Alpers, Hans J Hahn, Ronald M Raumschiff Der Kinder Band 5 Die Rätselhafte Schwimmhnsel (1978)

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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn

Die rätselhafte

Schwimminsel

Band 5

aus der Reihe

„Raumschiff der Kinder“

ungekürzte Originaledition
der nicht mehr aufgelegten

Einzelausgabe von 1978

©   Ensslin   &   Laiblin   Verlag   GmbH   &   Co.   KG   Reutlingen   1978.   Sämtliche
Rechte,   auch   die   der   Verfilmung,   des   Vortrags,   der   Rundfunk­   und
Fernsehübertragung,   der   Verbreitung   durch   Kassetten   und   Schallplatten
sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.

ISBN 3­7709­0408­7

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– Was man vorher wissen sollte –

Harpo Trumpff:
Sechzehn. Blondes, schulterlanges Haar. Hat gelegentlich Angst vor dem

Alleinsein in der Dunkelheit. Grund seines Aufenthalts auf dem Sanatoriums­
schiff:   Schwindelanfälle,  Gedächtnisstörungen   nach  Stürzen.  Chronist  und
Logbuchführer der EUKALYPTUS.

Anca Trumpff:
Harpos Schwester. Zwölf. Langes schwarzes Haar. Klein. Etwas pummelig.

Regt sich auf, wenn man sie „Pummelchen“ nennt. Liebt Tiere. Mit Ollie sehr
eng befreundet. Übertreibt gern. Wurde auf das Schiff geschickt, damit Harpo
sich nicht allein fühlt.

Brim Boriam:
Vierzehnjähriger Negerjunge. Krauses Haar. War anfangs sehr schüchtern.

Litt unter starken Sprachstörungen. Stottert jetzt nur noch, wenn er sehr auf­
geregt   ist.   Hat   medizinisches   Talent.   Wurde   von   den   Galaktischen   Medi­
zinern in einem Schnellhypnose Verfahren zum Arzt ausgebildet.

Thunderclap Genius:
Deckname eines gelähmten fünfzehnjährigen Jungen. Hütet seinen echten

Namen sorgsam. Hochintelligenter Tüftler. Technisch begabt. Alleswissende
Leseratte mit eidetischem Gedächtnis (vergißt kaum etwas, was er einmal ge­
hört oder gelesen hat). Hobby: Entschlüsseln von Geheimschriften.

Alexander:
Sieht wie ein Bär aus. Träg einen roten Pelz. Kein Wunder, denn er ent­

stammt einer intelligenten Lebensform des Planeten Nordpol, die als Rasse
der Rotpelze bekannt ist. Vielleicht zehn Jahre alt, aber sehr stark. Und lern­
eifrig.   Nur   mit   der   menschlichen   Sprache   will   es   noch   nicht   so   richtig
klappen.

Lonzo:
Roboter. Im Gegensatz zu seinen maschinellen Kollegen, die wegen ihrer

teddybärartigen Aufmachung die „Grünen“ genannt werden, ohne Verklei­
dung. Behauptet von sich, überhaupt keine Maschine, sondern ein ehema­
liger   Seeräuber   zu   sein.   Ist   zweifellos   defekt.   Steht   voll   auf   der   Seite   der
Kinder. Akzeptieren ihn, so wie er ist. Klopft gern Sprüche. Hat so ziemlich je­
des Buch über Piraten gelesen. Ist in  der  Lage, kleinere  Verletzungen und
Krankheiten   mit   einem  eingebauten   medizinischen  System  zu   behandeln.
Besitzt   aus   Metallringen   zusammengesetzte  Beine   und  einen   kugelrunden
Kopf.

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Micel Fopp:
Vierzehn.   Schwarzhaarig.   Dunkle   Augen.   Wurde   durch   falsche   Medi­

kamente, die seine Mutter während ihrer Schwangerschaft einnahm, mit ver­
kürzten Armen geboren. Hände klein wie die eines Fünfjährigen und direkt
an seinen Schultern angewachsen. Ansonsten körperlich unversehrt. „Tele­
path“ (ist in der Lage Gedanken zu lesen).

Karlie Müllerchen:
Fünfzehn.   2,20   Meter   groß.   Niemand   weiß,   wann   er   aufhören   wird   zu

wachsen. Bürstenhaarschnitt. Liebt nichts mehr als Kartoffelpuffer. Tischt sie
jedesmal, wenn er mit Küchendienst an der Reihe ist, den anderen in hundert
Variationen auf. Hat Humor und starkes Interesse an Funktechnik und Astro­
navigation.

Ollie:
Elf. Strubbelkopf. Fransenbesetzte Lederhose. Ziemlich frech. Sogenannter

„Hypochonder“ (eingebildeter Kranker). Kerngesund, redet sich aber ständig
ein, gegen alles und jeden allergisch zu sein. Schreit nach Medizin, sobald er
einen einsamen Pickel auf seiner Haut entdeckt. Sein Ziel: rasch erwachsen
zu werden, weil er Anca Trumpff heiraten will.

Moritz:
Dackel. Ollies Liebling. Darf eigentlich nicht in die Zentrale. Wird von Ollie

immer wieder  eingeschmuggelt. Hat es auf Lonzos Metallbeine abgesehen.
Und auf Trompo, den er für eine Art Hund hält.

Trompo:
Außerirdisches Wesen von Katzengröße. Sieht wie ein rosafarbener Elefant

aus. Schlappohren. Haut ist von einem Fell bedeckt. Ist kein Tier, sondern ein
intelligentes Lebewesen von einem Planeten mit unaussprechlichem Namen.
Lebte als eine Art „Krankheitsaufspürer“ bei den Galaktischen Medizinern,
bevor er auf das „Raumschiff der Kinder“ kam.

Bharos:
Elfenhaft zierlicher Mutant aus dem Stamme Akkai. Langlebig. Kann Ge­

danken lesen sowie sich selbst und andere durch Kraft des Geistes von einem
Ort zum anderen transportieren. Strandete mit einem Raumschiff vor vielen
hundert   Jahren   und   überlebte   Generationen   von   Nachkommen   seiner
einstigen   Schiffskameraden,   die   sich   zu  Weltraumnomaden  entwickelten.
Schloß sich der EUKALYPTUS­Crew an, weil er gern auf seine Heimatwelt zu­
rückkehren möchte.

Flint:
Ehemaliger  Raumpilot.  Kahlköpfig,  schwarzer   Bart.  Hatte  finstere  Pläne,

die durch ein unvorgesehenes Ereignis zerstört wurden. Landet mit anderen

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Schiffbrüchigen auf der Wasserwelt Tonoga. Ein unangenehmer Zeitgenosse,
der den Raumfahrern der EUKALYPTUS zu schaffen macht.

Erik:
Flints enger Vertrauter. Macht alles, was sein Boß ihm aufträgt, auch wenn

es kriminell ist. Vom Denken hält er nicht viel.

Doona:
Tanitaner.  Als   junger   Wissenschaftler   auf   einer   Forschungsstation   tätig.

Schuppige  Haut,  eiförmiger  Schädel  mit   drei  Nasenlöchern   und Facetten­
augen.   Führt   ständigen   Kampf   gegen   die  bürokratische   Verwaltung  seiner
Heimatwelt. Bricht zu einer abenteuerlichen Expedition auf, um auf einer Ro­
bot­Insel nach dem Rechten zu sehen.

Caral:
Doonas väterlicher Freund. Begleitet ihn auf der langen Reise zur Robot­In­

sel. Ebenfalls ein Tanitaner.  Besonders erfahren  als  Zureiter  der „Bogeys“,
jener treuen Reitfische, ohne deren Hilfe die Reise nicht möglich wäre.

Schwatzmaul:
Elektronengehirn   der   EUKALYPTUS.   Umfaßt   alle   elektronischen   Teile,

Steuer­ und Kontrollelemente des Schiffes. Und die Speicherbänke. Die Bord­
bibliothek. Ist nicht perfekt. Muß manchmal zugeben, daß er Wissenslücken
hat. Redet mit menschlicher Stimme viel, gern und geschwollen. Auch über
Sachen, die keinen interessieren. Das hat ihm seinen Namen eingetragen.

EUKALYPTUS: Den Namen erhielt das Schiff erst durch die Kinder. Obwohl

es ja eigentlich eher wie eine riesige Hantel aussieht. Zwei Kugeln, ein zy­
lindrisches Verbindungsstück. Besteht aus einer Vielzahl von Decks, jedes ki­
lometergroß, viele davon als künstliche Wüsten und Dschungel ausgestattet.

Ob das Raumfahrzeug ursprünglich als eine Art Auswanderungsschiff für

interstellare Reisen vorgesehen war, weiß man nicht so genau. Sicher ist nur,
daß es einen neuartigen, vorher nicht getesteten Antrieb besitzt, der mehrfa­
che Lichtgeschwindigkeit zuläßt. Es umkreiste als Hospitalschiff für kranke
und umweltgestörte Kinder die Erde – bis es sich aus noch ungeklärter Ursa­
che aus seiner Umlaufbahn riß. Die ursprüngliche Besatzung ließ das Schiff
und die Kinder im Stich. Diese mußten selbst lernen, das Schiff zu steuern.
Oder steuern zu lassen, denn die meiste Arbeit nimmt ihnen der allgegen­
wärtige Computer Schwatzmaul ab. Daß sich die EUKALYPTUS überhaupt
wieder   manövrieren   läßt,   verdanken   die   Kinder  vor   allem  den   hilfreichen
„Weltraumärzten“,   –   einer   extraterrestrischen   Rasse   –   und   dem   tüchtigen
Tiefschläfer  Daniel Locke, der mit anderen Besatzungsmitgliedern auf dem
Planeten   Nordpol   zurückblieb.   Die   EUKALYPTUS   hat   mehrere   Beiboote,
Fabrikationsstätten für alles, was an Bord benötigt wird, Wartungsroboter –
und natürlich eine sehr tüchtige, aber auch fröhliche Besatzung.

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SOS zwischen den Sternen

Harpo erwachte von einem Stoß, fuhr hoch und dachte: Was hat Schwatz­

maul falsch gemacht?

Für einen Moment lang erfaßte ihn Panik. Die Vorstellung, daß der fast all­

mächtige Computer des Sternenschiffes EUKALYPTUS fehlerhaft funktionie­
ren könne, führte dazu, daß sich seine Stirn mit einem Schweißfilm bedeckte.
Er atmete tief durch, schüttelte den Kopf, und mit dieser Bewegung verflog
der Alptraum, löste sich wie Rauch in nichts auf.

Der kleine Lautsprecher neben seiner Koje knackte, dann sagte eine aufge­

regte Jungenstimme: „Alle Mann in die Zentrale! Alle Mann ... und Anca ... in
die Zentrale! Ich glaube, ich spinne!“

Bevor Harpo Gelegenheit hatte, sich nach dem Grund für die Aufregung zu

erkundigen, war die Stimme des Wachhabenden nicht mehr zu verstehen.
Ein chaotisches Stimmengewirr drang aus dem Lautsprecher. Harpo zog sich
hastig an und rannte ungekämmt den Korridor entlang. Türen klappten auf
und   zu.   Brim   Boriam,   der   an   Bord   der   EUKALYPTUS   die   Aufgaben   eines
Arztes versah, tauchte vor ihm auf. Sein Gesicht hatte etwas von seiner natür­
lichen schwarzen Hautfarbe verloren.

Beide Jungen liefen jetzt nebeneinander. „Was ist los?“ fragte Harpo keu­

chend den vierzehnjährigen Afrikaner. „Ärger mit Schwatzmaul?“

Brim Boriam antwortete nicht, zuckte aber im Laufen mit den Schultern.

Woher sollte er auch mehr wissen als Harpo?

Manchmal legte der Bordcomputer tatsächlich ein seltsames Benehmen an

den Tag – obwohl man ihm nichts Schlechtes nachsagen konnte, wenn es um
Wichtiges ging.

Diesmal   schien  Schwatzmaul   nichts   mit   der allgemeinen  Verwirrung  zu

tun zu haben. In der Zentrale erwartete die elfköpfige Besatzung statt dessen
ein ziemlich bleicher Thunderclap Genius, der nervös mit seinem Rollstuhl
im Kreis herumfuhr und dabei murmelte: „Sie werden mir nicht glauben! Sie
werden mir einfach nicht glauben. Die denken, daß mich der Raumkoller ge­
packt hat.“

„Was ... uuuuaaaahhhh ... werden sie dir nicht glauben?“ fragte Harpo, der

trotz   des   schnellen   Laufes   noch   einmal   herzhaft   gähnen   mußte,   um   den
Schlaf   aus   den   Kleidern   zu   schütteln.   „Du   machst   mir   Spaß,   mein   lieber
Pitter! Mitten in der Nacht wirfst du uns aus den Kojen und ...“

„Schaut mal nach draußen!“ krähte der kleine Oliver vorwurfsvoll. „Es ist ja

noch stockfinstere Nacht!“

Thunderclap, der mit  Unmutsfalten  auf der Stirn vernommen hatte, daß

Harpo ihn mit seinem richtigen Vornamen – den er gar nicht liebte – an­
sprach, wechselte bei dieser Bemerkung den Gesichtsausdruck. Da hatte der
Kleine mal wieder einen seiner unglaublichen Schlüsse gezogen! Natürlich
war es draußen dunkel. Aber das hatte der Weltraum nun mal so an sich.

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„Ein Funkspruch“, stammelte Thunderclap, der entschlossen davon aus­

ging, daß der Name „Pitter“ im allgemeinen Stimmengewirr untergegangen
war. Er wollte einfach nicht wahrhaben, daß jeder an Bord sein kleines Ge­
heimnis längst kannte. „Ein Funkspruch kam vor fünf Minuten rein. Auf Ka­
nal acht! Und wißt ihr, von wem?“

Während sieben der Mannschaftsmitglieder einstimmig „Neeee!“ brüllten,

gab   Alexander,   der   bärenhaft   aussehende   Rotpelz,   ein   schnaufendes   Ge­
räusch von sich, das zweifellos die  rotpelzische  Version von „Neeee!“ war.
Bharos,   der   erst   vor   wenigen   Wochen   zur   Besatzung   der   EUKALYPTUS
gestoßen   war,   machte   nur   kugelrunde   Augen.   Und   Trompo,   das   kätz­
chengroße Lebewesen mit dem Aussehen eines Elefanten, piepste verstört.

„Es war ...“ holte Thunderclap aus, unterbrach sich und pumpte sich erst

einmal die Lungen voll Luft, „es war ein Funkspruch von einem Raumschiff
der Erde! Da habt ihr es. Ich habe euch ja gesagt, ihr werdet es mir nicht glau­
ben. Von der Erde – versteht ihr!“ Er schüttelte die Fäuste in der Luft, als
wollte er ihnen das Gesagte einhämmern.

„Na und?“ fragte Harpo. „Was wollte es denn?“ Er tat natürlich nur so, als

sei es für ihn eine Selbstverständlichkeit, daß ein irdisches Raumschiff in der
Nähe war. Aber er freute sich auf Thunderclaps Reaktion. Die blieb nicht aus.

Der Junge im Rollstuhl vergaß drei Sekunden lang das Atmen und starrte

seinen Freund an. „Dich läßt wohl alles kalt, was?“ schimpfte er dann los.
„Dann   hört   jetzt   zu:   Das   Raumschiff   befindet   sich   in   Not   und   braucht
dringend Hilfe!“

Einer sah verstohlen zum anderen und versuchte herauszukriegen, wie der

die Sache aufnahm. Thunderclap war ja eigentlich ein cleverer Bursche, der
meistens auch das meinte, was er sagte. Aber die vielen Aufregungen der letz­
ten Zeit ... Und dann die lange schlaflose Nacht allein in der Zentrale ... Selbst
Harpo guckte so undurchsichtig.

„Ich weiß genau, was ihr denkt“, jammerte Thunderclap. „So weit von der

Erde entfernt kann es kein anderes irdisches Raumschiff als die EUKALYP­
TUS geben. Aber ihr täuscht euch! Fragt Schwatzmaul – ich kann euch nicht
mehr sagen.“

Schwatzmaul  hatte  die ganze  Zeit nur auf sein Stichwort gewartet. Eine

grüne   Birne   blinkte   ungeduldig   auf   dem  Kontrollbord  über   Thunderclaps
Sitz.   Das   Zeichen,   daß   Schwatzmaul   etwas   zu   sagen   hatte,   sich   aber   von
allein nicht in das Gespräch einschalten wollte.

„Erhebe deine Donnerstimme, edler Computer, und verkünde uns deine

Weisheiten“,   witzelte   Anca   mit   salbungsvoller   Stimme.   Das   Mädchen   war
Harpos Schwester und im Moment das einzige weibliche Besatzungsmitglied.
Alle warteten gespannt, was der Bordcomputer zu berichten hatte.

„Ergebensten Dank, mein holder Engel“, sagte Schwatzmaul so artig, daß

man sich nicht gewundert hätte, wenn die ganze Computerwand eingeknickt
wäre, um eine Verbeugung zu machen. „Nun ... – die Tonbandstimme des
Gehirns imitierte ein Räuspern – „die Aussagen des Wachhabenden sind in
jeder Beziehung sachlich korrekt. Vor ...“

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„Da habt ihr’s!“ schrie Thunderclap triumphierend dazwischen.
„Pschschschtt“, machten die anderen.
„... genau elf Minuten und siebenundfünfzig Sekunden erreichte die EUKA­

LYPTUS ein Funkspruch, der sich exakt so anhörte ...“

Schwatzmauls Innenleben schien zu schnarren. Dann  war für Sekunden

aus den Lautsprechern so etwas Ähnliches wie kosmische Musik, untermalt
vom tiefen Summen eines weit entfernten Radiosterns, zu hören. Plötzlich
sagte   eine   aufgeregte   Männerstimme:   „Hier   Raumschiff   AESCLIPUS   im
Raumsektor Theta­Kappa­Omikron! Raumschiff AESCLIPUS ... Ich wiederho­
le ...“

Eine andere Stimme, leiser, aber noch verständlich, unterbrach: „Schneller,

Erik, schneller! Wir haben keine Zeit mehr ...“

Die   erste   Stimme   kam   jetzt   so   überstürzt,   daß   sie   sich   mehrmals

verhaspelte, bevor sie hervorstieß: „Wir verlassen das Schiff mit einem Bei­
boot ...“

„Abschußvorrichtung  funktioniert   nicht!“   schrie   eine   Frauenstimme   an­

scheinend aus dem Hintergrund.

„Abdrehen! Abdrehen!“
Das Stimmengewirr wurde so laut, daß der Funker nicht mehr zu verstehen

war.   „Versuchen   Notlandung!“   kam   er   endlich   noch   einmal   verständlich
durch.   „Weiße  Zwergsonne  im   Sektor   Theta­Kappa­Omikron.   Zweiter
Planet ... Rettet uns ... Rettet uns ...“

Krachen, Zerreißen von Metall – dann Stille.
Ungläubig   fragte   Thunderclap:   „Dann   hast   du   also   alles   aufgezeichnet,

Schwatzmaul? Ja, weshalb hab’  ich mir eigentlich groß Gedanken gemacht,
daß ihr mir nicht glaubt ...“

„Wir Maschinen schlafen niemals“, bemerkte der Computer mit einer un­

verkennbaren Portion Stolz in der Stimme.

In der folgenden Stille hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören –

selbst eine aus Plastik. Die irdischen Stimmen aus dem All hatten allen erst
einmal   die   Sprache   verschlagen.   Harpos   Blick   irrte   ziellos   zwischen   den
Lichtpunkten  umher,  die  greifbar   nahe zu  sein schienen   und doch   nichts
anderes als viele Lichtjahre entfernte Sterne waren, deren Funkeln durch die
gläserne Kuppel über der Zentrale der EUKALYPTUS fiel. Nur ein einziger
Stern stand groß und nah vor ihnen. An ihm blieben Harpos Augen schließ­
lich hängen. „Weiße Zwergsonne ... zweiter Planet ...“ geisterte eine Stimme
durch sein Gehirn.

Ehe er seinen Gedanken aussprechen konnte, spürte er einen sanften Stoß

gegen die Rippen.

„Dort ist sie“, platzte Anca in die Stille hinein. Obwohl sie nur flüsterte,

konnte sie jeder deutlich verstehen. „Das muß die Zwergsonne sein, nicht
wahr? Und gar nicht weit entfernt ...“

„Schwatzmaul?“ fragte Harpo.
„Von dorther kam der Hilferuf“, bestätigte das Bordgehirn ungewöhnlich

knapp.

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„Dann ist es ja wohl keine Frage, was wir zu tun haben!“ trumpfte Anca auf.
Nein, das war es wirklich nicht.
„Erst mal duschen und futtern“, riet Thunderclap nach einem Blick in die

noch immer schlaftrunkenen Gesichter. „Dann sehen wir weiter.“

Binnen fünf Minuten stand jedes rostfreie Mitglied unter der Dusche. In­

dessen bereitete Lonzo – der ein Roboter war, dies aber für gewöhnlich gerne
abstritt – aus Synthofood ein Frühstück zu, das selbst den abgeschlafftesten
Helden wieder auf die Beine bringen mußte. Synthofood war ein künstlich
erzeugtes Produkt, das sich aber in Aussehen und Geschmack kaum von na­
türlicher Nahrung unterschied.

Gestärkt und hellwach kehrte die Meute in die Zentrale zurück. Karlie Mül­

lerchen, der mit seinen sechzehn Jahren bereits zwei Meter zwanzig maß und
ein dünnes Bärtchen trug, enterte den Platz des Navigators und begann mit
den Berechnungen. Anca, die in den letzten Wochen immer mehr Interesse
für diese Wissenschaft entwickelt hatte, half ihm, so gut sie konnte.

Aber die kniffligsten  Berechnungen  mußte natürlich  Schwatzmaul  über­

nehmen. Der Computer hätte den Kurs auch allein ausrechnen können, aber
da er nicht nur ein großes und schlaues, sondern auch ein weises Bordgehirn
war, ließ er darüber keine Bemerkung fallen. Erstens war es nur gut, wenn die
Besatzung sich im Notfall auch allein zu helfen wußte, und zweitens stärkte
es das Selbstvertrauen der jugendlichen Navigatoren, wenn sie ihre selbstge­
stellte Aufgabe bewältigten. Und wenn es einmal nicht so ganz klappte, dann
nahm er stillschweigend die nötigen kleinen Kurskorrekturen vor, um die EU­
KALYPTUS  zum   Zielort   zu bringen.  Schwatzmaul  war  eben  genausowenig
eine gewöhnliche Maschine wie Lonzo ein gewöhnlicher Roboter war.

Ziemlich genau siebenundvierzig Minuten nach Empfang des Funkspruchs

lag eine Kursbestimmung vor. Das riesige Sternenschiff EUKALYPTUS – einst
als Sanatorium für umweltgeschädigte Kinder im Orbit der Erde – steuerte
nicht länger seinen Kurs zum Zentrum der Galaxis, sondern zog eine Parabel
zum östlichen Rand jenes Sternennebels, den man die Milchstraße nennt.

Die weiße Zwergsonne, die vorhin  noch am äußeren Rand der Sternen­

kuppel zu sehen gewesen war, verschwand zunächst ganz aus dem Sichtfeld,
tauchte aber bald wieder auf und schob sich langsam zur Mitte. Alle Bild­
schirme, die von den Außenkameras und Teleskopen versorgt wurden, zeig­
ten den „weißen Zwerg“ – wie dieser  Sternentypus  von geringer Größe und
extrem hoher Dichte genannt wurde. Die Entfernung betrug nicht viel mehr
als drei  Lichtstunden.  Als sich die EUKALYPTUS der kleinen Sonne bis auf
eine halbe  Lichtstunde  genähert hatte, begannen Schwatzmauls Analysato­
ren zu rattern.

„Fünf Planeten umkreisen die Sonne“, meldete Karlie, der sich erregt über

den   kleinen   Sichtschirm   eines   Analysators   beugte   und   den   dort   er­
scheinenden Text ablas.

„Und der letzte ist ein  Eisbrocken“, ergänzte Harpo fröstelnd, als er dem

Langen über die Schultern lugte. „Ammoniakatmosphäre, brrrrrr!“

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Lonzo gluckste: „Herrje! Und das einzige Eis, das ich mag, ist Schokoladen­

eis!“

Karlie hatte sich von seinem Sitz erhoben und lief mit großen Schritten in

der Zentrale auf und ab. „Eine Eiskugel, ein Schlackehaufen und zwei Stein­
klötze  ohne   Atmosphäre“,   sagte   er.   „Aber   der   zweite   Planet,   von   dem   im
Funkspruch die Rede war, scheint tatsächlich eine bewohnbare Welt zu sein.“

Bald   sahen   es  alle  auf  dem  Bildschirm.  Er   glänzte   wie   eine  blaue   Glas­

murmel.   Dichte,   weiße   Wolkenbänke   behinderten   den   Blick,   aber   überall
dort, wo man bis auf die Oberfläche schauen konnte, war Wasser zu sehen.
Wasser und nichts als Wasser.

„Was   schätzt   du,   Schwatzmaul?“   fragte   Thunderclap   neugierig.   „Wieviel

Landmasse? Vierzig Prozent? Dreißig? Zwanzig?“

„Elektronengehirne  vermitteln  Fakten  und   keine Schätzungen“, empörte

sich der Bordcomputer. Die Stimme klang beinahe beleidigt – kein Wunder,
wenn man Schwatzmauls Fimmel kannte, alles möglichst bis auf die zehnte
Kommastelle   oder   die   letzte   Mikrosekunde   genau  anzugeben.   „Aber   nach
den bisher eingegangenen Messungen besteht die Oberfläche des Planeten
zu mehr als 99 Prozent aus Wasser.“

„Oje!“ rief Anca und sprang auf. „Dann müssen die Schiffbrüchigen ertrin­

ken, wenn wir sie nicht schnellstens finden!“

Harpo biß sich auf die Unterlippe. Das war ja eine verflixte Situation.
Brim Boriam rieb die vor Aufregung schwitzenden Hände gegeneinander

und fragte: „Habt ihr eine Ahnung, wie lange ein Mensch schwimmen kann?
Ein paar Stunden?“

„Höchstens.   Wenn   er   gut   in   Form   und   das   Wasser   nicht   zu   kalt   ist“,

murmelte   Micel,   der   sich   mit   seinen   verkrüppelten   Ärmchen   selbst   nur
mühsam über Wasser halten konnte.

„Und die Haie?“ rief Ollie. „Mensch, denkt doch mal an die Haie!“
„Pah!“ machte Karlie. „Wer sagt dir denn, daß es hier Haie gibt? Wir sind

doch nicht auf der Erde!“ So überzeugend klang das allerdings nicht, denn
wenn   der   Planet   tierisches   Leben   hervorgebracht   hatte,   dann   mochte   es
schon sein, daß auch Raubfische darunter waren.

Schwatzmaul war so klug, sich aus der Diskussion herauszuhalten, weil er

noch immer zu wenig Daten besaß.

„Jedenfalls müssen wir so schnell sein wie noch nie in unserem Leben“,

sagte Harpo. „Jede Minute, die wir hier vergeuden, kann für das Leben der
Schiffbrüchigen wichtig sein. Wir müssen in die Gleitboote! Wir nehmen alle
einsatzfähigen Boote!“

„Wißt ihr eigentlich, was es bedeutet, vier oder fünf Menschen zu suchen –

mitten im Meer eines erdgroßen Planeten?“ fragte Micel, obwohl er sich mit
den anderen zu den Hangars in Bewegung setzte. „Dagegen ist die berühmte
Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen eine Spielübung für Säuglinge!“

Das wußten sie alle. Aber sie wollten gar nicht darüber nachdenken, wie

aussichtslos ihr Unternehmen war. Und Micel eigentlich auch nicht ...

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Doonas Theorie

Früh am Morgen, nachdem Doona seinen Wachdienst beendet hatte, zog

es ihn nach draußen. Er übergab seiner Ablösung, die aus den Wohnkuppeln
am Meeresgrund heraufkam, alle Registriergeräte in einwandfreiem Zustand
und meldete sich beim Chef vom Dienst ab. Der bärbeißig wirkende, aber
nicht unsympathische Wissenschaftler nahm die vorschriftsmäßige Meldung
müde   brummend  entgegen.   Der  Lift  brachte   ihn   nach  oben,  und   da  sich
Doona an der Peripherie der SHAVACCOR befand, stand er schon wenig spä­
ter inmitten exotischer Bäume und Pflanzen, die einen Großteil der Oberflä­
che   des  Forschungsbootes  bedeckten.   Sie   stammten   von   verschiedenen
Planeten und sollten auf ihre Widerstandsfähigkeit hin in der Atmosphäre
Tonogas  getestet werden.  Eine kühle  Brise kam von der See her  und um­
schmeichelte Doonas schuppige Haut.

Der   Morgen   auf   Tonoga   war   immer   wieder   ein   Erlebnis.   Das   Licht   der

winzigen, aber leuchtstarken Sonne brach sich auf den Wellen. Frische, wür­
zige Luft stieg in Doonas Nase. Die  spitzmäuligen Trioniten flogen ziemlich
tief und ließen ihre silbern glänzenden Leiber von der Sonne kitzeln. In den
Wipfeln der Bäume nisteten seit einigen Wochen mehrere vierflügelige Vögel
mit  prächtigem   bunten  Gefieder.  Sie kreischten  aufgeregt.  Wahrscheinlich
brüteten sie bereits Eier aus und hielten den jungen Wissenschaftler für eine
Gefahr.

Doona lächelte verhalten. Ganz im Gegenteil, dachte er, ganz im Gegenteil.

Er freute sich über jedes Anzeichen von Leben auf Tonoga, ob es nun pflanz­
licher oder tierischer Art war. Sein Volk setzte große Hoffnungen auf diese
Welt. Sie mußte deshalb behütet und bewacht werden wie ein Augapfel. In
einigen   hundert   Jahren   würde   die   Nahrung   knapp   werden   auf   Doonas
Heimatwelt. Deshalb hoffte man so sehr auf Tonoga. Denn der Planet war so
groß und reich an Schätzen jeder Art, daß er die Heimat ersetzen konnte. Bis­
her hatte man kein intelligentes Leben entdeckt. Sollte man eines Tages doch
derartige Lebewesen in den Tiefen des Meeres finden, würde es sicherlich
möglich   sein,   sich   mit   ihnen   zu   einigen   und   friedlich   nebeneinander   zu
leben.

Als   Doona   zum   künstlich   angelegten   Strand   hinabging,   traf   er   einen

anderen Mann. Es war Saryl, ein B­Wissenschaftler wie Doona selbst. Auch er
hatte Nachtdienst gehabt, allerdings in einem anderen Bereich der SHAVAC­
COR: Saryl war verantwortlich für die Kontrolle der Relaisstationen und über­
wachte den Eingang der Forschungsergebnisse mehrerer Robotstationen.

Saryl   machte   einen   nachdenklichen,   beinahe   niedergeschlagenen   Ein­

druck.

Doona begrüßte den anderen. Da er ein guter Beobachter war, fragte er:

„Kummer am frühen Morgen, Bruder?“

„So könnte man es nennen, Bruder“, antwortete Saryl und setzte sich in

den Sand.

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„Vielleicht   kann   ich   dir   helfen?“   ermunterte   ihn   Doona   dazu,   sich   ihm

anzuvertrauen.

Saryl lächelte müde. Wie bei allen Angehörigen seines Volkes hatten die

rubinroten Facettenaugen nach einer langen Wachperiode jeden Glanz verlo­
ren und ließen nur noch ein stumpfes Violett erkennen. „Ich bin mir meiner
Sache nicht sicher“, begann er zögernd. „Im Grunde habe ich nicht genügend
Informationen. Ich weiß nur, daß etwas geschehen ist, kann aber nicht sagen,
warum es passiert ist.“

Doona sagte eine Weile gar nichts. So selbstverständlich es auch war, daß

man einander half, so verpönt war es, den anderen zu bedrängen oder ihn zu
nötigen, Dinge zu sagen, die er nicht sagen wollte. Und Saryl war bekannt da­
für,   besonders   zögernd   und   zurückhaltend   zu   sein.   Man   mußte   warten
können.

Nach   einigen   Minuten   sagte   Saryl   plötzlich:   „Eine   der   Robotstationen

sendet nicht mehr.“

„Ach“, erwiderte Doona. „Und warum nicht?“
Saryl sah ihn erstaunt an, und Doona preßte die Lippen zusammen. Wie

dumm von ihm, seine Neugier offen zu zeigen. Aber immerhin konnte man
ihm seine Jugend und Unerfahrenheit zugute halten. Schließlich war er noch
weit   von   dem   Status   eines   A­Wissenschaftlers   entfernt.   Von   dem   wurde
erwartet, daß er intuitiv die Gefühle anderer Wesen erfaßte und Fehler dieser
Art vermied.

„Wie ich schon sagte“, antwortete Saryl mit einem leicht ungehaltenen Un­

terton,  „fehlen   die  notwendigen   Informationen.   Etwas  muß   in  die  Station
eingedrungen sein und dabei ein für die  Weitermeldung  wichtiges Element
beschädigt haben. Die Station befindet sich im Moment im Zylan­Gebiet. Es
wird lange dauern, bis wir einen Reparaturtrupp am Ort haben.“

„Sagtest du, daß etwas eingedrungen ist, Bruder?“ rief Doona und sprang

erregt auf. Sand spritzte unter seinen Füßen auf. „Warum nicht jemand?“

Gleich darauf bereute er abermals seinen unbeherrschten Ausbruch. Saryl

sah so fragend auf, daß Doona am liebsten im Boden versunken wäre. Es war
zwar richtig, daß Meteoreinschläge auf Tonoga nicht in Frage kamen und ein
technisches Versagen der mehrfach abgesicherten Funktionselemente so gut
wie   ausgeschlossen   erschien.   Trotzdem   war   es   voreilig   gewesen,   seine
Lieblingstheorie ins Spiel zu bringen. Schließlich wußte er, daß er bei seinen
Brüdern damit nicht gerade auf Gegenliebe stieß.

Saryl hatte sich entschlossen, den Vorfall mit Ironie zu überspielen. „Wie

ich merke“, sagte er lächelnd, „hast du die Idee von anderen intelligenten
Rassen im All noch immer nicht aufgegeben.“

Doona starrte verlegen auf seine Fußspitzen. Saryl hatte recht. Alle Hoff­

nungen   auf   anderes   intelligentes   Leben   im   All   hatten   sich   bislang   nicht
erfüllt. Und das Dogma von der Lichtgeschwindigkeit als der höchstmögli­
chen Geschwindigkeit im Universum ließ keinen Raum für Träume. Zu lange
würde   eine  Reise  zwischen   Sternen   dauern,  die  irgendwo   am  Himmel  als
Lichtpünktchen zu erkennen waren. Dennoch hatte sich bei Doona der Ge­

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danke  festgesetzt,   daß   eine   hochentwickelte   Technik   Methoden   finden
würde, die Raum­Zeit­Barriere zu überwinden.

„Ich bin müde“, sagte Saryl und erhob sich. „Verzeih mir, aber ich möchte

gehen.“

Doona starrte  dem kleinen Wesen mit  der schuppigen Haut, dem eiför­

migen Kopf und den großen Facettenaugen nach. Wieder einmal fragte er
sich, ob jene Fremden im All, wenn es sie gab, wie Tanitaner ausschauten.
Vielleicht trugen sie ein dichtes Fell und bewegten sich wie Schlangen vor­
wärts. Sie mochten ein Raubtiermaul  besitzen und womöglich nicht einmal
eine Nase mit drei Löchern im Gesicht haben ... Ach, es war müßig, darüber
nachzudenken.

Doona kratzte  sein  rechtes Ohr  und nahm  seine Wanderung  durch  den

Sand wieder auf. Aber seine Gedanken konnte er nicht so wie seinen Körper
in eine bestimmte Richtung lenken. Sie kehrten zu dem Gespräch mit Saryl
zurück. Eine Station war beschädigt worden. Sie sendete nicht mehr. Wenn
wirklich Fremde aus dem All auf Tonoga gelandet waren – warum hatten sie
die Station beschädigt? Um ihre Landung geheimzuhalten? Dann hatten sie
jetzt das Gegenteil erreicht. Aus Unkenntnis oder als unbeabsichtigte Neben­
wirkung einer Inspektion? Schon wahrscheinlicher. Am Ende wollten sie so­
gar auf sich aufmerksam machen und warteten darauf, daß die Besitzer der
Robotstation Kontakt mit ihnen aufnahmen? Auch das schien nicht undenk­
bar. Dieser letzte Gedanke begeisterte Doona immer mehr, je länger er ihn
hin­ und  herwälzte.  Er verfiel in eine schnellere Gangart. Er mußte zurück
zum Chef vom Dienst – nein, besser zum Chef von SHAVACCOR­Zentral –
und darauf dringen, daß sofort jemand zur Station geschickt wurde. Gegen
alle Bedenken würde er seine Theorie über Besucher aus dem Kosmos vor­
tragen. Gut, man würde über ihn lächeln. Aber er konnte verlangen, daß man
ihm dann eine vernünftigere Erklärung für den Ausfall der Forschungsstation
gab!

Allerdings war es gar nicht so einfach, zum Leiter von SHAVACCOR­Zentral

vorgelassen zu werden. Der C­Wissenschaftler – ein Student der untersten
Semester –‚ der die Funktion eines  Leitersekretärsanwärters  ausübte, wollte
nicht   nur   seinen   Namen,   Rang,   Klassifikation,   Spezial­   und  Hauptfor­
schungsgebiete, sondern auch den konkreten  Anlaß  des Besuches erfahren.
Mit   einem   Blick   auf   den   Terminkalender   meinte   er:   „Es   muß   tatsächlich
Schwerwiegendes sein, wenn ich kurzfristig etwas einschiebe, Bruder. Gerade
heute finden mehrere Konferenzen der Abteilungsleiter statt, und der Chef
bereitet sich darauf vor.“

„Ich habe eine Erklärung für den Ausfall einer Robotstation in der letzten

Nacht   anzubieten“,   begann   Doona   vorsichtig.   „Mir   scheint   nämlich,   daß
allein die Theorie ...“

„Halt!“ rief der Sekretärsanwärter. „Bruder Doona! Du willst dem Chef eine

Theorie anbieten? Ja weißt du denn nicht, daß das unmöglich ist? Der Chef
müßte  sich   tagtäglich   mindestens  fünf  Theorien   über  die  unglaublichsten
Dinge anhören, wenn er sich dafür die Zeit nehmen würde. Zum Arbeiten

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würde er dann nicht mehr kommen. Unmöglich, Bruder Doona, unmöglich!
Hier   gibt   es   nur   wesentliche   Fakten   zu   berichten   –   und   auch   die   nur   in
wenigen Ausnahmefällen außerhalb des vorgeschriebenen Formularweges!“

„Aber   die   Angelegenheit   ist   wichtig   ...“   stammelte   Doona   verwirrt.   „Ich

meine ...“

„daß   der   Chef   von   SHAVACCOR­Zentral   jede   freie   Minute   opfern   und

Wissenschaftlern   zuhören   muß,   die   eine   Theorie   über   den  Urschrei,   den
Urschlamm oder das Urei anzubieten haben? War es das, was du meintest?“
fuhr der C­Wissenschaftler ihm ungerührt in die Parade. Er deutete auf einen
meterhohen Aktenstapel neben seinem hufeisenförmigen Schreibtisch. „Dies
sind die Theorien des letzten Monats, Bruder Doona. Diejenigen, die korrekt,
dem   Dienstweg  folgend,   vorgelegt   wurden.   Lieber  Bruder   und  Kollege!  Es
wird Zeit, daß wir wieder ein Gefühl für die Realität entwickeln!“

Doona mochte diese herablassende Art nicht, aber er trat ernüchtert einen

Schritt zurück. Am liebsten hätte er den C­Wissenschaftler gepackt und mit­
ten hinein in seine Aktenstapel gesetzt. Aber damit hätte er seinem Anliegen
gewiß keinen guten Dienst erwiesen. Daß sich seine Kollegen und Brüder da­
mit abfanden, ihre Forschungsergebnisse und Thesen in Ablagen und Akten
verschimmeln   zu   lassen,   wollte   er   keinesfalls   hinnehmen.   Wenn   das   die
Realität war, dann wurde es wirklich allerhöchste Zeit, sie zu ändern!

„Du kannst deine Theorie schriftlich niederlegen und einreichen, Bruder

Doona“, lenkte der Sekretärsanwärter ein. „Aber bitte in fünffacher Ausferti­
gung mit Formblatt LL­CT 2345.“

„Wo erhalte ich dieses Formblatt?“ fragte Doona matt.
„Bei Untersekretär  Alfann, Zimmer 234. Allerdings ist es Vorschrift, einen

schriftlichen Antrag auf Aushändigung der Formblätter zu stellen. Diesen An­
trag BGF 8679 MK erhältst du bei  Unteraushilfssekretär  Gomar  in Zimmer
675. Wie du siehst, ist alles ganz einfach und problemlos. Man muß sich nur
an den Dienstweg halten.“

Doona verließ den Raum grußlos. Offensichtlich war es sinnlos, diesen Weg

zu   gehen.   Aber   auf   die   kleine   Chance   hin,   daß   seine   Formulare   wider
Erwarten alle  Unteraushilfssekretäre,  Untersekretärsanwärter  und Unterse­
kretäre passierten und irgendwann beim Chef landeten, tat er dann doch,
was man ihm vorgeschlagen hatte. Und wartete ...

Eine unliebsame Überraschung

Die grellweißen Strahlen der kleinen Sonne, der sie auf Vorschlag von Micel

den Namen Ararat gegeben hatten, zwangen die von der EUKALYPTUS ge­
startete   Rettungsmannschaft   bereits   beim   Eintauchen   in   die   Atmosphäre
zum Aufsetzen der Sonnenbrillen. Für Harpo, der das Gleitboot A­7 steuerte,
verwandelte sich die gleißende See daraufhin in einen blaß­blauen Schemen,

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der nur gelegentlich von einem irritierenden Glitzern durchbrochen wurde.
Ollie saß neben Harpo. Er entdeckte als erster Leben auf dem Planeten: einen
Schwarm  fliegender  Fische,  der  in riesigen  Bögen  mehrere  hundert  Meter
lang über dem Wasser dahinsegelte, bevor er wieder ins Wasser tauchte.

Das Meer war so flach wie ein Brett. Selten kräuselte der schwache Wind

die Oberfläche. Hin und wieder ragten  nadelspitze  Felsen aus dem Wasser.
Messungen hatten ergeben, daß sie manchmal eine Höhe von mehr als sieb­
zig  Metern   erreichten.  Aber  sie waren  nichts   anderes  als  spitz  zulaufende
Berge,   auf   denen   man   unmöglich   Fuß   fassen   konnte.   Nur   gelegentlich
schimmerten darauf ein paar Pflanzen in roten und grünen Farben. Leblos
wirkten sie trotzdem nicht: Seevögel saßen hier und dort so dichtgedrängt
darauf, daß man den Fels darunter kaum noch erkennen konnte.

Karlie, der die A­1 flog, schlug vor, die Felsen besonders sorgfältig zu beob­

achten. Vielleicht war es den Schiffbrüchigen gelungen, einen der weniger
steilen Hänge zu erklimmen.

Ansonsten bot die Oberfläche des Planeten dem Auge wenig Abwechslung.

„Glücklicherweise“, sagte  Alexander aus  dem Hintergrund,  „sind wir nicht
allein auf unsere Augen angewiesen. Also wirklich – wenn Schwatzmaul nicht
wäre, dann könnten wir einpacken!“

Dem   Rotpelz   war   es  inzwischen   gelungen,  selbst   in   die   Feinheiten   und

Besonderheiten   der   menschlichen   Redensarten   einzudringen.   Lange   Zeit
hatte er die frisch erlernte Sprache seiner Freunde mit ulkigem Akzent und
lustigem   Satzbau   zum   besten   gegeben,   aber   der   lerneifrige   Nordpol­Be­
wohner sprach inzwischen gewandter als die meisten anderen an Bord. In­
zwischen   brachte er   mehreren  Besatzungsmitgliedern   bereits  seine   eigene
Sprache bei.

Thunderclap, der zusammen mit Trompo und Bharos an Bord der EUKA­

LYPTUS geblieben war, dirigierte aus der Zentrale des großen Schiffes ein
ganzes Bündel  von  Tast­Ortungsstrahlen  und suchte  damit die Oberfläche
des Planeten ab. Währenddessen kreuzte die EUKALYPTUS in großer Höhe
so, daß immer wieder andere Bereiche der Oberfläche in den Suchbereich der
Strahlen wanderten.

Die Funksprüche zwischen den drei Gleitbooten und dem Mutterschiff er­

schöpften sich in lakonischen Bemerkungen: „Nichts gesehen“ und „Wasser,
Wasser,  Wasser“  oder „feuchte Gegend“.  Dies ging   über  mehrere  Stunden
hinweg   so.  Niemand  mehr   hatte  Lust   zu  einem  Scherz.   Alle  gähnten   und
waren todmüde.

Karlie seufzte schließlich durch Mikrofon und Lautsprecher und meinte:

„Leute, ich glaube, wir geben’s besser auf.“

Harpo dachte ähnlich und wollte gerade müde: „Na, fünf Minuten noch,

dann brechen wir die Suche ab!“ durchgeben, als sich Schwatzmaul in allen
drei Gleitbooten gleichzeitig meldete. „Ich habe sie!“ verkündete es.

Und während die müden Krieger unversehens in einen Begeisterungstau­

mel fielen, ratterte es  Positionsdaten  herunter, die in den Kleincomputern
der Boote gespeichert wurden. Nach den Rückmeldungen der Bootscompu­

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ter stellte sich heraus, daß das Boot mit Harpo, Alexander und Ollie der Fund­
stelle am nächsten lag.

„Herzlichen Glückwunsch!“ schrien die anderen, als die A­7 eine scharfe

Rechtskurve   flog   und   dicht   über   dem   Meer   in   nördlicher   Richtung  da­
vonzischte. „Wir drücken euch die Daumen!“

Gebannt   starrten   Alexander,   Ollie   und   Harpo   durch   die   Rundum­

Sichtscheibe, obwohl es im Moment wirklich nicht mehr als vorher zu sehen
gab: Wasser. Aber jeden Moment erwarteten sie, die Schiffbrüchigen im Meer
treibend zu entdecken. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn
es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe am Horizont ein  silbrigleuchtender,
walähnlicher Metallkörper im Meer auftauchte, auf dessen Oberfläche beim
Näherkommen mehrere winkende Gestalten sichtbar wurden.

Aus den  ameisengroßen  Pünktchen wurden im Nu höchst lebendig wir­

kende Menschen. Ollie schrie mit  überkickender  Stimme: „Es sind vier! Ich
sehe es genau! Drei Männer und eine Frau! Sie haben uns bemerkt!“

„Das ist ja wohl klar, daß die uns bemerkt haben“, brummte Alexander.
Und Harpo fügte hinzu: „Mensch, Ollie, deine scharfen Augen möchte ich

haben: drei Männer und eine Frau!“

Aber Ollie hatte wohl recht, das mußten die beiden Freunde zugeben, als

die A­7 mit summenden Generatoren über den Schiffbrüchigen hing. Eine of­
fene Luke in dem Metallrumpf des havarierten Schiffes zeigte, wie sich die
Schiffbrüchigen  an die Oberfläche des treibenden Körpers gerettet  hatten.
Weder Harpo noch Ollie – und auch Alexander nicht, der sich in den Archiven
viele Filme von der Erde angesehen hatte – wußten viel mit der Form des
Raumschiffs anzufangen. Das meiste lag ohnehin im Wasser verborgen, aber
der sichtbare Rest hatte Ähnlichkeit mit den schlanken Rümpfen von kleinen,
aber schnellen  Weltraumjachten, wie sie im solaren System verkehrten: zy­
linderförmig, spitze Schnauze,  Hecktriebwerk, drei  Schubdüsen  am Rumpf,
vielleicht   sechzig   oder   siebzig   Meter   lang.   Wie   man   mit   diesem   Gefährt
Tausende von Lichtjahren überbrücken konnte, blieb den Beobachtern im
Gleitboot ein Rätsel.

Alle konnten von Glück reden, daß es so ruhig auf dem Meer war. Die not­

gelandete Jacht dümpelte ganz sanft auf den Wellen. Ein etwas stärkerer See­
gang hätte sie wahrscheinlich schon längst in die Tiefe gezogen.

Kupferrotes Haar leuchtete zu den Rettern hinauf. Das war die Frau, die

Ollies scharfe Augen sofort erspäht hatten. Sie stützte mit einem Arm den
Körper eines Mannes, der einen Verband um die Stirn trug und sich sichtlich
nur   mühsam  auf   den   Beinen   halten   konnte.   Die   beiden   anderen   Männer
schienen   wohlauf   zu   sein.   Sie   sprangen   und   tanzten   auf   dem   lädierten
Schiffsrücken  herum und klopften sich gegenseitig mit den Fäusten in die
Rippen.

„Bordklinik fertigmachen“, meldete Harpo kurz und sehr fachmännisch zur

EUKALYPTUS hinauf. „Wir werden einen Verletzten mitbringen.“

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Über die voll aufgedrehten Außenlautsprecher der A­7 rief er zu den Schiff­

brüchigen hinunter: „Sind Sie allein, oder halten sich noch weitere Personen
im Innern des Schiffes auf? Brauchen wir Verstärkung?“

An den ratlosen Gesten der Gestrandeten merkte man, daß die Fragen in

dieser Form durch Mimik nicht zu beantworten waren. Deshalb fügte Harpo
hinzu: „Wenn niemand mehr im Schiffsinnern ist, dann winken Sie mit den
Armen. Verstanden?“

Die  beiden  Männer   ruderten  wild mit  den  Armen.   Die drei   Freunde   an

Bord des Gleitbootes atmeten auf. Insgeheim hatten sie befürchtet, daß sich
in der Raumjacht noch Schwerverletzte befanden. So aus dem Stegreif wäre
ihnen nicht eingefallen, wie sie die hätten bergen sollen.

„Verstanden“, gab Harpo zurück. „Wir lassen den Gleiter jetzt langsam ab­

sinken   und   werfen   eine   Strickleiter   aus.   Kann   der   Verletzte   allein   hoch­
klettern?“

Das heftige Nicken der Mannschaft der AESCLIPUS ließ ihn den Plan sofort

in die Tat umsetzen. Die A­7 schwebte fauchend Zentimeter um Zentimeter
hinunter. Sechs Meter über dem Wrack verharrte das Gleitboot. Ein weiteres
Absenken erschien zu riskant, weil das Boot für diesen Einsatz, der eher einen
Hubschrauber   erfordert   hätte,   nicht   konstruiert   war.   Es   ließ   sich   nur   mit
Mühe ruhig halten.

Alexander   öffnete  die   Luke,   und   Ollie   warf   die   Leiter  hinab.   Abwartend

blieben die beiden an der Öffnung stehen. Viel mehr konnten sie im Moment
nicht tun. Langsam trudelte das Ende der Leiter aus Kunstfasern und Plastik­
elementen über den Rumpf des Wracks. Dann hatte einer der Männer zuge­
packt. Er zog sie stramm und ließ seinen Kameraden nach oben steigen.

Die   A­7   schwankte   leicht,   als   sich   das   Gewicht   des   Mannes   bemerkbar

machte, aber Harpo gelang es, die Lage des Bootes zu stabilisieren.

Der Kletterer war ein breitschultriger Mann mit einem schwarzen Bart und

einem völlig kahlen Schädel. Er schien seine Muskeln gut unter Kontrolle zu
haben. Ohne Hektik zog er sich Sprosse um Sprosse hoch. Einmal verhielt er
kurz, um Kraft zu sammeln oder das Pendeln auszugleichen, dann erreichte
er die Luke und warf sich der Länge nach in das Boot.

Der elfjährige Ollie freute sich über den gelungenen Auftakt der Aktion wie

ein   Schneekönig.   Er  reckte   die   Hühnerbrust,   salutierte   wie  ein   erfahrener
Weltraumschiffer  und   krähte   fröhlich   los:   „Willkommen   an   Bord,   mein
Freund. Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen – nach allem, was Sie
mitgemacht haben. Mein Name ist Ollie. Ich bin der zweite oder dritte Offi­
zier auf diesem Kahn. So genau weiß ich es nicht.“

Anschließend streckte er dem  Schwarzbart  eine Hand entgegen, um ihm

aufzuhelfen. Der wich zunächst verdutzt zurück, nahm dann aber die Hand
des Kleinen. Kaum stand er jedoch auf den Beinen, als er mit einem flinken
Blick die Lage klärte und etwas völlig Unerwartetes tat.

Er gab dem hilfreichen Ollie einen Schubs, so daß dieser heftig gegen Har­

po am Kontrollpult prallte. Der rief entsetzt: „He, was soll denn das?“, verlor
den Halt und schlitterte mit den Beinen gegen Alexander. Die drei Freunde

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von  der   EUKALYPTUS   bildeten   ein  ineinander   verschlungenes   Knäuel  am
Boden des Gleitbootes.

Die A­7 begann zu taumeln. Kein Wunder, Harpo hatte ja die Automatik

ausgeschaltet und auf Handsteuerung umgestellt. Harpo wollte sich auf den
Steuerknüppel stürzen, aber der Schwarzbart griff in die Innentasche seiner
abgewetzten Pilotenjacke und zog einen kleinen Handlaser hervor.

„Du bleibst, wo du bist“, knurrte er. „Ich übernehme jetzt das Kommando.“
Trotz der  Verwirrung  über diese unerwartete Wendung  bemerkte Harpo

mit  Erleichterung,  daß   sich  die  Lage des  Gleiters   wieder  stabilisiert  hatte.
Eine  Notschaltung  mußte in Funktion getreten sein und auf Automatikbe­
trieb zurückgestellt haben.

Alexander   war   außer   sich   vor   Wut   über   das   Verhalten   des   geretteten

Mannes und trat knurrend nach vorn. Der Mann mit dem Laser sah ihn jetzt
zum ersten Mal richtig, weil die Wand des Kleincomputers bisher den Körper
des Rotpelzes verdeckt hatte.

„Ein Bär!“  schrie der Schwarzbart erschreckt.  Er legte mit der Waffe auf

Alexander an. In diesem Moment schwankte  die A­7 erneut, weil sich der
zweite Schiffbrüchige in das Innere zog. Der Energiestrahl, der aus dem Lauf
der Waffe zischte, ging haarscharf am Kopf von Alexander vorbei und traf die
Armaturen  des   Kleincomputers.  Im Nu  roch  es nach  verbrannten   Kabeln,
und eine Stichflamme fuhr knatternd aus dem Computer. Die A­7 begann
wild zu wanken.

„Dieser Halunke wollte unserem Alexander etwas tun“, schrie Ollie außer

sich vor Wut und stürzte sich auf den Mann mit der Waffe. Bevor der sich
versehen hatte, trommelten Ollies Fäuste in seinem Gesicht herum, öffneten
sich und ließen die Fingernägel eine Kratzspur über die Wangen ziehen.

„Verdammtes   Biest“,   rief   der   Mann   und   stieß   Ollie   heftig   zur   Seite.   Im

nächsten Moment fing er jedoch eine mächtige Ohrfeige von Alexanders Bä­
renpranke ein. Harpo stürzte auf den zweiten Eindringling, als er bemerkte,
daß der dem Schwarzbart zu Hilfe kommen wollte. Alle wälzten sich auf dem
Boden und prügelten aufeinander ein.

Vielleicht   wäre   es   den   drei   Freunden   gelungen,   bei   der   Keilerei   die

Oberhand zu gewinnen, zumal der Laser bei Ollies Attacke in eine Ecke des
Gleitbootes   geflogen   war.   Aber   der   ausgebrannte   Kleincomputer   konnte
nicht länger die Steuerung kontrollieren. Das Boot sackte im steilen Winkel
ab und klatschte aus sechs Meter Höhe in das aufspritzende Wasser.

Der  Schwarzbart  schrie  auf. Sein Partner  befreite sich  aus  Harpos  Griff,

rollte zur Seite und hatte plötzlich eine eigene Waffe in der Hand.

„Keine Bewegung“, drohte er und erhob sich. „Steh auf, Flint. Schätze, wir

haben Mist gemacht.“

Flint sprang auf, hob die verlorene Waffe auf und starrte auf das durch die

Luke eindringende Wasser. Für den Moment lag das Boot ganz ruhig. Aber es
war klar, daß sich daran bald etwas ändern würde.

„Wir saufen ab“, sagte Harpo, der ganz blaß geworden war.

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Ollie, der sich die Kehrseite rieb, stieß hervor: „Wir haben ein Rettungsboot

an Bord, Harpo! Schnell ... bevor ...“

Diese Mitteilung schien die beiden seltsamen Schiffbrüchigen genauso zu

erfreuen wie die Freunde von der EUKALYPTUS. Auf einen Knopfdruck von
Ollie   öffnete   sich   außenbords   eine   Klappe   und   spuckte   ein   hellgelbes
Schlauchboot aus, das sich in Sekundenschnelle selbst aufblies. Eine  Preß­
luftflasche sorgte für die nötige Puste und ließ das  Kunststoffboot krachend
auseinanderschnellen. Es bot Platz für etwa zwölf Personen.

„Rein in das Boot“, rief Flint und hechtete sich als erster durch die Luke

nach draußen. Er klatschte ins Wasser, schwamm auf das Boot zu und zog
sich über  den  Bordwulst  hinein. Harpo  und seinen Freunden blieb nichts
anderes übrig, als Flint zu folgen. Bislang schwappte das Wasser nur schub­
weise ins Innere des Gleitbootes, aber bald würde der Punkt erreicht sein, wo
die A­7 unter die Wasseroberfläche gezogen wurde. Als letzter folgte der zwei­
te Eindringling.

Flint  hatte  sich  bereits  wieder  von  seinem   Schock  erholt   und komman­

dierte   herum.   „He,   ihr   da!“   schrie   er   zu   den   Zurückgebliebenen   auf   dem
Rumpf der Weltraumjacht hinüber. „Entweder setzt ihr eure lahmen Paddel­
füße in Bewegung, oder wir fahren ohne euch ab!“

Immerhin bequemte er sich, das Boot mit einem Paddel so nahe an den

Rumpf  heranzumanövrieren,   daß   auch   der   Verletzte   übersteigen   konnte.
Harpo, Ollie, Alexander und der zweite Fremde waren inzwischen an Bord
geklettert, und Alexander schüttelte den Pelz, daß die Tropfen nur so spritz­
ten. Sie konnten von Glück sagen, daß sie schwimmen gelernt hatten. Es sah
nicht so aus, als hätten Flint und sein Kumpan auf einen Nichtschwimmer
Rücksicht genommen. Die einzige Art von Beachtung, die ihnen zuteil wurde,
war,   daß   ihnen   Flint   weitere  Plastikpaddel  in   die   Hand   drückte   und   den
Befehl zum Ablegen gab.

Harpo  rücke seine  Sonnenbrille  zurecht  und legte   sich  wie  die  anderen

stumm ins Zeug. Er konnte noch immer nicht recht begreifen, wie sie in diese
verfahrene Situation geraten waren. Er hatte schon jetzt so ziemlich die Lust
an   diesem   Planeten   verloren.   Nicht   einmal   mehr   die   Schwärme   der
fliegenden Fische übten einen Zauber auf ihn aus. Für Flint und seinen Be­
gleiter waren sie ohnehin nur Anlaß zu groben Flüchen. Der Verletzte und die
Frau mit dem Kupferhaar sagten kein Wort.

Als sie etwa hundert Meter zwischen sich und den beiden Wracks zurück­

gelegt hatten, richtete Flints Gefährte seinen Blick auf Harpo, Ollie und Alex­
ander. „Jetzt wird es wohl allmählich Zeit, daß ihr ein bißchen erzählt“, sagte
er. „Findet ihr nicht auch?“

„Meinen   Sie?“   knurrte   Ollie   patzig.   „Sie   dürften   uns   mehr   zu   erzählen

haben.“

Harpo warf dem Kleinen einen beschwörenden Blick zu. In ihrer Lage war

es unklug, die Männer zu provozieren. Aber Ollie war aufgebracht wie selten
zuvor.   Er   wollte   jetzt   nicht   diplomatisch   sein,   sondern   seinen   Ärger   los­
werden.

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Flint   lachte   tief   aus   der   Kehle,   als   er   das   wütende   Gesicht   des   Jungen

erblickte. Er zeigte zwei Reihen weißer Zähne, die zu ebenmäßig waren, als
daß sie von Mutter Natur stammen konnten.

Sein Partner  grinste schief, warf dann aber einen scheelen Blick auf die

Frau und den Verletzten. „Na gut, Kleiner“, sagte er schließlich. „Na gut.“

Hinter ihnen ertönte ein lautes Gurgeln. Fast zur gleichen Zeit entwich aus

beiden Wracks die letzte Luft. Die Metallkörper verschwanden im Meer. Nur
ein paar Luftbläschen erinnerten Sekunden danach daran, daß zwei Produkte
einer Tausende von Lichtjahren entfernten Zivilisation auf dem Meeresboden
des Wasserplaneten lagen.

Sie ruderten, bis es dunkel wurde. Dann gestattete Flint, daß die Paddel an

Bord gezogen wurden. Das Boot trieb auf den sanften Wellen. Den Ruderern
fielen die Augen zu.

Expedition!

Nach   seinen  Erlebnissen  mit   der   Bürokratie   war   Doona   mehr   als   nur

gelinde überrascht, als ihm ein Bote des Chefs von SHAVACCOR­Zentral eine
Nachricht  überbrachte. Er  hielt  sich zu  diesem Zeitpunkt nicht länger auf
dem  Forschungsboot  auf, sondern arbeitete am Meeresboden in der Nähe
der Station im Tarssat­Becken. Er ritt einen der pfeilschnellen Bogeys zu, der
störrisch   mit   den   messerscharfen,   kantigen   Flossen   wedelte   und   Bock­
sprünge machte, als sei er ein Landtier und kein Fisch.

Eine Tauchmaske umschloß den Großteil des Kopfes von Doona. Er war gar

nicht so ohne weiteres zu erkennen. Aber Caral, der Leiter der Zuchtstation,
hatte dem Boten den Weg gewiesen.

„Bruder  Doona?“   fragte  der  Bote. Er  ritt  ebenfalls   einen  zahmen  Bogey,

hielt sich mit einer Hand an der harten Nackenflosse fest und winkte mit der
anderen. Ein winziges Funkgerät in der Maske ermöglichte den  Sprechkon­
takt. Trotzdem war von der Stimme des Boten nicht viel mehr als ein leises
Quaken zu hören.

„Ich bin es“, erwiderte Doona. „Was gibt es?
„Ich  komme  im  Auftrag  der   Leitung  von  SHAVACCOR­Zentral.  Die  Bot­

schaft lautet: ‚Ich habe deine Theorie mit Interesse gelesen und möchte mit
dir   reden,   Bruder   Doona.   Gezeichnet:  Korshak,   A­Chef,   SHAVACCOR­
Zentral‘.“

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Ein paar Sekunden lang war Doona zu keiner Antwort fähig. Also doch: Sei­

ne   Theorie   war   wider   Erwarten   nicht   im   Gestrüpp   der   Vorschriften
hängengeblieben. Und doch wußte er nicht zu sagen, ob die Gesprächsbe­
reitschaft   des   Chefs   auf   echtes   Interesse   zurückzuführen   war   oder   dazu
dienen sollte, ihm eine eklatante Pflichtverletzung  deutlich  zu machen. Er
murmelte schließlich: „Ich danke dir, Bruder. Erwartet der Chef eine sofortige
Antwort?“

Der Bote nickte. Sauerstoffbläschen quetschten sich dabei aus einem Spalt

seiner Atemmaske und erschreckten für einen Moment die beiden sich  an­
einanderreibenden Bogeys. Doona und der Bote mußten ihre ganze Aufmerk­
samkeit darauf konzentrieren, nicht abgeworfen zu werden. Dann hatten sich
die Tiere wieder beruhigt. Aus der Ferne winkte der alte Caral herüber. Er ritt
gerade einen besonders wilden Bogey zu.

„Ich   werde   sofort   zum   Chef   gehen“,   sagte   Doona.   Der   Bote   nickte

abermals, dieses Mal vorsichtiger. Dann gab er seinem Reittier  mit  einem
Schenkeldruck zu verstehen, daß es sich in Bewegung setzen sollte. Der hai­
ähnliche Fisch reagierte prompt. Er durchpflügte das Wasser mit mächtigen
Schlägen   der   Schwanzflosse   und   war   bald   mitsamt   seinem   Reiter
verschwunden.

„Probleme?“ fragte Caral und verhielt seinen nervösen Bogey vor Doona.

Der schüttelte den Kopf. Caral war der beste Freund seines Vaters gewesen,
und er hatte seine Gefühle auf den Sohn übertragen. Caral und Doonas Vater
hatten vor Jahren gemeinsam gegen einen Schwarm räuberischer  Grünro­
chen  gekämpft, als die Station erst seit wenigen Wochen auf Tonoga exis­
tierte. Doonas Vater war bei dem Angriff der gefährlichen Räuber ums Leben
gekommen. Damals hatte man erkannt, wie wichtig es war, Verbündete in
der   Tiefsee   zu   haben.   Heute   wäre   ein   derartiger   Angriff   undenkbar.   Kein
Grünrochen wagte sich auf weniger als einen Kilometer Abstand an einen Bo­
gey heran.

Zuerst zögerte Doona, weil er fürchtete, auch Caral würde ihn auslachen.

Aber dann erzählte er ihm alles, was ihn bewegte. Der alte Bogey­Züchter
hörte interessiert zu und meinte schließlich nur, weil die Bewegungslosigkeit
im Wasser ihn zum Frösteln brachte: „Laß uns eine Runde drehen, Junge.“

Nebeneinander schossen sie mit ihren Bogeys dahin und stießen bis dicht

unter die glitzernde Wasseroberfläche vor.

Auch Caral glaubte nicht an die Existenz von Besuchern aus dem Kosmos,

aber er hielt seine eigene Meinung nicht für das Gesetz des Universums. In
beinahe  väterlichem  Ton sagte  er: „Wenn Korshak dich  fertigmachen  will,
dann   komm  zu  mir.   Du   bist   ein   guter  Zureiter   und   mußt   dich  nicht   mit
denen dort oben herumschlagen, wenn du nicht willst. Ich bin hier unten
mein eigener Herr – du weißt das. Du würdest keinen Ärger bekommen.“

Er winkte und schoß davon. Doona gab seinem  Reitfisch  ein Signal und

durchbrach   die   Wasseroberfläche.   Dann   riß   er   sich   die   Atemmaske   vom
Gesicht und ließ sich unter den warmen Sonnenstrahlen zum Forschungs­
boot tragen.

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Er wurde bereits erwartet. Zu seiner Überraschung empfing ihn nicht der

C­Sekretärsanwärter,   sondern   der   Chef   von   SHAVACCOR­Zentral   höchst­
persönlich.   Das  machte  Doona  unsicher.   In  Korshaks  Privatbüro  warteten
außerdem zwei weitere Männer, deren  Schulterinsignien  sie als A­Wissen­
schaftler auswiesen. Doona kannte sie. Das waren Gandrill und Pertoff, zwei
Spitzenleute.  Und er wußte noch etwas von ihnen: Sie waren phantasielos
und glaubten nur das, was sie anfassen konnten.

„Ich ... ich fühle mich geehrt“, sagte Doona und trippelte nervös hin und

her.

Gandrill   krächzte:   „Geehrt?   Bevor   du   weißt,   was   wir   von   dir   wollen,

Bruder?“

Doona wurde dunkelgrün. War der alte Mann nur gekommen, um ihn zu

beleidigen?

Pertoff   versuchte   zu   vermitteln:   „Du   bist   ungerecht,   Gandrill.   Vielleicht

fühlt sich Bruder Doona allein dadurch geehrt, daß er mit einem Mann wie
dir reden darf.“

Gandrill  schwieg. Aber sein Blick wirkte eiskalt. Von diesem Mann hatte

Doona   nichts   Gutes   zu   erwarten.   Das   war   bedauerlich,   denn   als   Wissen­
schaftler verdiente Gandrill ohne Zweifel Bewunderung. Seine schnellen Er­
folge hatten ihn arrogant werden lassen. Vergessen war die Brüderlichkeit der
unteren Ränge, die er selbst einmal durchlaufen hatte. Es war zum Schütteln.

Pertoff kam zum Kern der Sache. Korshaks gelegentliche Einwürfe zeigten

nicht  nur, daß er Doonas  Theorie  gar nicht  gelesen  hatte, sondern  ließen
auch Sachkenntnis und Interesse vermissen. Bald vertiefte er sich in irgend­
welche Akten auf dem Schreibtisch und überließ den drei Wissenschaftlern
das Gespräch. Gandrill und Pertoff hatten sich allerdings eingehend mit Doo­
nas Papier beschäftigt und ließen kein gutes Haar daran. Sie drehten und
wendeten jede Formulierung, nahmen Doona in die Zange und zwickten ihn,
wo es nur ging.

Schließlich sagte Gandrill: „Glaubst du jetzt immer noch, Bruder Doona,

daß Fremde auf der Forschungsstation gelandet sind?“

„Ich habe es niemals geglaubt und glaube es auch jetzt nicht“, entgegnete

Doona trotzig und ungebrochen. „Aber ich halte es für eine Möglichkeit, die
man in Betracht ziehen sollte.“

Gandrill knurrte etwas Unverständliches. Pertoff sah zur Decke, schloß die

Augen eine Weile und murmelte: „Ich weiß nicht, warum all diese jungen
Burschen so stur sind. Sag mal, Gandrill, waren wir früher auch so?“

Gandrill verzog den Mund zu einer Grimasse, die alles Mögliche bedeuten

mochte: Mißmut, Überheblichkeit – oder widerwillige Zustimmung. Laut sag­
te er: „Ich glaube ja, Pertoff, ich glaube ja.“ Und zu Doona gewandt, fuhr er
fort: „Bruder Doona, warte bitte einen Moment im Vorzimmer.“

Verwirrt erhob sich Doona aus dem Kunststoffsessel und stakte hinaus. Die

Tür zog er sanft hinter sich zu. Hier war es leer und still. Nur das Summen fer­
ner Maschinen drang an sein Ohr. Irgendwo in der Tiefe des riesigen Bootes
arbeiteten die Aggregate, um Energie für den Betrieb der Station zu liefern.

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Im Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als wieder in seinem Labor
zu sein, Meßergebnisse auszuwerten und Meerestiere zu beobachten.

Die Zeit schien sich endlos lang zu dehnen. Doona glaubte sich vergessen

und hatte sich gerade dazu  durchgerungen, sich bemerkbar zu machen, als
Gandrills Stimme durch den Lautsprecher über der Tür ertönte: „Du kannst
hereinkommen, Doona. Wir haben unsere Beurteilung abgeschlossen.“

Doona trat ein. Gandrill und Pertoff hatten neben Korshaks Schreibtisch

Platz genommen. Der Leiter von SHAVACCOR­Zentral sah auf, musterte den
Eintretenden   so   eingehend,   als   habe   er   ihn   jetzt   zum  erstenmal  bewußt
wahrgenommen,   und   sprach:   „Ich   verkünde   hiermit   die  Verwaltungsent­
scheidung  3759­C­26­TRZ­56/84   in   Sachen  Disziplinarverhandlung  gegen
den Bruder Doona, B­Wissenschaftler auf SHAVACCOR­Zentral.“

„Disziplinarverhandlung?“   fragte   Doona   erregt.   „Dafür   gibt   es   absolut

keinen Anlaß. Und man hätte  mir sagen  müssen, was man mir vorwirft  –
Brüder!“ Welch ein Narr war er doch gewesen, sich darauf einzulassen. Das
hätte   er   sich   denken   können:   Diese   Ignoranten   fühlten   sich   durch   seine
These so herausgefordert, daß sie ihn empfindlich zu treffen suchten.

Korshak ging ohne Kommentar über den Einwand hinweg, räusperte sich

geräuschvoll und schnurrte in dienstlich monotonem Tonfall herunter: „Es
wurde   beschlossen,   dem   Wissenschaftler   Doona   überzeugend   deutlich   zu
machen, daß er seine Arbeitskraft mit unsinnigen Theorien vergeudet. Das
allerbeste Mittel dazu scheint uns zu sein, ihm die Wirklichkeit deutlich zu
machen. Bruder Doona – ich befehle dir deshalb, eine Expedition zur aus­
gefallenen Forschungsstation RI­56 zu unternehmen und die beschädigten
Teile auszuwechseln. Nach deiner Rückkehr erwarte ich einen ausführlichen
Bericht über die Gründe, die zum Ausfall der Station geführt haben!“

Doona  stand   wie   versteinert.   Alles  andere  hatte  er  eher  erwartet  –  aber

nicht das. Er blickte von Gandrill zu Pertoff und von diesem zu Korshak, der
sich wieder grunzend über seine Akten beugte und seine Anwesenheit schon
vergessen zu haben schien. Doona faßte sich an den Kopf und stammelte un­
gläubig: „Aber ... aber ...“ Sollten seine kühnsten Träume in Erfüllung gehen?
Glaubten diese Männer wirklich, daß sie ihn mit einem solchen Auftrag be­
strafen konnten?

„War noch etwas, Bruder Doona?“ fragte Korshak, ohne den Blick von den

Akten zu heben.

„Nein ... nein!“ stieß Doona hastig hervor. Er schüttelte noch immer den

Kopf, als er das Büro schon längst verlassen hatte.

Wäre er auf die Idee gekommen – selbstverständlich entgegen allen Vor­

schriften – an der Tür zu lauschen, hätte er ein eigenartiges Gespräch zu hö­
ren bekommen.

Der grimmige alte  Gandrill  sagte nämlich: „Tja, Pertoff, so stur wie diese

jungen Hüpfer waren wir früher auch einmal. Wenn ich so an meine Jahre als
B­Wissenschaftler zurückdenke ...“

22

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Und Pertoff erwiderte  grinsend:  „Wir  waren  in  gewisser Weise Rebellen.

Niemals zufrieden mit dem, was uns die Vorgesetzten als der Weisheit letzten
Schluß auftischten. Und wir wehrten uns ...“

Korshak hob den Kopf und fügte hinzu: „Wir können zufrieden sein, daß es

noch solche Leute gibt. Viele unserer Jugendträume sind im Mahlwerk der
Bürokratie hängengeblieben. Und vielleicht sind wir selbst zu Bürokraten ge­
worden, ganz gegen unseren Willen. Es wird Zeit, daß wenigstens auf Tonoga
wieder ein frischer Wind weht.“

Gandrill lächelte, zum erstenmal seit langer Zeit. „Der Junge dachte, wir

würden ihm den Kopf abreißen“, meinte er schmunzelnd. „Und dabei woll­
ten wir nur wissen, ob er fest genug zu seinen Überzeugungen steht ...“

Doona, der nichts von dieser Unterhaltung ahnte, lief indes jubelnd über

den Sand des Strandes, sprang kopfüber ins Wasser und rief seinen Bogey
herbei. Übermütig peitschte er mit den Fäusten das Wasser. Dann schoß er
auf seinem Reittier in die Tiefen des Meeres hinab.

Die schwimmende Insel

Stunden, tagelang kreisten die A­1 und die A­2 über der Stelle, die Schwatz­

maul als letzte Positionsmeldung des Kleincomputers der A­7 aufgezeichnet
hatte. Dann wurde man endlich fündig. Die Tast­Ortungsstrahlen spürten die
Metallmassen der beiden Wracks am Meeresgrund auf.

Bharos mußte helfen. Er  teleportierte zunächst von der EUKALYPTUS zur

A­1 und sprang dann, unter Einsatz seines Lebens, für jeweils mehrere Se­
kunden in die Wracks. Klitschenaß kehrte er von jedem Ausflug in die A­1 zu­
rück.   Aber   alle   konnten   danach   erleichtert   aufatmen:   Die   Wracks   waren
menschenleer. Niemand der Vermißten befand sich noch an Bord.

Aber noch etwas entdeckte Bharos bei seinen gefährlichen Ausflügen: Der

Kleincomputer der A­7 war nicht nur beschädigt worden, sondern völlig aus­
gebrannt. Und die Gewalteinwirkung war von außen erfolgt!

An Bord  der beiden  Gleitboote  biß  man  sich  eifrig   auf  die Lippen.  Was

sollte man davon halten?

Lonzo,   der   bei   Karlie   im   Boot   saß,   riß   eines   der   Mikrophone   an   seine

Sprechöffnung und brüllte los:

„Das ist ganz schäbige Piraterie, ist das! Da schlingern ja jedem ehrlichen

Freibeuter die Gedärme! Ich sehe es deutlich, Freunde und Kupferstecher,
wie   Captain   Kidd   in   seinem   Seemannsgrab   rotiert   wie   ein   Wasserrad   ob
dieser schnöden Schandtat! Er hätte so was nie getan! Hilflose Schiffbrüchige
ihres   letzten   Balkens   berauben   und   auch   noch   die   Retter   ins   Unglück
stürzen. Pfui Deibel! Welcher Erzschurke treibt hier sein Unwesen?“

Niemand konnte ihm darauf eine Antwort geben, bis schließlich Thunder­

clap   das   aussprach,   was   auch   Bharos   auf   der   Zunge   gelegen   hatte:   „Die

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Schiffbrüchigen   haben   es   getan!   Darauf   würde   ich   meinen   Rollstuhl
verwetten. Überlegt doch mal: Die A­7 ist äußerlich unbeschädigt, nur der
Computer wurde zerstört, offenbar durch einen Laserschuß. Da müssen also
erst einmal die Schufte an Bord gekommen sein. Und würdet ihr glauben,
daß Harpo, Alexander und Ollie einen dreisten Piraten gebeten hätten, doch
einzusteigen und gezielt den Computer zu zerstören? Nein, die sind arglos in
eine Falle getappt. Wahrscheinlich wollten die Schiffbrüchigen die A­7 steh­
len und sind dabei unvorsichtig zu Werke gegangen. Es kam zu einem Kampf
und ...“

„Hoffentlich hat ihnen Alexander ordentlich was auf die Augen gegeben“,

fiel Brim Boriam ein.

„Nun seid mal nicht so stolz auf eure  Detektivarbeit“, meldete sich Anca.

„Viel wichtiger ist jetzt: Wo sind unsere Freunde, und was werden wir unter­
nehmen?“

„Ja, ist denn das noch eine Frage?“ ereiferte sich Lonzo. „Ist doch klar wie

dicke   Tinte!   Die   Messer   gewetzt   und   die   Säbel   zwischen   die   Zähne
geklemmt   ...  äh,  umgekehrt!   Die  Halunken   kaufen  wir   uns!  Die  Hänflinge
müssen   erst   noch   geboren   werden,   die   es   mit   den   ehrlichen   Häuten   der
christlichen Raumfahrt aufnehmen können! Auf die Suche nach unseren Leu­
ten! Checkt die Computer und refft die Segel! Und vor allen Dingen ... na, was
wohl, Matrosen?“

„Immer schön cool bleiben!“ brüllte die Mannschaft der EUKALYPTUS.
Aber  so leicht  war  das natürlich  alles   nicht.   Sie  hatten  lange  genug   ge­

braucht,  um die doch immerhin beträchtliche  Metallmasse  des Wracks zu
orten. Jetzt waren sie darauf angewiesen, auf den weiten Wasserflächen des
Planeten ein Boot ausfindig zu machen, das damit verglichen wirklich nur
eine Nußschale war. Daß dieses Boot ausgesetzt wurde, hatte Bharos an der
geöffneten Klappe der A­7 erkannt.

Was blieb ihnen anderes übrig, als in ununterbrochenem Einsatz die Mee­

resoberfläche abzusuchen. Der einzige Trost war, daß so ein Boot ohne Mo­
tor   noch   nicht  allzuweit  sein   konnte.   Wenn   man   von   der   Fundstelle   der
Wracks  in  spiralförmiger  Bahn  langsam   den  Suchkreis  vergrößerte,  mußte
man eigentlich früher oder später auf die Vermißten stoßen.

Aber   die   hatten   einen   enormen   Vorsprung.   Gewißheit   darüber,   ob   die

Freunde wirklich in dem fehlenden Schlauchboot waren, hatten sie schließ­
lich auch nicht. Niemand kannte die Weltraumjacht der Fremden so gut, um
sagen zu können, ob dort nicht ein schnelleres Rettungsmittel zur Verfügung
gestanden hatte. Unwahrscheinlich zwar – aber immerhin möglich. Vielleicht
vergeudeten sie hier ihre Zeit, während die Entführer mit ihren Opfern schon
mehr als tausend Kilometer entfernt waren – wenn sie etwa ein Motorboot,
einen kleinen Gleiter oder etwas Ähnliches besaßen. Andererseits: Wären sie
dann auf das Gleitboot der EUKALYPTUS so versessen gewesen?

Schwatzmaul gab eine Meldung durch, die für den Moment die Verwirrung

noch vergrößerte: „Ich orte Metall.“

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„Wie nett“, sagte Anca schläfrig. „Ist die AESCLIPUS etwa wieder  hochge­

schwemmt worden?“

„Red keinen Unsinn“, entgegnete Brim näselnd vom anderen Gleitboot her.
„Trotzdem orten wir Metall – mitten im Meer“, gab Thunderclap Genius

seinen Kommentar ab. „Und zwar rund dreißig Kilometer von der Absturz­
stelle entfernt.“

„Ein Schiff!“ kam es wie aus einem Mund von Karlie und Anca.
„Nein ...“ erwiderte Thunderclap zögernd. „Es scheint eher so was wie ein

dicker Berg zu sein ... ein eiserner Berg ... ein schwimmender Felsen ... Ach,
herrje!“

„Was ist denn?“ fragte Brim.
„Es   schwimmt   und   bewegt   sich   langsam   voran“,   rief   Thunderclap,   und

man hörte sein heftiges Atmen. „Das ist kein Scherz! Ein Eisenberg, unregel­
mäßig geformt, mit einem Durchmesser von mindestens fünfhundert Metern
... Also, ich kann mir keinen Reim darauf machen. Schwatzmaul, du über­
mittelst mir doch wohl keine Lügendaten?!“

„Würde der nicht machen!“ rief Lonzo, bevor der Bordcomputer diese Un­

terstellung entrüstet zurückweisen konnte. „Dazu ist der  Maschinenhäupt­
ling Schwatzmaul viel zu phantasielos. Ihm fehlen nämlich meine Fehl... äh ...
Spezialschaltungen!“

„Ein Mensch hat doch keine Schaltungen“, meinte Anca vorwurfsvoll und

spielte darauf an, daß sich Lonzo ja sonst liebend gern als Mensch ausgab.

„Lonzo hat!“ rief der Roboter triumphierend. „Das ist nämlich so: Als mir

damals der Blinddarm herausgenommen wurde, ließ ich mir ersatzweise ...“

„He!“ fuhr Karlie dazwischen. „Ich habe das Metallobjekt in der Ortung! Es

ist ... nun, eigentlich kein Berg, sondern ...“ Er zögerte und manipulierte an
der Feineinstellung seiner  Meßgeräte  herum. „Es scheint eine Art Insel zu
sein. Aus Metall natürlich – hauptsächlich jedenfalls. Eine schwimmende In­
sel, jawoll!“

„Schwimmende Insel – das wird ja immer toller“, schimpfte Anca.
„Direkter Kurs auf das Objekt!“ ordnete Karlie an und unternahm selbst die

nötigen Handgriffe.

Bald konnte man Einzelheiten erkennen, sowohl auf den Bildschirmen als

auch durch die Sichtscheiben. Tatsächlich sah das Ding wie eine Insel aus:
unregelmäßig geformt, aber doch fast rund, Sandstrand, Büsche, ein kleiner
Wald, viele  Felsen.  Und   deutlich  war   aus  der   Luft  zu  erkennen:  Die  Insel
machte Fahrt. Das sah man an den aufgeworfenen Wellen.

„Schwimmende Insel“, sagte Anca noch einmal. „Ich glaub’, ich werd’ ver­

rückt. Hat jemals einer von euch von schwimmenden Inseln gehört?“

„Da wüßt’  ich aber von“, kommentierte der kleine Trompo mit piepsiger

Stimme. Der hatte gut reden. Wo er in der Zentrale der EUKALYPTUS bis jetzt
nicht mehr als einen großen Schatten auf dem Bildschirm erkennen konnte.

„Nun klammert   euch  doch  nicht  so an Wörtern fest“, griff Thunderclap

sachlich ein. „Ob es nun eine Insel, ein Schiff, ein Berg oder sonst was ist –
maßgebend ist doch wohl, daß wir herausfinden, was es damit auf sich hat!“

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„Seid doch mal bitte einen Moment lang ruhig“, bat Bharos, der Akkai. Er

hielt   sich   im   Gleitboot   A­1   auf,   stand   ganz   still   und   hatte   einen   geis­
tesabwesenden   Ausdruck   im   Gesicht.   Das   konnte   man   wörtlich   nehmen,
denn   offenbar   schickte   er   seine   Parasinne   auf   die   Reise,   um   das   fremde
Objekt zu erkunden. Der viele hundert Jahre alte Akkai Bharos, der sich auf
der Suche nach seiner Heimat den Kindern angeschlossen hatte, beherrschte
ja nicht nur die Teleportation. Er konnte mit der Kraft seines Geistes auch
Gegenstände aus der Ferne bewegen und Gedanken lesen.

Letzteres vermochte auch Micel Fopp, der neben ihm stand. Aber Micels

Fähigkeiten waren noch nicht voll entwickelt. Manchmal las er mühelos, was
in den Köpfen anderer vorging, aber dann gab es wieder Stunden, in denen
ihn sein Extrasinn im Stich ließ. Jetzt folgte er allerdings dem Beispiel des Ak­
kai und „horchte“ zu der Insel hinüber.

„Habt ihr etwas herausgefunden?“ schoß Anca ihre Frage ab, als Leben in

die Augen der beiden Freunde zurückkehrte.

Bharos und Micel wechselten einen kurzen Blick und tauschten dabei wohl

ihre Eindrücke aus.

„Wir   haben  Gedankenfetzen  empfangen“,   sprach   Micel   dann   für   beide.

„Ein  Mann  hat  ziemliche  Schmerzen.   Wahrscheinlich   ist   die   Ausstrahlung
deshalb so intensiv. Aber es besteht kein Zweifel – sie kommt von der Insel.“

„Harpo  meldete  uns einen  Verletzten“,  erinnerte  Brim. „Das könnte  der

Mann sein!“

Bharos sagte nachdenklich: „Gehen wir mal davon aus, daß die Insel künst­

lichen Ursprungs ist, selbst wenn sie oberflächlich betrachtet nicht so aus­
sieht.   Sie   bewegt   sich   vorwärts,   und   ich   spüre   einen   Antrieb.   Und   die
Unterseite ist sehr eben und gleichmäßig geformt. Wenn es sich also um ein
irgendwie geartetes technisches Gebilde handelt – dann halte ich es doch für
wenig wahrscheinlich, daß es den Entführern gehört. Die Insel ist viel größer
als die Raumjacht. Und wenn ich den Schiffbrüchigen überhaupt etwas glau­
be, dann ihre Behauptung, daß sie hier fremd sind. Wir müssen in unsere
Rechnung also noch eine weitere Unbekannte aufnehmen – die Erbauer der
Insel.“

Alle   hatten   aufmerksam   zugehört   und   schwiegen   jetzt   erst   einmal.   Da

mußte   man   wieder   umdenken.   Es   konnte   nicht   länger   ausgeschlossen
werden,   daß   intelligente   Wesen   diesen   Planeten   bewohnten   –   wo   auch
immer sie stecken mochten. Und nach den schlechten Erfahrungen mit den
Schiffbrüchigen,   Menschen   ihrer   eigenen   Rasse,   erschien   es   den   Kindern
plötzlich gar nicht mehr so selbstverständlich, daß die Inselbauer unbedingt
gutwillige Wesen sein mußten. Trotz aller guten Erfahrungen, die sie bisher
mit den Weltraumärzten, den Nordpol­Bewohnern und den Akkai gemacht
hatten.

Bharos durchbrach das Schweigen mit einem Vorschlag. Er wollte sich auf

die Insel begeben und aus nächster Nähe auskundschaften, wer sich dort auf­
hielt. Falls Gefahr drohte, konnte er sich rasch wieder in eines der Gleitboote
oder die EUKALYPTUS zurückversetzen.

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Das schien vernünftig zu sein. Nur Lonzo widersprach. Da er mit der Blind­

darm­Story   nun   eine   Möglichkeit   gefunden   hatte   zu   behaupten,   sowohl
Mensch als auch Roboter zu sein, berief er sich auf die Robotergesetze. Er
wollte die Aktion ausführen – weil er nicht zulassen dürfe, daß sich andere in
Gefahr begaben.

Es gelang Bharos jedoch, dem treuen Metallmann seine Idee auszureden.

Das Teleportieren zur Insel ging schneller, problemloser und vor allem unge­
fährlicher vor sich als die Landung eines Gleitbootes. Und um Lonzo auszu­
setzen, würde das Gleitboot mit der gesamten Besatzung in Gefahr geraten.
Bislang kreisten die Boote nämlich hoch in den Wolken über der Insel.

„Na gut“, gab Lonzo knirschend sein Einverständnis. „Aber wenn sie dich

verdreschen wollen, mußt du mich zu Hilfe holen!“

Der Akkai versprach es lachend und verschwand von einer Sekunde zur

anderen, als habe er sich in Luft aufgelöst.

Im gleichen Moment materialisierte sein Körper am Strand der Insel. Bha­

ros schickte sofort seine Parasinne aus, benötigte aber fast zwanzig Minuten,
bevor er den Standort des Verletzten ausfindig machte. Irgendwo im Osten
war das.

Da   er   das   Gelände   nicht   kannte,   war   es   wenig   sinnvoll,   dorthin   zu

teleportieren.  Bharos   ging  zu   Fuß  und   sammelte  dabei   Informationen.   So
entdeckte er das Schlauchboot von der  A­7. Es  war beschädigt.  Vorsichtig
tastete er sich durch ein Gestrüpp kleiner Bäume und Büsche und achtete
darauf, sich nicht durch knackende Zweige zu verraten. Die Ausstrahlungen
des Verletzten wurden stärker, was deutlich zeigte, daß sich Bharos seinem
Ziel näherte.

Plötzlich empfing er auch ein paar Gedankenfetzen von Ollie. Der Kleine

trug eine Schweinewut im Bauch, und außerdem hatte er Schmerzen an den
Händen. Sie waren gefesselt. Alexander war ebenfalls zu vernehmen, wenn
auch nur ganz leise. Er war eingeduselt und träumte von Iglus und Schlitten­
rennen. Und Harpo: Er war hellwach und überlegte, wie die Flucht gelingen
könnte.

Bharos spürte, daß vier Fremde anwesend waren. Aber es gelang ihm nicht,

ihre  Gedanken  zu lesen.  Das   war  häufig  so.  Telepathie   klappte nur  dann,
wenn man sich sehr gut kannte oder sich nahe beieinander aufhielt. Die Ge­
dankenströme  von   Fremden,   mit   denen   man   keinen   Blickkontakt   hatte,
waren nur in Ausnahmefällen deutbar – etwa wenn sie intensiv auf eine Sa­
che gerichtet waren wie die des vom Schmerz gepeinigten Verletzten.

Immerhin gelang es Bharos, aus den Gedanken seiner Freunde zu erfahren,

daß der eine Mann Flint und der andere Erik hieß. Das waren die beiden
Männer,   die   sich   unrühmlich  hervortaten.  Der   Verletzte   trug   den   Namen
Fredy, während der vierte Name noch nicht faßbar war.

Bharos  tastete   sich  weiter  und  erreichte   einen  Streifen,   auf  dem   es nur

Sand und Felsen gab. Und dreißig Meter weiter loderte ein prasselndes Feuer.
Mehrere Gestalten waren schemenhaft in der Nähe des Feuers zu erkennen.

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Drei   Menschen   hockten   nebeneinander,   den   Rücken   einem   Felsen   zuge­
kehrt. Das mußten die Entführten sein.

Bharos überlegte, ob ihm eine Blitz­Befreiung gelingen konnte, wenn er das

Überraschungsmoment seines plötzlichen Auftauchens mitten im Lager klug
einsetzte.

Nein, es würde zu lange dauern, bis er Harpo, Alexander und Ollie befreit

und zu einem der Gleitboote befördert hatte. Mehr als einen konnte er nicht
tragen, wenn er weite Strecken teleportierte. Und wie es schien, waren die
Gefangenen an den Felsen gefesselt. Wertvolle Zeit würde verstreichen, um
die Fesseln zu lösen.

Gab es vielleicht eine andere Lösung? Hatte er etwas übersehen? Bharos

kroch näher an das Lager heran. Dabei verließ er sich zu sehr darauf, daß
beim   Schleichen   im   Sand   keine   Geräusche   entstehen.   Aber   da   war   ein
knochentrockener Ast, der irgendwie zwischen den Sand geraten war. Bharos
legte sich mit dem Arm darauf. Das Ergebnis war ein lautes Knacken, das wie
ein Pistolenschuß in seinen Ohren hallte.

Trotz   der   Geräusche   am   Feuer   war   das   Knacken   nicht   unbemerkt   ge­

blieben. Zwei Männer sprangen auf, brüllten, zogen ihre Waffen, sahen Bha­
ros im Sand liegen und schossen.

Bharos sah die Energielanzen auf sich zujagen und beförderte sich gerade

noch rechtzeitig in die EUKALYPTUS zurück.

Doona weiß nicht weiter

Je   intensiver   sich   Doona   mit   den   Problemen   der   Expedition  ausein­

andersetzte, desto mutloser wurde er. Er fürchtete, daß man ihm eine Auf­
gabe zugewiesen hatte, der er nicht gewachsen war. Zum wiederholten Male
war das Rubinrot seiner riesigen Facettenaugen, die wie große Juwelen sein
Gesicht beherrschten, ins Violette gerutscht – ein deutliches Zeichen seiner
müden Ratlosigkeit.

Mißmutig  ließ Doona das  Buch sinken  und  klappte  es zu. Ein irdisches

Auge hätte auf dem Einband nur Strichmuster in scheinbar wirren Kombina­
tionen entdeckt, aber für einen Tanitaner wie Doona trug das Buch einen un­
mißverständlichen Titel: Handbuch der Wasserexpeditionen auf Tonoga.

Es umfaßte 2400 engbedruckte Seiten, die für ein Menschenauge wiederum

nur aus Mustern bestanden, wie man es auf Tapeten oder Schnittmusterbo­
gen finden kann. Allerdings war die Verwirrung Doonas beim Anblick dieser
farbigen Strichmuster nicht viel geringer. Er konnte die einzelnen Symbole
zwar spielend lesen  und daraus zusammenhängende Texte  formen – aber
klarer wurde der Inhalt deshalb noch lange nicht.

Das „Handbuch der Wasserexpeditionen auf Tonoga“ bestand nämlich aus

36   vollständig   wiedergegebenen   Gesetzestexten,   438   behördlichen   Anwei­

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sungen   und  einer   gleichgroßen   Anzahl   von   Kommentaren   zu   den   Anwei­
sungen.

Schon   die   Entgegennahme   des   Auftrags   für   eine   Expedition   schien   ein

großes Problem zu sein, stellte Doona fest. Aufträge dieser Größenordnung
durften zum Beispiel nur von Beamten erteilt werden, die mindestens den
Dienstgrad eines 11­Punkt­Unterstaatssekretärsreferenten  zweiter Ordnung
besaßen   –   und   durften   nur   von   9­Punkt­Untersekretärssekretären  dritter
Ordnung  entgegengenommen werden. Und auch das nur, wenn diese das
Skriit­Siegel des zuständigen Untersekretärs schon einmal berührt hatten.

Formal gesehen hatte Doona weder einen Auftrag für eine Expedition emp­

fangen, noch durfte er diese ausführen, denn weder er noch seine Vorgesetz­
ten entsprachen den vorgesehenen Anforderungen. Praktisch gesehen hatte
Doona jedoch in der Tat einen solchen Auftrag erhalten, und tatsächlich be­
kleidete Korshak, der Chef von SHAVACCOR­Zentral, einen hohen Rang in
der Hierarchie des Planeten  Tanit. Nur daß dieser Rang eine wissenschaftli­
che und keine Verwaltungscharge war.

Doona seufzte. Wahrscheinlich traf auf seinen Fall das zu, was in einem

kaum   lesbaren  Miniaturmuster  unter   jedem   Gesetzestext   und   unter   jeder
behördlichen Anweisung stand: „Wenn die vorgeschriebene Form nicht ge­
wahrt werden kann, ist nach der Illegalen Gesetzessammlung zu verfahren.“

Das dumme war nur, daß die Illegale Gesetzessammlung illegal war, wie

der Name schon sagte. Ein normaler Tanitaner durfte kein Exemplar dieses
Buches besitzen; das war den wenigen führenden Köpfen vorbehalten.

Schließlich erhob sich Doona und  beschloß, das Problem auf praktische

Weise anzugehen. Er legte seine Tauchmaske an und stieg in die Wassersper­
re seiner Wohnglocke.

Die Wassersperre war eine einfache, aber sehr wirksame Methode, um die

Sauerstoffatmosphäre in den Wohnglocken zu halten und doch ein problem­
loses Ein­ und Ausgehen zu ermöglichen. Sie basierte auf der Tatsache, daß
Luft leichter ist als Wasser und funktionierte etwa so wie eine Flasche, die
man mit der Öffnung nach unten senkrecht in eine Flüssigkeit führt, ohne
daß die Flüssigkeit in die Flasche eindringt.

Mit knappen, kräftigen Schwimmstößen schoß Doona auf die Wohnglocke

Carals zu. Wie alle Wohnglocken sah sie aus wie ein sich nach oben hin verdi­
ckender Konus mit einer  Halbkugelschale als Dach. Wenige Minuten später
tauchte er prustend auf der Oberfläche von Carals Wassersperre auf.

„Ich habe mir schon gedacht, daß du bald auftauchen würdest“, rief Caral

lachend, half ihm beim Herausklettern aus der Sperre und reichte ihm ein
großes   Tuch.   Doona   frottierte   seinen   schuppigen   Körper   und   legte   die
Tauchmaske in eine dafür vorgesehene Nische.

„Wieso?“ fragte er verblüfft. Er hatte Carals Ausruf schon durch die Maske

hindurch verstanden.

„Weil   ich   zufällig   sah,   daß   du   dir   ein   Exemplar   des   ‚Handbuches   für

Wasserexpeditionen auf Tonoga‘ in der Bibliothek ausgeliehen hast“, meinte

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Caral und strahlte über das ganze Gesicht. Tausend winzige Fältchen hatten
sich um die hellrot glühenden Augen gebildet.

„Also ... ich komme wirklich nicht klar mit diesem Buch“, gestand Doona

ein und senkte etwas verlegen den Blick.

„Niemand kommt klar damit“, antwortete Caral. „Auch nicht der Verfasser.

Und niemand erwartet ernsthaft, daß jemand nach den Vorschriften des Bu­
ches verfährt.“

„Ja, warum gibt es sie dann überhaupt?“ entfuhr es Doona. Er wußte zwar,

daß   im   kleinen   Maßstab   tagtäglich   irgendwelche   Vorschriften  mißachtet
wurden,   weil   sie   undurchführbar   waren   oder   Formblätter   unausgefüllt
blieben, da sie überhaupt nicht vorhanden waren. Aber er hatte bisher ange­
nommen, daß sich diese Übertretungen nur auf die kleinen Reibereien des
Alltags bezogen.

„Du kannst dir die Antwort selber geben“, erwiderte Caral schmunzelnd.

„Du mußt dir lediglich vor Augen halten, daß nur dreißig Prozent aller arbei­
tenden Tanitaner produktiv tätig sind, das heißt, daß sie etwas herstellen, was
zum täglichen Leben gebraucht wird. Der Großteil beschäftigt sich mit der
Verwaltung. Kannst du dir vorstellen, daß diese Leute gerne ihren Job aufge­
ben würden? Daß sie lieber auf einer Raumfahrtwerft schweißen oder auf To­
noga Bogeys zureiten wollen als gemütlich und risikolos in einem Bürosessel
zu hocken? Nein, das kannst du nicht. Und ich auch nicht. Das ist der Grund
für den Wust unsinnigster Gesetze, Anordnungen, Kommentare, Formblätter
und Statistiken.“

Doona schluckte, denn in dieser Deutlichkeit hatte er noch niemals eine

Kritik an der Verwaltungshierarchie des Planeten Tanit gehört.

„Was sagst du dazu“, fuhr Caral lachend fort, „daß es sogar ein Amt für Sta­

tistik­Statistiker auf Tanit gibt, wo 367 Sekretäre und Referenten aller Ränge
nichts anderes zu tun haben, als eine Statistik über die Anzahl aller anderen
Statistiken zu erstellen!“

„Also, ich muß mich doch sehr wundern“, meinte Doona und griff erst ein­

mal zu dem randvoll eingeschenkten Glas Zumbal, das Caral für ihn bereitge­
stellt hatte. „Irgendwie fällt mir dabei der aufgeblasene Hablat ein, der seine
Assessorarbeit über verwaltungstechnische Literaturliteratur schrieb und auf
der Stelle zum Unterobersekretärsreferenten befördert wurde.“

„Ach, der alte Hablat ...“ seufzte Caral. „Der ist sowieso ein ganz besonderer

Fall. Aber kommen wir endlich zum Thema!“ Caral schwieg und wartete dar­
auf, was Doona ihm zu sagen hatte.

Aber das war  auch  für Doona nicht einfach. Krampfhaft suchte  er nach

Worten.  „Handbuch  hin, Handbuch  her“, meinte  er schließlich,  „für mich
steht fest, daß ich die Expedition durchführen will!“

„Sehr gut!“ lobte Caral und nippte an seinem Glas. „Und ich dachte, daß du

mir mit deinen praktischen Erfahrungen zur Seite stehen kannst“, fuhr Doo­
na nun mutiger werdend, fort.

„Ausgezeichnet!“ rief Caral. „Wann brechen wir auf?“

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Doonas obere Körperhälfte erstarrte in einer für Tanitaner typischen Weise,

wenn sie überrascht waren. „Wie? Willst du wirklich an der Expedition teil­
nehmen?“

„Wollen?“ gab Caral amüsiert zurück. „Davon kann gar keine Rede sein. Ich

brenne darauf!“

Doona war immer noch verwirrt, aber zugleich auch begeistert. Daß der äl­

tere Freund ihn begleiten würde ... daran hatte er nicht zu glauben gewagt!

„Ich dachte, daß ich ... daß wir mit einem  Magnodriver  zur Robotstation

fahren“, meinte Doona. „Dann sind wir schneller dort.“

„Du willst mit einem Magnettauchboot durch die Jadeschlucht?“ wollte Ca­

ral wissen.

„Au, verdammt!“ rief Doona aus. „Daran habe ich nicht gedacht!“
Die Eisenerzlager in der Nähe der Jadefelsen machten die Schlucht für jede

Art von  Magnetantrieb  unpassierbar. Die starken, natürlichen Magnetfelder
dieser Region lähmten den Antrieb. Das galt auch für kleine Flug­Gleitboote
und bedeutete, daß es eine Barriere für die direkte Passage zum Zylan­Be­
cken   gab.   Abgesehen   von   den   schweren  Raumschiffaggregaten  und   den
Aggregaten   in   den   Forschungsstationen   basierte   ein   Großteil   der  tani­
tanischen Technik auf Ausnützung von Magnetfeldern.

„Wir nehmen die Bogeys“, schlug Caral vor.
„Aber dann brauchen wir zu lange!“ An die Gefahren wagte Doona erst gar

nicht zu denken.

„Na und?“ fragte Caral. „Stehen wir denn unter Zeitdruck? Willst du lieber

die Formulare für die Verwaltung auf Tanit ausfüllen?“

„Du hast recht“, gab Doona zu. „Aber es wird nicht leicht sein.“
„Was   ist   schon   leicht“,   erwiderte   Caral   mit   plötzlicher   Abenteuerlust.

„Hauptsache, es macht ein bißchen Spaß und wir erreichen das Ziel! Und in
der Beziehung werden wir schon auf unsere Kosten kommen.“

„Wir werden unerforschte Gewässer passieren müssen“, erinnerte Doona,

der sich für die Reise mit den Bogeys entschieden hatte.

„Und wenn schon“, gab Caral lässig zurück. „Willst du denen auf Tanit spä­

ter einmal erzählen, du hättest auf Tonoga im Handbuch der Wasserexpe­
ditionen geblättert? Oder willst du ihnen erzählen können, wie sich Theorie
und Praxis oft grundlegend unterscheiden?“

Er schenkte noch zwei Gläser Zumbal ein. „Wir nehmen für jeden von uns

zwei Reitbogeys. Und sechs, die die Ausrüstung tragen. Ja, das sollte reichen.
Ich stelle noch heute Nacht  eine Liste der Lebensmittel  und Ausrüstungs­
gegenstände zusammen. Für die Werkzeuge und Elektronikteile zur Repara­
tur der Station mußt du allerdings sorgen. Wir schlafen kurz und brechen
dann auf. So früh wie möglich.“

„Aber es wird Stunden dauern, bis wir all die Ersatzteile und Lebensmittel

bekommen“,   erwiderte   Doona,   der   sich   ein   bißchen   überfahren   vorkam.
„Allein   die   unzähligen   Formulare,   die   ausgefüllt   werden   müssen!   Bestell­
scheine, Anforderungsvordrucke, Quittungen, Gegenquittungen, Garantieer­
klärungen, Sachversicherungen ...“

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„Du   übergibst  mir   eine   Liste   der   benötigten   Sachen“,   meinte   Caral   mit

einem hinterlistigen Lächeln. „Die Einzelheiten werde ich dann schon regeln.
Im   Handumdrehen   haben   wir   alles,   was   wir   brauchen.   Du   kannst   dich
wirklich darauf verlassen. Schließlich kennt der alte Caral den Laden hier in­
und auswendig. Glaube mir: Es geht auch ohne all die bunten Scheinchen!“

Die folgenden Stunden, fand Doona, waren nicht zum Schlafen geeignet.

Eine starke Unruhe hatte ihn erfaßt und führte dazu, daß er in seiner Un­
terkunft ruhelos hin­ und herwanderte.

Die Gedanken, die ihn dabei beschäftigten, waren durchaus nicht unge­

wöhnlich: Würde alles so klappen, wie Caral – in seiner optimistischen Art,
wie   Doona   meinte   –   es   gesagt   hatte?   Würden   sie   die   Ausrüstung   ohne
Schwierigkeiten bis zum letzten Teil zusammenbekommen?

Eile tat not, das war klar. Doona wollte nicht nur die Station wieder in Be­

trieb setzen, sondern auch nach Möglichkeit seine Theorie von der Existenz
intelligenten   Lebens   im   All   beweisen.   Jede   Verzögerung   ihrer   Expedition
konnte dazu führen, daß die bislang nur in Doonas Hypothese existierenden
fremden Wesen schon weitergezogen waren.

Und die Hauptsache: Wenn sie auf Fremde stießen – wie würden diese rea­

gieren? Wie mochten sie überhaupt aussehen?

Doona rief sich ins Gedächtnis zurück, daß es auf Tanit eine Reihe von

Schriftstellern gab, die sich einer solchen Thematik gelegentlich angenom­
men hatten. Die Ergebnisse ihrer Arbeiten waren jedoch nicht immer befrie­
digend, denn die meisten stellten die nur in ihrer Phantasie existierenden
Intelligenzen   meist   als   gierige   Monstren   dar,   die   nichts   Besseres   planen
konnten, als andere Völker zu unterjochen.  Unfug, dachte Doona wütend.
Ein  raumfahrendes  Volk muß sich einfach geistig so weit entwickelt haben,
daß es gegen derlei barbarische Ambitionen gefeit ist.

Schließlich fand er doch noch Schlaf. Und im Traum sah er sich seltsamen

Kreaturen gegenüberstehend, die so fremdartig aussahen, daß ihm nicht ein­
fiel, womit er sie vergleichen konnte.

L wie Lonzo!

„Puh!“ stieß Bharos hervor, als er mitten in der Zentrale der EUKALYPTUS

wieder materialisierte  und sein Körper die altgewohnten Formen annahm.
„Das war knapp.“ Er taumelte zum nächstgelegenen Sessel und ließ sich er­
schöpft hineinfallen.

„Erzählen! Erzählen!“ forderten Thunderclap und Karlie aufgeregt.
Die Gleitboote waren inzwischen zum Mutterschiff zurückgekehrt.
„Diese   Unbekannten   schrecken   wirklich   vor   nichts   zurück“,   berichtete

Bharos grimmig. „Das sind Erzhalunken. Man hat Harpo, Ollie und Alexander
an Felsen gefesselt und sogar – auf mich geschossen!“

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„Mann!“ rief Anca empört. „Ich glaub’, mein Schwein pfeift!“
„Wir müssen auf der Stelle etwas unternehmen“, forderte Lonzo. Um die

Wichtigkeit   seiner   Worte   zu   unterstreichen,   produzierte   er   ein   blechern
klingendes Trompetensignal und schrie: „Attackeee!“

„Du hast doch gehört, daß die sofort die Hand am Schießprügel haben“,

schimpfte Thunderclap Genius. „Nicht einmal Bharos mit seinen außerge­
wöhnlichen Fähigkeiten konnte etwas ausrichten. Das bedeutet, daß wir hier
nur   mit   Besonnenheit   weiterkommen.“   Er   grinste   listig.   „Wir   müssen   die
Brüder überlisten, richtig reinlegen. Jawoll, so wie es die Indianer mit General
Custer gemacht haben!“

„Klasse, Mann“, lobte Brim, der zwar General Custer nicht kannte, aber

eine Menge von Indianern hielt. „Genau! Einen Indianertrick brauchen wir.“

„Ihr  seid  vielleicht  gut“,  warf  Anca  geringschätzig  ein.  „Davon  reden   ist

keine Kunst. Aber einen solchen Trick auf Lager haben – das ist ja gerade der
Hammer dabei!“

„Wenn ich dabei helfen kann ...“ meldete sich Schwatzmaul. „Meine  Ge­

dächtnisspeicher  stehen   den   geschätzten   Anwesenden   zur   Verfügung.   Ich
habe eine Anzahl von 27 Zentrifugillionen, 13 Billiarden, 11 Billionen und ...“

„Blech!“ giftete Lonzo. „Hat der vielleicht mit Captain Kidd gegen die Eng­

länder gefochten? Wie will der denn wissen, wie ... Hier werden Männer ge­
braucht, Männer, richtige ...“

„Lonzo!“ rief Anca.
„... und natürlich auch ... äh ... tapfere Frauen“, korrigierte sich der Roboter

hastig.   „Also,   wie   gesagt:   Männer   und   Frauen,   aber   keine   aufgeblasenen
Besserwisser, die nur aus Drahtwicklungen und Transistoren bestehen! Wenn
hier einer taktische Ratschläge geben kann, dann ist das allein der berühmte
und gefürchtete Lonzo Lord  Appleby, der Kampfgefährte und Schwertträger
des berühmtesten aller irdischen Korsaren ...“

„Ich dachte immer, dein richtiger Name sei Lonzo Graf Klamotte?“ kicherte

Anca.

„... nur mein Künstlername.  Ahem!“ Lonzo räusperte sich und fuhr fort:

„Ich schlage vor, daß wir diesen erfahrenen Gentleman zum Sonderbevoll­
mächtigten der Abteilung Tricks, Haken und Ösen ernennen! – Vielen Dank,
Herr Vorsitzender, der Vorschlag ist angenommen und gelangt sofort zur Ab­
stimmung! – Danke, meine Damen und Herren, dafür, daß sie den Vorschlag
einstimmig angenommen haben.“

„Heeee!“ protestierte die ganze Bande lautstark. „Wir haben aber an dieser

Abstimmung noch gar nicht teilgenommen!“

„Immer diese Kleinigkeiten“, murrte Lonzo. „Als neuernannter Trickdirek­

tor schlage ich vor, daß wir nach Plan 23­L vorgehen.“

„Ja, was ist das denn?“ wollte Karlie Müllerchen, sich interessiert umse­

hend, wissen. Auch die anderen hatten, wie man an ihren Gesichtern ablesen
konnte, von diesem phantastischen Plan noch nie ein Wort gehört.

„Plan 23­L ist die abgewandelte Version einer alten Kriegslist. Erfunden hat

sie Cham Ping Yong, der zweite Steuermann Captain Kidds“, brüstete sich

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Lonzo  stolz.  „Damit  haben  wir  1541  unseren   Konkurrenten   Captain   Bligh
und   seine   Spießgesellen   übertölpelt.   Cham   Ping   Yong   und   zehn   unserer
Männer   versteckten   sich   im   Gebüsch   der   Schatzinsel   und  machten   einen
Höllenlärm, was Bligh, der gerade mal wieder einen Schatz vergraben wollte,
natürlich stark beunruhigte. Er zog mit seinen Leuten aus, um den unsicht­
baren Gegner zu stellen. Aber Cham Ping Yong lockte ihn immer tiefer in den
Dschungel   hinein,   bis   Bligh   die   Nase   voll   hatte   und   eine   Kehrtwendung
machte. Das war aber zu spät, weil ... inzwischen hatten Captain Kidd und ich
den zurückgelassenen Schatz längst auf die Seite gebracht und dachten dar­
über nach, welchem Pfandleiher wir ihn wohl andrehen konnten!“

„Verstehe   ich   nicht“,   grunzte   Karlie.   „Wir   suchen   doch   gar   nicht   nach

einem Schatz!“ Natürlich hatte er längst kapiert, auf was Lonzo hinauswollte,
aber   es   machte   ihm   doch   Spaß,   den   Roboter,   der   stur   behauptete,   ein
Mensch und ehemaliger Seeräuber zu sein, so weit zu provozieren, daß er
sich   einmal   beim   Wiedergeben   seiner   gelesenen   Piratengeschichten
verhaspelte. Das kam natürlich nie vor, denn Lonzos Gedächtnis hatte so gut
wie jeden Band der EUKALYPTUS­Bibliothek gespeichert. Wort für Wort. Satz
für Satz.

„Ha!“ schrie der Roboter. „Das ist ja gerade die geniale Abwandlung 23­L!

Das L heißt natürlich Lonzo! Wir machen alles genauso wie Cham Ping Yong,
aber anstatt einen Schatz zu klauen, befreien wir unsere Matrosen!“

„Großartig!“ rief Anca.
Alle lärmten jetzt durcheinander, weil die Idee wirklich nicht die schlech­

teste war. Auf jeden Fall aber besser als gar keine.

Bharos, der sich immer wieder ein wenig verwirrt zeigte, wenn die EUKA­

LYPTUS­Mannschaft so richtig in Schwung kam und die Puppen tanzen ließ,
hatte die ganze  Zeit  über geschwiegen  und nur hin und wieder gelächelt,
wenn Lonzo sich besonders stark ereiferte, jetzt ergriff er das Wort. „Wenn es
euch wirklich gelingt, die Bewacher unserer Freunde auf diese Weise abzu­
lenken, kann ich den Rest übernehmen. Ich werde einen nach dem anderen
von seinen Fesseln befreien und mit einem Teleportersprung zur EUKALYP­
TUS   bringen.   Die   Frage   ist   nur,   ob   die   Leute  wirklich   auf   Plan   23­L  her­
einfallen. Was, wenn jemand als Bewacher – mit einer Waffe – zurückbleibt?

„Dann müssen wir uns eben auch auf diesen Fall vorbereiten“, trumpfte

Karlie Müllerchen auf, der seine zwei Meter zwanzig trotzig in die Höhe reck­
te. „Wenn nur ein Gangster von den vieren zurückbleibt, lenken wir den auch
noch irgendwie von den Gefangenen ab. Ich kann zum Beispiel wie ein Geist
heulen und ihm tüchtig Angst machen: Huuuuuuuhhhhhhh!“

„Du solltest b­besser ein L­Lied singen“, frotzelte ihn Brim und grinste über

das ganze rabenschwarze Gesicht. „D­da ist bisher noch jeder abgehauen!“

Bharos   hielt   sich   lachend   die   Ohren   zu.   „Ist   ja   schon   gut!“   rief   er

beschwichtigend. „Aber da lassen wir uns doch etwas Besseres einfallen. Du
sollst dem Gangster ja keine Angst machen, sondern seine Neugierde ansta­
cheln.“

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„Ich zeige ihm meinen nackten Hintern“, schlug Lonzo vor. „Das wird ihn

vom Sessel reißen!“

„Was ist denn an so ‘nem Blechpopo schon groß zu sehen?“ glucksten Anca

und Thunderclap im Chor. „Außerdem hast du vergessen, daß du als Sonder­
bevollmächtigter für Tricks, Haken und Ösen natürlich bei deinen Indianern
sein mußt!“

„Wieso Indianer?“ echote Lonzo echt erstaunt. „Es war doch nur von einem

Chinesen die Rede. Cham Ping Yong war nämlich ein Chineeeeese ‚ müßt ihr
wissen.“

„Ach?“
„Ein   feiner   Kerl,   wenn   man   von   einer   kleinen   Macke   absah“,   erklärte

Lonzo. „Wie viele Chinesen konnte er kein R aussprechen. Statt dessen sagte
er ständig L dafür.“

„M­M­Macke?“ machte Brim.
„Das ist doch keine Macke!“ ereiferte sich Anca. „Das war ja auch nicht die

Macke, sapperlot!“ fuhr  Lonzo ungeduldig dazwischen, weil er seine Story
unbedingt loswerden wollte. „Da er meistens mit mir zusammen am Ruder
stand, mußte ich, um ihn bei Laune zu halten, auf die gleiche Weise ant­
worten! Das war’s! Cham Ping Yong sagte immer zu mir: ‚Lold Appleby, wenn
du zu fein bist, so zu splechen wie ich almes Chinamann spleche, schneide
ich dil mit meinem Messel die Gulgel dulch.‘“

Darüber wollten sich die verbliebenen Besatzungsmitglieder der EUKALYP­

TUS so scheckig lachen, daß einige auf dem Fußboden der Zentrale herum­
kugelten und Bharos, der solche Heiterkeitsausbrüche während seines langen
Alleinseins im Weltraum gar nicht mehr kannte, vor Schreck einen Husten­
anfall bekam.

„Luhe!“   brüllte   Lonzo.   „Als   Sondelbevollmächtigtel   fül   Tlicks   ...   Auweia!

Jetzt ist wiedel die Löhle 318­11­76 ausgefallen! Die ist fül das L zuständig.
Alte allelgische Leaktion von damals. Hätte ich bloß nichts von diesem Cham
Ping Yong elzählt!“

„Und wieso kannst du das R nicht aussprechen, wenn die für das L zustän­

dige Röhre ausgefallen ist?“ fragte Anca scheinheilig, während die anderen in
einen neuen Lachanfall taumelten. Bharos liefen bereits die Tränen über das
Gesicht. Sogar Trompo fiepte in den höchsten Tönen.

„Glllll“, machte Lonzo knurrig. Das war die chinesische Übersetzung für

„grrrrr“. „Abel ich kann das L ja aussplechen!“ donnerte er. „Nul das L nicht!“

„Kannst   du   dem   guten   Lonzo   behilflich   sein?“   fragte   Thunderclap   keu­

chend den Bordcomputer Schwatzmaul.

„Röhren   vom   Typus   318­11­76   sind   leider   zur   Zeit   gerade   nicht

vorhanden“, antwortete Schwatzmaul voller Genugtuung und mit honigsü­
ßer Stimme. „Herrje, und zufällig jetzt! Allerdings haben wir eine Reihe ganz
neuer, gut funktionierender Robotgehirne ...“ Endlich hatte er mal die Ge­
legenheit,   etwas   Kleingeld   auf   die   Bemerkung   vom   „aufgeblasenen
Besserwisser aus Drahtwicklungen und Transistoren“ herauszugeben.

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„Das gibt sich schon wiedel“, bemerkte Lonzo, der die Anspielung auf sein

Gehirn einfach ignorierte. „Ihl müßt mich nul oldentlich elschlecken, dann
funktionielt die Löhle wiedel! Da bin ich sichel!“

„Huuuuuuuuuuuhhhhhh!“ versuchte Karlie noch einmal seinen Werwolf­

schrei.

„Pah!“ winkte Lonzo ab. „So was elschleckt doch einen alten Pilaten nicht.

Außeldem mußt du dil einen Telmin aussuchen, an dem ich nicht dalan den­
ke. Es muß übellaschend geschehen.“

„Wir   müssen   jetzt   aber   endlich   mal   zur   Sache   kommen“,   erinnerte

Thunderclap die anderen und klatschte dabei laut in die Hände, um sich Ge­
hör zu verschaffen. „Lonzos Einsatz ist schließlich nicht von einem L oder R
abhängig.“

„Das L kann ich ja, nul das L nicht ...“
„Na ja“, meinte Bharos nachdenklich, „wir müssen uns auf jeden Fall – das

sage ich noch mal – darüber im klaren sein, daß die Aktion nicht ungefährlich
ist.“ Genau wie Alexander, der ehemalige Bewohner des Planeten Nordpol,
war auch Bharos, der Weltraumnomade, längst  von den Translatorgeräten
unabhängig. Er hatte die Sprache der anderen sogar besonders schnell ge­
lernt, weil er Gedanken lesen konnte wie Micel Fopp, sogar noch besser. Und
außerdem besaß er ein gutes Gedächtnis.

„Wir   wissen   aber   immer   noch   nicht,   wie   wir   einen   zurückbleibenden

Wächter übertölpeln können“, erinnerte Anca.

„Das besorge ich“, meinte Karlie, wobei die anderen den Verdacht nicht

loswurden,   daß   er   nach   den   beiden   gescheiterten   Versuchen,   mit   seinem
Gespensterschrei Eindruck zu schinden, ihn auf diese Weise doch noch unter
die Leute bringen wollte.

„Zu   gefähllich“,   protestierte   Lonzo   lautstark.   „Die   Schulken   welfen   be­

stimmt nicht mit Nüssen. Da blaucht man eiselne Nelven und eiselne Kölpel.
Kulz und gut: Das Ablenken übelnimmt auch Lonzo Lold Appleby mit seinen
Glünen.“

Mit den „Glünen“ meinte er natürlich die Schiffsroboter, die eigentlich der

gleichen Bauserie angehörten wie er, obwohl sie keine ausgeprägte Persön­
lichkeit besaßen. Sie hatten den Namen „die Grünen“ damals erhalten, weil
sie – um den Kindern mit ihren Roboterkörpern keine Angst zu machen – als
grünfellige   Bärenimitationen   auf   dem   Schiff   gewisse   Überwachungs­
funktionen ausübten, als die EUKALYPTUS noch um die Erde kreiste. Lonzo
dagegen hatte frühzeitig, eigentlich durch einen Defekt seines positronischen
Gehirns bedingt, die Bärenrolle aufgegeben, sich auf die Seite der Kinder ge­
schlagen und sich buchstäblich selbst das Fell über die Ohren gezogen.

„Hmmm“,  machte Karlie, aber schließlich  sah  er  selbst  ein,  daß  Lonzos

Vorschlag am vernünftigsten war. Er nickte.

„Gut“, sagte Thunderclap. „Ich schlage vor, daß Anca und Karlie Bharos bei

der Befreiung helfen und ...“

„Finde ich nicht so gut“, unterbrach ihn Bharos. „Einer müßte genügen.

Wenn es irgend geht, sollten wir nämlich vermeiden, mit einem Gleitboot in

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der Nähe der schwimmenden Insel zu wassern. Wir müssen ja davon ausge­
hen, daß man uns dabei beobachtet und versucht, das Boot zu stehlen ...“

„Aber ...“
„Ich werde Lonzo und die Grünen nacheinander per Teleportation auf die

Insel bringen, dann Anca oder Karlie. Das dauert zwar etwas länger, scheint
mir aber sicherer zu sein. Ihr dürft nicht vergessen, daß die Sache für den, der
mir bei der Befreiung hilft, besonders gefährlich ist. Ich kann mich notfalls
schnell wegteleportieren. Aber wenn ich mit der Befreiung der Gefangenen
beschäftigt bin, ist mein Partner auf sich allein angewiesen. Und ist dabei
möglicherweise auf der Flucht ...“

„Ich will gehen!“ rief Karlie trotzdem.
„Nein, ich!“ rief Anca und stampfte trotzig mit dem Fuß auf.
„Wieviel Metel hoch ist del Mount Evelest?“ fragte Lonzo. „Nul Kallie und

Pummelchen sollen dalauf antwolten.“

„Du sollst mich nicht immer Pummelchen nennen!“ knirschte das Mäd­

chen. „Und außerdem: Was zum Teufel ist ein Mount Evelest? Kannst du mir
das mal erklären?“

„Everest“, korrigierte Brim.
„Oh, Pum... äh‚ Anca, meine Augenweide!“ rief Lonzo und schlug vor Freu­

de mit seinen Tentakeln ein Rad. „Du hast das Quiz gewonnen! Denn nul wel
dumm ist, schaut del Gefahl unelschlocken ins Auge!“

„Du Schuft!“ rief Anca, die nun nicht wußte, ob sie sich ärgern oder freuen

sollte.

„Schulke!“ schrie Karlie Müllerchen. „Du hast mich heleingelegt, au, ver­

dammt, jetzt fange ich auch schon an, wie der Steuermann Cham Ping Yong
zu reden!“

„Niemand   wagt   es,   Lord   Lonzo   einen   Schurken   zu   nennen!“   donnerte

Lonzo los, hielt dann aber verdutzt inne. „Hurra, ich kann wieder das R aus­
sprechen! Karrrrrlie, mein Guter, laß dich von einem alten Fahrensmann an
die Brrrrust ziehen!“

Das allerdings versuchte Lonzo vergeblich, denn Karlie war so groß, daß

das für den kleinen Roboter ein aussichtsloses Unterfangen war. Immerhin
strahlte Karlie jetzt wieder und schüttelte seinem maschinellen Freund be­
geistert   einen   Tentakel.   Daß   er   sich   nun   doch   nicht   todesmutig   in   eine
Gefahr stürzen durfte, war schon verwunden.

„Sei bloß vorsichtig, Pummelchen“, sagte er so ernsthaft besorgt, daß Anca

sogar ihren Protest gegen den ungeliebten Spitznamen vergaß.

„Was soll ich denn nun eigentlich tun?“ fragte sie. „Soll ich meine weibli­

chen Reize einsetzen, um einen Posten wegzulocken?“

„Ha!“ rief Lonzo. „Da würdest du aber Ärger mit deinem Kavalier Ollie be­

kommen!“

„Auch  wenn Anca  mir  jetzt  eine  Glatze  schert“,  bemerkte  Brim  Boriam,

„wie wäre es, wenn sie in einiger Entfernung vom Lager leise schluchzen und
um Hilfe rufen würde?“

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„Das kann in die Hose gehen“, mischte sich Micel ein, der die ganze Zeit

über noch kein Wort geredet hatte. „Immerhin sind unsere Gegner eiskalte
Burschen. Fragt sich, ob die auf so was reagieren. Und wenn die erst mal
Lunte gerochen haben, wird man sie mit einem anderen Trick nicht mehr so
leicht ködern.“

„Uns   wird   im   richtigen   Moment   schon   was   einfallen“,   meinte   Bharos.

„Eine spontane Idee hilft uns besser als ein sorgfältig ausgetüftelter Plan, der
im letzten  Moment  dann doch  nicht   klappt,  weil  ein  Detail anders ist als
vorgesehen, jedenfalls darf Anca nicht so überraschend in Aktion treten, daß
der Posten aus lauter Nervosität losballert.“

„Eines haben wir natürlich die ganze Zeit über nicht bedacht“, murmelte

Thunderclap vor sich hin. „Wir gehen irgendwie davon aus, daß eine herren­
lose, schwimmende Insel im Meer treibt, die zwar jemand erbaut hat, die
aber inzwischen ohne Besitzer und Aufgabe ist. – Was passiert, wenn plötz­
lich Fremde auftauchen – die Besitzer der Insel?“

Darauf konnte ihm niemand eine Antwort geben.

Aufbruch

Der Aufbruch der Expedition spielte sich ganz undramatisch ab. Niemand

winkte oder begleitete die beiden Forscher und ihre Bogeys bis an die Grenze
der   Enklave.   Die   beiden   Tanitaner   selbst   stießen   nicht   einmal   einen   der
lauten, antreibenden Rufe aus, um ihre Tiere in Bewegung zu versetzen. Sie
trugen ihre  Tauchmasken  und konnten sich nur durch Gebärden und Funk
miteinander verständigen.

Aber   Caral   tat   etwas   anderes.   Er   speiste   mit   seinen   schlanken   Fingern

einige Symbole in den Modulator, deren Ergebnis fiepende Töne im Ultra­
schallbereich waren, die unhörbar für die Ohren von Menschen oder  Tani­
tanern waren, aber nicht für das Gehör der Bogeys. Die Riesenfische setzten
sich in Bewegung. Es war schade, daß in diesem Moment niemand zusah,
denn   das   Bild   war   beeindruckend.   Die   mächtigen   Bogeys,   jeder   einzelne
zehnmal so lang wie ein ausgewachsener Mensch, wilde, gefährliche Räuber
des   Meeres,   stießen   sich   gehorsam   mit   leichten   Schlägen   ihrer   Schwanz­
flossen ab und glitten durch die See.

Die Formation der Tiere wirkte so geordnet und diszipliniert wie die Ka­

vallerie einer  irdischen  Armee vergangener  Zeiten  bei einer Parade. Wenn
man davon absah, daß alles müheloser und eleganter ablief. Caral hatte mit
diesen ausgewählten Tieren eine Meisterleistung der Dressur vollbracht.

Er liebte seine Bogeys – und sie liebten ihn. Bis zu einem gewissen Grade

jedenfalls, denn man durfte niemals vergessen, daß sie eben im Grunde doch
Raubtiere waren, die in freier Natur auch Beute von der Größe eines  Tani­
taners nicht verschmähten. So zuverlässig dressierte Bogeys im allgemeinen

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waren: Es gab Situationen, in denen ihr Instinkt durchbrach und sie auch
Tanitanern gefährlich wurden.

Auf der anderen Seite kamen solche Angriffe selten vor, und es gab kein

ausschlaggebendes Argument gegen die Zähmung der gewaltigen Fische mit
dem breiten  Haifischmaul, dem  torpedoförmigen  Körper, dem charakteris­
tischen  Kopfhöcker, den listigen Äuglein und der außergewöhnlichen Intel­
ligenz.

Doona und Caral  preßten  sich auf ihren  Sätteln eng an die Leiber ihrer

Fische. Sie hatten anliegende Monturen aus Kunststoff an, die mit Heizdräh­
ten  durchsetzt   waren.  Als Warmblütler  mußten  sich  die Tanitaner  sowohl
gegen die Kälte des Meeres als auch gegen die der  Bogeykörper  schützen.
Doona hatte darauf bestanden, zumindest in den ersten Stunden selbst zu
reiten,   obwohl   er   sich   darüber   im  klaren   war,  daß   er   sich   weder   mit   der
Eleganz, noch mit der Ausdauer des erfahreneren Caral messen konnte. Aber
der Ritt auf einem Bogey machte eben trotz aller Anstrengung auch Spaß.
Und später konnte er sich immer noch in die große Wohnglocke unter dem
Bauch eines der Lastbogeys zurückziehen und nur von Zeit zu Zeit Caral bei
der Führung der Gruppe ablösen.

Die Hinreise, das hatten sie schon ausgerechnet, würde unter günstigsten

Bedingungen vier Tage dauern – vorausgesetzt, es gab keine unvorhergese­
henen Zwischenfälle. Mehr als 400 Ojen – das waren nach irdischen Maßstä­
ben etwa 3000 Kilometer – lagen zwischen  der Enklave von SHAVACCOR­
Zentral und der Robotstation.

Die Bogeys waren ausdauernde und pfeilschnelle Bewohner der Meere, die

von  ihrer   durchschnittlichen   Geschwindigkeit   her  ohne  weiteres   fähig   ge­
wesen wären, diese Strecke in weniger als drei Tagen zurückzulegen. Aber da
ihre riesigen Mägen auch stetig gefüllt werden mußten, war es nötig gewesen,
einen Teil der Reisezeit für die Jagd einzuplanen. Muskelreflexe sorgten da­
für, daß sich die Bogeys sogar in dem ihnen eigenen Halbschlaf mit einer
erstaunlich   hohen   Geschwindigkeit  voranbewegten.  Ein   Echolot­Sinn
verhinderte dabei die Kollision mit Felsen oder anderen Hindernissen.

Trotz der sichernden Gurte galt die Hauptaufmerksamkeit eines Bogeyrei­

ters  dem festen Sitz im Sattel. Die Geschwindigkeit war so groß, daß schon
eine geringfügige Unachtsamkeit ausreichen konnte, um zwischen Reiter und
Reitfisch  Wasserwirbel  entstehen zu lassen. Doona hatte einmal erlebt, wie
solch ein gurgelnder  Wasserkeil  die Verbindung trennte, die Haltegurte wie
mürbe   Bindfäden   zerrissen   und   den   Reiter   wie   ein  Geschoß  wegschleu­
derten. Deshalb war es wichtig, beim kleinsten Anzeichen von Müdigkeit und
nachlassender Konzentration den Sattel mit der Wohnglocke zu vertauschen.

„Alles in Ordnung?“ fragte Caral, als die Enklave von SHAVACCOR­Zentral

im grünen Meer hinter ihnen verschwunden war. Aus der Ferne hatten die
vielen hundert silbernen Wohnglocken wie ein Gebilde aus  aneinanderge­
preßten  schillernden Perlen ausgesehen – Carals Stimme drang dumpf aus
dem Empfangsteil von Doonas Tauchmaske, fast überlagert vom Rauschen
des zerteilten  Wassers. Die Maske umschloß  Mund, Nase und Ohren. Der

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Rest   des   Kopfes   wurde   durch   eine  kapuzenähnliche  gelbe  Kunststoffhülle
vom Wasser abgeschirmt.

„Es macht Spaß“, antwortete Doona. Das stimmte auch, denn wenigstens

im Augenblick genoß er die Geschwindigkeit der Reise.

Die Bogeys bewegten sich knapp fünf Meter unter der Meeresoberfläche

dahin, hoch genug, daß die Umgebung vom Tageslicht erhellt wurde. Das
Meer war hier verhältnismäßig seicht. Allenfalls zehn Meter unter den beiden
Reitern konnte man die Umrisse abgeschliffener Felsen und Schlinggewächse
erkennen.   Kleine   Fische  huschten   vor  den  gefürchteten  Raubtieren   davon
und versteckten sich zwischen den Pflanzen. Aber den Bogeys stand der Sinn
im Moment weder nach Jagd noch nach Beute.

Noch   war   die   Umgebung   selbst   dem   selten   SHAVACCOR­Zentral

verlassenden   Doona   von   gelegentlichen   Ausflügen   her   vertraut.   Aber   das
würde sich bald ändern. Wenn sie erst einmal den Covallha­Garten erreicht
hatten,   würde   sich   dort   unten   auf   dem   Meeresgrund   ein   phantastischer
Dschungel   mit   exotischen   Pflanzen   erstrecken.   In   manchen   geschützten
Gegenden wuchsen lange Schlingpflanzensäulen bis dicht unter die Oberflä­
che des Ozeans. Dann waren die Bogeys gezwungen, einen Slalom durch die
Barriere zu schwimmen, die in manchem einem Irrgarten ähnelte.

Doona hatte sich von diesen Sektoren der Unterwasserwelt bisher nur er­

zählen lassen, aber selbst der erfahrene Caral kannte nur einen Bruchteil da­
von. Was in der Tiefe, dort wo die  Schlingpflanzenwand  undurchdringlich
wurde, lauerte, war weitgehend unbekannt. Aber vorstellen konnte man sich
einiges, wenn man sich die phantastischen Knochengerüste ansah, die ge­
legentlich in den  flacheren  Gewässern angetrieben wurden. In den tiefsten
Löchern des Covallha­Gartens mußten Riesentiere leben. Und daß es sich bei
ihnen nur um harmlose Pflanzenfresser handelte, mußte man bezweifeln ...

Sie waren jetzt seit vier oder fünf Stunden unterwegs. Doona fühlte, daß

sich seine Muskeln verkrampften. Lange würde er nicht mehr durchhalten
können. Außerdem schmerzten seine Augen von dem flirrenden Farbmuster,
das   die   Sonne   in   das   Wasser   warf,   wo   es,   tausendfach   gebrochen   und
reflektiert,   durch   die   hohe   Geschwindigkeit   endlich   zu   einem   gleißenden
Band verschmolz. Und nicht zuletzt der Hunger machte ihm zu schaffen.

Er wollte Caral gerade bitten, die Bogeys anhalten zu lassen, als ihn eine

starke Welle beinahe aus dem Sattel hob. Nach der ersten Schrecksekunde er­
kannte  er  die  Ursache.   Bisher  waren  die  Lastbogeys   in  Keilformation  den
beiden von den Tanitanern bemannten Reittieren gefolgt. Das hatte sich ge­
ändert.   Drei   Lastbogeys   waren   blitzschnell   vorgeschossen   und   hatten   die
Spitze übernommen. Ihre Körper glitten dabei so dicht an Doona vorbei, daß
sie einen starken Sog erzeugten.

Doonas Bogey schlug hart  mit der Schwanzflosse aus und stellte seinen

Körper quer zur bisherigen Schwimmrichtung. Ohne die Vorauswarnung hät­
te Doona sich nicht auf dem Sattel halten können. So aber krallte er sich mit
aller Kraft fest und blieb am Körper des Tieres kleben.

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Carals Bogey hatte ähnlich reagiert, was dieser erfahrene Reiter allerdings

vorausgesehen hatte.

Mit einem Blick über die Schulter stellte Doona fest, daß sich die Formati­

on total verändert hatte. Die beiden Reitbogeys stabilisierten mit kaum sicht­
baren Flossenschlägen ihre nahezu bewegungslose Lage im Wasser, während
die anderen Tiere um sie herum einen Wall gebildet hatten.

Tatsächlich   umschlossen   die   anderen   acht   Bogeys   die   Reiter   mit   ihren

Tieren wie eine kugelförmige Schale. Sie bewegten sich dabei hektisch im
Kreis, offenbar in der Absicht, eine Absperrung zu bilden. Und sie rissen wie
auf   ein   Kommando   ihre   Rachen   auf   und   zeigten   die   vielen   tausend
messerscharfen Zähne. Die Haltung, die sie einnahmen, war drohend.

„Was ist passiert?“ keuchte Doona. Er war mit einem Schlag wieder hell­

wach   geworden   und   versuchte,   durch   die   rhythmisch   sie   umkreisenden
Riesenleiber mit einem Blick die Lage zu erfassen.

„Wir werden angegriffen!“ rief Caral, der fortwährend an seinem Modulator

herumfingerte. Er schien alle Mühe zu haben, seinen Bogey daran zu hin­
dern, kampfeslustig zu den Gefährten vorzustoßen.

Jetzt sah Doona endlich, was die überscharfen Sinne der Reitfische schon

vorher erfaßt hatten. Hinter einem Felsen kroch ein Meereswesen mit einem
haushohen, kugelförmigen Leib hervor, getragen von acht weit abgespreiz­
ten, dicken Beinen. Es sah aus wie ein Gallertklumpen, war jedoch am ganzen
Körper mit meterlangen Stacheln bedeckt, die wie überdimensionale Dornen
wirkten. Ein einziges  mannsgroßes  Auge pulsierte in giftgrünem Licht. Das
mindestens dreimal so große Maul klaffte weit auf. „Was – ... ist – ... das?“
fragte Doona entsetzt.

„Ich  kenne  es   nicht“,  gab   Caral  zurück,  „aber  die  Bogeys   scheinen   ihre

Erfahrungen zu haben.“

Auf den ersten Blick war es nicht ganz einsichtig, daß die riesigen Bogeys

sich von diesem Ungetüm beeindrucken ließen. Nun ja, es war zwar doppelt
so groß wie ein einzelner Bogey, schien aber nur mühsam und schwerfällig
auf dem Meeresboden voranzukommen. Dann erkannte Doona, warum die
Reittiere nicht einfach ihre Schnelligkeit ausnutzten:

Das  stachelbewehrte  Gallertwesen  schoß   aus   Drüsen   ein   Gewirr   von

fingerdicken Gewebesträngen ab – zähes, durchsichtiges, klebriges Material,
Spinnweben nicht unähnlich, das sich in Windeseile ausbreitete. Ein einzel­
ner Bogey hätte sich zweifellos in den Strängen verstrickt und wäre rettungs­
los verloren gewesen.

Jetzt mußte das Wesen jedoch mit der ganzen Meute kämpfen. Sobald ein

Bogey in den Strängen klebte, war schon ein anderer da und biß ihn los. Das
Meer   schäumte,   so   schnell   peitschten   die   Bogeys   mit   auf­   und   zu­
schnappenden Rachen durch das Wasser. Die Unterwasserkreatur kroch hin­
ter   den   Felsen   zurück.   Offenbar   hatte   das   Ungeheuer   eingesehen,   daß   es
gegen die Übermacht nicht ankam.

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Doona atmete erleichtert auf. Die Bogeys schwammen noch eine Weile er­

regt mit heftig zuckenden Schwanzflossen auf und ab, dann ordneten sie sich
zu ihrer früheren Keilformation und setzten den Weg fort.

„Hast du ihnen diese Kampfesform beigebracht?“ wollte Doona wissen. Die

Vorstellung hatte ihn sehr beeindruckt.

„Nein,   nein“,   antwortete   Caral   lachend.   „Du   unterschätzt   den   Instinkt

dieser Tiere. Was mich überraschte, war, daß sie uns ganz bewußt geschützt
haben. Das habe ich bisher nur beobachtet, wenn ihren Jungen Gefahr droh­
te. Sie scheinen uns doch irgendwie zu mögen.“

Als der Kampfplatz weit hinter ihnen lag, bat Doona um die fällige Pause.

„Es ist sowieso an der Zeit, daß wir die Bogeys jagen lassen“, stimmte Caral
zu. „Und die Gegend hier scheint mir dafür genau die richtige zu sein.“ Er
deutete auf das Wasser vor ihnen, in dem sich die Silhouette eines großen,
glitzernden Fischschwarms abzeichnete.

Erneut verständigte sich Caral über den Modulator mit seinen Bogeys. Be­

hutsam tauchten die beiden Reitfische auf, durchbrachen die Meeresoberflä­
che und warteten, bis die beiden Tanitaner aus den Sätteln geglitten waren.
Sorgfältig achteten Caral und Doona darauf, daß die Haltegurte wieder fest
am Sattel verzurrt waren, damit sie die Tiere bei der Jagd nicht störten. Der
Sattel – eine Kunststoffschale hinter dem Kopfhöcker – war den Bogeys durch
eine   schmerzlose   Operation   in   das   Hautgewebe   implantiert   worden   und
störte sie nicht weiter.

Auch das Lasttier mit der Wohnglocke war nun aufgetaucht und wurde von

seinem   Gepäck  befreit.  Die  Wohnglocke   schaukelte leicht  auf  der   ruhigen
See. Die anderen Lastbogeys konnten ungehindert jagen, da ihre Lasten in
Hautfalten   unter   ihren   Bäuchen   befestigt   waren.   Normalerweise   dienten
diese Falten als Schutz für die Jungtiere.

Während Caral und Doona noch im Wasser schwammen und die Wohnglo­

cke entsiegelten, wichen die Riesenfische nicht von ihrer Seite. Erst nachdem
sie in die Glocke  hineingekrochen  waren, zogen sie befriedigt ab. Das auf­
spritzende Wasser in der Ferne zeigte bald darauf an, daß sie im gesichteten
Fischschwarm jagten.

Die Nacht senkte sich herab. Die beiden Forscher schälten sich aus ihren

Monturen   und   genossen   die   Trockenheit   und   Wärme   in   ihrer   dahin­
treibenden Behausung.

In einer Stunde würden die Bogeys von der Jagd zurückkehren. Aber Caral

und Doona konnten sich nach dem erneuten Vergurten der Wohnglocke wei­
ter ausruhen. Der Auftrieb ihrer Unterkunft war nicht so groß, daß er den
kräftigen Lastbogey behinderte. Während der Nachtperiode würden die Tiere
allein ihren Weg durch den Ozean Tonogas finden.

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Griff ins Leere

„Ich glaube“, sagte Thunderclap, „daß die Zeit jetzt reif ist. Dunkel ist es ja

schon.“ Um das zu erkennen, mußte er nur durch die gläserne Sternenkuppel
der EUKALYPTUS­Zentrale schauen.

Draußen war Nacht. Sie kreisten bereits eine Weile über dem Wasserplane­

ten. Und da Schwatzmaul das Sternenschiff präzise über der schwimmenden
Insel hielt – wenn auch so hoch am Himmel, daß es unten kaum zu erkennen
war – war auch Nacht über der Insel. Die Dunkelheit war ebenso wichtig für
das Gelingen des Plans wie die Kenntnis der Inselstruktur. Deshalb hatten sie
auch so viel Zeit verstreichen lassen müssen.

„Je früher desto besser!“ rief Anca, die sich von Stunde zu Stunde größere

Sorgen um ihren Bruder Harpo und die anderen machte.

„Lord Appleby und seine Mannen klar zum Gefecht, Sir!“ meldete Lonzo

schnarrend und salutierte mit allen Tentakeln gleichzeitig.

„Wenn die Herrschaften vielleicht noch ein Sekündchen Zeit hätten“, kam

es mit schmeichelnder Stimme aus den Lautsprechern des Bordgehirns. „Ich
hätte da nämlich etwas Interessantes für euch!“

Aus den Lautsprechern prasselten jetzt in ohrenbetäubender Lautstärke at­

mosphärische Störungen. Vor all dem Krachen, Knacken, Säuseln und Pfeifen
konnte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. „Schwatzmauuuuuul!“
schrie Thunderclap mit überschnappender Stimme. „Wir Menschen haben
ein Trommelfell! Willst du uns taub machen?“

Obwohl sonst niemand Thunderclaps Gebrüll verstanden hatte, waren sei­

ne Worte doch über die hypersensiblen Richtmikrofone bis zu Schwatzmaul
durchgedrungen.   Schlagartig  wurde   der  Lärm  auf   einen   erträglichen   Wert
abgedämpft. „Oh, pardon“, entschuldigte sich das Bordgehirn verlegen. „Ich
hatte vergessen, die Filter vorzulegen.“

„Stöhn!“ machte Anca.
„Verflixt noch eins, was soll das ganze?“ empörte sich Micel. „Für  Späße

haben wir jetzt wirklich keine Zeit!“

„Das ist kein Spaß“, erwiderte Schwatzmaul beleidigt. „Bitte genau hinhö­

ren! Diese Sendung hören Sie nur jetzt und hier. Gleich kommt es!“ Dann
hörte man ganz schwach eine menschliche Stimme. Sie war aber so leise, daß
ihre   Worte   unverständlich   blieben.   Schwatzmaul   experimentierte   an­
scheinend   mit   seinen   elektronischen   Greifern   an   der   Tonqualität   herum,
denn plötzlich wurden die Nebengeräusche eliminiert. Die Stimme war zwar
immer noch verzerrt, aber deutlich genug, um sie als männlich einzustufen
und den Sinn der Botschaft zu verstehen: „... und deshalb fordern wir, daß
uns   das   Raumschiff   im   Austausch   gegen   die   drei   Gefangenen   übergeben
wird.   Wir   ...   natürlich   im   klaren,   werden   jedoch   Hilfe   senden   ...   wenn   ...
Einstweilen keine Sorgen, weil ... gute Überlebenschancen ... Rate dringend,
das Ultimatum anzunehmen ... sonst für nichts garantieren. Wir geben ... eine
Woche Bedenkzeit. Ende!“

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Karlie fand als erster die Fassung wieder. „So eine Frechheit!“ explodierte

er, als die Stimme verstummte. „Jetzt wissen wir endlich, daß der Überfall auf
unsere Freunde kein Zufall war. Diese Gangster haben es von Anfang an auf
unsere EUKALYPTUS abgesehen!“

„Ich möchte doch zu gerne wissen, was hinter all dem steckt“, sinnierte

Brim. „Wie kommen diese Leute überhaupt hierher? Wir sind viel zu weit von
der Erde entfernt, als daß ein Raumschiff diesen Sektor der Galaxis erreichen
könnte.   Hat   sie   vielleicht   eine   ähnliche   Katastrophe   wie   uns   hierhin   ver­
schlagen? Aber warum können sie sich denn nicht wie anständige Menschen
aufführen? Wir hätten ihnen doch gern geholfen!“

„Das hilft uns jetzt auch nicht weiter“, knurrte Thunderclap. „Wichtig ist,

daß wir ihre Pläne durchkreuzen. Aber wenigstens sehen wir klar. Wenn es
uns nicht gelingt, Harpo, Alexander und Ollie schnellstmöglich zu befreien,
werden wir bald mit ihnen auf dieser Insel dahintreiben. Aber unser Leben
lang!“

„Von woher kam denn der Funkspruch?“ wollte Bharos wissen. „Direkt von

der Insel?“ Die Frage war berechtigt, denn dem Klang nach hätte er genauso
gut vom anderen Ende der Milchstraße stammen können.

„Direkt   von   der   Insel,   verehrter   Herr   Bharos“,   säuselte   Schwatzmaul.

„Fehlerquote 0,0000000000102 Prozent. Wenn ich mir die Bemerkung erlau­
ben darf: Das ist eine verhältnismäßig geringe Fehlerquote. Tatsächlich gab
es   bei   meinen   bisherigen  Fehlerquotenberechnungen  nur   vier   Fälle,   bei
denen sie ...“

„Schwatzmaul!“ rief Anca. „Bitte, bitte, liebes Schwatzmaul, komm doch

zur Sache!“

„Aber ja doch, junge Dame. Ich wollte die Angelegenheit nur in der nötigen

Deutlichkeit darstellen. Um aber auf die Frage unseres verehrten Herrn Bha­
ros  zurückzukommen:  Offensichtlich  wurde   diese  unverschämte  Botschaft
mit   einem   leistungsstarken  Handfunkgerät  abgestrahlt.   Das   erklärt   die
akustisch schlechte Qualität.“

„Wir wissen jetzt alles, was wir wissen sollten“, schnitt Thunderclap jede

weitere   unnötige   Erörterung   des  Themas  ab.   „Wenn   ich   das   richtig   sehe,
werden   die   Gangster   frühestens   in   einigen   Tagen   mit   uns   rechnen.   Sie
nehmen ja an, daß wir zunächst beraten, dann die Beiboote starten, die Insel
anfliegen und so weiter und so weiter. Schnelligkeit ist wirklich Trumpf.“

„Na, dann wollen wir mal“, brummte Bharos. Er umfaßte Lonzos kugel­

runden Körper, worauf dieser aufschrie: „Diese kalten Finger! Entsetzlich!“

Dann hatten sich die beiden auch schon in Luft aufgelöst.
Bevor man bis drei zählen konnte, war der  Weltraumnomade  bereits zu­

rück, ergriff einen der für das Unternehmen 23­L ausgesuchten Grünen und
beförderte ihn auf die gleiche Weise zur schwimmenden Insel hinunter. Es
dauerte nur eine halbe Minute, dann waren alle drei Grünen bei Lonzo.

„Daumen drücken!“ rief Bharos und umfaßte das Mädchen. Wieder starr­

ten die Zurückgebliebenen auf einen leeren Fleck. Ihnen blieb nun wirklich

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nichts anderes übrig, als kräftig die Daumen zu drücken und zu hoffen, daß
alles gutging. Schlug der Plan fehl, war die EUKALYPTUS verloren.

Bharos hatte den Fleck sorgfältig ausgesucht, an dem er mit Anca mate­

rialisierte. Es war eine allseitig gegen Sicht geschützte Sandkuhle. Vorsorglich
legte er seinen rechten Zeigefinger an die Lippen des Mädchens, um sie vor
lauten Äußerungen zu warnen. Sie lagen hier nur etwa zwanzig Meter vom
Lager der Unbekannten entfernt. Es war düster. Erst  nach einer Weile ge­
wöhnten sich die Augen der beiden an das Dunkel und lernten, das geringe
Licht der Sterne am Nachthimmel zu verwerten.

Bharos und Anca horchten in die Finsternis hinaus, konnten aber nicht das

kleinste Geräusch registrieren. Bharos schaute auf die Uhr, die die allgemeine
Bordzeit der EUKALYPTUS anzeigte. „Gleich muß es losgehen.“

Er hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, als einige hundert Me­

ter  zu ihrer  Rechten  ein  schauriger  Gesang  aus  Maschinenkehlen  erklang.
Deutlich konnte man Lonzos total übersteuerte Grabesstimme erkennen:

„Ick heff mol in Hamburch en Veermaster sehn.“
Und die Grünen fielen genauso gruselig ein: „To my hoodah! To my hoo­

dah!“

Und wieder Lonzo: „De Masten so scheep as de Schipper sin Been.“
Die Grünen: „To my hoodah! Hoodah! Ho!“
Trotz der angespannten Situation kicherte Anca leise in sich hinein. Gleich­

zeitig horchte sie jedoch auf eventuelle Geräusche aus dem Lager. Bharos
schickte seine Gedankenfühler aus.

Plötzlich   erhob   er   sich   und   gab   einen   ziemlich  rauhen  Fluch   in   seiner

Heimatsprache von sich. Anca sah überrascht auf. So hatte sie den elfenhaft
gebauten Mann, der seit Jahrhunderten auf der Suche nach seinem Heimat­
planeten war, noch nie gesehen. „Ist etwas schiefgegangen?“

„Wir können das ganze Unternehmen abblasen“, erwiderte Bharos ärger­

lich.   „Die   Vögel   sind   ausgeflogen.   Daß   uns   so   etwas   passieren   muß!“   Im
nächsten Moment war er verschwunden. Der blecherne Shantygesang brach
ab.

Anca wartete ungeduldig auf das Wiedererscheinen des Freundes. Der be­

nötigte   etwas   länger   als   erwartet.   Dann   war   jedoch   trotz   des   schwachen
Lichts zu sehen, daß Bharos’ Augen wieder hoffnungsvoll schimmerten.

„Ich habe doch irgendwie gespürt, daß sie nicht allzuweit von uns entfernt

sind“, sagte er händereibend. „Auch wenn sie in keine der bekannten Wind­
richtungen   ausgewichen   sind.   Lonzo   hat   am   Ende   einer  Felsenhöhle,   die
einen künstlichen Eindruck macht, einen Einstieg in das Innere der Insel ent­
deckt. Wir machen jetzt sofort weiter. Plan 23­L läuft nur mit etwas Verspä­
tung. Halt dich an mir fest!“

Anca bemerkte den raschen Ortswechsel so gut wie nicht. Schon stand sie

neben Lonzo, der die Grünen gerade anwies, mit ihren eingebauten Laser­
Schweißgeräten einen Einstieg in die verschlossene Metalltür zu schneiden.

„Aber ... das heißt ja ...“ setzte Anca an. „Ich meine, die Insel ist doch nicht

etwa hohl?“

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„Klar ist sie das!“ verkündete Lonzo. „Sie ist eine Art Schiff. Innen wird es

erst richtig interessant.“

„Aber woher wißt ihr das?“ fragte Anca erstaunt, der das alles ein bißchen

zu plötzlich kam.

„Nun ...“ zögerte Lonzo, einen Blick gegen die Decke der Höhle werfend,

„bekanntlich finden blinde Computer gelegentlich auch ein Korn. Schwatz­
maul, der Gute, mit dem ich per Funk verbunden bin, hat versucht die ge­
nauen   Positionsdaten   des  Handfunkgeräts  zu   berechnen   und   stieß   dabei
darauf, daß der Standort des Geräts tiefer lag als der Meeresspiegel ...“

„Deshalb meinte ich auch eben, daß sich die Entführer keinesfalls in eine

bekannte   Himmelsrichtung   abgesetzt   hätten.   Sie   sind   unter   uns!“   Bharos
deutete   auf   den   Boden.   „Jetzt   spüre   ich   die  Gedankenimpulse  unserer
Freunde ganz deutlich. Sie halten sich in der Tiefe auf.“

„Können wir die Tür denn nicht mit Teleportation überwinden? „ fragte

Anca. „Das ginge doch viel schneller.“

Bharos zögerte. „Es würde gehen. Aber ich kenne mich dort nicht aus und

müßte mich erst orientieren. Sicherlich würde man mich bemerken. Wenn
man   mein   Verschwinden   nach   dem   ersten   Sprung   vielleicht   noch   als
optische   Täuschung   wertet,   so   ist   das  beim   zweiten   Mal   bestimmt   schon
nicht mehr der Fall. Unsere beste Chance ist, wenn ich meine Fähigkeit erst
im letzten Moment ausspiele. Es wird sowieso hinter der Tür alles schwie­
riger, weil uns keine Dunkelheit mehr schützt.“ Er zeigte auf das Licht hinter
dem gerade herauskippenden Metallstück.

„Achtung, nicht die Ränder berühren!“ warnte Lonzo, der als erster durch

das entstandene Loch kletterte. „Es ist noch glühend heiß!“ Mit seinen Tenta­
keln räumte er das herausgebrannte Metallstück etwas mehr zur Seite.

Ohne Zaudern führte Bharos Anca, Lonzo und die Grünen durch den vor

ihnen   liegenden   Gang.   Es   schien   nur   ein   Notausstieg   zu   sein,   denn   die
Durchgangsröhre  ließ   aufrechtes   Gehen   gar   nicht   zu.   Man   mußte   sich
bücken. Oder – waren die Erbauer dieser geheimnisvollen Insel viel kleiner
als sie?

„Ich spüre, daß Menschen in der Nähe sind“, wisperte Bharos. „Es sind –

Moment – die Gefangenen und zwei Bewacher. – Hört zu: Wir inszenieren das
Spiel hier noch einmal. Lonzo, du bleibst mit deinen Chorknaben hier zurück
und beginnst genau in zwei Minuten mit der Darbietung. Klar?“

Lonzo zeigte sein Einverständnis, indem er sich vor seinen „Chorknaben“

wie ein Dirigent aufbaute und mit allen vier Tentakeln gleichzeitig probediri­
gierte. Ihm war auf jeden Fall zuzutrauen ‚ daß er diese Position zwei Minu­
ten lang durchhielt.

Bharos nahm Anca bei der Hand und zog sie zum Ende der  Tunnelröhre.

Dort ging es eine Leiter hinab. Es folgte ein enger Raum, der drei Türen hatte.
Jetzt hielt Bharos es doch für angebracht, seine Teleporterfähigkeiten einzu­
setzen, zu mal er deutlich fühlte, daß unmittelbar hinter den Türen keine
Gefahr drohte. Er ließ Anca aber trotzdem nicht zurück, sondern sprang di­
rekt hinter die Tür des ersten Raumes.

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Anca   sah   sich   verwirrt   um.   Hier   ratterten   Maschinen   mit   unbekannten

Funktionen. Ob es Computer waren? Sie sahen so ähnlich aus. Ein Metall­
greifer langte in einen großen Bottich und zog eine triefende Alge hervor. Er
legte sie auf den Schirm eines kugelförmigen Geräts. Grelle Strahlen hüllten
die Alge sekundenlang ein, dann hob sie der Greifer auf und legte sie in einen
anderen Bottich.

„Ein Laboratorium“, flüsterte das  Mädchen.  Auf einmal  erschien  ihr die

hohle, schwimmende Insel gar nicht mehr so geheimnisvoll. Die Frage war
nur:   Wo   steckten   die   Erbauer?   Gab   es   keine   Besatzung?   Bharos   knirschte
plötzlich   mit   den   Zähnen   und   meinte   bedrückt:   „Ach,   es   geht   nicht!   Sie
haben Ollie mit einer Kette am Bein eines Mannes namens Erik befestigt, weil
sie offenbar   ahnen,  daß   einer  von  uns  übersinnliche   Fähigkeiten   besitzt.“
Sein nun wieder geistesabwesendes Gesicht zeigte, daß er sich mit seinen
telepathischen   Kräften   erneut   auf   die   Unbekannten   konzentrierte.   „Der
andere Mann ...“ flüsterte er, „heißt Flint. Er trägt seine Waffe  schußbereit.
Man hat mich bei meinem ersten Sprung auf die Insel also wohl doch nicht
für ein Tier gehalten. Ich muß sofort ...“

Dann war Bharos verschwunden. Offenbar sprang er zu Lonzo zurück, da­

mit der nicht  mit dem Gesang begann. Anca fühlte  sich allmählich unbe­
haglich.   Sie   hatte   bemerkt,   daß   der   Raum   eine   Verbindungstür   zum
Nachbarzimmer   besaß.   Und   nebenan   ertönte   über   das   Rasseln   der   Ma­
schinen hinweg ein heiseres, hartes Lachen.

Anca versuchte sich ganz klein zu machen. Sie starrte nervös auf den uner­

müdlich Pflanze um Pflanze vom Bottich zum Analysator und von dort zum
zweiten   Bottich   befördernden   Greifer,   sah   die   weißen  Lichtringe  an   der
silbernen Decke, die für die Beleuchtung des Raumes sorgten. Die Ringe, das
silberne Blinken überall um sie herum, die engen Wände, die ratternden Ma­
schinen, die schwarzgrauen Noppen auf dem Boden ... Ihr wurde plötzlich
ganz schwindlig. Wo blieb nur Bharos? Wenn jetzt einer der Männer herein­
kam?

Zwei   Arme   legten   sich   von   hinten   um   sie.   „Pst“,   flüsterte   Bharos.   „Wir

springen jetzt zur EUKALYPTUS zurück. Lonzo und die Grünen werden ver­
suchen, sich erst mal allein an unsere Freunde heranzuarbeiten. Sie werden
so   tun,   als   seien   sie   zu   dieser   Insel   gehörende   Roboter   ohne   eigenen
Verstand. Das werden die Entführer vielleicht schlucken.“

„Und wenn sie die Besitzer der Insel sind?“ fragte Anca ängstlich. „Wenn sie

von Anfang an zu diesem Planeten wollten?“

„Die Befürchtung hatte ich einen Augenblick lang auch“, gab Bharos zu­

rück. „Aber keine Sorge: Ich habe ihre Gedanken gelesen. Die sind hier so
fremd wie wir. Sie haben die schwimmende Insel zufällig entdeckt, als sie
hilflos im Meer trieben. Aber jetzt haben wir genug riskiert, glaube ich ...“

Anca und Bharos lösten sich auf und kehrten zur EUKALYPTUS zurück.

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Im Covallha­Garten

Sogar Caral zeigte sich beeindruckt, als die dunkle Felsenwand vor ihnen

auftauchte, die den Covallha­Garten umschloß.

Er verständige sich mit den Bogeys und sorgte dafür, daß sie einige Meter

vor dem vom Wasser angenagten Gestein verhielten. Wäre der Wasserstand
des Tonoga­Meeres drei oder vier Meter niedriger gewesen, hätte man den
Garten   als   Binnenmeer   bezeichnen   können,   das   vollständig   von   Gebirgs­
ketten eingeschlossen war.

Es war eine tiefe Senke, ein riesiger Kratersee, wenn man so wollte. Von der

Meeresoberfläche aus gesehen war diese Tatsache nicht so ohne weiteres zu
erkennen. Von dort aus sah man höchstens hier und da mal einen zackigen
Felsen, der als höchste Bergspitze aus den Fluten ragte. Ungewöhnlich war
auch   die   trübe   Färbung   dieses  Meeresabschnitts  und   das   Treiben   von
Pflanzenresten   an  der  Wasseroberfläche.   Nur   selten  –  meist   bei   schweren
Stürmen – kam es zu einem erheblichen Wasseraustausch zwischen dem Co­
vallha­Garten und dem übrigen Meer Tonogas. Dabei geschah es auch mal,
daß einzelne  Gartenbewohner  oder deren Überreste über die  Felsenmauer
geschwemmt wurden.  Daß sie die Klippen  während eines Sturmes lebend
überwanden, kam offenbar sehr selten vor. Vielleicht gingen sie auch unter
den   außerhalb   ihres  Existenzbereiches  herrschenden   Lebensbedingungen
zugrunde.

„Noch können wir uns entscheiden“, sagte Caral gelassen und drehte sich

zu Doona um. „Der längere Weg ist der sicherste.“

Aber Doona schüttelte heftig den Kopf. Verzichteten sie auf die Durchque­

rung des Covallha­Gartens, dauerte ihre Reise viel länger als vorgesehen. Und
die   damit   eingehandelten   Gefahren   würden   –   objektiv   gesehen   –   kaum
geringer sein als die, die noch vor ihnen lagen.

„Gut“,   sagte   Caral.   „Suchen   wir   uns   also   einen   Durchgang.“   Langsam

trieben die Bogeys an der Felswand entlang, der Meeresoberfläche so nah wie
möglich. Zwar wurde der Großteil des schroffen Gesteins von den obersten
Wellen   des   Wassers   überspült.   Die   Durchlässe   zwischen   Oberfläche   und
Felsen   waren   meist   so   schmal,   daß   die   Tiere   ohne   sich   an   den   scharfen
Kanten aufzuschlitzen nicht durchschwimmen konnten.

Endlich entdeckten sie eine Schlucht in der  Felsformation.  Die untersee­

ische Strömung hatte hier im Laufe der Jahrmillionen ein Bett durch den Fels
genagt,  denn die Expedition spürte  sofort den starken Sog, der sie in den
Garten hineinziehen wollte. Aber selbst dieser Zugang schien fast zu klein für
die großen Bogeys.

„Wagen wir es trotzdem“, rief Caral und führte die Formation an. Die Keil­

anordnung  mußte   für   den   Moment   aufgegeben   werden.   Die   Bogeys
passierten einer nach dem anderen den  Engpaß, wobei es genügte, daß sie
ihre Körper einfach treiben ließen. Die Strömung war stark genug.

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Bald weitete sich der schmale Durchgang zu einem breiten Tal. Die Sog­

wirkung des Wassers ließ nach. Der Felsboden des Tales wurde mehr und
mehr von Sandflächen abgelöst, in denen die ersten aufgequollenen Tangge­
wächse gediehen.

Dann waren sie im Innern des Gartens! Vor ihnen ragten Schlingpflanzen

auf, dick und hoch wie Bäume. Sie hatten sich überall am Boden in den Sand
und Humus gekrallt. Querausläufer bewegten sich im sanft wogenden Wasser
wie züngelnde Schlangen. Die Lastbogeys schlossen auf, so gut es ging, aber
es war vorauszusehen, daß die gewohnte Keilformation für längere Zeit un­
möglich sein würde.

Carals Reittier schlüpfte elegant an dem ersten Pflanzenschaft  vorbei und

verschwand im grünen Dickicht. Das Gelände war leicht abschüssig und lag
jetzt schon zehn Meter oder mehr unter der Meeresoberfläche. Aber es drang
genügend Licht von oben herab, um Einzelheiten auszumachen.

Einen   Moment   lang   fühlte   sich   Doona   beunruhigt,   als   der   Freund

verschwunden war. Aber dies war nicht der richtige Moment, um zu zaudern.
Außerdem folgten die anderen Bogeys ohnehin ihrem Leittier – selbst wenn
es dem Tod entgegenglitt. Sekunden später hatte auch Doonas Tier das Hin­
dernis elegant  umschwommen.  Caral kam wieder in Sicht. „Das wird jetzt
mehrere Stunden lang so gehen“, sagte Caral, der offenbar ahnte, welche Ge­
danken Doona in diesen Minuten bewegten. „Wenn irgend etwas Außerge­
wöhnliches   vorfällt,   mußt   du   mich   sofort   verständigen.   Ich   mache   es
genauso.   Lieber   einen   Alarm   mehr   wegen   eines   harmlosen   Schattens   als
einen zu wenig oder zu spät wegen einer nicht erkannten Gefahr!“

Doona nickte und entspannte sich ein bißchen in seinem Sattel. Er hatte

das Angebot, diesen Teil der Reise in der Wohnglocke zu verbringen, abge­
lehnt.  Dort wäre er noch unruhiger  gewesen als  angesichts  von Gefahren.
Wenn sie schon sterben mußten, dann wollte er dem Schicksal bewußt ins
Auge sehen.

Mit den zurückgelegten Kilometern verlor er jedes Gefühl für die Zeit. Er

wurde   nicht   müde,   die   phantastischen   Schöpfungen   der   Natur   zu   be­
wundern.

Bis jetzt zeigte sich ihnen der Covallha­Garten von seiner schönsten Seite.

Es war ein Rausch aus Farben und Formen, kaum etwas wiederholte sich.
Das  Bodengeflecht  tangähnlicher  Gewächse wurde von einem Teppich aus
gelben und blauen Schwämmen abgelöst, die so weich und wuschelig aussa­
hen, daß Doona Lust bekam, sich in sie hineinfallen zu lassen.  Geweihko­
rallen, stern­ und glockenförmige Meeresblumen in tausend Formen, Größen
und Farben wechselten einander in bunter Pracht ab. Ein Wald aus züngeln­
dem Seegras war so dicht und doch so nachgiebig, daß er Bogeys und Tani­
taner wie ein Kokon umschloß und diese Form noch eine Weile nach dem
Passieren bewahrte, bis die Wellen den natürlichen Zustand wieder herstell­
ten.

Alles schien ruhig und friedlich zu sein. Die größten Tiere in ihrem Blick­

feld waren Riesen krebse, die unbeirrt und desinteressiert an den Besuchern

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vorbei über den Boden krochen und die Wasserpflanzen abweideten. Die un­
gezählten Fische mit roten, gelben, grünen und silbernen Schwänzen und
Schuppen, die sie zu Gesicht bekamen, schossen fluchtartig davon, sobald sie
die massigen Körper der Bogeys auch nur in ihrer Nähe spürten. Keiner der
Fische war auch nur halb so groß wie die Bogeys, auch keiner, der es mit ih­
nen an Kraft und Schnelligkeit aufnehmen hätte können. Trotzdem mußte
Doona an die angespülten Skelette denken, die angeblich aus dem Covallha­
Garten stammten.

Da das Wasser die anderen Bestandteile des Sonnenlichts herausfilterte, lag

die unterseeische Welt in einem satten Blaugrün vor ihnen. Tiefblaue Silhou­
etten wurden bei der Annäherung erst allmählich zu einem Zartblau oder
Hellgrün.   Aber   die   zuvor   angelegten  Stirnscheinwerfer  der   Männer
erschlossen den ganzen Farbenreichtum des Gartens, wenn die Lichtkegel
wie eine leuchtende Spur durch das Wasser stießen.

„Ich   glaube,   dort   vorn   ...“   preßte   Caral   hervor,   unterbrach   sich   dann,

schrie: „Vorsicht!“ und lenkte seinen Bogey mit einem tierisch anmutenden
Schrei zur Seite.

Doona hatte den vorschnellenden Schatten im gleichen Moment ebenfalls

wahrgenommen. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend drückte er
sich gegen den Körper seines Reittieres, das reaktionsschnell auswich, als der
Schatten auf sie zujagte.

Ein   riesiges   Maul   mit   armlangen   Hauern,   jeder   einzelne   so   breit   und

krumm wie ein Türkensäbel, schnappte ins Leere. Hunderte von Zähnen grif­
fen übereinander wie ein Reißverschluß und ließen wirbelndes, aufgewühltes
Wasser zwischen den Lücken hervorschießen.

Der Kopf des Angreifers schien zur Hälfte aus Maul und Zähnen zu be­

stehen. Die Kieferknochen klappten  erneut auseinander, schnappten  nach
einem der Lastbogeys und griffen wieder ins Leere. Aber das gefräßige Wesen
war beharrlich, ungemein schnell und ungeheuer stark.

Doonas  Unterbewußtsein  registrierte  Einzelheiten,  die er erst später be­

wußt verarbeiten konnte. Der Schädel des Angreifers war lang und flach wie
der eines Krokodils – aber zehnmal so groß. Dominierend darin waren die ge­
waltigen Kiefer und Zähne. Zwei tückische, unbewegliche  Reptilaugen  fun­
kelten wie Saphire. Dann folgte ein langer, gelenkiger Hals, der ein Drittel des
Körpers einnahm. Der ovale Leib wirkte plump und schwer. Die Reaktionen
der Kreatur zeigten allerdings, daß dies ein Trugschluß war. Vier dicke, pad­
delförmige  Flossen bewegten das Raubtier durch das Wasser, ein spitz zu­
laufender Schweif steuerte seine Bewegungen. Insgesamt glich das Geschöpf
trotz seiner glatten Fischhaut eher einer Echse.

Für den Moment gelang es den Bogeys, den mörderischen Attacken des

Angreifers   durch   die   noch   schnelleren  Ausweichreaktionen  zu   entgehen.
Aber es lag auf der Hand, daß der Meeressaurier – so durfte man ihn wohl be­
zeichnen, denn er glich in einigen Einzelheiten diesen ausgestorbenen Groß­
raubtieren, die es vor Jahrmillionen auch auf dem Planeten Tanit gegeben
hatte   –   früher   oder   später   Erfolg   haben   würde.   Die   Schlinggewächse   be­

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hinderten   die   an  freie   Gewässer   gewöhnten   Bogeys   und   begünstigten   die
schlängelnden Bewegungen des Saurierhalses.

Caral hatte Mühe, die Reittiere unter Kontrolle zu halten. Obwohl sie in

einem Nahkampf mit diesem Ungetüm unterliegen mußten, waren sie drauf
und   dran,   den   Gegner   anzufallen.   Caral   versuchte   sie   mit   beruhigenden
Impulsen über den Modulator von einem sinnlosen Gegenangriff abzuhalten.

Eine mögliche Lösung des Problems wäre die Flucht gewesen. Aber es war

kaum denkbar, daß sie den Saurier ohne Verluste abhängen würden. Und we­
der Caral noch Doona wollten einen der Bogeys opfern. Caral faßte einen
Entschluß. „Du mußt die Kontrolle der Bogeys übernehmen“, meldete er sich
über Funk bei Doona. „Ich werde versuchen, das Biest abzulenken.“

„Aber das ist doch Wahnsinn“, protestierte Doona aufgelöst. „Wir ...“
„Es   ist   unsere   einzige   Chance“,   erwiderte   Caral.   Das   Ausscheren   seines

Reittieres   zeigte,   daß   er   die   Frequenz   seines   Modulators   bereits   geändert
hatte und jetzt nur noch  mit seinem eigenen  Bogey in Verbindung  stand.
Doona hatte gar keine andere Wahl mehr. Er mußte sofort handeln, wenn er
verhindern wollte, daß die Bogeys sich in ihrer selbstmörderischen Wut auf
den Saurier stürzten.

Bisher hatte Caral die Tiere allein dirigiert, aber selbstverständlich besaß

Doona einen Modulator, den er bedienen konnte. Allerdings fehlte ihm die
lange Erfahrung seines Freundes. Aber er war in der Lage, die Tiere selbst in
dieser brenzligen Situation unter Kontrolle zu halten.

Behutsam   bedienten  Doonas  Finger   die   Tastatur.  Nach   einem   winzigen

Augenblick   der   Unsicherheit,   in   dem   die   Bogeys   nervös   mit   den   Flossen
durch das Wasser peitschten, nahmen sie die Befehle des neuen Anführers
gehorsam entgegen.

Doona sendete Impulse, die Ruhe und Autorität ausstrahlten. Dann wies er

das Rudel an, seinem persönlichen Reittier zu folgen. Mit klammem Herzen
stellte   er   fest,   daß   Caral   beängstigend   nahe   an   den   Saurier  heranglitt.  Er
spielte den Köder.

Der Saurier reagierte genauso, wie Caral es vorausgesehen hatte. Seine Auf­

merksamkeit richtete sich nun ganz auf ihn. Zwar fuhr das klaffende Maul
abermals ins Leere, aber es verfehlte nur um Haaresbreite die Schwanzflosse
von   Carals   Bogey.   Dann   mußte   Doona   sich   voll   auf   den   Fluchtweg   kon­
zentrieren, wobei ein Teil seiner Aufmerksamkeit allein dem Bemühen galt,
bei den abrupten Kursänderungen zwischen den  Schlingbäumen  nicht aus
dem Sattel zu fallen.

Die Richtung war durch Carals Einsatz vorgegeben. Doonas am Handge­

lenk befestigter Kompaß zeigte, daß Caral das Untier nach Süden lockte. Also
versuchte Doona die Flucht nach Norden. Erleichtert registrierte er, daß die
Lasttiere   ihm  folgten.  Er   hatte   weder   die   Zeit   noch  den  Überblick  festzu­
stellen,   ob   die   Tiere   vollzählig   waren.   Aber   Bogeys   lebten   in   Herden.   Da
keines der Tiere bisher ein Opfer des Kampfes geworden war, durfte er davon
ausgehen, daß sein Bogey als Leitfisch akzeptiert wurde.

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Die rasende Flucht lenkte ihn von der Sorge um Caral ab. Trotzdem fühlte

sich Doona elend.

Was er insgeheim die ganze Zeit über befürchtet hatte, trat wenig später

ein. Die Bogeys stoppten ab und drängten sich trotz der sie behindernden
Pflanzen   eng   aneinander.   Doona   nahm   an,   daß   sie   eine  Schutzformation
einnehmen wollten, wie bei dem Kampf mit dem Gallertwesen. Und sie ver­
suchten ihn zu beschützen. Aber Doona befürchtete, daß es keinen Ausweg
mehr gab. Niemand würde überleben. Nicht Caral, nicht er selbst und keiner
der Bogeys. Die Expedition war gescheitert, noch ehe sie richtig begonnen
hatte: Aus dem Dunkel vor ihm glitten mit weit aufgerissenen Rachen drei
weitere Saurier heran. Der Lärm des Kampfes hatte die anderen Ungeheuer
herbeigelockt.

Putzkommando Lonzo

Hoffnungslosigkeit   wäre   kein   gutes   Wort   gewesen,   um   die   Lage   der

Gefangenen von der EUKALYPTUS zu beschreiben. Denn sowohl Harpo, als
auch Ollie und Alexander wußten genau, daß sie die Kameraden niemals im
Stich lassen würden. Und die Unterkunft, die Flint, auf der Suche nach einem
geschützten   Quartier,   überraschenderweise   aufgetan   hatte,   war   immerhin
besser als das vorherige Lager. Das Innere der mysteriösen „Insel“ war ein
Wunderwerk der Technik, eine vollrobotisiert gesteuerte Anlage, deren Zweck
ihnen allerdings bisher schleierhaft war.

Flint   hatte   die  Ansicht  geäußert,  es handle   sich   bei  dem  vegetationsbe­

wachsenen  Objekt   um   ein   Unterseeboot,   ein   beschädigtes   vielleicht,   das
nicht mehr tauchen konnte.

Erik, sein Kumpan, hatte die Insel zunächst für das Beiboot eines Raum­

schiffes   gehalten,   das   irgendwann   einmal   auf   dem   Wasserplaneten   abge­
stürzt war. Aber dagegen sprach, daß es an Bord keinerlei Unterkünfte gab.
Die Räume waren angefüllt mit Maschinen, die vor sich hin arbeiteten, offen­
bar Proben unterseeischen Lebens analysierten.

Harpo und seine Freunde meinten – helle wie sie nun einmal waren – es

hier mit einem automatischen Stützpunkt der Bewohner dieser Welt zu tun
zu haben. Andererseits gab es keine Anzeichen, daß der Wasserplanet über­
haupt   bewohnt   war.  Die   Hoffnung,   die  rechtmäßigen  Besitzer   der  Station
würden das Eindringen fremder Wesen feststellen, herbeieilen und die drei
EUKALYPTUS­Kinder von den Gangstern befreien, erfüllte sich nicht. Und
mit   jedem   Tag,   der   verstrich,   wuchs   ihre   Sorge,   es   würde   den   Gangstern
gelingen, die Übergabe der EUKALYPTUS zu erpressen.

Wie ein Alptraum flog das Geschehen an Harpos innerem Auge vorüber, als

er, die Hände gefesselt, auf dem nackten Metallboden im Inneren der Insel
lag. Immer wieder hatte er sich gegen die Entführer gewehrt und versucht zu

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fliehen. Einmal, kurz nachdem sie die Insel erreicht hatten, war es ihm auch
fast gelungen. Aber Flint und Erik hatten ihn eine halbe Stunde später ein­
gefangen. Die Insel war nicht groß genug, um sich erfolgreich zu verstecken.
Hätten sie natürlich schon am Tag ihrer Ankunft geahnt, daß es einen Weg
ins Innere gab ...

Aber das wußten sie damals noch nicht. Beim gewaltsamen Eindringen der

Gangster   in   die   Höhle   war   manches   beschädigt   worden.   Eine   der  Schalt­
wände  sah reichlich ramponiert aus. Und jetzt befanden sie sich schon seit
Tagen   in   der   Gewalt   dieser   Leute,   von   denen   niemand   wußte,   woher   sie
kamen, wer sie waren und was sie planten.

Seit Bharos auf der Insel erschienen war, ging es Ollie besonders schlecht:

Er hatte ständig die Nähe von Erik zu ertragen. Flint hatte angeordnet, daß
eine Fußfessel beide  aneinanderkettete.  Ollie hatte natürlich anfangs ziem­
lich gemotzt und sogar versucht, den Mann mit seinen Wahnsinnssprüchen
auf den Arm zu nehmen. Aber der verstand keinen Spaß. Sobald Ollie den
Mund aufmachte, bekam er einen Knuff in die Seite.

Nur wenn Ollie unaufschiebbare Geschäfte zu verrichten hatte – in einem

leeren Raum, der nach einiger Zeit nicht gerade wie ein Parfümgeschäft roch
– wurde er die Fesseln kurzfristig los. Das hieß dann aber, daß Harpo das
zweifelhafte   Vergnügen   hatte,   an   Erik   gefesselt   zu   werden.   An   Alexander
mochte sich Erik nicht anketten, vor dem hatte er Angst, was auch erklärbar
war, wenn man Alexanders Bärenzähne sah.

Erik gefiel diese  Fesselungsprozedur  natürlich ebensowenig, und er stän­

kerte bei jeder Gelegenheit. Aber hier hatte nur einer das Sagen – und das war
Flint, der Glatzkopf mit dem schwarzen Bart. Und Flint schien nicht dumm
zu sein. Unter seiner spiegelblanken Kopfhaut befand sich ein gut geöltes Ge­
hirn.

Seltsam allerdings erschien Harpo das Verhalten der beiden anderen Ent­

führer. Der Verletzte mit dem Kopfverband hatte in dieser Runde gar nichts
zu melden, das war klar. Er sprach selten ein Wort und wurde auch niemals
um seine Meinung gebeten. Er hatte Harpo einmal – in einem unbeobachte­
ten Moment – zugeblinzelt. Und er trug keine Waffe.

Die Frau, deren Name Rita war, hatte offenbar ziemliche Angst vor Flint

und Erik. Auch sie sprach  nicht  viel, versuchte aber, sooft es ging, für die
Gefangenen Erleichterungen zu erwirken. Allerdings wurden diese Vorschlä­
ge meist abgewiesen. Sie kümmerte sich in einer Weise um den Verletzten,
die Harpo vermuten ließ, daß sie ihn sehr gern hatte und in Sorge um ihn
war.

Seit dem Einstieg in die Insel hatten sie nur noch Flint und Erik zu Gesicht

bekommen. Harpo fragte sich, ob Flint das angeordnet hatte. Sicher war es
so. Möglicherweise waren Rita und der verletzte Fredy – der Name war ein­
mal gefallen – bereits ebenfalls irgendwo eingesperrt.

Allmählich wurden die Nahrungsmittel knapp, denn die Vorräte aus dem

Schlauchboot   reichten   nicht   ewig.   Den   beiden  Hauptganoven  schien   das
keine Sorgen zu bereiten. Und außerdem hatte Flint höhnisch berichtet, daß

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die EUKALYPTUS endlich die Insel entdeckt und ein Ultimatum gestellt be­
kommen hatte. „Wurde ja schließlich Zeit, daß sie uns fanden“, hatte er geki­
chert. „Sehr viel länger halten wir es hier auch nicht mehr aus.“

Zum   hundertsten   Mal   entwarf   Harpo   einen   abenteuerlichen  Fluchtplan

und verwarf ihn wieder. Alles basierte darauf, daß sie zu dritt – denn sonst
würde sich Flint bestimmt an einem Zurückbleibenden rächen – entwischen
konnten.   Harpo   glaubte,   den   Weg   an   die   Oberfläche   der   Insel   leicht   zu
finden. Irgendwann mußte die Hilfe von der EUKALYPTUS kommen. Oder es
gelang, das Schlauchboot zu flicken, das Flint nach ihrer Ankunft kurzerhand
mit   einem   Messer   beschädigt   hatte,   um   eine   Fluchtmöglichkeit   auszu­
schließen. Der springende Punkt war nur, daß es kaum denkbar war, aus der
unmittelbaren Nähe der Bewacher zu entwischen.

Der Raum, in dem sie sich meistens aufhielten, machte eine Flucht aus­

sichtslos. Er war, von einigen fest mit dem Boden verbundenen Sitzgelegen­
heiten   und   Ablagetischen   abgesehen,   völlig   leer   und   gleichförmig.   Man
konnte sich nirgendwo verstecken und nicht darauf hoffen, daß sich Erik ir­
gendwie ablenken ließ.

Tatsächlich konnte der Mann mit einer fast unheimlich anmutenden Ruhe

Stunde um Stunde vor sich hinstieren, ohne ein Wort zu sagen. Dazwischen
beschäftigte er sich jedoch damit, die Gefangenen auszufragen. Verständli­
cherweise wollte er wissen, wie sie in diesen Sektor des Weltraums kamen, so
wie Harpo und die anderen gern erfahren hätten, woher die Gangster kamen.
Mit einigen Drohungen erreichte es Erik, alles über die Geschichte der EUKA­
LYPTUS und ihrer Mannschaft zu hören.

Er und Flint wußten auf diese Weise bereits nach einem Tag, daß sie nicht

mit dem Widerstand Erwachsener rechnen mußten, was ihnen natürlich un­
geheuren Auftrieb gab. Über ihre eigene Lebensgeschichte schwiegen sie sich
jedoch trotz wiederholter Fragen beharrlich aus.

So   waren   die   Tage  vergangen,   in   denen   die   EUKALYPTUS   beinahe   den

ganzen   Wasserplaneten   abgesucht   hatte   und   schließlich   auf   die   Insel
gestoßen   war.   Flint   hatte   mit   einem   Handfunkgerät   ein   Ultimatum   abge­
strahlt und rechnete stündlich mit einer Antwort. Das war auch der Grund,
warum sich Eriks stoische Gleichmütigkeit allmählich in eine sogar für die
Gefangenen beunruhigende, unerklärliche Nervosität verwandelte.

„He!“ rief der Mann plötzlich, richtete sich auf und entsicherte seine Waffe.
Harpo schreckte hoch. Erst wußte er nicht, was in Erik gefahren war. Doch

dann   begriff   er,   was   ihn   aufregte.   Aus   dem   Nebenraum   erklangen   harte
Schritte, die sich zweifelsohne unabänderlich auf die Türe zubewegten.

Harpo und Alexander waren so hellwach wie ihr Wächter, als die Metalltür

aufgestoßen wurde. Nur Ollie schlief an Eriks Seite und sägte dabei einen
Tannenwald ab.

Nahten die Befreier?
Aber ... Es war auch nicht Flint, der den Raum betrat. Der kündigte sich so­

wieso immer erst durch sein lautes Organ an.

Es war – Lonzo! Und hinter ihm kamen drei der Grünen herein.

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Harpo unterdrückte einen leisen Aufschrei der Freude und sah, daß auch

Alexander sich erstaunt eine seiner mächtigen Bärenpranken vor den Mund
legte. Ungerührt glitt Lonzo mit den Grünen heran. Scheinbar desinteressiert
an   den   Insassen   des   Raumes   fummelten   sie   mit   ihren   Tentakeln   an   den
glatten Metallwänden herum, als hätten sie den Auftrag erhalten, eine In­
spektion auszuführen oder dort Staub zu wischen.

„Wo kommen diese verdammten Roboter her?“ fragte Erik verdutzt. „Wir

haben diese komische Insel doch vom Keller bis zum Dachboden einer Un­
tersuchung unterzogen.“ Seine Augen blitzten mißtrauisch. Er richtete sich
ganz auf, wobei Ollies Bein unsanft zur Seite gezerrt wurde. Ollie bewegte
sich im Schlaf unruhig hin zu her.

„Hinaus, ihr Biester!“ schrie Erik ziemlich fassungslos und fuchtelte mit sei­

nem Laser herum. Aber die Roboter reagierten nicht und fuhren gemächlich
in ihrem Tun fort. Allmählich kamen sie dabei Erik immer näher ...

„Bleibt mir vom Leib!“ schrie er aufgebracht. „Flint! Flint! Wo steckst du?“
In diesem Moment erwachte Ollie, der ansonsten einen gesunden Schlaf

hatte,   sah   ungläubig   auf   Lonzo   und   seine   Genossen   und   krähte,   nicht
wissend, daß die den Eindruck zu erwecken suchten, als gehörten sie zum In­
ventar der Insel: „Mensch, Lonzo, alter Kumpel ...“ Als er jedoch sah, was er
da angerichtet hatte, hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Aber es
war schon geschehen.

„Der Wicht kennt die Roboter! Abgekartetes Spiel!“ fluchte Erik.
Bevor er etwas Dummes anstellen konnte, war Lonzo mit einem gewaltigen

Satz seiner elastischen Beine heran und peitschte ihm mit zwei Tentakeln
gleichzeitig  den Laser aus der Hand.  Scheppernd fiel die Waffe zu Boden,
aber zum Glück löste sich kein einziger Schuß.

Während Lonzo mit zweien seiner Greifarme nach dem Ding angelte, stieß

er Erik mit den anderen beiden heftig zurück. Ollie zog geistesgegenwärtig an
der Beinfessel und brachte ihn damit vollends zu Fall.

„In Ordnung“, kam es plötzlich von der Tür her. „Das reicht wohl!“ Flint

stand dort und zielte mit seinem Laser auf Alexander. „Die Waffe mit dem
Griff   nach   vorn   sofort   Erik   übergeben“,   kommandierte   er   frech.   „Sonst
versenge ich dem Dicken hier das Fell!“

„Dicker?“ grunzte Alexander wütend und zerrte an seinen Fesseln. „Wo ist

hier ein Dicker?

„Nur unter Protest, Herr  Obergangster“, knurrte Lonzo, tat aber, was von

ihm verlangt wurde. Mit verkniffenem Mund nahm Erik den Laser entgegen.
Mit der anderen Hand löste er das Schloß der Kette, die ihn mit Ollie verband.
Der rieb sich das Bein, als er endlich frei war.

„Ich konnte nichts dafür, Flint“, brummte Erik. „Was machen wir nun? Ich

hab’ es auf jeden Fall satt, an diesen Bengel gefesselt zu sein. Du siehst ja, daß
die Fessel mehr behindert als nützt!“

„Na schön“, sagte Flint. „Aber wir dürfen ihn nicht aus den Augen lassen.“

Er überlegte eine Weile und fügte dann hinzu: „Es dürfte den Leuten auf dem
Raumschiff jetzt klargeworden sein, daß sie gegen uns keine Chance haben.

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Ich werde das Ultimatum jetzt erneut stellen und eine sofortige Entscheidung
verlangen. Ehe sie uns eine ganze Kompanie von diesen verfluchten  Eisen­
kerlen auf den Hals schicken, müssen wir hier raus sein. Ich schätze, daß es
sie ganz schön beeindrucken wird, wenn sie erfahren, daß wir ihr Putzkom­
mando entlarvt und festgesetzt haben. Trotzdem wollen wir vorher auf jeden
Fall noch einen Rundgang machen, um nachzusehen, ob sie nicht noch eine
von diesen unliebsamen Überraschungen für uns vorbereitet haben.“ Und zu
den  Gefangenen  gewandt  meinte er:  „Der  Knirps  hier  wird   uns  begleiten.
Wenn ihr ihn unversehrt wiedersehen wollt, rate ich euch, zu bleiben wo ihr
seid. Und macht keine dummen Sachen!“ Er winkte Ollie heran.

Der zögerte zuerst, biß sich dann aber tapfer auf die Unterlippe und folgte.

Die Tür fiel zu und wurde von außen verriegelt.

„Das  wäre für  den  Sonderbevollmächtigten  für  Tricks,  Haken  und   Ösen

kein   Hindernis“,   knurrte   Lonzo   verächtlich.   „Normalerweise   könnten   wir
problemlos ein Loch hineinschneiden. Aber lieber nicht. Wer weiß, was die
dann mit dem Schiffsjungen Oliver anstellen!“

„Daß   dieser   Flint   auch   ausgerechnet   in   diesem   Moment   auftauchen

mußte!“   schimpfte   Harpo   und   ballte   die   Fäuste.   „Trotzdem,   Lonzo.   Jetzt
mußt du erst einmal berichten. Was machen die anderen? Was habt ihr in­
zwischen getrieben?“

„Es begann eigentlich alles mit Captain Kidd“, setzte der Roboter an.
„Lonzo!“   protestierte   Alexander.   „Keine   Räubergeschichten   jetzt!   Wir

wollen wissen, wie ...“

„Aber das hat wirklich mit Captain Kidd zu tun!“ trompetete Lonzo. „Oder

genauer gesagt mit Cham Ping Yong, seinem zweiten Steuermann. Ihr müßt
nämlich wissen, daß er seinerzeit einen listigen Plan entwickelte, um Captain
Bligh einen Schatz abzujagen. Und außerdem konnte er kein R aussprechen.
Abel ihl wollt jetzt natüllich ... Intelgalaktischel Dleck! Meine Löhle ist wiedel
im Eimel!“

Harpo und Alexander wußten nicht, ob sie nun lachen oder weinen sollten.

Aber schließlich brachte Lonzo – mit vielen Ls und ohne Rs – seine komische
Geschichte des Plans 23­L doch noch zu Ende.

Die Aussichten waren düster, das mußten alle zugeben, denn Flint und Erik

würden sich nun nicht mehr so leicht überlisten lassen. Sie würden keine Se­
kunde mehr unaufmerksam sein – bis die EUKALYPTUS in ihrem Besitz war.

Und das konnte bereits in Kürze der Fall sein!

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Im Reich der Froschmenschen

Doona hing bewegungslos auf seinem Bogey. Er war zu keiner Gefühlsre­

gung mehr fähig, nicht einmal zur Panik. Aber sein Reittier reagierte für ihn
und achtete allein auf die Gefahr. Es warf den massigen Körper herum und
entging den zuklappenden Kiefern des vordersten Sauriers.

Die abrupte Wendung des Bogeys brachte Doona wieder zur Besinnung.

Die aufgestauten Gefühle brachen mit plötzlicher Wucht über ihn herein. So
verrückt der Gedanke war: Am liebsten hätte er sich auf einen der Saurier ge­
stürzt  und  ihn mit   Faustschlägen   traktiert.  Mit  einem  Anflug  von Galgen­
humor   fragte   er   sich,   welches   Formblatt   für   eine   solche   Aktion   wohl
auszufüllen war ...

Die Saurier gingen unerwartet planvoll vor. Nur das vorderste Tier jagte

wütend   zwischen   den   Bogeys   umher,   ohne   auch   nur   einen   ernstlich   in
Gefahr zu bringen.

Die   beiden   Angreifer   schwärmten   aus.   Tatenlos   verfolgten   sie   von   den

Flanken her die Vorstöße ihres beißwütigen Artgenossen. Immerhin hatten
sie sich so postiert, daß es Selbstmord war, sich auf einen Ausbruchsversuch
im Bereich des vorderen  Fluchtradius  vorzubereiten. Eine Wand aus bröck­
ligem Gestein und engmaschigen Wasserpflanzen verwehrte im Hintergrund
das Entkommen. Wie es schien, war dieser Teil des Covallha­Gartens eine
maßgeschneiderte Falle. Sicher jagten die Saurier hier nicht zum ersten Mal.

Als Doona den zweiten Teil ihre Plans erkannte, war es bereits zu spät, ihn

zu durchkreuzen. Der scheinbar ziellos um sich beißende Saurier hatte die
Aufgabe,   die  Bogeyherde  zusammenzuhalten   und   noch   dichter   an   den
Pflanzenvorhang zu treiben. Die zuckenden Flossen der beiden anderen Tie­
re zeigten, daß sie sich im nächsten Moment auf ihre Opfer stürzen würden.

Aber  der Angriff  wurde  niemals ausgeführt.  Ein   dunkelroter  Schein  ent­

stand auf dem Boden des Meeres, der sich in Bruchteilen von Sekunden zu
einem hellroten Glosen steigerte.

Die Saurier zögerten nicht einen einzigen  Flossenschlag  lang. Sie drehten

ab und jagten wie von Furien gehetzt davon, eine lange  Schaumspur  hinter
sich herziehend.

Während Doonas Finger über die Tastatur des Modulators jagten, wurden

die ersten Gesteinsbrocken vom Boden des Meeres aufgewirbelt. Gebremst
durch die Widerstandskraft des Wassers bewegten sie sich gespenstisch lang­
sam   voran   und   sanken   schnell   wieder   herab.   Aber   über   die   Ursache   der
hochschnellenden   Steine   gab   es   für   Doona   keinen   Zweifel:   Ein   untersee­
ischer Vulkan war erwacht! Er stand unmittelbar vor dem Ausbruch.

Flucht! Noch bevor die Ultraschallwellen des Modulators die Gehirne der

Bogeys erreichten, schossen die Tiere pfeilschnell aus der Gefahrenzone.

Doona  krallte sich  im  Sattel  fest. Niemand   konnte   sagen,  ob  überhaupt

eine Überlebenschance für die Herde bestand. Aber wenn er jetzt den Halt
verlor, gab es für ihn keine Hoffnung mehr.

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In Doonas Kopf jagten die Gedanken. Er hatte davon gehört, daß in diesem

Meeresbereich von Meßsonden tätige Vulkane registriert worden waren. Aber
viel half ihm dieses Wissen jetzt auch nicht. Die Bogeys und er – und Caral,
wenn er noch lebte – hatten nur dann eine Chance, wenn es ihnen gelang,
viele tausend Meter zwischen sich und dem  Ausbruchsherd  zurückzulegen,
bevor   die   eigentlichen   Eruptionen   einsetzten.   Und   selbst   dann   waren   sie
noch auf die Hilfe einer Schar von Schutzengeln angewiesen.

Der Vulkan durfte im Grund nur ein bißchen knurren und dabei höchstens

ein   paar   hundert   Tonnen   Gestein   durch   das   Wasser   schleudern.   Einen
starken Ausbruch, verbunden mit einem Seebeben, würde niemand im Um­
kreis von zehn oder zwanzig Kilometern überleben. In den letzten zwei Jah­
ren   hatte   es   vier   starke   Eruptionen   gegeben,   bei   denen   kurzzeitig   spitze
Felsnadeln als neue Inseln aus der See gewachsen waren.

Trotz  der  Hast verlief die Flucht  diszipliniert.  Selbst  in  diesem  Moment

schwammen die Bogeys noch in Formation und schirmten Doonas Leittier
nach hinten mit ihren Leibern ab. Aber gegen die  Felsgeschosse  eines Vul­
kans würden sie nichts ausrichten können.

Doona bemerkte, daß die Herde die Fluchtrichtung änderte. Sie waren zu­

nächst  den flüchtenden  Sauriern  gefolgt,  weil  dort die einzige  passierbare
Wasserstraße verlief.

Wo   nicht   bereits   ein   natürlicher  Schlupftunnel  zwischen   den   riesigen

Wasserpflanzen existierte, hatten die schweren Leiber der  Raubsaurier  ihn
jetzt in das Pflanzendickicht gefräst.

Auf ihren Spuren kam man schneller voran als auf jedem anderen Weg. In­

zwischen suchten sich die Bogeys jedoch ihre eigene Bahn durch das Laby­
rinth der Wasserpflanzen und bemühten sich, zwischen beide Gefahren – den
Vulkan und die Saurier –gleich viel Abstand zu bringen.

Die Bogeys bogen ihre massigen Körper wie  Gummileiber  und jagten im

Slalom   zwischen   den   Gewächsen   hindurch.   Mehr   als   einmal   streifte   ein
Pflanzenstrang  Doonas   Körper,   mehr   als   einmal   klatschten   ihm   aufge­
dunsene  Pflanzenpolster,  wassersackähnliche  Algen   und   Schwämme   ins
Gesicht oder gegen die Schultern, und mehr als einmal fühlte er sich dabei
schon halb aus dem Sattel gehoben.

Aber irgendwie gelang es ihm, sich auf seinem Reittier zu halten. Weiter

ging die wilde Jagd. Ein Ende war nicht abzusehen. Doona durchlebte diesen
Alptraum   im   zähen   Kampf   mit   sich   selbst.   Er   war   mehrfach   nahe   daran,
einfach  loszulassen  und aufzugeben. So kämpfte er Sekunde um Sekunde,
Minute um Minute. Ein gutes Ende der Flucht schien ihm so fern wie das
Licht der Sterne. Der Vulkanausbruch war nicht aufzuhalten.

Dann geschah es. Doona hörte ein Stöhnen und Fauchen, als würde ein

Riese aus einem jahrhundertelangen Schlaf erwachen und dabei entdecken,
daß ihn jemand gefesselt hatte. Der Riese zeigte nun, daß die dicken Taue für
ihn  nichts  weiter  als  lächerlich  dünne  Bindfäden   waren:  Er  zerriß  sie mit
einem harten Ruck seiner starken Muskeln.

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Das letzte, was Doona spürte, war der Hieb einer Titanenfaust, die ihn aus

dem Sattel fegte und durch das Wasser wirbelte, wie ein Sturm ein loses Blatt
durch die Luft tanzen läßt. Es preßte ihm den Brustkasten zusammen. Dann
verlor Doona das Bewußtsein.

Als er wieder erwachte, schmerzten alle seine Glieder. Wenn er es darauf

angelegt hätte, wäre es ihm  leichtgefallen, jeden einzelnen Knochen seines
Körpers   zu   zählen.   Denn   jeder   tat   erbärmlich   weh.   Selbst   das   Atmen   fiel
schwer. Aber nachdem er vorsichtig die Lungen bis zu den äußersten Spitzen
mit Luft gefüllt hatte und dabei den Brustkorb anschwellen ließ, glaubte er
mit   einiger   Erleichterung   feststellen   zu   können,   daß   er   noch   intakt   war.
Nichts war gebrochen. Er lebte.

Es war stockdunkel. Im ersten  Moment jedenfalls. Dann bemerkte  er in

einiger   Entfernung   ein   schwaches,   blaugrünes   Schimmern.   Seine   Augen
hatten sich an die Umgebung gewöhnt und registrierten einige schattenhafte
Umrisse.

Wo war er?
Er konnte seinen Standort nicht identifizieren. Bestürzt stellte er fest, daß

sein Atemgerät fehlte. Auch der Zylinder mit dem Sauerstoffvorrat hing nicht
an der gewohnten Stelle seines Rückens. Panik erfaßte ihn, aber er konnte sie
schnell   unterdrücken.   Er   atmete   ja,   also   drohte   ihm   keine   unmittelbare
Gefahr.   Endlich   gelang   es   Doona,   die   einzelnen   Sinneseindrücke   zu   ko­
ordinieren. Unter sich spürte er ein Lager aus weichen Pflanzen. Seitlich da­
von fühlte  er nackten Fels. Er  tastete  den Boden  ab, stieß auf Metall:  das
Atemgerät, der Sauerstofftank! Dann fuhr er mit den Händen über den Kunst­
stoff­Overall. Die Kapuze war geöffnet, die Brust Doonas entblößt. Der Over­
all war trocken, ebenso sein Körper. Das konnte nur bedeuten .... Er befand
sich überhaupt nicht mehr im Wasser!

Noch immer war ihm unklar, wo er sich befand und wie er hierhergelangt

war.   Aber   nach   allem,   was   er   mühsam   erkennen   konnte,   lag   er   auf   dem
Boden einer Höhle, deren einzig sichtbarer Zugang eine Wasserkammer war.
Von dorther, aus dem Wasser, drang das blaugrüne Licht.

Auf allen vieren kroch Doona dicht an das Wasserloch heran. Ja, das Licht

fiel von außerhalb auf das Wasser und gab ein wenig Leuchtkraft bis in das
Innere der Höhle ab. Es war allerdings zu schwach, um die Ausmaße der un­
bekannten Umgebung zu erkennen.

Ob er sich nun in einer  Felsengrotte  am Fuße einer kleinen Insel befand

oder in einer Luftblase am Meeresboden eingeschlossen war – jedenfalls leb­
te er. Auch wenn er nicht wußte, wie er hierhergekommen war und wo die
Bogeys  steckten.  Wo  mochte   Caral  sein?   Wie war  es  ihm   und   den   Tieren
ergangen? Immer wieder kreisten Doonas Gedanken um diese Fragen. Daß er
auf sich allein gestellt ziemlich hilflos war und sein Ziel niemals erreichen
würde, erschien ihm dabei nur von geringer Bedeutung. Das Expeditionsziel
war unter den Ereignissen der letzten Stunden in weite Ferne gerückt. Jeder
weitere Gedanke daran erschien ihm als Zeitverschwendung. Doona war rat­
los. Er fühlte sich körperlich und geistig erschöpft. Die Anspannung der letz­

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ten Stunden zeigte ihre Wirkung. Zu viele Reserven hatten bei der Flucht mo­
bilisiert werden müssen. Die Augen fielen ihm zu. Er war sogar zu müde, um
zu seinem Lager zurückzukriechen. Das Lager! – Wenn alles andere ein Zufall
war   –  diese  Unterlage  aus   Pflanzen   hatte  jemand  für  ihn   ausgebreitet.   Es
mußte ein Freund gewesen sein.

Dann bemerkte er mehrere Schatten im Wasser. Doona riß sich zusammen

und raffte sich noch einmal auf. Mehrere Wesen stiegen tropfend aus dem
Wasserloch. Er wurde angehoben und von feuchten, glitschigen Gliedern ge­
packt und zu seinem Lager getragen.

Starr hing Doona zwischen den fremden Wesen. Er fühlte sich einsam und

verzweifelt.   Ausgeliefert.   Eines   der   Wesen   klickte   in   der   Nähe   mit   zwei
Steinen. Plötzlich glomm ein kleines Feuer auf, das in kurzer Zeit wärmend
emporzüngelte.

Doona sank auf das Lager zurück. Seine Augen ruhten ungläubig auf den

seltsamen   Gestalten.   Es   waren   sechs.   Sie   sahen   aus   wie   ...,   wie  men­
schengroße,   schlanke   Frösche  mit   dünnen   Gliedern   und   Schwimmhäuten
zwischen Zehen und Fingern. Faustgroße, reglose Glotzaugen starrten auf ihn
herab.   Sie   ruhten   in   verhältnismäßig   großen   Schädeln,   die   Doona   einmal
flach wie Pfannkuchen, dann wieder wie im Nacken spitz zulaufende Prisma­
toide erschienen, je nachdem, ob er sie von vorne oder von der Seite betrach­
tete.

An   den   Übergängen   zwischen   Kopf   und   Rumpf   waren   Kiemen   zu   er­

kennen. Dennoch schienen die Wesen auch über Lungen zu verfügen, denn
sie bewegten sich ohne Mühe in der Sauerstoffatmosphäre.

Wer waren diese Amphibien? Warum hatten sie ihn gerettet? Weil er in Not

gewesen war – oder weil sie etwas von ihm wollten? Doona blinzelte gegen
den Feuerschein an. Hinter den Flammen sah er einen Neuankömmling aus
dem   Wasser  steigen.   Er   konnte   nur   Umrisse   erkennen,   aber   irgend   etwas
wirkte vertraut. Das war kein weiterer Froschmensch, sondern ...

„Doona!“ rief Caral und streifte im Gehen seine Tauchkapuze ab – die Mas­

ke hatte er bereits beim Auftauchen vom Mund genommen. Er eilte auf den
am Boden liegenden Doona zu.

Die Amphibien bildeten bereitwillig eine Gasse, traten zurück, als sich Ca­

ral über den Freund beugte.

„Das war knapp, was?“ sagte er mit ernster Stimme. „Wenn die Cruggs dich

nicht hierhergeschleppt hätten – ich wäre zu spät gekommen!“

„Daß du es geschafft hast!“ flüsterte Doona und hielt die Hände des älteren

Mannes. So matt er sich auch fühlte – jetzt hatte er wieder Hoffnung.

„Der Saurier hat mich und den Bogey so weit vom  Bebenzentrum wegge­

jagt,   daß  wir   gut   mit   der   Druckwelle  fertigwurden“,  berichtete  Caral.  „Du
warst mit den anderen erheblich näher dran.“

„Haben die Bogeys es geschafft?“
„Ja, wie durch ein Wunder. Einige wurden versprengt und fanden erst vor

Stunden wieder zu uns zurück. Sie sind dem Leitstrahl des Modulators ge­
folgt. Du kannst dich übrigens bei den Bogeys ebenfalls bedanken. Sie hatten

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sich schützend über dir versammelt, als du bewußtlos auf dem Meeresgrund
lagst. Sie wollten dich nicht aufgeben. Erst durch dieses seltsame Verhalten
wurden die Cruggs auf dich aufmerksam. Wußtest du übrigens, daß sie sich
ebenfalls durch Ultraschall verständigen?

„Ich wußte nicht mal, daß es sie gibt“, sagte Doona schwach.
„Na, woher auch“, meinte Caral lächelnd. „Aber allein dadurch gelang es

unseren neuen Freunden, die Bogeys soweit zu beruhigen, daß sie sie an dich
heranließen.  Inzwischen hatte ich  über den Modulator  mit  ihnen  Kontakt
aufgenommen.   Gespräche   in   unserem   Sinn   sind   natürlich   nicht   möglich,
dazu sind die Geräte zu primitiv. Aber die wichtigsten Empfindungen und
Wünsche lassen sich doch mit ihnen ausdrücken.“

„Wie hast du mich gefunden?“ wollte Doona wissen. Er fühlte sich wieder

etwas besser.

„Wie die anderen Bogeys dich auch gefunden haben: Durch die Impulse

deines eingeschalteten Modulators. Im ersten Moment dachte ich, die Cruggs
hätten dich  gefangengenommen. Aber das Mißverständnis  war rasch aufge­
klärt.“

„Und was sind die ... Cruggs für Wesen? Sind sie intelligent?“
„Das kannst du laut sagen, auch wenn es deinen Vorgesetzten auf SHAVAC­

COR­Zentral sicher nicht in das Konzept paßt. Sie leben in geringer Anzahl in
seichten Bereichen des Meeres, ziehen sich aber als Amphibien gerne aufs
Trockene zurück und werden überraschend gut mit ihren Feinden fertig. Sie
imitieren den Todesschrei der Saurier und anderer Meeresräuber und halten
sich die Bestien dadurch vom Leibe.“

Doona mußte grinsen. „Wie lange liege ich eigentlich schon hier unten –

wir sind doch ‚unten‘, oder?“

„Ja, aber die Höhle liegt nicht tief – höchstens zehn Meter unter dem Mee­

resspiegel. Sie scheint Teil eines größeren Labyrinths zu sein. Und was die
andere Frage betrifft: Du warst stundenlang bewußtlos.“

„So lange? Da wird es aber Zeit, daß ich mich endlich aufrapple!“
Caral drückte ihn sanft auf das Lager zurück. „Du wirst dich noch ein paar

Stunden erholen. Wir versäumen hier nichts, sondern sammeln im Gegenteil
wertvolles Forschungsmaterial.“

Unternehmen Tiefkühlkost

Die Stimmung an Bord der EUKALYPTUS war dem Nullpunkt ziemlich na­

he. Und das war auch verständlich, denn daß Lonzos Aktion fehlgeschlagen
war, stand nach einigen Stunden der Abwesenheit für jeden fest. Zu allem
Überdruß  hatten sie keine Funkverbindung  mehr mit Lonzo. Das ließ das
Schlimmste befürchten, konnte aber auch bedeuten, daß man ihn irgendwo
festhielt, wo die Wandung das Durchdringen von Funkwellen verhinderte.

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Thunderclap   zischte   mit   seinem   Rollstuhl   seit   dem   Beginn   von   Lonzos

Schweigen wie ein Rennfahrer durch die weiträumige Zentrale, wobei er ab­
wechselnd die Fäuste ballte und greuliche Raumfahrerflüche ausstieß.

„Schwatzmaul“, knurrte er plötzlich, „eine Idee muß her!“
Die auf der EUKALYPTUS verbliebene Mannschaft blickte auf. Wenn ihren

Freund Thunderclap etwas piesackte, war er nicht zu bremsen, das hatten sie
alle schon öfters erlebt. Probleme waren für ihn da, um gelöst zu werden.
Und dabei  konnte  der gelähmte Junge  verflixt  hartnäckig  sein!  „Wenn die
vierundzwanzig Stunden des Tages nicht ausreichen“, war eine seiner stän­
digen Redewendungen, „dann nehmen wir eben noch die Nacht hinzu!“

Schwatzmaul war sofort einverstanden. „Jawohl, Herr Kommandant. Eine

Idee. Ich eile!“ Geschäftig ratterten seine Rechensysteme.

Etwas machte klick. Das Rattern hörte auf. Die Mannschaft – nun auf Brim,

Karlie,   Anca,   Micel,   Bharos,   Trompo   und   Thunderclap   zusammenge­
schrumpft – spitzte die Ohren.

„Ich   habe   die   Lösung“,   gab   Schwatzmaul   bekannt.   „Wir   gehen   auf   das

Ultimatum   der   Piraten   ein   und   übergeben   ihnen   die   EUKALYPTUS
kampflos!“

„Was?“ schrie Thunderclap. Er stellte sich vor Empörung beinahe hin. „Das

ist Wahnsinn!“ „Das ist Verrat!“ trompetete Trompo.

„Was meint er?“ fragte Micel Fopp kopfschüttelnd. Leider war er nicht in

der Lage, die Gedanken einer Maschine zu lesen.

Ancas Unterlippe zitterte etwas, während Brim sich zweifelnd an seinen

schwarzen Krauskopf faßte und in die Wange kniff. „Aber ich träume doch
gar nicht“, murmelte er.

Aus   Schwatzmauls   Innerem   war  jetzt   ein   seltsames   Geräusch   zu  hören.

Bharos, der mit ziemlich unbeweglichem Gesicht der ganzen Szene gefolgt
war, sprang plötzlich auf, die Augen weit geöffnet.

„D­d­der Computer!“ stieß er hervor und deutete entsetzt mit dem Finger

auf Schwatzmauls Verkleidung. „Er lacht!“

„He, he, he!“ grinste Thunderclap wie ein Faun. Na klar lacht er! Er ist ja

auch kaputt!“

„Kaputt?“ Bharos sah seine neuen Freunde zweifelnd an. „Aber wie könnt

ihr   von   einem   kaputten   Computer   Berechnungen   vornehmen   lassen?“   Er
verstand offenbar das Universum nicht mehr.

„Du kennst wohl doch noch nicht alle Macken, die Schwatzmaul hat“, sag­

te Karlie grinsend. „In ein paar Wochen wirst du dich über gar nichts mehr
wundern, Bharos. Wir jedenfalls haben das Wundern alle längst aufgegeben.“

„Also   Spaß   beiseite“,   meinte   Thunderclap   so   ruhig   er   konnte.   „Wenn

Schwatzmaul uns was Irrsinniges vorschlägt, können wir in der Regel davon
ausgehen, daß es das nicht etwa tut, weil bei ihm eine Schraube locker ist. Es
wird sich schon was dabei gedacht haben ...“ Er warf Schwatzmauls Hülle
einen zweifelnden und warnenden Blick zugleich zu. „Oder habe ich mich ge­
irrt, Schwatzmaul?“

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„Es ist in der Tat so, wie Thunderclap es ausdrückt“, kam die steife Antwort

des Computers. „Der unmaßgebliche Vorschlag meiner Wenigkeit zielt dar­
aufhin ab, daß ...“

„Schwatzmaul!“ heulte die Besatzung.
„... dahin“, setzte Schwatzmaul erneut an und produzierte ein schüchter­

nes Räuspern, „daß wir zwei Kuriere zu Flint hinunter schicken und ihm an­
bieten, unter gewissen Bedingungen seine Forderung anzunehmen. Wenn er
der   Querkopf   ist,   für   den   ich   ihn   aufgrund   einer  Stimmcharakteranalyse
halte, wird er die Parlamentäre zusammenschreien. Dies sollte er tun, um zu
glauben, sie damit eingeschüchtert zu haben. Die Parlamentäre zeigen sich
ängstlich und verschreckt und übertragen diese Ängstlichkeit pro forma auf
die anderen Besatzungsmitglieder. Dies ist wichtig, weil Flint und seine Leute
sich absolut sicher fühlen müssen, wenn sie die Gleitboote besteigen und
zu ... ähm ... mir hinauffliegen.“

„Und dann hauen sie ab“, sagte Anca.
„Quatsch!“ fiel Brim ein. Er fing plötzlich zu lachen an. „Hohoho! Jetzt ver­

stehe ich!“ Er sprang auf, nahm Anca in die Arme, gab ihr einen knallenden
Riesenschmatzer und wirbelte sie herum, während ihm die Lachtränen über
die Wangen liefen. Anca fiel plötzlich in das Gelächter ein, dann folgte Micel,
der ihre Gedanken las. Thunderclap begann zu glucksen wie ein Frosch mit
Magenschmerzen,  Bharos  kicherte  listig   und Trompo   schmetterte  die  Ou­
vertüre aus der Oper „Komm rein und mach die Tür zu, denn draußen ist es
schweinisch kalt“.

Der einzige, der wieder mal schwer von Begriff war, war Karlie. Mit einem

Finger zwischen den Zähnen fragte er: „Na und? Was soll daran so komisch...“

Seine   Miene   hellte   sich   erst   auf,   als   sich   die   anderen   von   ihrem   Anfall

längst wieder erholt hatten. Er war eben manchmal ein Spätzünder.

Eine   rasche   Abstimmung   ergab,   daß   niemand   etwas   gegen   das   von

Schwatzmaul projektierte Unternehmen „Tiefkühlkost“ einzuwenden hatte.
Strengste Geheimhaltung wurde beschlossen, auch wenn an Bord niemand
war, der den Plan, der mehr Erfolg versprach als Lonzos 23­L, hätte verraten
können.

Als   Kuriere   wurden   diesmal   Thunderclap   und   Anca   ausgewählt.   Man

erhoffte eine starke psychologische Wirkung auf die Gegner, die sicher glau­
ben würden, mit einem Rollstuhlfahrer und einem Mädchen leichtes Spiel zu
haben. Thunderclap war sowieso wild darauf, endlich einmal wieder planeta­
re Natur zu sehen und zu riechen, auch wenn sie  größtenteils  aus Wasser
bestand. Da er wegen der Transportschwierigkeiten seines Rollstuhls sowieso
meist darauf verzichtete, die EUKALYPTUS zu verlassen, konnte und wollte
ihm diesmal natürlich niemand diesen Wunsch abschlagen.

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Neue Gäste auf der Insel

Bald nach den dramatischen Ereignissen im Covallha­Garten brach die Ex­

pedition wieder auf. Die Stunden der Ruhe hatten Doona gut getan, und sei­
ne Erschöpfung war neuem Tatendrang gewichen.

Auf der anderen Seite wäre er gern noch einige Tage bei den Cruggs ge­

blieben, denn viele Rätsel über die Herkunft und Kultur dieser Wesen blieben
ungelöst.   Hoffentlich   würde   es   auf   der   Rückreise   Gelegenheit   geben,   hier
einige Tage zu verbringen.

Mehrere Cruggs begleiteten Caral und Doona mit ihren Bogeys, aber bald

blieben sie winkend zurück, denn die Reittiere waren doch zu schnell für sie.

Doona  dachte   noch  eine  ganze  Weile  über  seine  Retter   nach.   Ungefähr

hundert von ihnen lebten in einer Gemeinschaft zusammen, die wohl mit
einem Stamm zu vergleichen war. Es gab auch andere Crugg­Stämme in Co­
vallha­Garten und sicher auch anderswo auf Tonoga. Aber sie schienen einer
aussterbenden Art anzugehören: Sie waren darauf angewiesen, sich öfter aus
dem Wasser an Land zurückzuziehen, insbesondere deshalb, weil ihr Nach­
wuchs erst einige Monate nach der Geburt funktionsfähige Kiemen bildete.
All dies deutete darauf hin, daß sie früher einmal in Sümpfen gelebt hatten.
Vermutlich hatte es vor Tausenden von Jahren noch ganz anders auf Tonoga
ausgesehen.   Damals   mußte   es   größere  Landmengen  gegeben   haben.   Zu
ähnlichen  Ergebnissen  waren   die   Tanitaner   bereits   gekommen,   als   sie
Bodenproben untersucht hatten.

Die Cruggs ernährten sich von kleinen Fischen und Pflanzen. Werkzeuge

und   Waffen   kannten   sie   nicht,   außer   den   Feuersteinen,   die   sie   geschickt
handhabten.   Es   war   weder   Caral   noch   Doona   gelungen   herauszufinden,
warum die Cruggs Feuer machten. Vielleicht erinnerte sie das Feuer an das
Licht und die Wärme der Sonne Tonogas, die einst ihren Ahnen geschienen
hatte.

Es war ein unwahrscheinliches Glück gewesen, daß der Vulkanausbruch sie

nicht nur aus den Klauen der Raubsaurier befreit, sondern ihnen außer ein
paar blauen Flecken und einigen zerrissenen Leinen keinen Schaden zuge­
fügt hatte. Sogar die Wohnglocke, die sich als Folge der Druckwelle selbstän­
dig gemacht hatte, war unbeschädigt geborgen worden. Eine von den Cruggs
ausfindig gemachte Abkürzung durch den Covallha­Garten sorgte dafür, daß
sie   die   letzten   Ausläufer   dieses   „Meeres   im   Meer“   schon   nach   wenigen
Stunden erreichten. Nach halbstündiger Suche fanden sie einen genügend
weiten Unterwassertunnel, und die Bogeys schossen mit spürbarer Freude in
das offene Meer hinaus.

Mit dem Covallha­Garten hatten Caral und Doona das schwierigste Hin­

dernis der ganzen Reise hinter sich gebracht. Und obwohl sie bis zum Schluß
fürchteten, erneut von Sauriern überfallen zu werden, blieben sie unbehel­
ligt.

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Von nun an reihten sich fast gefahrlos Stunden an Stunden. Das Leben im

Meer war zur Routine geworden, und mit jeder weiteren Stunde kamen die
beiden ihrem lang ersehnten Ziel näher. Nur selten wurde der stetige Wech­
sel   zwischen   Reitsattel   und   Wohnglocke,   Wachen   und   Ruhen,   Essen   und
Jagen durch außergewöhnliche Ereignisse unterbrochen. Meistens waren es
größere Raubfische oder Kraken, die kurzzeitig für Unruhe sorgten. Die Bo­
geys jedoch zeigten sich allen Gegnern stets an Kampfstärke und Schnellig­
keit überlegen. Für die erfahrenen und sattelfesten Reiter gab es zwar ab und
zu noch bange Minuten zu überstehen, aber sie schauten diesen Gefahren
mit ruhiger Gelassenheit und Selbstsicherheit ins Auge.

Endlich  erreichten sie die Jadeschlucht,  eine enge  Meerpassage, die aus

mehreren   Gründen   gefürchtet   wurde.  Zum  einen  lagen  unter  den  grünen
Felsen   gewaltige   Eisenerzlager,   die   das   Passieren   von  Magnetbooten  un­
möglich machten. Schuld am Ruf der Schlucht aber war hauptsächlich eine
Tatsache: Hier bildete sich aus noch unerforschten Gründen zuweilen ein ge­
waltiger Sog, der das Wasser wild durch die Meerenge schießen ließ, daß es
gefährlich  brodelte,  schäumte   und   zischte.   Und   da  die   oberen   Felsen der
Schlucht bis knapp über die Wasseroberfläche ragten, war dieses Schauspiel
selbst aus der Luft zu beobachten. Hinter der Schlucht zog ein Strudel die
Wassermassen in einen 15 000 Meter tiefen Schlund hinab.

Aber der Expedition zeigte sich die Jadeschlucht von der Sonnenseite. Eine

milde Strömung trug die Bogeys an den Felswänden vorbei, so daß die Reiter
Muße  hatten,   das   Schauspiel   der   Farben   und   Formen   zu   genießen.   Die
Sonnenstrahlen glitzerten durch das Wasser und brachen sich gleißend am
Gestein. Doona fühlte sich an  weißgrünen Lichtwänden vorbeigetragen, die
schwerelos wie Watte wirkten, aus sich selbst heraus zu leuchten schienen
und eine Aura verborgener Geheimnisse verbreiteten.

Dann waren sie hindurch. Die Jadeschlucht war etwa einen Kilometer lang

gewesen und weitete sich zu einer unterseeischen Tiefebene aus. Doona at­
mete auf, als sie den Graben passierten, dessen tiefste Stelle das Grab aller
Opfer des Strudels war. In diesem Moment jedoch lag das Wasser schwarz
und reglos unter ihnen.

Die Bogeys schossen über den gefährlichen Graben hinweg, peitschten mit

ihren mächtigen Leibern das Wasser. Dann lag der Abgrund hinter ihnen. Aus
der Tiefe heraus wurden Felsnadeln sichtbar, die Rinne wurde flacher und
flacher, bis sie sich in den Falten des rauhen Meeresbodens verlor.

Jetzt erst wußte Doona, daß sie die Forschungsstation erreichen würden,

wenn   nicht   eine   unvorhergesehene   Katastrophe   im   letzten   Moment   alles
zunichte   machte.   Die   schlimmsten   Gefahren   der  tonoganischen  Meere
waren überwunden.

Der   letzte  Teil   der   Reise   wirkte   auf   die   Reiter   wie   ein   Kinderspiel.   Auf­

regendes ließ sich darüber kaum berichten. Dann tauchte in der Ferne an der
Wasseroberfläche ein Schatten auf. Caral und Doona waren nicht überrascht,
denn seit Stunden war der Peilton, nach dem sie ihren Kurs ausrichteten, in
ihren Funkgeräten lauter geworden. Aus dem Schatten wurde der tellerför­

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mige Rumpf einer schwimmenden Insel, über und über mit Muscheln und
Algen bewachsen. Nur mit Mühe war an einigen Stellen noch rostfreies Me­
tall zu erkennen. Die Bogeys stiegen in einem steilen Winkel nach oben, der
Meeresoberfläche entgegen.

Das Ziel – es war erreicht!
Die   Bogeys   verhielten   dicht   unter   der   Oberfläche.   Caral   und   Doona

schwammen  von einem zum  anderen und befreiten  sie von  ihren Lasten:
Wohnglocke, Lebensmittel,  Sauerstoffvorräte, Werkzeuge, Ersatzteile. Dann
gab   Caral   den   Tieren   über   den   Modulator   den   Auftrag,   in   der   Nähe   zu
bleiben, um für die Impulse erreichbar zu sein. In der Zwischenzeit konnten
sie nach Herzenslust jagen.

Doona gab seinem Reittier einen  gutgemeinten  Klaps und entließ es. Die

Bogeys   waren   ihm   ans   Herz   gewachsen.   Gemächlich   entfernten   sich   die
Riesenfische   von   der   Insel,   während   die   beiden   Reiter   mit   kräftigen
Schwimmstößen die letzten Meter zurücklegten. Doona zog sich als erster an
Land. Caral folgte. Dann  packten beide an, um die Last zu bergen.  Lange
Leinen   verbanden   die   einzelnen   Packen  miteinander,   damit  ein   Abdriften
verhindert wurde.

Schließlich war es geschafft. Die beiden Männer hatten ihre Vorräte zwi­

schen den am höchsten liegenden Felsbrocken verstaut und verzurrt. Dort
würden sie selbst vor extrem hohen Wellen sicher sein.

Schnaufend legten Doona und Caral ihre Atemmasken, Sauerstoffbehälter

und die Schwimmkleidung ab und atmeten auf. Es tat ungemein wohl, sich
nach der langen Zeit in der Nässe oder der Enge der Wohnkugel wieder unge­
zwungen im Freien zu bewegen. Sie genossen die kitzelnden Sonnenstrahlen
auf der nackten Haut und den kühlen Atem des Windes. Sie holten aus den
Vorräten leichte einteilige Anzüge hervor, die Arme und Beine freiließen. In
Klarsichttaschen zum Umhängen verstauten sie die nötigsten Werkzeuge und
außerdem ein paar Rationen Essen.

Daß   die   Beobachtungsstation   in   den   meisten   Einzelheiten   die   perfekte

Nachbildung einer Insel war, beschäftigte beide nicht weiter. Denn diese Tat­
sache war ihnen vertraut. Caral hatte sogar bei der Installation dieser Insel
persönlich mitgearbeitet. Sie bestand zu zwei Dritteln aus rauhen Felsen, die
durch einen tellerförmigen Rand, der natürlich unter Wasser lag, daran ge­
hindert wurden, von schweren Brechern ins Wasser gezerrt zu werden. An­
sonsten   gab   es   ein   paar   kleinere   mit   Büschen   und   Bäumen   bewachsene
Humusflächen  und sogar einen  Süßwassersee  mit Sandstrand. Diese Land­
schaft war ein Teil der Funktion dieser Station: Neben den vorrangigen Un­
terwassermessungen  und ­forschungen  sollten auch Amphibien und Vögel
zum Aufenthalt auf der Insel angelockt werden. Alle diese Besucher wurden
von verborgenen Kameras gefilmt, ihre Lebensgewohnheiten untersucht.

Einige Minuten später stellten Caral und Doona in der Mitte der Insel, wo

der Haupteinstieg lag, fest, daß dieses Vorhaben gelungen war. Ein Schwarm
von hundert oder mehr weißblauen Vögeln, etwa so groß wie Möwen, erhob

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sich   kreischend   in   die   Luft   und   ließ   sich   dann   an   einer   anderen   Stelle
lärmend nieder.

Die Männer hatten inzwischen die Erlebnisse und Eindrücke der Reise so

gut   wie   verdrängt,   obwohl   das   nicht   einfach   war.   Noch   lange   würde   das
Rauschen des zur Seite gepeitschten Wassers in ihren Ohren klingen und das
Blaugrün des Meeres auf den Netzhäuten ihrer Facettenaugen brennen. Sie
versuchten sich voll auf das Problem zu konzentrieren, dessen Lösung der
Zweck dieser Expedition war.

Obwohl es eine Station der Tanitaner war, schlichen sie vorsichtig über die

Insel. Selbst wenn Doonas geheime Hoffnung, daß sich intelligentes fremdes
Leben auf der Insel aufhielt, nicht zutraf, war immer noch Vorsicht geboten.
Vielleicht   waren   wirklich   nur   Tiere   eingedrungen   und   hatten   die   Relais
beschädigt – aber auch die konnten gefährlich werden.

„Moment“, sagte Caral plötzlich und griff nach Doonas Arm. Er deutete auf

einen schwarzen Fleck im Sand. Die beiden Männer nahmen die Stelle näher
in Augenschein. Caral prüfte das Material mit den Fingerspitzen, um Gewiß­
heit zu haben.

„Wenn du mich fragst“, sagte er schließlich, „hat hier ein Feuer gebrannt.

Der Regen hat einen Teil der Asche bereits fortgewaschen. Aber die Reste sind
eindeutig.“

„Es könnte ein Blitz eingeschlagen haben und ...“
„Kaum.   Wie   sollte   hier   –   mitten   im   Sand   –   ein   Baum   oder   ein   Busch

gestanden haben?“ Caral scharrte mit beiden Händen den darunterliegenden
Sand fort. „Keine Wurzeln. Nichts. Es sieht wirklich nach einem entfachten
Feuer aus.“

„Aber – das würde bedeuten ...“ murmelte Doona. „... daß deine Theorie an

Bedeutung gewinnt!“ unterbrach Caral.

Doona hatte sich in der Nähe der Feuerstelle umgesehen und deutete jetzt

stumm auf einige Abdrücke und Spuren im Sand. Sie lagen – wie die Feuer­
stelle – im Windschatten größerer Felsblöcke und waren deshalb nicht völlig
verweht worden. Man konnte ihnen zwar nicht viel entnehmen, aber es war
unverkennbar,  daß   sie  nicht  von  Seevögeln   herrührten.  Seevögel  machten
kein Feuer und trugen keine Schuhe.

„Wollen  wir  uns   noch  weiter  umsehen?“  fragte   Caral.  „Oder  steigen  wir

ein?“

Doona   schüttelte   stumm   den   Kopf.   „Selbst   wenn   wir   weitere   Spuren

fänden, das würde uns nicht weiterhelfen. Ich bin dafür, daß wir hinunter­
steigen und uns  im Inneren  umsehen. Dann  haben wir Gewißheit.  Wahr­
scheinlich sind die fremden Besucher längst wieder weg.“

„Vielleicht waren es auch ein paar Cruggs. Du kennst ja ihre Vorliebe für

das Feuer.“

„Aber sie tragen keine Schuhe.“ Doona hatte nichts gegen die Cruggs, aber

er fieberte einer Begegnung mit raumfahrenden Wesen entgegen, einer Be­
stätigung   seiner   Theorie.   Freilich   wußte   er   noch   nicht,   wie   er   sich   ihnen

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gegenüber   verhalten   sollte.   Man   würde   sich   ja   nicht   einmal   verständigen
können.

Während Caral den  Magnetschlüssel  auf den als Felsen getarnten nächst­

liegenden Einstieg setzte und darauf wartete, daß der Hydraulikzylinder die
Tür öffnete, gab Doona dem Freund insgeheim recht. Es war wirklich wahr­
scheinlicher,  daß  sich  hier   Cruggs   anstelle  der  erhofften   Intelligenzen   aus
dem   All  aufhielten.   Die   Insel  war  zu   klein,  als  daß  man  auf  ihr  hätte  ein
Raumschiff landen können. Und wie sonst sollten eventuelle Fremde hierher
gelangt sein?

Gemeinsam schlüpften sie durch die Öffnung und stiegen eine steile  Me­

talleiter hinab. Hinter ihnen schloß sich die Tür.

Sie erreichten die erste der drei Subebenen der Insel und sahen sich etwas

ratlos um. Vor ihnen lag eine große Halle mit verkleideten Maschinen. Alles
wirkte sauber und funktionstüchtig. Von Fremden gab es weit und breit keine
Spur.

„Weiter“, sagte Doona ungeduldig. Er deutete auf die Treppe zur zweiten

Subebene.

Als die beiden auf den letzten Stufen zur zweiten Subebene standen, hörten

sie   Geräusche.   Es   waren   einwandfrei   Schritte   und   fremdartig   klingende
Stimmen. Mit einem Satz sprangen Doona und Caral von der Treppe und
hasteten   hinter   den   nächstliegenden   Maschinenblock.   Doona   lugte   vor­
sichtig um die Ecke.

Er sah zwei Wesen, die vage an Tanitaner erinnerten, aber eine seltsame,

schuppenlose Haut und winzig kleine Augen hatten. Ihm schlug das Herz vor
Aufregung bis zum Halse. So also sahen sie aus! Ihre Köpfe hatten bei weitem
nicht die eiförmige Eleganz von Tanitaner­Schädeln. Struppiges Zeug wuchs
auf dem Kopf des einen, dem anderen hing ähnliches Gestrüpp auch unter
dem Kinn. Die Nasen, Ohren und Münder zeigten, daß Organe wie bei den
Tanitanern vorhanden sein mußten – aber die Proportionen waren anders.
Die Kleidung der Wesen bestand aus unbekannten grellfarbenen Materialien.
Sie machten zudem einen kräftigen Eindruck.

Doonas Hände zitterten. Seine Theorie stimmte, es waren Fremde aus dem

All! Er holte tief Luft und trat hinter dem Maschinenblock hervor, um die
Fremden zu begrüßen.

„Nicht!“ zischte Caral. „Siehst du nicht diese Dinger in ihren Händen? Das

sind doch Waffen!“

Aber   sein   Einwand   kam   zu   spät.   Carals   Arm,   der   Doona   zurückhalten

wollte, griff ins Leere. Doona hatte den entscheidenden Schritt getan und war
dabei in das Blickfeld der Fremden geraten. Resignierend folgte Caral dem
Freund. Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, sich weiter zu verstecken.

Die Fremden blieben wie angewurzelt stehen, aber dann hoben sie ihre

Waffen.

„Wir kommen in Frieden“, sagte Doona unsicher.
Es war gut, daß er die Antwort des ersten Mannes nicht verstehen konnte:

„Zum Teufel, Flint! Wo kommen diese Ungeheuer plötzlich her?“

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„Noch nicht schießen!“ ordnete der Mann mit der Glatze an. „Sie scheinen

unbewaffnet  zu  sein! Aber  sieh dir diese  Geräte   in  den  Beuteln an!  Wenn
diese Komiker ein Raumschiff oder andere technische Mittel besitzen, stehen
wir plötzlich viel besser da, auch wenn die hartnäckigen Gören sich weiterhin
Stur stellen! Los, die nehmen wir gefangen!“

„Los,   ihr  Schuppenmonster“,   krächzte   Erik   vor   Aufregung   halb   gelähmt

und fuchtelte mit dem Laser herum. „Setzt euch in Bewegung.“

Doona   und   Caral   verstanden   die   drohenden   Gebärden   der   beiden

Fremden. Sie sollten ihnen folgen.

„Gehen   wir“,   sagte   Doona.   „Es   ist   sicher   nur   ein   Mißverständnis.   Im

Grunde mußten sie ja so reagieren.“ Daß er enttäuscht war und die drohende
Haltung der Fremden nicht verstand, verschwieg er. Verdutzt ließ er es ge­
schehen, daß der Mann mit dem struppigen Bart am Kinn ihm und Caral die
Werkzeugbeutel entriß.

„Hmmm“, brummte Caral nur. Er enthielt sich jedes Kommentars.

Das Ultimatum wird erfüllt

Von draußen näherten sich Schritte. Die Tür der  Gefangenenzelle  wurde

entriegelt und aufgestoßen.

„Ihr   bekommt   Gesellschaft“,   erklärte   Flint   und   stieß   zwei   fremdartige

Wesen in den Raum. Einen Moment lang starrten sich die neuen und alten
Gefangenen schweigend an. Aber dann entschloß sich Harpo, ein gutes Bei­
spiel zu geben. Der Gedanke, daß diese seltsamen Fremden – die wahrschein­
lich Bewohner des Wasserplaneten waren – sich bei ihrem Urteil über die
Menschen am Verhalten der Raumgangster orientierten, ging ihm denn doch
gegen den Strich. Mit ausgestreckter Hand ging er auf die Schuppenwesen zu.

Aber Lonzo kam ihm zuvor. „Glüß  Gott,  Kameladen!“ schmetterte er los.

„Nul keine Angst. Gemeinsam welden wil die Schulken schon besiegen!“

„Was hat er denn?“ fragte Flint und blickte den Roboter ungläubig an. „Na,

egal – ich wollte euch nur sagen, daß eure Leute soeben mit einem Gleitboot
von der EUKALYPTUS gestartet sind. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis
wir hier heraus sind.“

„Ich habe ein Gelübde abgelegt“, säuselte Lonzo, „daß ich elst dann wiedel

ein L ausspleche, wenn ihl hintel Schloß und Liegel seid!“

„Schluß mit dem Unfug!“ ordnete Flint barsch an und zerrte Ollie mit sich.

Die Tür schloß sich hinter ihm, Erik und ihrer Geisel.

Harpo kam endlich dazu, die Hand des Schuppenwesens zu drücken.
Das   Wesen   murmelte   ein   paar   unverständliche   Worte,   die   sehr   schrill

klangen. Es schien aufgeregt zu sein, die freundliche Geste aber zu begreifen.

Auch   Alexander   drängte   sich   nun   heran,   um   Caral   und   Doona   zu

beschnuppern.

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Harpo hatte keine Erfahrung mit Geschöpfen, die große Facettenaugen, ei­

förmige   Schädel   und   drei   Nasenlöcher   hatten.   Die   Neuankömmlinge
schienen   neugierig,   überrascht   und   keineswegs   feindlich   zu   sein.   Er   war
überzeugt davon, daß sie die Eigentümer der schwimmenden Insel waren.

Die beiden sprachen eine Weile miteinander, dann näherte sich der zweite

Schuppenmann und drückte seinerseits Harpos Hand. Harpo grinste erfreut
und  verlegen  zugleich.  „Die sind in  Ordnung“,  sagte  er zu Alexander  und
Lonzo. „Vielleicht können wir uns sogar gegenseitig helfen!“

Das eine Schuppenwesen sagte wieder etwas, und plötzlich meldete sich

der   armbanduhrgroße   Translator   an   Harpos   Handgelenk:   „...   wohl
anzunehmen, daß die beiden mit den Waffen ... und ihre Artgenossen ... wie
uns gefangen ...“

Harpo jubelte. An die kleine Sprachenübersetzungsmaschine hatte er über

der   niederschmetternden   Nachricht,   die   EUKALYPTUS­Mannschaft   habe
aufgegeben, gar nicht mehr gedacht! Der winzige Computer hatte mal wieder
in Windeseile Vokabeln gesammelt, die Sprache analysiert und seine Dolmet­
scherfunktion übernommen.

„Dieses Gerät hilft uns bei der Unterhaltung“, sagte Harpo langsam und

wartete, bis der Translator die Worte in die schrillen Laute der Fremden über­
setzt hatte. „Meine Freunde und ich kommen von der Erde und wollen nichts
Böses. Aber unsere gemeinsamen Gegner sind leider schwarze Schafe unserer
Rasse.“

„Ich heiße Doona“, stellte sich eines der Wesen vor. „Und das ist Caral. Wir

kamen, um nach dieser Forschungsstation zu sehen. Sie funktioniert nicht
mehr einwandfrei, Ich glaube, wir haben uns eine ganze Menge zu erzählen!“

„Ich  fürchte“,  erwiderte  Harpo  mit   einem  tiefen   Seufzer,  „daß   wir   dazu

noch unser ganzes Leben lang Zeit haben werden ...“

Allerdings hätte er das nicht gesagt, wenn er über das Unternehmen „Tief­

kühlkost“ informiert gewesen wäre. Im gleichen Moment nämlich, in dem
Harpo   und   seine   Freunde   die   ersten   freundschaftlichen   Kontakte   zu   den
Wesen des Planeten Tanit knüpften,  näherte sich eines der Gleitboote der
EUKALYPTUS unaufhaltsam der Insel.

Thunderclap gab Schwatzmaul die Anweisung, das Boot eine Weile kreisen

zu lassen, ehe er mit Flint Funkkontakt aufnahm. Die Bedenkzeit war jetzt
abgelaufen, und irgendwie mußten sie ja reagieren. Als sich die Stimme des
Kahlköpfigen   allerdings   in   seinem   Funkhelm   meldete,   lief   ihm   ein   kalter
Schauer über den Rücken.

„Hier spricht Flint. Ihr gebt also auf?“ Er lachte frech. „Ihr habt ja auch

keine andere Wahl, ihr hilflosen Fratzen.“

Obwohl Thunderclap über diesen fiesen Ausdruck ziemlich wütend war,

bemühte er sich, seiner Stimme einen ängstlichen Klang zu verleihen. „Ja, wir
geben auf“, murmelte er weinerlich. „Welche Garantie geben Sie uns, daß un­
seren Freunden nichts geschieht, sobald wir die EUKALYPTUS verlassen?“
Bei sich dachte er: Na warte, Bursche!

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„So haben wir nicht gewettet, mein Lieber“, gab Flint zurück. „Auf mein

Wort müßt ihr euch schon verlassen. Glaubt ihr etwa, ich gebe euch das noch
schriftlich? In fünfzehn Minuten steht die versammelte Mannschaft auf der
Insel, klar? Und daß ihr keine Fisimatenten versucht, wir wissen genau, wie­
viel Leute ihr seid!“

Woher er das wieder so genau wissen wollte, war Thunderclap zwar ein

Rätsel, aber nach einer Kunstpause erklärte er sich einverstanden. „Ich gebe
jetzt   die  Meldung  weiter,  daß die Mannschaft  die EUKALYPTUS  verlassen
soll“, sagte er.

„Ja, tu das mal.“ Offensichtlich grinste Flint.
Thunderclap bediente einige Knöpfe und wechselte auf die Frequenz des

Raumschiffes über. Karlie war sofort zur Stelle. Auch er spielte seine Rolle
meisterhaft, was vielleicht auch daran lag, daß er in der Tat ein wenig Angst
hatte. Allerdings weniger vor Flint als vor der Möglichkeit, die Piraten könn­
ten ihr famoses Komplott durchschauen.

„H­Hier R­Raumschnipf ... äh, Raumschiff EUKALYPTUS“, meldete er sich.

„An Bord alles wohlauf und ... äh ...“ Zu seiner gespielten Nervosität gehörte
natürlich auch, daß er mit der rechten Faust auf einen Knopf haute, der einen
so   stark   gebündelten   Funkleitstrahl   auf   die   Insel   hinabschickte,   daß   die
Gangster jedes Wort, das zwischen Thunderclap und ihm gewechselt wurde,
mithören   konnten.   Hihi.   Und   das   war   natürlich   auch   wieder   einer   von
Schwatzmauls ausgetüftelten Tricks, um den Gegner in Sicherheit zu wiegen!

„Wir   müssen   jetzt   alle   hinunter“,   weinte   Thunderclap   fast.   „Wir   haben

keine andere Wahl. Gegen die kommen wir nicht an, Karlie! Die sind wirklich
gefährlich!“

Mit   zitternder   Stimme   haspelte   Karlie:   „Ja   ...   ja   ...   Wenn   du   meinst,

Thunderclap ... Glaubst du, daß sie uns etwas tun?“

„Nur das nicht“, schluchzte Anca, die jetzt so stark auftrug, daß Thunder­

clap ihr einen Knuff in die Rippen versetzen mußte.

Karlie   Müllerchen  war   nahe   daran,   laut  loszuprusten,   während   er  seine

Muskeln spielen ließ. Er hatte in den letzten Wochen sehr rege dem Sport der
gewaltlosen Verteidigung gefrönt und dabei herausgefunden, daß dieser sich
auch durchaus zum Angreifen eignete. Zudem war er zwei Meter zwanzig
groß. Das konnte einen ausgewachsenen, normal großen Mann einschüch­
tern.

Sie   winselten   sich   alle   drei   gegenseitig   noch   einige   Minuten   etwas   vor,

dann gab Karlie die Ausschleusung der Restmannschaft bekannt.

Bharos, Brim, Trompo, Micel und die restlichen Grünen bestiegen das letz­

te Gleitboot. Bald war nur noch das Rauschen sphärischer Musik in Thunder­
claps Funkhelm zu vernehmen.

Wenn die gemeinsame Vorstellung geklappt hatte, mußten Flint und seine

Kollegen jetzt wirklich annehmen, es mit einem Haufen ängstlicher Kinder zu
tun zu haben.

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Thunderclap rieb sich die Hände. Wieso waren sie eigentlich nicht sofort

auf   die   Idee   gekommen,   Schwatzmauls   unschlagbare   Talente   gegen   ihre
Gegner einzusetzen?

Beide   Gleitboote   landeten   an   der   von   Flint   vorgegebenen   Stelle.   Etwa

zwanzig Meter vor dem Höhleneingang, der in die Insel hinabführte, setzten
sie auf, öffneten die Luken und stiegen aus. Karlie und Brim trugen Thunder­
claps Rollstuhl. Dann bildeten sie einen Halbkreis: die stumm dastehenden
Grünen,   Anca,   Brim,   Micel,   Thunderclap,   Bharos   und   Karlie,   auf   dessen
Schultern Trompo hockte und mit den Schlappohren wedelte.

Eine ganze Weile geschah nichts. Dann wurde im Eingang der Höhle ein

Schatten   sichtbar.   Es   erschien   eine   rothaarige   Frau,   die   von   allen
Anwesenden nur Bharos einmal gesehen hatte. Sie war blaß und erinnerte die
Kinder von der EUKALYPTUS ein wenig an ihre Freundin Fantasia Einstein,
die auf dem Planeten der Raufbolde zurückgeblieben war. Ihre grünen Augen
zeigten einen gehetzten Ausdruck. Auf jeden Fall machte sie, als sie sich zö­
gernd den Versammelten näherte, keinen gefährlichen Eindruck.

Bharos und Micel wechselten einen raschen Blick. Sie hatten beide die Ge­

danken der Frau gelesen und überrascht festgestellt, daß sie ebenfalls eine
Gefangene war.

„Ihr hättet es nicht tun sollen“, sagte sie zu Thunderclap, dessen Rollstuhl

ziemlich weit vorne stand. Plötzlich schluchzte sie und schlug die Hände vor
das Gesicht. „Ihr hättet es wirklich nicht tun sollen. Jetzt kommen wir alle
niemals mehr von hier fort. Und wenn die Bewohner dieses Planeten uns für
Leute vom Schlage Flints halten ...“

Bewohner   des  Planeten?  Bharos  und Micel   fingen  einen  schemenhaften

Gedanken an zwei Schuppenwesen auf, die Flint und Erik festgesetzt hatten.
Das   konnte   böse   ausgehen,   denn   es   war   keine   feine   Art,   sich   auf   einer
fremden Welt so zu benehmen.

„Sie   gehört   nicht   dazu“,   flüsterte   Micel   plötzlich.   „Sie   ist   ebenfalls

gefangen. Und – die Leute, denen diese Insel gehört, befinden sich auch in
Flints Gewalt!“

„Er hat recht“ sagte die junge Frau. „Weder Fredy noch ich haben etwas mit

diesen Verbrechern zu tun. Sie entführten uns und ...“ Sie kam nicht weiter,
denn   unerwartet   tauchten   hinter   ihr   Flint   und   Erik   auf.   Mit   den   Lasern
winkten sie die Frau herrisch beiseite. „Sie sollten nur herausfinden, ob die
Bengels bewaffnet sind, Miss Rita“, knurrte Flint, „weiter nichts. Statt dessen
halten Sie hier Volksreden. Gehen Sie unter Deck, aber schnell!“

Thunderclap und die anderen machten mit verbissenen Gesichtern Platz.

Es wäre gelogen, wenn in diesem Moment jemand behauptet hätte, keine
Angst zu haben. Sogar Karlie, der so stolz auf seine neu erworbenen Armmus­
keln war, beeilte sich, diese zu verstecken, aus Angst, die Ganoven könnten
sich dadurch provoziert fühlen.

Flint musterte die beiden startbereiten Gleitboote, baute sich breitbeinig

davor auf und schrie: „Gewonnen, Erik! Wir haben gewonnen!“ Und er klopf­
te seinem Kumpan auf die Schulter, daß es nur so knallte.

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Das Gelächter der beiden war so laut, daß es nur noch vom Dröhnen der

Triebwerke übertönt wurde. Rasend schnell stiegen sie in den Himmel des
Wasserplaneten hinauf. Sie sahen aus wie Reiter auf einer Flammenzunge.

„Harpo!“  rief   Anca  jetzt,  die  als  erste aus ihrer  Erstarrung   erwachte.  Sie

rannte auf den Höhleneingang zu, und die ganze Bande folgte ihr.

Da Thunderclap mit seinem Rollstuhl durch den anfänglich engen Gang

nicht  hindurchpaßte,   wurde   er   kurzerhand   von   einem   Grünen   auf   die
Schulter genommen und im Huckepackverfahren in das Innere der Insel ge­
tragen.

Jubel brandete auf, als Bharos und Micel fast gleichzeitig die Gedanken­

impulse ihrer vermißten Kameraden und deren neuer Freunde registrierten.
Innerhalb weniger Minuten war das Verlies gefunden, und es wurde ein Freu­
dengeheul angestimmt, von dem die Galaxis noch lange reden würde. Sogar
Caral und Doona, die die hereinstürmende Mannschaft noch nicht kannten,
wurden in den allgemeinen Freudentaumel mit einbezogen.

Alexander, der sich als erster wieder beruhigte, legte seine  Bärenstirn  in

Falten und fragte: „Wo steckt Flint mit seinem Spießgesellen?“

„He, he!“ gackerte Thunderclap. „Die sind unterwegs zur EUKALYPTUS, die

wir ihnen im Austausch gegen euch geschenkt haben!“

„Scherzbold!“  Harpo, der immer noch ziemlich abgeschlafft war,  grinste

schwach. „Unser Thunderclap ...“

Alexander  legte  eine  Pranke gegen  die  Stirn  und  schaute  zur  Decke,  als

könne er dort die EUKALYPTUS kreisen sehen. „Da fliegen sie hin ...  hick!“
Erst jetzt wurde ihm offenbar bewußt, daß Thunderclap ihm die Wahrheit ge­
sagt hatte. Er sprang auf, als hätte ihn etwas wohin gestochen, stemmte beide
Arme in die Hüften und rasselte erschöpft: „Bei allen Planeten, Thunderclap!
Was hat das zu bedeuten?“

„Es   bedeutet“,   erwiderte   Anca   an   Thunderclaps   Stelle   mit   einem   spöt­

tischen   Grinsen,   versteht   sich,   „daß   soeben   die   letzte   Phase   des   Unter­
nehmens Tiefkühlkost angelaufen ist!“

Schwatzmauls große Stunde

Flint und Erik waren ziemlich beeindruckt, als sie das Innere des Sternen­

schiffs  EUKALYPTUS   betraten  und  feststellten,  wie  groß   es  war.   Hatte  sie
schon das äußere Erscheinungsbild des  Hantelraumers  zum Schlucken ge­
bracht, so waren die großzügig angelegten Decks, die durch einen riesigen
Antigravlift miteinander verbunden waren, ein echter Schock für sie. Natür­
lich kannten auch sie von der Erde nur Enge und Lärm. Die wenigen Raum­
flüge,   die   sie   unternommen   hatten,   bevor   die  Raumpolizei  auf   sie
aufmerksam geworden war, hatten sie nur zu den nächsten bewohnbaren
Welten im Umkreis der Erde geführt.

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Aber auch da hatte es nicht viel anders ausgesehen als zu Hause: Die meis­

ten Planeten der umliegenden Sterne beherbergten nur kleine menschliche
Stützpunkte mit ungünstigen Lebensbedingungen. Auf fast allen von Men­
schen besiedelten Planeten herrschte Wassermangel, oder die klimatischen
Bedingungen verboten eine große Ausbreitung der Siedlungen. Viele Stütz­
punkte lagen unter überdachten  Kuppelstädten oder in abgeriegelten Forts,
deren Wälle die Menschen vor der giftigen Umwelt schützten.

Die grünen Decks der EUKALYPTUS erschienen Erik und Flint daher wie

das   reine   Paradies,   und   so   tobten   sie  erst   einige   Stunden   wie   die   Kinder
durch die Hallen, schwammen in den künstlichen Seen und bewunderten die
technische Perfektion, mit der das Schiff, das von seiner Größe her in der Ga­
laxis seinesgleichen suchte, versehen war.

Schwatzmaul hielt sich während dieser Stunden diskret im Hintergrund,

wenngleich   seine   in   nahezu   jedem   Raum   oder   Korridor   installierten
Außenkameras alle Schritte  der Eindringlinge sorgfältig aufzeichneten und
registrierten. So gab es keine Sekunde, da Schwatzmaul nicht wußte, wo sich
Flint und Erik aufhielten.

Als sie sich anschickten, mit  einem  Personenlift  die Decks  abzufahren  –

Schwatzmaul hatte in weiser Voraussicht den Antigravschacht abgeschaltet –
half der Computer ein wenig nach. Da er kein Interesse daran hatte, daß die
Männer die wichtigen Steuergeräte fanden, blockierte er alle Türen, die in
Richtung der Zentrale führten.

An   deren   Stelle   öffnete   er   andere,   die   für   das   Gelingen   des   Plans   sehr

wichtig   waren.   Natürlich   ging   er   dabei   nicht   so   ungeschickt   vor,   daß   er
generell alle in eine bestimmte Richtung führenden Gänge versperrte. Denn
Schwatzmaul war ein cleverer Computer. Einmal ging die linke Tür nicht auf,
dann eine rechte, dann zweimal links und dreimal rechts ... und so weiter.
Drei Stunden lang marschierten Flint und Erik daher in eine bestimmte Rich­
tung, ohne zu merken, daß sie dirigiert wurden.

Flint war allerdings nicht so leicht zu übertölpeln. Anhand von Hinweis­

schildern stellte er fest, daß sie die Zentralregion gar nicht erreichten. Plötz­
lich   sagte   er   mißtrauisch:   „Sag   mal,   Erik,   ist   dir   eigentlich   noch   nicht
aufgefallen, daß wir jetzt schon seit Stunden nur  Lagerhallen, Werkstätten
und Produktionsbetriebe durchqueren?“

Erik sagte: „Nö.“ Ihm fiel nichts auf, aber das lag daran, daß er nicht beson­

ders schlau war.

Für Schwatzmaul war Flints Frage allerdings ein Signal, von nun an vor­

sichtiger  zu agieren.  Aber  das  war  noch  komplizierter,  denn   es wollte die
Männer zu einer bestimmten Stelle führen, und bis dorthin war es noch ein
weiter Weg. Aber zumindest hatte es jetzt die Geduld Flints ausreichend ge­
testet. Es öffnete eine Tür, die es eigentlich geschlossen halten wollte, und
ließ die Männer per Lift einige Decks weiterfahren. Schwatzmaul begann zu
tricksen.

Erik   spielte   mit,   der   merkte   nichts.   Aber   Flint,   der   allmählich   hungrig

wurde, verlor bald wieder die Geduld. „Hör zu“, knurrte er Erik an, „wenn wir

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jetzt noch mal auf versperrte Türen treffen, knallen wir sie mit den Lasern
einfach aus den Angeln!“ Er hatte bei diesen Worten ein listiges Flackern in
den Augen, und es war nur einer falsch angebrachten Kamera zu verdanken,
daß Schwatzmaul dieses Flackern nicht erkannte. Beschädigungen konnte es
nicht   hinnehmen.   Es   mußte   sich   etwas   anderes   einfallen   lassen,   um   die
beiden woanders hinzulocken. Geschwind öffnete es alle verschlossenen Tü­
ren ...

„Ha!“ sagte Flint befriedigt. „Nun weiß ich, was hier läuft!“
„Was denn, Flint?
„Die Gören haben jemanden  hier  zurückgelassen, der an irgendwelchen

Hebeln spielt, der Türen verschließt und wieder öffnet, weil er uns in eine be­
stimmte Richtung dirigieren will!“

„Tatsächlich?“ fragte Erik verdattert.
Schwatzmaul hätte sich, wäre es ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen,

in diesem Moment am liebsten geohrfeigt. Wieso hatte Flint das so schnell
herausfinden können? Daß er logisch denken konnte, war fast nicht zu glau­
ben. Aber immerhin rechnete er mit einem menschlichen Gegner.

„Ist dir denn nicht aufgefallen, daß seit meiner  Schießdrohung  plötzlich

alle Türen offen sind? Der Kerl, der uns auch jetzt von irgendwo belauscht,
hat es nämlich mit der Angst zu tun bekommen. Und er hat auch allen Grund
dazu!“ Flint fuchtelte mit dem Laser vor Eriks Nase herum, bis dieser beinahe
schielte.

„Mein Gott, Flint ...“ krächzte er.
„Ruf lieber den Satan an“, knirschte Flint. Er schob das Kinn vor und sah in

diesem Moment mit seinem gesträubten Bart wie ein wildgewordener Wich­
telmann aus. „Wehe dem Bübchen, wenn wir es erwischen!“

Schwatzmaul ließ die beiden Männer von nun an gewähren. Seine Rechen­

systeme ratterten erneut und warfen rasch einen neuen Plan aus, der sofort
in die Tat umgesetzt wurde. Als die Eindringlinge nur noch zwei Decks von
der Zentrale entfernt waren, hörte Flint seinen Kumpan sagen: „Gleich haben
wir es geschafft, Flint!“

„Woher willst du das wissen?“ schnappte der Angesprochene aufgebracht

und ärgerlich.

„Ich? Wie? Was? Was soll ich wis...?“ stotterte Erik. Er hatte plötzlich kugel­

runde Augen. „Äh, hast du auch gehört, daß jemand was gesagt hat?“

„Jemand?“ fauchte Flint. „Du!“
„Ich? Aber Flint, ich habe wirklich nichts gesagt!“ Erik drehte sich um, als

wolle er nach einem dritten Mann Ausschau halten, und dabei hörte Flint ihn
sagen: „Blödmann!“

„Wie war das?“ zischte Flint aufgebracht. Er packte seinen Spießgesellen an

der Schulter und wirbelte ihn herum. „Ich höre wohl nicht recht! Du wagst es,
Blödmann zu mir zu sagen?“

„Aber Flint!“ brüllte Erik mit zornrotem Kopf. „Wieso glaubst du mir nicht?

Habe ich dich je beschimpft? He, habe ich das?“

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Zweifelnd sah Flint ihn an. „Aber die Stimme! Da war doch eine Stimme!

Deine Stimme!“

„Eine Stimme“, heulte Erik nun fast. „Aber doch nicht meine! Wie kannst

du nur solche Gemeinheiten über deinen alten Kumpel sagen! Wirklich, ich
finde das nicht nett von dir ...“

Flint   gab   ihm   insgeheim   recht.   Erik   würde   sich   solche   Scherze   niemals

erlauben. Er war zwar etwas schwerfällig, aber kein Frechling. Er wußte ge­
nau, wo er zu kuschen hatte und wann er draufhauen durfte.

Es befand sich also außer ihnen beiden tatsächlich noch jemand an Bord.

Und dieser jemand konnte nicht nur Stimmen imitieren, sondern stellte eine
Gefahr für sie dar. Daß Erik seine eigene Stimme nicht erkannt hatte, spielte
keine Rolle, denn die kennen die wenigsten Menschen.

Hinter   ihnen   polterte   etwas.   „Da!“   Flint   fuhr   herum,   raste   los,   Erik   im

Schlepptau. Ein lautes Jungengekicher erklang und das Tappen sich eilig ent­
fernender Schritte.

Als   sie   um   die   nächste   Ecke   bogen,   war   der   Geheimnisvolle   bereits

verschwunden, aber am Ende des langen Korridors, der nur von Notlampen
erhellt wurde, glaubte Flint einen huschenden Schatten wahrzunehmen.

„Hinterher!“ Der Junge mußte gefangengenommen werden, und zwar auf

der Stelle. Wenn er sich auf der EUKALYPTUS genügend gut auskannte, war
er in der Lage, ihre ganzen Pläne zu durchkreuzen. Es war nicht auszuden­
ken, was geschah, wenn er beispielsweise an den Triebwerken rumfummelte,
sobald Flint im Begriff war zu starten. Und sicherlich war der Knabe zu allem
entschlossen. Ihm war es bestimmt gleich, ob er im Weltraum endete oder
auf einem Wasserplaneten verhungerte.

Die Männer waren schweißgebadet, da sie jeder Bewegung und jedem Ge­

räusch auf der Stelle folgten. Der Junge mußte ein wahrer Teufel sein – oder
so schnell, daß man ihn mit den Augen nicht sah. Und das war nicht einmal
unwahrscheinlich. Hatte Flint nicht mit eigenen Augen auf der Insel diesen
seltsamen,   elfenhaft   gebauten   Burschen   gesehen,   der   ruck,   zuck   wieder
verschwunden war? Der unsichtbare Junge wechselte genauso schnell seinen
Standort. Hatte er eben noch vor seinen Verfolgern gekichert, schien er sich
zwei Minuten später in ihren Rücken zu befinden. Flint und Erik rasten so
schnell durch die Korridore, daß sie gar nicht gewahr wurden, wie weit sie
sich bereits von ihrem eigentlichen Ziel entfernt hatten.

„Ich   bin   nicht   nur   schnell“,   kicherte   die   Jungenstimme,   „sondern   auch

stärker als ihr. Kommt her und holt mich!“ Flint und Erik fuhren herum und
folgten der hellen Stimme in einen engen Gang. Aber auch hier war niemand
zu sehen. Der Gang endete, die Phantomstimme verstummte. Dafür machten
die beiden Männer eine andere Entdeckung: Vor ihnen breitete sich ein qua­
dratischer Raum aus, von dem vier Wege abzweigten. Einer davon war mit
einem zweiteiligen Tor versehen, auf dem eine Leuchtschrift verhieß, daß es
hier zur Zentrale ging.

Flint grinste triumphierend. Hatte sie der Bengel doch unbewußt genau da­

hin geführt, wohin sie wollten! Vorsichtig öffneten sie die Tür und folgten

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einem Pfeil, der die gleiche Leuchtschrift trug. Erik, der gelassen hinter sei­
nem Chef  hertrottete, warf nicht einen einzigen Blick zurück. Das hätte er
besser doch getan, denn dann wäre ihm nicht entgangen, daß die Hinweis­
schilder hinter ihm den Text wechselten. Nun lautete ihre Aufschrift: „Kon­
trollieren Sie Ihr Heizaggregat!“

Die letzte Tür. Sie bestand aus zwei mächtigen Flügeln und schien für Men­

schen gebaut zu sein, die wenigstens zweieinhalb Meter groß waren. „Zentra­
le“ leuchtete ihnen ein Schild entgegen.

Flint schaute etwas irritiert, rieb sich dann aber die Hände. „Wir sind da,

Erik!“ trompetete er stolz und steckte den Laser ein. „Wir haben nicht nur den
Kahn, sondern auch bald den Bengel unter Kontrolle!“

Nun ließ er sich auch nicht mehr von dem leisen Kichern aufhalten. Hastig

betätigte Flint  den Öffnungsmechanismus. Die Tür schwang auf. Dahinter
wurde eine zweite sichtbar. „Scheint auf den großen  Raumern heute üblich
zu sein, daß man durch eine Schleuse in die Zentrale geht“, vermutete er laut.
„Ist ja auch besser so. Wenn irgendwo ein Meteor einschlägt, muß wenigstens
das technische Personal geschützt sein.“

Hinter ihnen schloß sich wie von Geisterhand die Tür. Die, die vor ihnen

lag, öffnete sich. Was  dahinterlag, ließ sowohl Flint als auch Erik sofort be­
greifen, daß man sie überrumpelt hatte.

Vor   ihnen   breitete   sich   eine   Halle   aus,   die   an   eine  Alpenlandschaft  er­

innerte. Boden und Wände waren mit Eiskristallen bedeckt. Meterhoch türm­
ten  sich  Regale, die allerdings  leer waren. Ein  an der  Decke  angebrachtes
Riesenthermometer zeigte eine Temperatur von fünfzehn Grad unter Null.

„Waaaaaaa...“ machte Erik.
„Verrat!“ schrie Flint. „Eine schäbige Falle!“ Er zog seinen Laser und drehte

sich auf dem Absatz herum.

„Das möchte ich nicht abstreiten“, ließ eine Stimme von der Decke her

verlauten, die jetzt weder Ähnlichkeit mit der Eriks, noch mit der des phan­
tomhaften  Jungen   hatte,   sondern   schlicht   die   Stimme   Schwatzmauls   war.
„Willkommen an Bord, meine Herren, auch wenn Sie sicherlich nur kurz un­
sere Gäste sein werden!“

Schäumend vor Wut betätigte Flint den Drücker seines Lasers, den er auf

die Tür richtete. Es klickte mehrmals laut und vernehmlich, aber sonst gesch­
ah nichts. Kein Feuerstrahl verließ den Lauf, nicht einmal eine Dampfwolke.

„M­Mir ist k­k­kalt, Flint“, jammerte Erik.
Wütend knallte Flint die Waffe gegen den Boden. „Eingefroren!“ tobte er.

„Und das mir!“

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Die Raum­Zeit­Falte

Sie hatten sich auf der Oberfläche der Insel versammelt und in den Sand

gehockt. Auch Rita und Fredy waren dabei. Alle wußten inzwischen, daß die
beiden nicht Komplizen, sondern wie sie Opfer von Flint und Erik waren.

Die  Kriminellen   – Flint  war  ein  ehemaliger  Raumpilot,  der   seine  Lizenz

verloren hatte, weil er aus eigennützigen Motiven einem havarierten Raum­
schiff nicht zu Hilfe gekommen war – hatten die Jacht gestohlen. Niemand
kannte ihre Pläne. Vielleicht wollten sie in das Schmuggelgeschäft mit einem
marsianischen Rauschgift einsteigen, oder sie hofften darauf, den schnittigen
Flitzer an Interessenten aus der Unterwelt zu verkaufen.

Die Rechnung war in mehrfacher Hinsicht nicht aufgegangen. Entgegen ih­

ren Erwartungen, die Jacht im  Raumdock  VENUS IV unbewacht und unbe­
mannt vorzufinden, waren sie auf Rita und Fredy gestoßen. Die junge Frau
arbeitete   als  Funkerin  auf   der   Jacht   und   hatte   im   Gegensatz   zu   den   vier
anderen   Besatzungsmitgliedern   darauf   verzichtet,   sich   für   die   Zeit   der
Werftüberholung Urlaub geben zu lassen. Der Grund war ihr Freund Fredy,
der auf VENUS IV als Vakuum­Spezialist arbeitete. Aber Flint und Erik hatten
sich nur kurz durch die Anwesenheit der beiden irritieren lassen; sie nahmen
sie kurzerhand mit, als sie die Jacht im Notstart aus den Verankerungen der
Werft rissen.

Diesen Teil der Geschichte erzählte ihnen die junge Frau. Brim, der nie­

mals ohne seine Arzttasche die EUKALYPTUS verließ, behandelte inzwischen
die Kopfwunde des Verletzten. Zum Glück war es nur eine Fleischwunde, de­
ren Heilung schon gute Fortschritte gemacht hatte.

„Ist das eigentlich bei dem Notstart passiert?“ wollte er wissen.
„Nein, erst später“, entgegnete der Mann. „Obwohl der Start auch ziemlich

heftig war. Flint hatte vor drei Jahren zuletzt ein Raumschiff gesteuert und
bekam besonders Schwierigkeiten mit dem neu eingebauten Triebwerk der
AESCLIPUS. Tatsächlich geriet ihm das Schiff irgendwann außer Kontrolle.
Das Haupttriebwerk wurde überlastet und brannte aus, wobei der Rest des
Treibstoffs in einer einzigen Explosion verpuffte. Wir machten einen Riesen­
satz und trieben danach steuerlos mit hoher Geschwindigkeit auf die Sonne
zu. Ich war nicht angeschnallt und prallte mit dem Kopf gegen eine Konsole.
Den Rest muß euch Rita erzählen, denn ich erwachte erst aus der  Bewußt­
losigkeit, als wir in das Meer dieses Planeten stürzten.“

„Leider gibt es da wenig zu erzählen“, fuhr das Mädchen fort. „Wir flogen

der Sonne entgegen und hatten wohl alle mehr oder weniger mit dem Leben
abgeschlossen. Die geringe Schubkraft der Seitendüsen reichte nicht aus, den
Kurs zu ändern. Aber dann geschah etwas Seltsames: Auf der Oberfläche der
Sonne entstand eine heftige Eruption. Eine Lanze aus glühenden Gasen jagte
in   das   Weltall   hinaus.   Sie   verfehlte   uns,   verursachte  jedoch   ein  seltsames
Phänomen:   Sämtliche   Instrumente   spielten   plötzlich   verrückt   oder   zer­
sprangen. Dann erfaßte uns ein gewaltiger Sog und ... ja, das ist eigentlich

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schon   alles.   Der   riesige   Feuerball   unserer   Sonne   verschwand   von   einem
Moment auf den anderen und vor uns lag ein uns völlig unbekannter Sektor
des Alls. Wir wollten zunächst nicht glauben, was die Beobachtungen und
Messungen   mit   den   verbliebenen   Instrumenten   ergaben:   Aber   wir   hatten
eine Strecke von mehr als siebentausend Lichtjahren im Bruchteil einer Se­
kunde zurückgelegt. Eine Erklärung dafür weiß ich nicht. Wenige Stunden
später wurde uns klar, daß wir Kurs auf diese Sonne hielten und die einzige
Chance auf Rettung eine Notlandung war. Mit dem Schub der Hilfsdüsen er­
reichten wir, daß die AESCLIPUS in die Atmosphäre des Wasserplaneten ein­
tauchte und mit den letzten Energiereserven kurz vor dem Eintauchen ins
Meer verlangsamt wurde. Den Rest wißt ihr ja.“

„Es gibt eine Theorie über sogenannte  Raumfalten“, meinte Thunderclap

Genius. „Die würde vielleicht erklären ...“ Und er fügte hinzu, weil ihn seine
Freunde groß ansahen: „Das ist noch ganz unausgegoren. Ich habe mich da­
mit beschäftigt, um zu erklären, wie die EUKALYPTUS in diesen Sektor des
Alls gelangt ist.“

„Von wem ist denn die Theorie?“ fragte Harpo neugierig. „Von Einstein? Ich

meine Albert Einstein, nicht unsere Fantasia.“

„Nein,   nein“,   antwortete   Thunderclap   hastig.   „Der   Name   ist   mir

entfallen ...“ Er hatte ganz rote Ohren bekommen.

„Thunderclap“, meinte Harpo. „Hast du etwa diese Theorie ...“
„Das tut jetzt nichts  zur Sache“, erklärte Thunderclap  sehr nervös. „Wir

sollten lieber von uns und der EUKALYPTUS berichten!“

„O ja“, sagte Rita. „Bisher hatten wir ja keine Gelegenheit zum Reden, und

Flint und Erik interessierten sich nur dafür, wie sie in den Besitz eures Raum­
schiffes kommen konnten. Wie seid ihr denn nun eigentlich hierhergekom­
men? Ich meine, ihr seid noch alle so jung ...“

Nun wurde erst einmal lang und breit berichtet, wie sich aus noch unge­

klärten Gründen die EUKALYPTUS aus der Erdumlaufbahn  gerissen hatte,
die ursprüngliche Besatzung das Schiff verließ und sie es gelernt hatten, mit
der Situation  fertigzuwerden.  Und dann folgten all die Abenteuer, die sie in
der Zwischenzeit erlebt hatten.

Das   dauerte   lange,   weil   oftmals  durcheinandergeredet  wurde   und   dem

einen oder anderen eine unheimlich wichtige Begebenheit einfiel. Aber sie
hatten sehr aufmerksame und neugierige Zuhörer – nicht nur Fredy und Rita.
Doona und Caral, die beiden Tanitaner, waren zu ihnen gestoßen und folgten
fasziniert den Berichten.

„Eines verstehe ich nicht“, sagte Rita schließlich. „Ein so großes Raumschiff

wie die EUKALYPTUS habe ich noch niemals gesehen. Auch gehört habe ich
nicht davon. Das finde ich sehr seltsam.“

„Was   heißt   hier   seltsam?“   krähte   Ollie   keck.   „Glaubt   ihr   etwa,   wir

schmieren euch an?“

„Ach wo. Eine so phantastische Geschichte kann man sich nicht aus den

Fingern saugen. Aber ihr müßt zugeben, daß Merkwürdiges im Spiel ist.“

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„Vielleicht wurde der Bau der EUKALYPTUS geheimgehalten?“ Anca wollte

helfen. Aber als sie den Satz aussprach, wußte sie schon, daß das albern war.
Alle Zeitungen hatten über das riesige Schiff berichtet, jeder konnte es im Or­
bit der Erde sehen.

„Wann wurde die EUKALYPTUS aus der Umlaufbahn geschleudert?“ fragte

Fredy mit einem seltsamen Glitzern in den Augen.

„Im Frühjahr 2234“, riefen Karlie und Brim wie aus einem Munde.
„Zweitausendzweihun...“‚ begann Fredy und sank ächzend in den Sand zu­

rück. Rita war kreideweiß geworden.

„Wißt ihr, wann die AESCLIPUS aus dem Raumdock gestartet wurde?“ frag­

te Fredy nach einer Weile mit heiserer Stimme. „Am 25. Mai 2096!“

„Waaaaas?“ Minutenlang  herrschte das totale Chaos, weil alle  durchein­

anderschrien. Das wäre vielleicht noch eine Weile so weitergegangen, wenn
Lonzo  nicht  mit   den  Tentakeln  gewedelt  und   mit   Donnerstimme  gebrüllt
hätte: „Ruhe an Bord! Alle in die Wanten!  Topsegel  setzen! Mister Thunder­
clap, geben Sie den Matrosen zur Strafe einen Salzhering zu essen! Aber nur
einen für alle!“

Das half. Es wurde erst einmal tüchtig gelacht, und dann konnte Thunder­

clap mit nachdenklich klingender Stimme vorbringen, was er vermutete: „Die
AESCLIPUS   muß   in   einen   Energiesturm   geraten   sein,   der   nicht   nur   Aus­
wirkungen auf das Raumgefüge, sondern auch auf das Zeitgefüge hatte. Ihr
wurdet in die Zukunft geschleudert – oder auch in die Vergangenheit. Wer
will das so genau wissen? Denn nach unseren Uhren und Kalendern kann
sich niemand richten. Wahrscheinlich haben wir nämlich etwas Ähnliches
erlebt, als die EUKALYPTUS verrückt spielte ...“

„Dann  lebt  keiner   unserer   Verwandten   und   Freunde   mehr?“   fragte   Rita

leise.

„Ich fürchte – nein“, antwortete Thunderclap, der sich eigentlich  in der

Rolle des klugen Physikers gar nicht so wohl fühlte. „Es sei denn, daß die
AESCLIPUS wirklich nur einen Raumsprung gemacht hat und die scheinbare
Zeitverschiebung allein auf unser Konto geht.“

„Aber Wurscht isses sowieso“, gab Ollie seine Meinung zum besten. „Ihr

könnt genausowenig zur Erde zurück wie wir.“

Nun zeichnete sich erneut Erstaunen auf den Zügen von Rita und Fredy ab.

„Aber wieso denn?“ wollte Fredy wissen. „Ich denke, eure EUKALYPTUS kann
ein Mehrfaches der Lichtgeschwindigkeit erreichen ...“

„... ohne daß es dabei zu Phänomenen kommt, die von der Wissenschaft als

Zeitdilatation bezeichnet werden“, ergänzte Thunderclap und nickte. „Aber
mehr   als   zehnfache   Lichtgeschwindigkeit   können   wir   nicht   packen.   Wir
würden also immer noch siebenhundert Jahre bis zur Erde brauchen ...“

Rita und Fredy machten betroffene Gesichter. So hatten sie sich die Sache

nicht vorgestellt. Sie mußten jetzt völlig umdenken.

„Ihr könnt natürlich mit uns auf große Kaperfahrt gehen“, bot Lonzo groß­

spurig an. „Bereits Captain Kidd handelte nach der Devise, daß die Besatzung

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niemals groß genug sein kann. Schon allein deshalb, weil das Deck dann von
den Matrosen zweimal am Tag gescheuert werden könnte ...“

„Ganz ernsthaft“, rief Harpo. „Kommt  mit uns! Nur Flint und Erik – die

wollen  wir  nicht  dabeihaben.  Na  ja, jedenfalls   sehr  ungern.  Wenn   es  sein
muß, nehmen wir sie natürlich mit. Als Gefangene, versteht sich. Die würden
doch bei der erstbesten Gelegenheit erneut versuchen, die EUKALYPTUS in
ihre Gewalt zu bringen!“

Fredy und Rita wechselten zunächst einen Blick und tuschelten dann leise

miteinander. „Eigentlich haben wir vom Weltraum die Nase ziemlich voll“,
sagte Rita dann. „Wenn es für uns eine Möglichkeit geben würde, bei Doona
und seinen Leuten zu bleiben ...“

„Aber ja!“ rief Doona hocherfreut – oder besser gesagt: Die Stimme aus dem

Translator übersetzte ihn so. Aber man sah ihm an, daß er es auch so gemeint
hatte. „Wir würden uns riesig freuen, wenn ihr für immer unsere Gäste seid.
Ihr könntet auf Tonoga bleiben oder auf Tanit im Nachbarsystem leben.“

„Das machen wir!“ rief Fredy. „Und vielleicht können wir euch bei euren

Forschungen helfen!“

Während Caral mit den beiden schon Einzelheiten beredete, fügte Doona

hinzu: „Und was die beiden Übeltäter angeht, so werden sie der Gerichts­
barkeit auf Tanit übergeben. Wenn ihr den bürokratischen Tick meiner Leute
kennen würdet, dann könntet ihr euch vorstellen, wie das abläuft: Flint und
Erik werden in den nächsten Jahren viele tausend Formulare über all ihre
Schandtaten   auszufüllen  haben.  Für  etwas  anderes   bleibt  ihnen   gar  keine
Zeit mehr. Vielleicht bessern sie sich sogar und bringen es zu Untersekretärs­
anwärtern. Das Schikanieren beherrschen sie ja schon ganz gut.“

„Mir ist noch immer ein Rätsel, wie ihr so schnell bemerkt habt, daß je­

mand auf der Robotinsel war“, sagte Karlie.

„Habe   ich   es   noch  nicht   erzählt?“   fragte   Doona.  „Weil   die  Sendeanlage

beschädigt wurde.“

„Aber warum hat Flint das getan?“
„Daran hatte er ausnahmsweise keine Schuld“, antwortete der B­Wissen­

schaftler.   „Inzwischen   habe   ich   den   Schaden   behoben.   Beim   Absturz   der
AESCLIPUS hat sich offenbar ein Stück vom Leitwerk gelöst und ist – knapp
unter der Wasserlinie – in die Insel eingedrungen. Dabei wurden wichtige Ge­
räte beschädigt, und Wasser drang ein. Wenn ich daran denke, dann wird mir
ganz schwindlig: Für den Ausfall der Station war tatsächlich eine Art von Me­
teor   verantwortlich.   Vor   einer   Woche   hätte   ich   das   noch   rundweg   abge­
stritten.“

„Setzt ihr uns vor eurem Abflug auf SHAVACCOR ab?“ bat Doona. „Dann

schicken wir die Bogeys allein nach Haus. Sie können sich Zeit lassen und
den Covallha­Garten mit seinen Gefahren umgehen.“

„Klar doch!“ riefen Harpo und Thunderclap.
Doona freute sich. Er hatte mit dieser Bitte an die neuen Gefährten ge­

dacht, denen die beschwerliche Reise auf dem Rücken der Bogeys noch nicht
zuzumuten war. Aber wenn er ehrlich war: Ein bißchen wollte er auch den

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Triumph genießen, im Gleitboot der Besucher aus dem All zur Forschungsin­
sel hinabzuschweben. Gandrill, Pertoff und Korshak würden riesige Facetten­
augen bekommen.

„Dann bleibt nur noch ein Problem“, murmelte Harpo. „Wir müssen Flint

und Erik aus der Gefrierkammer holen. Hoffentlich hat der Aufenthalt ihre
Köpfe etwas abgekühlt!“

„Jetzt fällt mir aber etwas Schreckliches ein!“ rief Rita. „Der schöne Plan

hatte einen winzigen Fehler, der uns zum Verhängnis wird: Wir können ja gar
nicht zur EUKALYPTUS fliegen, weil Flint und Erik beide Gleitboote mit sich
genommen haben!“ Thunderclap atmete erst einmal erleichtert aus, bevor er
antwortete. Für einen Moment lang war ihm ein eiskalter Schreck in die Glie­
der   gefahren,   weil   er   glaubte,   daß   Rita   tatsächlich   einen   Fehler   entdeckt
hatte. „Wenn es weiter nichts ist ...“ sagte er lächelnd. „Bharos wird natürlich
zur EUKALYPTUS teleportieren,  vielleicht ein paar Grüne mitnehmen und
die Frostpakete Erik und Flint solide verschnürt mit einem Gleitboot zur Insel
zurückbringen.“

„Ja, wenn das so ist ...“ begann Harpo.
„Juchhu!“ rief Anca. „Jetzt wird endlich  gebadet!“ Sie  warf als  erste ihre

Kleider ab und hüpfte ins Meer. Die ganze Meute folgte begeistert ihrem Bei­
spiel. Selbst Trompo, Doona, Caral, Rita und Bharos machten mit. Und Fredy
– trotz seines Turbans aus Binden.

Nur Lonzo ließ es bei einem großspurig angekündigten Anlauf bewenden.
„Captain   Kidds   Matrosen   waren   alle   wasserscheu   und   konnten   nicht

schwimmen“, rief er. Prüfend steckte er einen Tentakel in das Wasser und
zuckte zurück. „Igitt!“

Aber dann winkte er seinen Freunden begeistert mit allen vier Tentakeln zu

und schlug anschließend ein Rad aus Freude darüber, daß wieder einmal ein
Abenteuer glimpflich ausgegangen war.

Doona und Caral riefen ihre Bogeys herbei, damit sie die Badenden gegen

Gefahren   abschirmten.   Aber   die   ersten   kamen   bereits   wieder   aus   dem
Wasser, das doch ziemlich kalt war. Ollie hielt es am längsten aus. Die sehn­
süchtigen  Blicke,   die  er   den   Bogeys   zuwarf,   machten   eines   klar:  So  leicht
würde   man   ihn   nicht   von   diesem   Planeten   fortbringen   –   bevor   er   nicht
wenigstens einmal auf einem solchen Tier geritten war.

Ende

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