais, die
jünger als fünf Jahre alt waren. Die wurden von ihren Angehörigen hochge
hoben, wenn ihr Name genannt wurde, und winkten der lärmenden Menge
zu. Auf die gleiche Weise wurden die Freunde von der EUKALYPTUS geehrt.
Die umstehenden Akkais griffen plötzlich nach ihnen und hoben sie auf ihre
Schultern.
„Nicht doch, nicht doch!“ kreischte Lonzo. „Ich bin kitzlig.“ Aber das half
ihm gar nichts.
Als wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr der Sprecher fort. „Unser Simultange
dächtnis soll jetzt die Heimat wiederauferstehen lassen. Wir ...“
Aber in diesem Augenblick geschah etwas, mit dem niemand gerechnet
hatte. Neben dem purpurrot gekleideten Akkai auf dem Podium mate
rialisierte aus dem Nichts heraus eine Gestalt. Sie trug einen verrußten
Raumanzug, der an einigen Stellen golden schimmerte.
Es war ein Akkai. Aus seinen Augen sprach Verwirrung, als habe er nicht
beabsichtigt, vor der Versammlung auf dem Podium zu erscheinen.
Im ersten Moment hielten die Freunde von der EUKALYPTUS diese Er
scheinung für einen beabsichtigten Programmpunkt. Aber die Verwirrung
unter den Akkais machte deutlich, daß diese genauso verdutzt waren wie sie.
Lonzo brach das Eis. „Das ist Lonzos Retter aus Todesnot“, verkündete er
mit donnernder Stimme. „Bharos, der tollkühne Bezwinger des feisten Pi
raten Captain Prong!“
„Es ist der Fremde von Deck 16“, kam von irgendwoher die Stimme
Thunderclaps. „Ich erkenne ihn wieder!“
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„Es ist ..., nein, ich kann es nicht glauben“, flüsterte Micel, der die Ge
danken des Mannes empfangen hatte.
„Bharos!“ rief Rajah aus der Menge heraus. Er hatte die Panik in den Augen
des Akkais erkannt. „Du darfst nicht gehen! Du mußt diesen Moment durch
stehen. Es ist die Chance für dich, zurückzukehren!“ Er trat aus der Menge
hervor und reichte seine Hände zum Podium hinauf. Bharos hatte kein Wort
verstehen können, weil er seinen Raumhelm trug. Aber er verstand die Geste
und las Rajahs Gedanken. Das flackernde Licht in seinen Augen kam zur Ru
he. Er blinzelte und öffnete seinen Helm. Dann ergriff er Rajahs Hände und
kletterte vom Podium.
Bharos, der Wanderer
Es dauerte Stunden, bis sich die Aufregung gelegt hatte. Harpo und seine
Freunde saßen gemeinsam mit dem MaloiClan an einem großen Tisch und
ließen es sich schmecken. Bharos saß bei ihnen. Obwohl inzwischen alle in
großen Zügen über den geheimnisvollen Akkai unterrichtet waren, gab es
noch unzählige Fragen.
„Unglaublich!“ flüsterte Karlie immer wieder. „Der Mann ist tatsächlich ein
Überlebender jener Raumschiffbesatzung, von der die Nomaden
abstammen ...“
„Ja“, sagte Rajah lächelnd. „Harpo und die anderen, die auf unserem Segler
reisten, werden sich daran erinnern, daß mir zu dem Namen Bharos eine
phantastische Geschichte einfiel ...“
„... die du uns nicht erzählen wolltest“, warf Anca ein.
„Ja, hättet ihr sie denn geglaubt?“ verteidigte sich Rajah. „Aber inzwischen
kennen wir die Wahrheit: Bharos war tatsächlich der Telepath des Raum
schiffes Tuna, mit dem unsere Vorfahren strandeten. Seine Aufgabe war es
damals, mit der Heimatwelt Verbindung zu halten. Funkwellen sind bekannt
lich für diesen Zweck viel zu langsam.“
„Und warum hat er dann nicht Hilfe herbeigerufen?“ wollte Karlie wissen.
„Auch Telepathen haben ihre Grenzen“, antwortete Bharos selbst. „Micel
wird es euch bestätigen können. Wir waren zu weit entfernt von der Heimat
welt, zu weit entfernt auch von jedem Schiff, das uns hätte zu Hilfe kommen
können. Ihr dürft nicht vergessen, daß die Tuna ein Forschungsschiff war, das
neue Regionen der Galaxis erschließen sollte. Die Verbindung riß nach
einiger Zeit ab, und ich war als Telepath nutzlos.“
„Und in all den vielen Jahren kam niemals ein Raumschiff in erreichbare
Nähe ... ich meine, abgesehen von den Raumseglern und anderen Schiffen
ohne großen Aktionsradius?“
„Die EUKALYPTUS war das erste“, sagte Bharos und lächelte. „Deshalb
konnte ich mir den Besuch bei euch auch nicht verkneifen.“
72
„Aber du sein Teleporter“, schaltete sich Alexander in das Gespräch ein.
„Du können bewegen Körper durch Kraft von Geist. Warum nicht hüpfen von
Planet zu Planet, immer näher heran an Heimatwelt?“
„Ich bin kein Übermensch ... oder Überakkai, wenn ihr so wollt“, erwiderte
Bharos. „Sonst hätte ich mich auch gleich zum Akkai teleportieren können.
Ich bin an räumliche Grenzen gebunden. Die EUKALYPTUS, außerhalb un
seres Sonnensystems, war das am weitesten entfernte Ziel, das ich jemals er
reichen konnte. Und ohne festen Bezugspunkt kann ich meinen Körper
überhaupt nicht versetzen. Ich habe es immer wieder versucht. Aber an einer
beliebigen Stelle des Weltraums kann ich nicht materialisieren. Sonst wäre
alles sehr einfach.“
„Trotzdem“, warf Anca ein. „Für mich bist du so etwas wie ein Über
mensch. Telepath, Teleporter, unsterblich ... Warum bist du unsterblich?“
„Aber ich bin doch gar nicht unsterblich“, protestierte Bharos. „Gut, ich
habe besondere Talente und lebe erheblich länger als andere Akkais. Ich bin
ein Mutant, so wie Micel einer ist ... oder Lucky, von dem ihr mir erzählt habt.
So etwas hat es auf unserem Planeten ebenfalls gegeben. Aber irgendwann
muß auch ich sterben. Und ich fürchte, das wird bald sein, denn ich fühle
mich alt. Die Einsamkeit der vielen hundert Jahre ...“
„Warum hast du dich zurückgezogen?“ fragte Yilmaz. „Du hättest es so gut
bei uns haben können. Wir hätten dich verehrt und geachtet.“
„Eben“, gab Bharos dem Mädchen zur Antwort. „Und gerade das wollte ich
nicht. Es hätte eurer Entwicklung geschadet und mich nicht glücklicher ge
macht. Obwohl ich mich einsam fühlte und oft an euren Türen gelauscht
habe.“
„Aber jetzt wird alles gut!“ jubelte Yilmaz. „Du wirst bei uns bleiben!“
„Nein“, sagte Bharos entschieden. „So sehr ich mich danach sehne. Wenn
mein geheimer Wunsch nicht in Erfüllung gehen kann, werde ich zu meinem
kleinen Raumschiff zurückkehren und so leben wie bisher. Ihr wißt, daß ihr
mich nicht daran hindern könnt.“ Yilmaz schwieg betroffen.
„Und dieser Wunsch ...“ begann Harpo mit heiserer Stimme.
„Ich bin sicher, daß dein Wunsch erfüllt wird“, rief Micel. „Er will mit uns
kommen!“
Bharos senkte die Augen. „Ja“, sagte er. „Ich möchte Akkai noch einmal se
hen!“
„Aber wir wissen nicht, wo Akkai liegt“, flüsterte Thunderclap. „Vielleicht
ist deine Heimat weiter entfernt als unsere Erde. Und selbst die können wir
nicht erreichen.“
„Es genügt, wenn ihr mich bis zu eurem nächsten Ziel mitnehmt. Ich werde
mich von dort aus allein durchschlagen. Versteht ihr: Ich muß nur heraus aus
diesem toten Winkel der Galaxis!“
„Aber klar doch!“ rief Ollie. „Du kannst so lange an Bord bleiben, wie du
willst!“
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Alle redeten durcheinander. Ollie hatte gesagt, was alle dachten. Je
dermann von der EUKALYPTUS war begeistert, daß Bharos mit ihnen reisen
wollte.
„Wir haben Platz genug für alle Akkais!“ rief Brim Boriam. „Ihr könnt alle
mit uns kommen!“
Rajah überlegte keine Sekunde lang, und es war an den Gesichtern der
anderen Malois abzulesen, daß er für alle sprach. „Wir haben uns diese Frage
schon oft gestellt“, sagte er leise. „Ob wir zurückkehren würden, wenn sich
uns die Möglichkeit bieten würde. Die Antwort ist nein. So sehr wir unsere
Heimat und unsere Vorfahren verehren: Wir haben hier eine neue Heimat ge
funden. Das Leben im Weltraum gefällt uns. Niemand von uns würde zurück
kehren wollen! Aber trotzdem vielen Dank für dieses Angebot.“
„Schade“, sagte Harpo traurig. Er dachte an Yilmaz. „Ja, es tut mir auch
leid“, flüsterte Yilmaz ihm ins Ohr. Sie hatte ihn sofort verstanden. „Aber
mein Platz ist hier, bei meinem Volk.“
Ein Tusch der Musiker unterbrach das Gespräch. Der Akkai mit dem Pur
purgewand stand plötzlich wieder auf dem Podium.
„Dieses Fest wird in die Annalen unserer Geschichte eingehen!“ rief er.
„Aber jetzt, da wir sogar einen authentischen Zeugen unter uns haben,
wollen wir unserer Heimat gedenken.“
Die Weltraumkugel verdunkelte sich, die farbigen Lichtschwaden verglüh
ten. Aus vielen tausend Kehlen erhob sich ein tiefer, trauriger Gesang, der
den Kindern in den Ohren dröhnte wie ein feierlicher Chor in einer Kirche.
Langsam, ganz langsam, wurde die Dunkelheit wieder zu Licht. Aber es war
ein anderes Licht als vorher – und eine andere Umgebung.
Die Plattform mit den Tischen, Bänken und den vielen Akkais war
verschwunden. Harpo spürte, daß er schwebte. Schwerelos glitt er über der
Oberfläche einer paradiesischen Welt dahin, getragen von einer sanften
Brise, warm ummantelt von den funkelnden Strahlen einer hellgelben Sonne.
Jemand berührte Harpos Hand.
Yilmaz
Weit dehnten sich die Flächen seichter Gewässer im Sonnenlicht. Sie waren
zersplittert in unzählige Wasserspiegel, Sümpfe und Moraste mit hohen,
leuchtend grünen Schilfrohren und Schachtelhalmen. Wo das Wasser am
tiefsten war, breiteten herrliche Seerosen ihre grünen, kreisrunden Blätter
aus und ließen in goldenen Farben ihre Blütenblätter leuchten, die sich über
Nacht schlossen, um sich am Morgen, besprengt von strahlender Morgenrö
te, im Schein der aufgehenden Sonne erneut zu öffnen. An den Ufern der
kleinen Seen und auf den feuchten Sandebenen kämpften die Stengel der
Farne um einen sonnigen Platz gegen die dichten Pflanzenstöcke der Schach
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telhalme, auf deren borstigen Halmen sich samenschwere Ähren wiegten. Ein
Stück vom Ufer entfernt, auf trockenen Sanden, wuchsen Büschel von Ried
gräsern. Andere Gräser bildeten ausgedehnte Teppiche, die sich tief in die
graue Ebene dahinter hineinfraßen.
Am Horizont hob sich ein steil aufragender Felskegel phantastisch hoch in
den Himmel. An seinen Hängen war eine Stadt zu erkennen, mit kühnen
Bauwerken und verschlungenen Hochstraßen, die sich zwischen den weißen
Bauten dahinzogen.
Harpo atmete die herrlich frische Luft tief ein. Für einen Moment hatte er
vergessen, daß Yilmaz neben ihm war. Jetzt drang ihre Gegenwart wieder voll
in sein Bewußtsein. Sie schwebte neben ihm, mit wehenden Haaren und
windzerzaustem Kleidchen.
„Es ist nur eine Illusion“, sagte sie lachend, als sie seine Verwirrung be
merkte. „Nicht Wirklichkeit. In Wahrheit befinden wir uns noch immer im
Sternenballon, genau wie alle anderen.“
Harpo schüttelte den Kopf, zwickte sich in den Arm, wachte aber trotzdem
nicht auf. „Wenn ich wirklich träume“, gab er seufzend zurück, „dann ist das
ein besonders hartnäckiger Traum. Ich überlege gerade, ob ich überhaupt je
wieder daraus erwachen möchte.“
Ernüchtert fügte er hinzu, während das grüne Land unter ihm dahinzog:
„Aber wieso sehe ich die anderen nicht, Yilmaz? Wo sind sie geblieben?“
Das Mädchen drückte ihm auflachend die Hand, schwebte mit ihm auf die
Stadt am flachen Bergrücken zu und sagte: „Die Heimat sieht jeder für sich
allein. Wir erzeugen sie mit der Kraft unseres Bewußtseins, verstehst du? Und
du siehst die Bilder meines Bewußtseins. Wir Akkais sind zwar nicht mit son
derlich vielen Talenten ausgestattet“ – was sicherlich eine Untertreibung
war –, „aber unser vererbtes Gedächtnis funktioniert ausgezeichnet.
Allerdings sehen wir die Dinge so, wie unsere persönlichen Vorfahren sie
gesehen haben.“
„Logisch“, murmelte Harpo, der jetzt fasziniert auf die Stadt unter ihm
blickte. „Jeder Mensch sieht ja die Welt, in der er lebt, mit seinen eigenen
Augen.“ Die turmartigen Gebäude, die mindestens hundert Meter unter ihm
lagen, wirkten ausgestorben und unbewohnt. Tiefe Straßenschluchten zeig
ten aber das genaue Gegenteil. Es wimmelte von Akkais, deren Gesichter
nicht zu erkennen waren. Was am Bild irdischer Städte fehlte, waren die end
losen Fahrzeugkolonnen, wie sie Harpo aus den Archivfilmen der EUKALYP
TUS kannte. Die Realität in seiner persönlichen Umwelt war bereits anders
gewesen. Für Luxusgegenstände wie Autos gab es längst keinen Platz mehr.
„Wir haben den Fahrzeugverkehr unter die Erde verlegt“, beantwortete Yil
maz seine unausgesprochene Frage und verhielt sich dabei unbewußt wie ein
Mädchen, das tatsächlich auf diesem Planeten zu Hause war. „Es sind Röh
renbahnen mit kleinen Kabinen für nicht mehr als zwei Personen. Man kann
damit jedes Haus und jede Stadt erreichen, so untertunnelt ist alles.“
Als Harpo tiefer hinabschwebte, stellte er fest, daß die Umgebung, die
ganze Stadt, die Akkais zu verschwimmen begannen. Die Spaziergänger
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hatten keine Gesichter, die Häuser waren nichts als Schemen. Die ganze
Stadt verwandelte sich in einen grauen Nebelblock.
„Yilmaz!“ rief Harpo. „Was bedeutet das?“
Das Mädchen lachte und nahm ihn in den Arm. „Du vergißt, daß du nur
eine Vision vor dir hast. Du kannst nicht nach ihr greifen. Komm, wir steigen
wieder höher. Es gibt noch so vieles zu sehen!“
Auf den Grasflächen der Niederungen und flachen Hügel abseits der Stadt
ragte hohes Gebüsch empor, stellenweise durchbohrt von baumhohen Far
nen mit herrlichen, porös durchbrochenen und zerfransten Blättern.
Sonnenstrahlen brachen sich darauf und blinkten wie tausend glitzernde
Scherben, spiegelten ihr Licht auf das Grün der Hecken und den Teppich der
Gräser. Sie jagten einander in einem flimmernden Spiel aus Licht und
Schatten.
In den höhergelegenen Gebieten breiteten sich dichte Urwälder aus. Man
sah Nadelbäume, Pappeln, Eichen, Zimtbäume oder doch Gewächse, die
diesen irdischen Bäumen ähnlich sahen. Keine ordnende Hand eines Akkais
hatte hier etwas an dem natürlichen Reiz der Umgebung verändert. In der
Ferne schlängelten sich die Windungen eines Flusses dahin. Sein Wasser
wirkte klar wie Kristall. Zwei stolze, gläserne Schiffe mit grünen Segeln und
unter Planen verdeckter Fracht bewegten sich auf seiner Oberfläche. Kein
Laut war zu hören.
„Komm!“ jauchzte Yilmaz und flog Harpo voraus. Es war ein herrliches Ge
fühl, so unbeschwert über dem Land zu schweben. Harpo verlor jedes Zeitge
fühl.
Der Abend brach herein. Die Sonne tauchte wie ein riesiger feuerroter Gas
ball in die Fluten des fernen Meeres. Aber es wirkte nur so fern. Schon hatten
sie den Strand erreicht. Muscheln blinkten im Sand, und eine sanfte Brise
blies ihnen ins Gesicht. Harpo sah einige Fischer, die im Wasser standen und
ein schwerbeladenes Boot auf den Strand zogen. Sie hatten offene, sonnen
verbrannte Gesichter und sangen bei ihrer Arbeit.
Einmal glaubte Harpo, daß einer der Männer ihn und das Mädchen erspäht
hatte, denn er reckte sich, legte eine Hand an die Stirn und schaute genau in
ihre Richtung. Aber Yilmaz lachte nur, als sie Harpos Verwirrung fühlte. Sie
wies zum Himmel. Harpo folgte dem Blick und stieß einen lauten Schre
ckensschrei aus. Ein riesiger Vogel, groß und stark wie ein irdischer Kondor,
segelte über ihnen dahin. Ihm hatte der Blick des Fischers gegolten. Er flog so
dicht über ihnen hinweg, daß Harpo schon den Luftzug der klatschenden
Schwingen zu spüren glaubte. Aber das Tier reagierte nicht auf ihre Gegen
wart.
„Natürlich“, murmelte Harpo. „Es sieht uns ja nicht, sondern ist eine Vision
wie alles andere.“
„Das ist auch besser so“, kicherte Yilmaz. „Der Dagan ist eines der wenigen
gefährlichen Raubtiere auf Akkai.“
Die Nacht senkte sich auf die bunte Welt der Illusionen hinab. Am Himmel
blinkten die ersten Sterne auf: rote, blaue, grüne, gelbe und weiße. Ihr Licht
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warf einen geheimnisvollen Zauber über das Meer. Dann sah Harpo die
Monde: Zwei winzige, pfenniggroße Himmelskörper, die ein leuchtendes Rot
verstrahlten, ganz anders als der tote, kraterübersäte Mond der Erde.
„Sie heißen Kirlan und Arlan“, erklärte Yilmaz. „Beide sollen bewohnbar
sein, aber meine Vorfahren haben sich um die Einzelheiten niemals geküm
mert. Sie waren hier am Meer zu Hause, bevor sie sich für die Expedition
meldeten.“ Sie lachte leise. „Vielleicht sollte ich diese Einzelheiten durch die
Erinnerungen anderer Clans ein wenig vervollkommnen.“
Im Licht von Millionen Sternen, die in diesem Sektor der Milchstraße ganz
dicht beieinander standen und viel heller strahlten, als Harpo dies von der
Erde her gewohnt war, flogen sie zurück zur Stadt. Harpo löste seine Hand
einmal aus der von Yilmaz und versuchte auf eigene Faust einen abseitsge
legenen Bezirk zu erforschen. Aber er starrte in ein bodenloses Nichts. Die
Konturen der inzwischen vertrauten Umwelt zerflossen zu einem wallenden
Nebel. Schnell griff er wieder nach der Hand des Mädchens. „Ich sagte ja be
reits, daß meine Vorfahren am Meer wohnten“, sagte das Mädchen und preß
te seine Hand. „Sie kannten nur einen Teil des Planeten.“
Harpo kam ein Gedanke. „Aber wenn es bei euch so etwas wie ein vererb
bares Gedächtnis gibt – warum kannst du dann nicht auch auf die Erfah
rungen einer ganzen Kette von Vorfahren zurückgreifen? Insgesamt müssen
sie doch viel von ihrem Planeten gesehen haben.“
„Nicht, wenn sie immer an der Küste lebten“, sagte Yilmaz. „Aber im
Grunde hast du recht. Tatsächlich greife ich auch auf eine Fülle früherer Er
innerungen zurück. Aber viele undeutliche Eindrücke gingen mit den Jahren
wieder verloren. Nur die stärksten blieben erhalten. Es sind tatsächlich die
von vielen Vorfahren, die Erinnerungen eines einzigen wären viel zu flüchtig,
um eine derart plastische Vision zu ermöglichen. Überlege doch mal: Hast du
eine einzige kahle Stelle in jenem Stückchen Welt gesehen, das wir über
flogen haben? – Na siehst du! Ein Mensch allein könnte sich all diese Einzel
heiten gar nicht merken – und wenn er hundert Jahre alt würde. Oder weißt
du zum Beispiel, ob das Zifferblatt deiner Armbanduhr nur in Fünfminuten
striche oder auch in Minutenstriche unterteilt ist? Und könntest du es in
allen Einzelheiten aufmalen? He, nicht hinsehen!“
Erschreckt ließ Harpo seine instinktiv erhobene Linke wieder sinken. Yil
maz hatte recht. Er hatte keine Ahnung, wie das Zifferblatt seiner Uhr aussah!
Obwohl er doch täglich mindestens zehnmal auf diese Uhr blickte.
„Da hast du es“, scherzte das Mädchen. „Wir gehen alle mit geschlossenen
Augen durch unsere Welt!“
Harpo nickte. Jetzt konnte er das Wunder dieser täuschend echten Illu
sionswelt erst entsprechend würdigen. Regungslos lag er neben Yilmaz in der
Luft. Ein plötzliches wehmütiges Gefühl überkam ihn. Irgend etwas in ihm
sagte, daß sich diese Welt schon in wenigen Augenblicken in Nebel auflösen
würde. Der Höhepunkt des Festes würde überschritten sein. Und auch das
Fest selbst würde nicht mehr ewig dauern. Dann mußte Abschied genommen
werden.
77
Er legte beide Arme um den Hals des Mädchens und sah ihr tief in die
Augen. Stumm erwiderte sie seinen Blick.
„Yilmaz ... ich glaube, ich habe dich sehr gern.“
„Ich mag dich auch sehr.“
„Dann bleib bei uns! Reise mit uns zu den Sternen. Willst du?“
Yilmaz sah ihn lange an. Ihre Augen waren unergründlich tief. Harpo wußte
nicht, ob aus ihnen Trauer oder Schalk sprach, vielleicht beides. Ein bißchen
Wehmut und ein bißchen Lachen.
Sie streichelte sein Haar und gab ihm einen langen Kuß. „Ich bin nicht
mehr so jung und ungebunden, wie du glaubst, Harpo“, sagte sie dann leise.
„Mein Gefährte heißt Thoris – und Kalo ist mein Sohn.“
Harpo fühlte, daß nicht nur um ihn herum eine Welt zerbrach. „Ich wollte
Thoris nicht kränken“, war alles, was er sagen konnte. „Sicherlich ...“
„Thoris hat sich über deine Zuneigung zu mir genauso gefreut wie ich“,
sagte Yilmaz lächelnd. „Aber jetzt wirst du verstehen, daß ich nicht mit dir ge
hen kann. Leb wohl, Harpo!“
„Leb wohl ...“
Dann war Yilmaz plötzlich verschwunden. Das erste, was Harpo wahr
nahm, als er wieder den Boden der Plattform unter sich spürte, war ein
langanhaltender Jubel. Er öffnete benommen die Augen und sah seine
Freunde. Sie lachten und tanzten begeistert herum. Er war nicht der einzige
gewesen, der an den Visionen der Akkais teilgenommen hatte.
Harpo saß ein Kloß im Hals. Dankbar spürte er, wie ihm jemand auf die
Schulter klopfte. Es war Micel. Und eine Hand schob sich in die seine. Das
war Anca.
„Eine phantastische Welt!“ rief Thunderclap. „Jetzt verstehe ich erst,
weshalb Bharos um jeden Preis zurück möchte. Dort könnte ich es auch eine
längere Zeit aushalten.“
„Fliegen wir doch hin!“ krähte Lonzo, der als einziger nichts von den Illu
sionen bemerkt hatte, weil sich sein Robotergehirn nichts vormachen ließ.
Aber er war für jeden abenteuerlichen Plan zu haben. „Wir Seeleute sind so
wieso schon wieder viel zu lange an Land!“
„Au ja!“ schrien Ollie und Karlie in seltener Einmütigkeit.
Harpo, Anca, Brim und Alexander wechselten einen Blick mit Thunderclap.
Der sah Micel in die Augen. Und Micel sah zu Trompo. Seine Augen be
gannen zu glänzen. Einstimmigkeit. Seine Gedankenbotschaft erreichte Bha
ros. Der mußte sich nicht erst lange vorbereiten. Er wartete seit vielen
hundert Jahren mit gepackten Koffern.
Es blieb Lonzo vorbehalten, auszusprechen, was alle dachten: „Packt die
Zahnbürsten ein, Matrosen! Wir rauschen mal wieder ab!“
Ende
78
Die Besatzung der EUKALYPTUS
Harpo Trumpff:
Sechzehn. Blondes, schulterlanges Haar. Hat gelegentlich Angst vor dem
Alleinsein in der Dunkelheit. Grund seines Aufenthalts auf dem Sanatoriums
schiff: Schwindelanfälle, Gedächtnisstörungen nach Stürzen. Chronist und
Logbuchführer der EUKALYPTUS.
Anca Trumpff:
Harpos Schwester. Zwölf. Langes schwarzes Haar. Klein. Etwas pummelig.
Regt sich auf, wenn man sie „Pummelchen“ nennt. Liebt Tiere. Mit Ollie sehr
eng befreundet. Übertreibt gern. Wurde auf das Schiff geschickt, damit Harpo
sich nicht allein fühlt.
Brim Boriam:
Vierzehnjähriger Negerjunge. Krauses Haar. War anfangs sehr schüchtern.
Litt unter starken Sprachstörungen. Stottert jetzt nur noch, wenn er sehr auf
geregt ist. Hat medizinisches Talent. Wurde von den Galaktischen Medi
zinern in einem Schnellhypnose Verfahren zum Arzt ausgebildet.
Thunderclap Genius:
Deckname eines gelähmten fünfzehnjährigen Jungen. Hütet seinen echten
Namen sorgsam. Hochintelligenter Tüftler. Technisch begabt. Alleswissende
Leseratte mit eidetischem Gedächtnis (vergißt kaum etwas, was er einmal ge
hört oder gelesen hat). Hobby: Entschlüsseln von Geheimschriften.
Lonzo:
Roboter. Im Gegensatz zu seinen maschinellen Kollegen, die wegen ihrer
teddybärartigen Aufmachung die „Grünen“ genannt werden, ohne Verklei
dung. Behauptet von sich, überhaupt keine Maschine, sondern ein ehema
liger Seeräuber zu sein. Ist zweifellos defekt. Steht voll auf der Seite der
Kinder. Akzeptieren ihn, so wie er ist. Klopft gern Sprüche. Hat so ziemlich je
des Buch über Piraten gelesen. Ist in der Lage, kleinere Verletzungen und
Krankheiten mit einem eingebauten medizinischen System zu behandeln.
Besitzt aus Metallringen zusammengesetzte Beine und einen kugelrunden
Kopf.
Micel Fopp:
Vierzehn. Schwarzhaarig. Dunkle Augen. Wurde durch falsche Medi
kamente, die seine Mutter während ihrer Schwangerschaft einnahm, mit ver
kürzten Armen geboren. Hände klein wie die eines Fünfjährigen und direkt
an seinen Schultern angewachsen. Ansonsten körperlich unversehrt. „Tele
path“ (ist in der Lage Gedanken zu lesen).
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Karlie Müllerchen:
Fünfzehn. 2,20 Meter groß. Niemand weiß, wann er aufhören wird zu
wachsen. Bürstenhaarschnitt. Liebt nichts mehr als Kartoffelpuffer. Tischt sie
jedesmal, wenn er mit Küchendienst an der Reihe ist, den anderen in hundert
Variationen auf. Hat Humor und starkes Interesse an Funktechnik und Astro
navigation.
Ollie:
Elf. Strubbelkopf. Fransenbesetzte Lederhose. Ziemlich frech. Sogenannter
„Hypochonder“ (eingebildeter Kranker). Kerngesund, redet sich aber ständig
ein, gegen alles und jeden allergisch zu sein. Schreit nach Medizin, sobald er
einen einsamen Pickel auf seiner Haut entdeckt. Sein Ziel: rasch erwachsen
zu werden, weil er Anca Trumpff heiraten will.
Moritz:
Dackel. Ollies Liebling. Darf eigentlich nicht in die Zentrale. Wird von Ollie
immer wieder eingeschmuggelt. Hat es auf Lonzos Metallbeine abgesehen.
Und auf Trompo, den er für eine Art Hund hält.
Trompo:
Außerirdisches Wesen von Katzengröße. Sieht wie ein rosafarbener Elefant
aus. Schlappohren. Haut ist von einem Fell bedeckt. Ist kein Tier, sondern ein
intelligentes Lebewesen von einem Planeten mit unaussprechlichem Namen.
Lebte als eine Art „Krankheitsaufspürer“ bei den Galaktischen Medizinern,
bevor er auf das „Raumschiff der Kinder“ kam.
Alexander:
Sieht wie ein Bär aus. Trägt einen roten Pelz. Kein Wunder, denn er ent
stammt einer intelligenten Lebensform des Planeten Nordpol, die als Rasse
der Rotpelze bekannt ist. Vielleicht zehn Jahre alt, aber sehr stark. Und lern
eifrig. Nur mit der menschlichen Sprache will es noch nicht so richtig
klappen.
Schwatzmaul:
Elektronengehirn der EUKALYPTUS. Umfaßt alle elektronischen Teile,
Steuer und Kontrollelemente des Schiffes. Und die Speicherbänke. Die Bord
bibliothek. Ist nicht perfekt. Muß manchmal zugeben, daß er Wissenslücken
hat. Redet mit menschlicher Stimme viel, gern und geschwollen. Auch über
Sachen, die keinen interessieren. Das hat ihm seinen Namen eingetragen.
EUKALYPTUS:
Den Namen erhielt das Schiff erst durch die Kinder. Obwohl es ja eigentlich
eher wie eine riesige Hantel aussieht. Zwei Kugeln, ein zylindrisches Ver
bindungsstück. Besteht aus einer Vielzahl von Decks, jedes kilometergroß,
viele davon als künstliche Wüsten und Dschungel ausgestattet.
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Ob das Raumfahrzeug ursprünglich als eine Art Auswanderungsschiff für
interstellare Reisen vorgesehen war, weiß man nicht so genau. Sicher ist nur,
daß es einen neuartigen, vorher nicht getesteten Antrieb besitzt, der mehrfa
che Lichtgeschwindigkeit zuläßt. Es umkreiste als Hospitalschiff für kranke
und umweltgestörte Kinder die Erde – bis es sich aus noch ungeklärter Ursa
che aus seiner Umlaufbahn riß. Die ursprüngliche Besatzung ließ das Schiff
und die Kinder im Stich. Diese mußten selbst lernen, das Schiff zu steuern.
Oder steuern zu lassen, denn die meiste Arbeit nimmt ihnen der allgegen
wärtige Computer Schwatzmaul ab. Daß sich die EUKALYPTUS überhaupt
wieder manövrieren läßt, verdanken die Kinder vor allem den hilfreichen
„Weltraumärzten“, einer extraterrestrischen Rasse. Die EUKALYPTUS hat
mehrere Beiboote, Fabrikationsstätten für alles, was an Bord benötigt wird,
Wartungsroboter – und natürlich eine sehr tüchtige, aber auch fröhliche Be
satzung.
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