Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn
Planet der
Raufbolde
Band 2
aus der Reihe
„Raumschiff der Kinder“
ungekürzte Originaledition
der nicht mehr aufgelegten
Einzelausgabe von 1977
© Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1977. Sämtliche
Rechte, auch die der Verfilmung, des Vortrags, der Rundfunk und
Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten
sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.
ISBN 3770903889
„Land“ in Sicht!
Harpo Trumpff tauchte auf. Prustend wie ein Walroß durchbrach er den
Wasserspiegel des künstlich angelegten Sees und warf mit einer raschen Dre
hung das klatschnasse Haar aus der Stirn. Dabei entdeckte er eine Bewegung
am Rande des Sees. Er sah gerade noch, wie die Gestalt eines Mädchens im
farbigen Gewirr des Plastikdschungels verschwand.
„He, Babs, warte!“ rief er und watete tropfend ans Ufer. „Warum läufst du
denn weg? Komm lieber ins Wasser!“
Doch das achtzehnjährige Mädchen im roten Jeansanzug schien ihn gar
nicht wahrzunehmen. Sie glitt geschickt und lautlos wie ein Indianer zwi
schen den synthetischen Sträuchern und Büschen dahin. Und dabei so
zielbewußt wie auf der Pirsch nach einem Geheimnis.
Hatte sie vielleicht etwas gehört, etwas entdeckt, das neu und ungewöhn
lich war? Aber nein, dachte Harpo, der ein paar Momente lang bei diesem Ge
danken eine Gänsehaut bekommen hatte. Doch nicht auf der EUKALYPTUS.
Schließlich lebten sie in einem Raumschiff und nicht in einem der wenigen
Urwälder, die es angeblich noch in irgendwelchen fernen Ecken der Erde gab.
Das Raumschiff EUKALYPTUS war von den Besatzungsmitgliedern
verlassen worden, nachdem es durch eine rätselhafte Katastrophe zunächst
aus dem ErdOrbit ausgebrochen war und dann in die Tiefen der Galaxis ge
schleudert wurde. Nach einigen bangen Tagen der Ungewißheit befand es
sich inzwischen völlig unter der Kontrolle der Kinder, die eigentlich nur zur
Erholung an Bord waren. Unterstützt wurden sie bei den schwierigen Auf
gaben durch die Grünen – wie sie die grünbepeltzen Roboter nannten – und
das Große Gehirn, einen riesigen Computer, der alle Funktionen des Schiffes
koordinierte. Und da die Erwachsenen das Schiff fluchtartig aufgegeben
hatten, konnte es niemanden mehr an Bord geben, den die Kinder nicht
kannten.
Babs war immer etwas schwierig, aber sie floh längst nicht mehr, wenn sich
Kinder näherten. Was mochte sie wohl veranlaßt haben, bei seinem Auf
tauchen das Weite zu suchen? Ohne sich abzutrocknen glitt Harpo in seine
bereitliegenden Kleider. Er war jetzt bald sechzehn Jahre alt, und beim Anzie
hen stellte er fest, daß die Hosen wirklich immer enger und kürzer für ihn
wurden. Er mußte langsam zu wachsen aufhören, wenn er nicht so groß wie
sein Freund Karlie Müllerchen werden wollte, der mit seinen fünfzehn Jah
ren schon weit über zwei Meter maß. Auch die Haare trocknete er nicht erst
ab, sondern rannte gleich los. Noch konnte er an den sich bewegenden Blät
tern erkennen, welchen Weg Babs nahm. Sie gab keinen Laut von sich. Sie
sprach sowieso selten, und wenn doch einmal, dann nur wenige Wörter. Aber
sie verstand sehr gut, wenn man sie etwas fragte.
Nach Luft schnappend eilte Harpo dem Mädchen durch das Dickicht von
Deck 41 hinterher. Hierher kamen nur die ganz begeisterten Schwimmer,
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seitdem die ehemaligen Bewohner des Decks in die Zone null umgezogen
waren.
„Was ist denn los, Babs?“ fragte Harpo, als er sie eingeholt hatte. Unwillkür
lich sprach er ganz leise, als er den bewußt geheimnisvollen Blick des Mäd
chens auffing. Babs war stehengeblieben und legte lauschend den Kopf
schief, so daß ihr linkes Ohr fast die Schultern berührte.
Jetzt legte sie den Zeigefinger an die Lippen und sah Harpo in die Augen.
Sie hatte schöne Augen mit eisblauer Iris, aber irgendwie wirkte ihr Blick geis
tesabwesend. Harpo hatte noch immer nicht herausgefunden, wie Babs an
Bord des Schiffes gelangt war. Ihr Name stand weder auf der Liste der Pati
enten noch der des medizinischpädagogischen Personals oder der Astroga
toren und Techniker.
„Dort!“ sagte sie plötzlich und zeigte auf die grüngestrichene Deckwand,
die vor ihnen aufragte.
Harpo starrte die Wand an. An verschiedenen Stellen war der Anstrich be
reits fleckig geworden. Er verstand nicht, was Babs meinte. Wieder tasteten
seine Blicke nach der Wand, aber dann streiften sie das Stück Boden davor.
Die künstlich aufgeschichtete Erde unmittelbar zu ihren Füßen war einge
stürzt. Wie es oft im Leben vorkommt, hatte Harpo das Wichtigste, un
mittelbar vor seiner Nase nicht bemerkt: Der Erdboden vertiefte sich zu
einem etwa zwei Meter abfallenden Hohlweg, der genau auf die Schiffswand
zuführte. Offenbar hatte es hier einen das ganze Deck durchziehenden unter
irdischen Gang gegeben. Er mußte durch die Erschütterungen beim
Verlassen des ErdOrbits eingestürzt sein und gab nun eine runde Schleusen
tür frei. Sie war leicht geöffnet und bewegte sich zaghaft in den Angeln, weil
der Luftzug der kräftigen Deckventilatoren dagegenhielt.
Klick, ging es. Klick, klick, klick.
Erschreckt machte Harpo einen Schritt rückwärts. Das war ja beinahe so
unheimlich wie in alten Schlössern, in denen Geister spukten. Hatte Babs
dieses Klicken knapp an der Hörgrenze des menschlichen Ohres über die
weite Entfernung gehört? Dann mußte sie wirklich über ein phänomenal gut
funktionierendes Gehör verfügen.
„Was ist das?“ fragte er. Zögernd ging er näher, als er keine Antwort erhielt,
und spürte instinktiv, daß Babs folgte. Zum ersten Mal sah er mit eigenen
Augen, daß es noch andere Ausgänge als die Schächte des Antigravliftes auf
den Decks gab. Aber dann fiel ihm die allererste Begegnung mit Babs ein.
Auch damals war sie vielleicht durch einen ähnlichen Gang gekommen, als er
mit Anca gerade die geheimnisvollen Räume jenseits der Deckwand durch
suchte.
Eine Weile ertrug es ein Junge wie Harpo ganz gut, von Dingen umgeben zu
sein, die er nicht immer auf Anhieb verstand. Aber wenn das Kopfzerbrechen
allzu große Ausmaße annahm, begann er zu handeln. Aus einem plötzlichen
Entschluß heraus sprang er in den Hohlweg hinab und näherte sich vor
sichtig, aber nicht ängstlich jener Schleusentür. Sie war gerade groß genug,
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einen Menschen hindurchzulassen. Ein vor der Tür angebrachtes Metall
schild zog seine Aufmerksamkeit auf sich:
14C
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BEACHTEN SIE DIE SICHERHEITS
VORKEHRUNGEN!
Babs sagte: „Wohin, Harpo?“ Ihre Stimme klang wie die eines Mädchens
von höchstens elf Jahren. Und doch schien sie nicht ängstlicher zu sein als
bei ganz harmlosen Gelegenheiten, wenn sie leicht zusammenzuckte, weil
sich jemand schnell bewegte oder laut redete.
„Bloß mal nachsehen“, gab Harpo über die Schulter zurück. Er wußte zwar
nicht, welche „Sicherheitsvorkehrungen“ zu beachten waren, aber er hatte
nicht die Absicht, wieder hinaufzuklettern, ohne zuvor einen Blick hinter die
Tür geworfen zu haben.
Er schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Da hast du vielleicht eine ganz
tolle Entdeckung gemacht, Babsie. Komm doch, dann schauen wir gemein
sam nach, was hinter der Tür steckt.“
Babs schüttelte den Kopf. Lieber nicht, hieß das. Offenbar hatte sie keine
Lust, sich auf ungewisse Abenteuer einzulassen.
Harpo zuckte mit den Schultern und tastete sich vorwärts. Dann glitt er
durch die Schleusentür, die sich spielend mit einem Finger öffnen ließ. Da
hinter lag ein winziger Raum. Harpo entdeckte sofort eine weitere Tür auf der
gegenüberliegenden Wand. So ähnlich sah auch die Luftschleuse vor der
Zentrale aus.
Es gab unbekannte und verwirrende Knöpfe, mit deren Hilfe die Tür
elektronisch zu öffnen war, aber Harpo versuchte es ganz einfach an dem
Handrad, das wohl für Notfälle vorgesehen war. Zuvor hatte er sich davon
überzeugt, daß die beiden Zeiger der Luftdruckmesser deckungsgleich waren.
Er mußte also keine Angst haben, daß sich auf der anderen Seite das lebens
feindliche Vakuum des Weltalls befand.
Einen Moment lang rieselte ihm trotzdem ein kalter Schauer über den
Rücken. Es könnte ja sein, daß die Instrumente nicht mehr korrekt anzeigten,
oder daß ... Entschlossen drehte er weiter, bis sich die Metalltür knarrend auf
sperren ließ.
Licht flackerte im gleichen Moment auf und übergoß ihn so unerwartet,
daß er die Augen mit den Händen bedecken mußte, und mühsam zwischen
den Fingern hervorlugte. Er atmete schwer, sein Brustkasten hob sich wie
nach einem anstrengenden Hundertmeterlauf.
Schließlich hatten sich seine Augen auf das Licht eingestellt und meldeten
ihm die ersten Bilder. Er befand sich in einem so großen Saal, wie er ihn nie
mals zwischen den Decks und der Schiffsaußenhaut vermutet hätte. Später
erfuhr er, daß der Raum 140 Quadratmeter umfaßte und „Hangar“ genannt
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wurde. Seine Metallwände wirkten kalt und steril, weil es niemand für nötig
gehalten hatte, ein paar Farbtupfer zu verschwenden.
„Hangar“ war ein Wort, das er in diesem Moment noch nicht kannte, aber
als er die drei Objekte vor sich in den hydraulischen Docks liegen sah, begriff
er sofort, daß dies so etwas wie eine Garage für kleine Raumfahrzeuge war.
Unwillkürlich stieß er einen spitzen Jubelschrei aus.
Kein Zweifel! Das waren Gleitboote, die langgezogenen, schnittigen Auto
mobilen glichen, aber eine Kuppel aus durchsichtigem Glas oder Kunststoff
als Fahrerkabinen hatten. Kurze Stummelflügel zeigten, daß sie für Flüge in
nerhalb der Atmosphäre geeignet waren. Harpo selbst hatte solche Boote
schon im Fernsehen bewundert. Von Thunderclap Genius wußte er
außerdem, daß diese MiniaturRaumschiffe beinahe narrensicher bedient
werden konnten, da sie mit dem Steuersystem des Großen Gehirns ver
bunden waren und kein geschultes Bedienungspersonal erforderten. Nur für
den Fall, daß auch der Zentralcomputer des Raumschiffes ausfiel, war eine
Handsteuerung vorgesehen. Diese Probleme hatten sie nicht. Wenn
Thunderclap sich nicht irrte, gab man die gewünschten Befehle einfach über
das Mikrofon an den Computer, der sie in elektrische Impulse umwandelte
und daraus einen Leitstrahl modulierte, an dem das Boot sich vorwärtsbe
wegte. Selbstverständlich geschah das alles ohne einen meßbaren Zeitverlust.
Harpo erinnerte sich, daß Lonzo von solchen Beibooten der EUKALYPTUS
erzählt hatte. Die Schwierigkeit war nur, daß man bei Lonzo nie so genau
wußte, ob er die Wahrheit sagte oder sich eine kleine Lügengeschichte ausge
dacht hatte. Aber mit Sicherheit besaß er keine Informationen über den
Standort der Boote.
Nun, die hatte jetzt Harpo. Am liebsten hätte er sich ja gleich in eines der
Boote gesetzt. Und warum eigentlich nicht? Von Entdeckerdrang beseelt, um
kreiste er die schnittigen Flitzer. Durch eine geöffnete Luke enterte er nach
kurzem Zaudern schließlich eines der Gleitboote und tauchte unter der Glas
kuppel wieder auf. Fasziniert ließ er seinen Blick über die bequeme Innenein
richtung schweifen. In den Polstern hatten sicherlich vier oder fünf Leute
Platz, ohne daß sie sich mit den Ellbogen allzusehr ihren Platz erkämpfen
mußten.
In seinen Fingern kribbelte es vor Aufregung. Er hatte Lust, diese wunder
baren Dinge zu berühren, war aber intelligent genug, dies zu unterlassen, so
lange er nicht wußte, welchen Schaden er damit anrichten konnte.
Die gepolsterte Sitzbank, kreisrund und direkt an den Wänden des
Fahrgastraums befestigt, beherrschte das Bild. In der Mitte erhob sich ein
kunststoffverkleideter, meterhoher Monolith, in dessen Oberfläche eine Ta
statur mit verschiedenfarbigen Schaltern eingelassen war. Dann entdeckte
Harpo die Bedienungsanleitung der Schaltung. Sie lag unübersehbar auf
einem der Polster. In mehreren Sprachen wurde erklärt, welche Funktionen
die einzelnen Schalter hatten. Vorsichtig probierte er sie aus.
Zuerst verdunkelte sich die Glaskuppel zu einem undurchdringlichen
Schwarz, dann flammte die Bordbeleuchtung in einem beruhigenden Rot
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auf. Harpo testete Heizung und Klimaanlage und stellte fest, daß alles ein
wandfrei funktionierte. Schließlich erwischte er den Knopf, der die Ver
bindung mit der Hauptzentrale der EUKALYPTUS herstellte.
„He!“ hörte er Karlie Müllerchen überrascht ausrufen. „Beim feurigen
Kometenschweif! Was ist das für ein Leuchtzeichen?“
Karlie hielt im Moment die Funkleitstelle auf Deck null besetzt und sorgte
dafür, daß alle Abteilungen zu jeder Zeit miteinander sprechen und Informa
tionen austauschen konnten.
„Na, rat doch mal“, forderte Harpo ihn auf und hatte Mühe, ein helles La
chen zu unterdrücken.
Karlie erkannte seine Stimme sofort. „Harpo? Wo steckst du denn? Ich habe
dich auf einem Funkkanal, der bisher völlig tot war!“ Aus seiner Stimme klang
grenzenlose Überraschung heraus.
Thunderclap Genius, der wohl auch gerade in der Zentrale hockte, schalte
te sich in das Gespräch ein: „Harpo, wir haben eine ungeheure, gewaltige,
sensationelle, noch nie dagewesene, superdupertiptoppe Entdeckung ge
macht! Wir sind nämlich auf dem allerbesten Wege, in wenigen Wochen ...“
„Moment, Moment“, unterbrach Harpo, der sich so schnell die Fäden nicht
aus der Hand nehmen lassen wollte. „Was immer ihr an guten Nachrichten
habt – ich habe bestimmt noch bessere.“ Und jetzt spuckte er es aus. „Wißt
ihr, was ich ... oder besser, was Babsie ... oder vielmehr, was wir zusammen ...
Also, hört ihr überhaupt zu, ganz genau zu? Setzt euch alle hin, obwohl es
nicht viel helfen wird, denn das haut euch gewiß vom Hocker. Wir – haben –
die – Gleitboote!“
„Waaaaaas?“ kam ein vielstimmiges Echo, an dem außer Thunderclap und
Karlie wohl auch noch andere beteiligt waren.
„Na hör mal“, schimpfte Karlie, „warum sagst du uns das eigentlich erst
jetzt?“
Wie ein Sturzbach ergoß sich Harpos Bericht über die Lautsprechersysteme
in die Hauptzentrale und ging von dort aus rasend schnell von Mund zu
Mund. Er nahm sich natürlich Zeit mit seiner Erzählung und schmückte die
Forschungsreportage mit allerlei schaurigen Details aus, die den Zuhörern
buchstäblich die Haare zu Berge stehen ließen.
„... und als ich die grauslich quietschende Tür am Ende des modrig rie
chenden Gangs aufstieß und der unheimlich finstere Raum vor mir lag, häm
merte mein Herz bis zum Halse hinauf, und meine Knie zitterten, und dann
sah ich sie vor mir, drei Stück und bestens in Schuß ...“
Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Reihen der Zuhörer. Harpo
schwieg, erschöpft von der langen Rede und den vielen Flunkereien. Glück
lich schwelgte er bereits im voraus in den kommenden Ehrungen, die ihm si
cherlich zuteil wurden.
Aber er wartete vergebens auf Lobeshymnen. Vielmehr drang ein verhal
tenes Kichern an seine Ohren. Thunderclap knurrte daraufhin jemanden an
und sagte rasch: „Im Glanz deiner Entdeckung verblaßt unsere Beobachtung
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natürlich, Harpolein. Aber du solltest trotzdem eiligst mit Babs hinaufkom
men und sie dir ansehen!“
Wenn Thunderclap derart untertrieb, dann mußte etwas Besonderes ge
schehen sein. Harpo stieg flink aus dem Boot, eilte den Weg zurück und ließ
sich von Babs aus der Grube ziehen. Er streichelte ihr dankbar die Wange,
nahm sie bei der Hand und eilte mit ihr zum Antigravlift. Mit gemischten Ge
fühlen stellte er fest, daß sein Vollbad umsonst gewesen war, denn er
schwitzte wie ein Braten auf dem Grill.
In der Zentrale wurden sie von der gesamten Besatzung der EUKALYPTUS
erwartet, darunter Lonzo, der Roboter, Thunderclap mit einem erwartungs
vollen Lächeln und blitzenden Augen, Brim Boriam, der „Arztlehrling“ und
Lucky Cicero, der mongoloide Junge mit der Fähigkeit zur Teleportation.
„Siehst du den Stern dort hinten?“ fragte Thunderclap pfiffig. Er streckte
die Rechte aus und deutete auf einen blaugrünen Punkt, der sich deutlich im
Licht der zahllosen Sonnen hinter der Sternenkuppel abzeichnete.
Harpo nickte. Was der bloß wollte? „Klar, aber ...“ Die kleine Lori Powitz ki
cherte. Jetzt wußte Harpo auch, wer das vorhin gewesen war. „Sieh ihn dir ge
nau an, Harpolein“, platzte sie dazwischen. „Fällt dir nichts auf?“
Fiel ihm etwas auf? Eigentlich nicht. Oder war der Stern vielleicht etwas
heller und auffälliger geworden? Schwer zu sagen, fand Harpo. Unsicher
kratzte er sich am Kinn und verzog abschätzend das Gesicht. Daniel
Düsentrieb würde jetzt sicher eine TausendWattBirne aufgehen, aber ihm
leuchtete nicht einmal eine Kerze.
„Mit bloßem Auge“, unterbrach Thunderclap das Schweigen mit gnädigem
Tonfall, „kann man es auch gar nicht erkennen, hi, hi!“
Karlie Müllerchen baute seine Riesengestalt vor Harpo auf. Er hatte wie
kein Zweiter Wissen über Astronavigation in sich hineingefressen und war
schon wie ein Alter Hase in der Lage, Positionsbestimmungen vorzunehmen.
Sein Kinn zuckte vor Erregung, und die dünnen Haare seines spärlichen
Bartes, der ihm trotz seiner Jugend bereits wuchs, wippten hin und her.
„Diese blaugrüne Sonne“, meinte er mit seiner kieksenden Stimme, „der
wir den Namen Archimedes gegeben haben, kommt näher. Besser gesagt: Wir
nähern uns ihr, jeden Tag, jede Stunde. Und in vier Wochen werden wir sie
erreicht haben!“
Peng! Harpos Kinnlade klappte nach unten. Im gleichen Moment setzte ein
Jubel ein, der die Hauptzentrale vibrieren ließ. Die anderen kannten die Neu
igkeit ja längst und hatten sich nur verabredet, nichts zu verraten, um Harpos
Verblüffung voll auszukosten. Aber sie hörten die gute Nachricht natürlich
gern ein zweites Mal und führten wahre Freudentänze auf.
„Big“ Tom kletterte auf Fidels Schultern und tätschelte dem Riesen Karlie
den Hinterkopf, während Lonzo an der Spitze einer Gruppe von besonders
Übermütigen demonstrierte, wie die legendären australischen Känguruhs
früher durch die Lande gehüpft waren.
All die Sterne am Himmel waren Sonnen, nur leider unerreichbar fern.
Wenn sie sich nun einem dieser Sterne näherten, dann hieß das nichts
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anderes, als daß wahrscheinlich auch Planeten, die diese Sonne umkreisten,
in ihre Reichweite kamen. Und das bedeutete ...
„Wir können uns in richtigem Gras wälzen“, krähte der kleine Ollie.
„Und frische Luft atmen!“ fügte Micel hinzu.
„Und Wasser aus einem Bach schlürfen!“
„Und Regenwürmer baden!“
„Und Berge besteigen!“
„Und in einem Meer baden!“
„Und ... und ... und ...“
Thunderclap Genius wandte sein Gesicht langsam wieder der gläsernen
Kuppel zu, die sich über der Hauptzentrale spannte. Harpo sah, wie sich die
Lippen des Freundes lautlos bewegten. Er konnte zwar nicht hören, was er in
diesem Moment sagte, aber er konnte es sich denken.
Wir kommen! Wir kommen! Wir kommen!
Planet Nordpol, bitte melden!
Die nächsten drei Wochen, in denen die Mannschaft mit ungewohnter Em
sigkeit Zukunftspläne schmiedete, vergingen wie im Flug. Kein Tag verstrich,
ohne daß sich nicht Gruppen zusammenfanden, die sich stundenlang über
alle nur denkbaren Einzelheiten einer möglichen Landung die Köpfe heiß
und die Stimmbänder lahm redeten. Einige besonders verwegene Be
satzungsmitglieder der EUKALYPTUS gingen noch weiter, etwa der kleine
Ollie. Dessen stille Liebe war es, Listen anzulegen, seitdem er einmal einen
Stapel alter Formulare in den Verpflegungskammern gefunden hatte. Und so
begann er damit, eingehende Organisationspläne aufzustellen, die im End
effekt darauf hinausliefen, daß er auflistete, was er alles auf den Planeten mit
zunehmen gedachte. Seine allererste Liste sah so aus:
1 Lederhose (Eigentum), gut erhalten
2 Bälle (von Lori ausleihen), möglichst bunte
1 Dingsbums zum Spielen (Trompo), sehr lieb
1 Dackel (Moritz), auch sehr lieb
Natürlich verwarf er seine Liste jeden Tag aufs neue, um sie dann wenig
später in abgewandelter Form erneut zu Papier zu bringen. Für seine Arznei
en legte er sich weitere Speziallisten an, die laufend ergänzt wurden, weil ihm
immer neue Übel einfielen, gegen die man sich wappnen mußte.
Fantasia Einstein, ein sensibles, rothaariges und immer nervöses Mädchen
von fünfzehn Jahren, das starke Fähigkeiten im technischen Bereich zu
entwickeln begann, programmierte das Große Gehirn, jenen Computer, der
die EUKALYPTUS steuerte und auch sonst alle Anlagen fehlerlos bediente.
Seit dem Eingriff der Weltraumärzte arbeitete es zu 98 Prozent wieder, und
mehr konnte im Moment niemand verlangen.
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Wie es sich herausgestellt hatte, war die Denkmaschine wie die Roboter fä
hig, mit einer dem Klang des menschlichen Organs täuschend nachgemach
ten Stimme zu sprechen. Und so kam es, daß die Kinder, wenn sie den
Erklärungen lauschten, manchmal meinten, es mit einem unsichtbaren Men
schen zu tun zu haben. Manche meinten ernsthaft, daß im Innern der
riesigen Apparatur ein echter Mensch lebte, der sich hinter den Stahlwänden
verbarg.
Schuld an solchen Vermutungen trug die Tatsache, daß das Gehirn sich in
mancher Beziehung für eine Maschine seltsam menschlich benahm, was vor
allen Dingen diejenigen überraschte, die den Roboter Lonzo – der ja auch
eine Maschine und kein Mensch war – nicht so gut kennengelernt hatten wie
Harpo und seine Freunde. Denn Lonzo handelte auch nicht gerade mit der
kühlen Sachlichkeit einer mechanischelektronischen Ansammlung von
allerlei Drähten, Wicklungen, Transistoren und Blech.
Das Große Gehirn hatte die Angewohnheit, den Zuhörern allerlei Informa
tionen aufzudrängen, die gar nicht gefragt worden waren. Vielleicht fühlte es
sich einsam mit seinem umfassenden Wissen und wollte andere daran teil
haben lassen. Aber es entschuldigte sich immer sehr artig, wenn man den Re
defluß abbrach.
Allmählich hatten sich die EUKALYPTUSKinder an das ungewöhnliche
Computerwesen gewöhnt und machten sich auf ihre Art lustig darüber.
„Wie groß ist unsere derzeitige Entfernung zum System Archimedes,
Großes Gehirn?“ fragte Karlie. Erwartungsvoll lauschte die Versammlung.
Man hatte es sich auf dem Boden der Zentrale bequem gemacht, weil es nur
zwölf Sitzplätze gab.
„Die Entfernung zur Umlaufbahn des äußersten Planeten beträgt am
kürzesten Punkt absolut exakt 3.222.772,1675423 Kilometer, wobei ich mir
erlaubt habe, die letzte Kommastelle aufzurunden“, erwiderte der Computer
mit tiefer Stimme. „Wenn man allerdings berücksichtigt, daß dieser Planet
alle vierzehn Jahre, drei Monate, zwei Wochen, fünf Tage und ... ahem, ich
möchte auch hier aufrunden ... eine Bahnabweichung aufweist, müßte man
den vorgenannten Wert um 0,00017 Prozent revidieren, sofern man die Ent
fernung auf einen Punkt in der Zukunft bezieht, der zwei Jahre und ...“
„So genau wollen wir es gar nicht wissen“, stöhnte Karlie.
„Karlie?“ fragte das Gehirn vertraulich.
„Ja?“
„Darf ich mir eine Zusatzbemerkung erlauben?“
„Du darfst.“
„Das Schiff wird die erwähnte Kurve in genau sieben Tagen, vier Stunden
und 36 Minuten schneiden, falls die Geschwindigkeit nicht geändert wird.“
„Das hat zwar keiner gefragt“, meinte Karlie grinsend, „aber mit dieser In
formation kann man wenigstens etwas anfangen.“
Das Große Gehirn sagte mit einem wohlgefälligen Unterton: „Ich dachte
schon, daß es euch interessieren würde. Darf ich euch noch auf ein Phä
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nomen bei der Umlaufbahn des dritten Monds des zweiten Planeten des
Sterns Taurus hinweisen, wo –“
„Interessiert uns überhaupt nicht“, entgegnete Karlie trocken.
„Nicht?“ fragte das Gehirn. „Ich bin untröstlich, daß ich es wagte, eure Oh
ren mit meiner rostigen Stimme über Gebühr zu beleidigen. Aber vielleicht
möchtet ihr etwas anderes wissen. Zum Beispiel gibt es ein wahnsinnig
komisches Zahlenspiel der Prrrzturwqzt auf dem Planeten –“
Harpo unterbrach lachend. „Besser wäre es, wenn du uns Einzelheiten
über die Sonne Archimedes verraten könntest. Sie besitzt also Planeten? Und
da von einem äußeren Planeten die Rede war, auf jeden Fall mehr als einen.“
„Eine logische Folgerung“, lobte der Computer. „Archimedes besitzt tat
sächlich mehrere Planeten. Ähnlich wie unser heimatliches Sonnensystem,
das bekanntlich neun Planeten hat: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Sa
turn, Uranus, Neptun, Pluto. Dazu kommen die Marsmonde Phobos und
Deimos, die Jupitermonde –“
Anca zog eine Schnute und warf ein: „Ich verstehe das alles nicht. Woher
soll unser Computer wissen, wie viele Planeten Archimedes hat? Kann man
von hier aus doch noch gar nicht erkennen!“ Sie legte nach Indianerart wie
ein Späher die Flache Hand gegen die Stirn und tat so, als würde sie den Ster
nenhimmel absuchen.
Bevor das Große Gehirn die Gelegenheit wahrnahm, erklärte Karlie bereits,
daß die EUKALYPTUS ein vollautomatisches Observatorium besaß, das an
der Außenhaut des Raumschiffs angebracht war. Die Daten wurden sogleich
an den Computer weitergegeben. Und nicht nur, daß die Fernrohre Dinge re
gistrierten, die das menschliche Auge nicht mehr erkennen konnte: Mit Hilfe
der Spektralanalyse des Sternenlichts konnte auch manches über die che
mische Beschaffenheit der Körper festgestellt werden. Das Große Gehirn
nahm den Faden wieder auf und begann damit, die Namen der Jupitermonde
herunterzurattern, bis Karlie in einem Anfall komischer Verzweiflung erneut
unterbrach. Er bat den Computer, doch endlich zur Sache zu kommen.
„Untertänigster Diener“, meinte das Gehirn und tat zerknirscht. „Archime
des besitzt fünf Planeten. Einer davon – es handelt sich um den vierten –
bietet Lebensbedingungen, unter denen Menschen existieren können. Im
Moment ist es dort allerdings etwas zugig, wenn ich mal so sagen darf.“
„Du darfst!“ rief Thunderclap und prustete dabei vor Lachen. Kopf
schüttelnd kniff er ein Auge zusammen und flüsterte Harpo zu: „Da haben
wir uns aber ein Schwatzmaul eingefangen.“
Da zufällig alle still waren, hatten einige das Flüstern verstanden und
riefen: „Schwatzmaul! Schwatzmaul!“ Damit hatte die Denkmaschine end
gültig ihren Namen weg. Unter großem Beifall wurde beschlossen, daß der
Schiffscomputer der EUKALYPTUS fortan den Namen Schwatzmaul tragen
sollte. Harpo schrieb es ins Logbuch ein, und Schwatzmaul bedankte sich
artig für die Aufmerksamkeit.
„Gehen wir der Reihenfolge nach“, begann er seine Antwort auf eine Frage
Fantasias. „Archimedes am nächsten ist logischerweise der erste Planet, eine
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Steinkugel ohne Wasser, Atmosphäre und Vegetation, mit einem Durch
messer von viertausenddreihundertsiebenundzwanzigkommadreisechs“
„Kannst du nicht ein bißchen schneller machen, Schwatzmaul?“ fragte
Brim Boriam in das Murren der anderen hinein. „Sag uns lieber, wie der
Planet heißt.“
„Döskopp!“ antwortete Karlie. „Der ist doch noch gar nicht getauft
worden!“
„Dann geben wir ihm halt einen Name“, schlug Anca vor. Im Namener
finden war sie groß; allerdings fielen ihr nur selten Planetennamen ein. Dafür
nervte sie ihre Mitspieler beim Scrabble mit ungeheuren Phantasienamen
und mußte meistens disqualifiziert werden.
„Prima! Aber dieses Mal wird keine Flasche daran zerschlagen.“
„Wer weiß einen guten Namen für einen Steinhaufen?“
„Vielleicht Rolling Stone?“
„Oder Wackelstein?“
„Nennen wir ihn Primus“, schlug Thunderclap vor. „Das hört sich wissen
schaftlich an. Und heißt außerdem ‚der erste‘.“
„Du immer mit deinem Latein“, brummte Fidel Flottbek, meinte es aber
nicht böse.
Schließlich einigten sich alle auf Primus.
Planet Nummer zwei war ein ziemlich unwirtlicher Patron mit einer Atmo
sphäre aus Chlorgas. Tosende Stürme jagten mit Geschwindigkeiten von über
700 Kilometern in der Stunde über seine Oberfläche. Die Zuhörer schüttelten
sich, als Schwatzmaul ihnen die Zustände dort plastisch vor Augen führte,
und sahen ein, daß auf diesem Planeten Leben in der gewohnten Form kaum
existieren konnte.
Bei der Namensgebung schlug Harpo Duftbeutel vor, während andere für
Haderlump oder Fiesling waren, aber am meisten Beifall fand wieder der
schlichte Name Secundus, „der zweite“, weil er so schön lateinisch und ge
lehrt klang. Fantasia hatte den Vorschlag gemacht, um zu beweisen, daß sie
ebenfalls etwas von Latein verstand.
Bei der dritten Welt, einem heißen, trockenen Himmelskörper, dessen
Oberfläche eine einzige Wüste war, ging den Lateinern allerdings die Puste
aus. Schamhaft mußten sie zugeben, daß ihnen die lateinische Bezeichnung
für „der dritte“ nicht einfallen wollte. Und ausgerechnet dieses Mal hielt sich
der geschwätzige Computer zurück; vielleicht hatte selbst er hier und dort
kleine Wissenslücken. Schließlich einigte man sich auf „Nummer drei“, und
das war ja auch kein schlechter Name.
„Wenn uns später jemand danach fragen sollte“, meinte Thunderclap pfif
fig, „dann sagen wir einfach, daß nur lateinische Namen einfallslos wären.“
Schwatzmaul registrierte die neuen Namen, und Harpo schrieb sie außerdem
gewissenhaft in sein Logbuch. Dann lieferte der Computer weitere Informa
tionen: „Der vierte Planet macht gerade eine Winterperiode durch, eine Art
Eiszeit. Die Atmosphäre besteht zu 25 Prozent aus Sauerstoff, zu 70 Prozent
aus Stickstoff. Der Rest sind Edelgase wie Neon, Xenon, Helium und –“
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„Ist das nicht giftig?“
„Nicht der Rede wert“, erwiderte Schwatzmaul eilfertig. „Versuche von
Professor Doktor Reinhard Merker haben ergeben, daß –“
„Den kenne ich!“ rief Brim Boriam aufgeregt.
„Oh“, antwortete Schwatzmaul verdutzt. „Ich dachte, daß nur ich ... Nun,
wenn es mir gestattet ist, möchte ich gern mein kleines Referat fortsetzen,
ahem, aber nur, wenn es wirklich niemanden stört ...“
Aus den Lautsprechern kam so etwas wie ein verlegenes Hüsteln. „Verzei
hung“, hieß es dann. „Herr Präsident, Frau Präsidentin, Herr Minister, meine
Herren Kanzleiräte. Ich möchte an dieser Stelle nicht versäumen, in aller
Deutlichkeit und mit dem gebotenen Ernst dieser Stunde darauf hinzu
weisen, daß es mir ein Herzensbedürfnis ist –“
„He, ‘ne andere Platte!“ rief Fidel.
„Zur Sache, Schwatzmaul“, kam ihm Thunderclap zu Hilfe, während die
anderen feixten und lachten.
„Ich bitte vielmals um Verzeihung“, sagte der Computer höflich. „Das ist
mir so herausgerutscht. Das war ein Ausschnitt aus der Taufrede für dieses
Raumschiff.“
„Och“, entfuhr es dem staunenden kleinen Oliver. „Echte Kanzleiräte
waren dabei?“
„Ich fahre fort“, meinte Schwatzmaul, ohne den Einwurf zu beachten. „Der
vierte Planet ist nahezu erdgroß, und seine Schwerkraft beträgt 0,99 Gravita
tionseinheiten, was bedeutet, daß man sich auf ihm eine Winzigkeit leichter
bewegen kann als auf der Erde. Ein Zentner wiegt dort gewissermaßen nur
neunundneunzig Pfund.“
Harpo klatschte vor Begeisterung, und auch die anderen Kinder atmeten
auf. Diese Nachricht bedeutete ihnen sehr viel, denn wer wollte schon seinen
Fuß auf eine Welt setzen, wo er fortwährend darauf achten mußte, daß schon
ein kleiner Sprung ihn in ungeahnte Höhen trieb. Das konnte nämlich ge
schehen, wenn die Schwerkraft nur gering war, wie etwa auf dem Mond der
Erde. Das Gegenteil konnte natürlich noch unangenehmer sein, denn ein
Mensch kann schlecht in einem Gravitationsfeld von vielleicht fünf Gravos
leben und arbeiten. Das wäre so, als müßte man dauernd mit riesigen Mühl
steinen am Hals durch die Gegend laufen.
Planet Nummer fünf, der unter großem Gelächter Gustav getauft wurde,
weil sein grantiges Äußeres eines der Kinder an das Gesicht seines Onkels
Gustav erinnerte, stellte sich ebenfalls als lebensfeindlich heraus. Und
außerdem kreiste er in so großer Entfernung um die Sonne, daß sie gerade
noch als pfenniggroße Scheibe zu erkennen war. Entsprechend lausig kalt
mußte es dort sein.
Allen war klar, daß allein der vierte Planet das Ziel der EUKALYPTUS sein
konnte. Man würde Eis und Schnee auf ihm finden und nannte ihn deshalb
„Nordpol“, aber vielleicht spielte auch die Hoffnung mit, daß er trotz allem
ein bißchen wie die Erde aussah – jene grüne Erde aus den Geschichtsbü
chern.
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Dann mußten die neuentdeckten Gleitboote auf Vordermann gebracht
werden. Lonzo organisierte ein Kommando von technisch versierten Grünen
und ließ sie in den inneren Organen der Maschinen so lange herumkriechen,
bis sie melden konnten, daß zwei der Boote einsatzbereit wären. Das dritte –
es trug die Bezeichnung A1 auf den Außenwänden und den Stummeltragflä
chen – hatte einige Schäden davongetragen, die nicht sofort zu reparieren
waren. Es würde einige Wochen dauern, bis dieses Boot wieder eingesetzt
werden konnte. Ein bißchen lag das auch wohl daran, daß die Grünen für
Wartungsaufgaben programmiert worden waren und mit ungewohnten Re
paraturen nicht so gut zurechtkamen. Einige besaßen nur ein Programm für
Unterrichtsfunktionen – schließlich hatten sie in den alten Tagen der EUKA
LYPTUS die Kinder als Lehrer betreut und wurden von vielen noch immer
mit gemischten Gefühlen betrachtet. So stellten sie sich an wie Leute mit
zwei linken Händen. Weder Lonzo noch Schwatzmaul konnten in dieser Be
ziehung groß helfen, weil ihnen Informationen über Reparatur und Montage
weitgehend fehlten. Und die technisch Begabten unter den Kindern waren
ebenfalls überfordert.
Der historische Augenblick kam, der Tag, an dem die Gleitboote A7 und
A9 an das große Gehirn angeschlossen wurden. Bisher hatte es nur Energie
zufuhren gegeben, deren Existenz dem Schiffscomputer zwar bekannt aber
so wenig bewußt war wie dem Menschen eine einzelne Ader am großen Zeh.
Fast zum gleichen Zeitpunkt, als Schwatzmaul zum ersten Mal die Boote
fühlte, kam das Signal, auf das alle gewartet hatten: Die EUKALYPTUS er
reichte einen Position, von der aus ein sanftes Einschwenken in eine Kreis
bahn um Nordpol möglich wurde.
Ein leichtes Zittern durchlief das Schiff, als die seitlichen Schubdüsen, die
als einzige Antriebselemente funktionierten, den vorausberechneten Stoß in
den Orbit ausführten. Die Antischwerkraftfelder der EUKALYPTUS
verhinderten, daß sich irgendwelche Gegenstände selbständig machten und
Schäden anrichteten. Es gab nur einen ganz kleinen Ruck, dann waren sie auf
der Umlaufbahn. Die Eigengeschwindigkeit des Schiffes und die Anziehungs
kraft des Planeten hielten sich jetzt die Waage. Das Ergebnis war eine ge
krümmte Flugkurve, die nur ganz allmählich flacher wurde. Die
EUKALYPTUS konnte sich antriebslos einige hundert Jahre hier oben halten,
bis eines Tages die Schwerkraft des Planeten siegen würde – wenn das Raum
schiff dann noch Nordpol umkreiste. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß
der Antrieb vielleicht doch noch repariert werden konnte. Dann boten sich
natürlich ganz neue Möglichkeiten.
„Harpo“, stöhnte Thunderclap mit heiserer Stimme, „wir sind vielleicht
Tränentiere! Aber intergalaktische! Weißt du auch, warum?“
„Neee!“ gaben Harpo und ein paar andere verdutzt zurück.
„Weil wir auf der Kreisbahn um Nordpol sind.“
„Wieso?“ meinte Harpo verständnislos. „Das wollten wir doch auch, oder?“
„Ja, das heißt: nein“, sagte Thunderclap. „Ich weiß schon selbst nicht mehr,
was ich davon halten soll. Verstehst du denn nicht: Wir können jetzt nicht
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mehr zurück! Wir werden den Planeten umkreisen, bis wir schwarz sind oder
bis der Antrieb wieder in Ordnung ist!“
In dieser Deutlichkeit hatte sich Harpo die neue Situation noch nicht be
wußt gemacht, aber so dramatisch fand er es nun auch wieder nicht.
„Na und?“ meinte er. „Wir wollen uns doch sowieso auf Nordpol ansie
deln.“
„Was wollen wir?“ schrie Thunderclap entsetzt.
Schlagartig wurde allen bewußt, daß sie in eine Sache hineingeschlittert
waren, ohne daß sie sich über die Folgen und ihre Ziele unterhalten hatten.
Alle wollten auf den Planeten hinab. Aber offensichtlich hatten einige nur
daran gedacht, ihm einen Besuch abzustatten, während sich die anderen eine
neue Heimat erhofften. Und die erste Fraktion hatte nicht bedacht, daß die
Entscheidung für Nordpol etwas Endgültiges war. Die Schubdüsen waren viel
zu schwach, um sie rückgängig zu machen, nachdem die Schwerkraft des
Planeten sie eingefangen hatte.
„Das ist putzig, daß wir uns nicht darüber unterhalten haben“, meinte Har
po. Aber so war es nun einmal. Er fühlte sich nicht entfernt so unglücklich
darüber wie Thunderclap, der mit den Tränen kämpfen mußte. Der Junge im
Rollstuhl war immer an einen bestimmten Ort gebunden gewesen und kann
te die Freiheit nicht, sich zu bewegen, wie er wollte. Jetzt war das anders: Sie
hatten die Erde weit hinter sich gelassen. Da wollte er doch nicht einen
einzigen Planeten eintauschen gegen all das, was unter anderen Sonnen
noch verborgen lag!
Harpo konnte den Freund gut verstehen und wäre gern mit ihm durch das
All gezogen. Aber er hatte sich längst damit abgefunden, daß so etwas mit
dem defekten Antrieb nur ein Traum war. Also blieb Nordpol, und das schien
ihm nicht das Schlechteste zu sein.
Eine Versammlung wurde einberufen. Die Stimmung war zerfahren, als
sich alle hinsetzten und Lonzo das Wort ergriff. „Liebe Freundinnen und
Freunde“, begann er in seiner komischen Art. „Lieber Herr Landrat und liebe
Frau Landratte! Eine ganz und gar erschröckliche Tatsache drang an unsere
geplagten Ohren, über die wir eine Entscheidung fällen müssen. Wie unsere
unschlagbaren Ingenieure Einstein und Sause –“
„Lonzo!“ zischte Thunderclap drohend. Ein bißchen hatte er sich schon
von dem Schock erholt.
„... und Genius“, verbesserte sich Lonzo schnell, „ausgetüftelt haben, sitzen
wir ziemlich tief drin in der dicken Tinte.“
Rasch informierte er alle, die es noch nicht wußten, daß man vielleicht
einen Fehler begangen hatte, als man die Kreisbahn um Nordpol wählte.
Nach einigen „Ahs“ und „Ohs“ kamen die ersten brauchbaren Vorschläge.
Einen Schuldigen für die Situation zu suchen, lag allen fern, und deshalb hielt
man sich damit gar nicht erst auf. Mehr als ein halbes Dutzend Interessierte
gelobten, Fachliteratur zu studieren, um vielleicht doch herauszufinden, wie
der Antrieb repariert werden konnte. Karlie fielen die Weltraumärzte ein. Er
versprach, alles Menschenmögliche zu tun, um eines ihrer vielleicht in der
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Nähe kreuzenden Schiffe anzufunken. Die Ärzte hatten ja sowieso verspro
chen, irgendwann nach ihnen zu sehen. Also war die Situation gar nicht so
düster, wie sie im ersten Moment geglaubt hatten.
Der Planet füllte einige Stunden später fast das gesamte Gesichtsfeld aus,
wenn man in der Sternenkuppel stand und ins All hinaussah. Deutlich konn
te man nun Gebirgsrücken und kleinere Ozeane sehen, die wider Erwarten
nicht zugefroren waren. Von intelligentem Leben keine Spur, aber das moch
te aus dieser Höhe höchstens besagen, daß es dort unten keine
Wolkenkratzer und Stratosphärenflugzeuge gab. Schwatzmaul schickte For
schungssonden ab, die sich zum Planeten senkten und dann mit Forschungs
ergebnissen zurückkehrten. Die meisten Flüsse dieser Welt waren gefroren,
und es gab nur wenige Vegetationsstreifen. Schnee fiel beinahe täglich in
weiten Gebieten. Aber das größte Mysterium, über das die Sonden Bericht
erstatteten, war ein auf der nördlichen Halbkugel gelegenes, seltsam geform
tes Hügelgebiet, dessen Symmetrie auf einen künstlichen Ursprung hinzu
weisen schien. Der natürliche Entdeckerdrang der EUKALYPTUS
Mannschaft führte dazu, daß dieses Gebiet als erstes für eine Landung in Be
tracht gezogen wurde.
„Und wen schicken wir hinunter?“ fragte Thunderclap am Tag des ge
planten Starts mit dem Gleitboot, während er aufgeregt mit seinem Rollstuhl
über das gesamte Deck null raste. „Ich würde ja gern mitgehen, aber dort un
ten im Schnee könnte ich mich doch nicht bewegen und müßte die ganze
Zeit über im Boot hocken bleiben.“
Harpo beruhigte ihn mit dem Hinweis, daß schließlich auch jemand von
der Zentrale des Raumschiffs aus das ganze Unternehmen leiten mußte. Die
richtige Aufgabe für Thunderclap. Da die größeren Kinder alle darauf brann
ten, als erste den Fuß auf Nordpol zu setzen, mußte schließlich das Los ent
scheiden. Vier Plätze waren zu vergeben. Die Lose fielen auf Micel Fopp, Fidel
Flottbek, Brim Boriam und „Big“ Tom Schlitz, einen Jungen, der seinen
Kameraden anfangs große Schwierigkeiten bereitet hatte, inzwischen aber
bewies, daß er freundlich und hilfsbereit wie alle anderen sein konnte, wenn
man ihn nicht dauernd anmeckerte und hänselte.
Der Start der A9 ging reibungslos vonstatten, nachdem Thunderclap jeden
einzelnen der Besatzung eindringlich darauf hingewiesen hatte, ihm später
auch die kleinste Einzelheit des Abenteuers zu berichten. Schwatzmaul be
herrschte das Gleitboot sicher und befolgte mit präziser Routine die Anwei
sungen Fidels, der als Kommandant gewählt worden war. Die Außenkameras
der EUKALYPTUS verfolgten das winzige Schwebefahrzeug mehrere Stunden
lang und verloren es erst aus den Augen, als es durch eine dichte Wolkenbank
auf der Tagseite des Planeten zur Landung ansetzte.
Mit schweißfeuchten Händen ergriff Karlie Müllerchen sein Mikrofon und
sprach die Worte, die man vorher ausgemacht hatte:
„Planet Nordpol, bitte melden! Hier spricht die EUKALYPTUS!“
Aber niemand antwortete ...
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Spuren im Schnee
Der Schock saß so tief, daß mehrere Minuten lang niemand wagte, ein Wort
zu sagen. Sogar Schwatzmaul zog es vor, technischunpersönlich zu werden.
Sein Großbildschirm flammte auf und präsentierte eine Reihe von Buch
staben, die sich nach und nach zu Wörtern zusammensetzten.
FUNKKONTAKT ABGERISSEN
MÖGLICHE GRÜNDE: KEINE DATEN
„Kein Irrtum möglich?“ fragte Harpo entsetzt. Er war aus seinem
Schwenksessel aufgestanden und strich sich fahrig über das Kinn. Seine
Handflächen fühlten sich feucht an, und sein Herz schlug schneller als üb
lich. Thunderclap biß sich auf die Unterlippe. Er wirkte blaß. Was mochte ge
schehen sein?
KEINE DATEN KEINE DATEN KEINE DATEN gab Schwatzmaul erneut be
kannt, ein wenig vorwurfsvoll, wie es schien.
Harpo war nicht der einzige, der anfing, sich Vorwürfe zu machen. Waren
sie nicht doch zu hastig vorgegangen? Wäre es nicht besser gewesen, den
Planeten erst noch einige Tage lang zu umkreisen, um klarere, eindeutigere
Informationen zu sammeln?
Schließlich war es Lonzo, der die trübe Situation aufhellte. Radschlagend
wirbelte er durch die Zentrale und krächzte dabei: „Nicht verzagen – Lonzo
fragen! Nordpol ist frei von Piraten jeglicher Art, bei Neptun! Niemand kann
unseren Freunden ein Leid angetan haben.“
„Und falls doch“, piepste der kleine Ollie und zerrte dabei wütend an den
Fransen seiner Lederhose, „kriegt er es mit mir zu tun!“ Er reckte seine
winzige Gestalt.
Unter normalen Umständen wären wohl alle in befreiendes Gelächter aus
gebrochen, denn Ollie konnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun,
aber diesmal nagte an allen der Zweifel. Fröhlichkeit wollte nicht so recht
aufkommen. Die Freunde mochten wohlauf sein, aber auf jeden Fall fehlte
auch ihnen die Verbindung zum Mutterschiff. Sie mußten sich allein und
verlassen vorkommen.
„Und wenn sie nun abgestürzt sind?“ fragte Anca. In ihren Augen
sammelten sich langsam, aber sicher Tränen. Während Harpo seine jüngere
Schwester tröstete, griff Schwatzmaul in die Beratung ein.
„Mit Verlaub bemerkt“, äußerte sich das Große Gehirn zum ersten Mal
wieder akustisch, „das ist unmöglich! Ich bin nach wie vor mit der A9 ver
bunden. Nur hören kann ich nichts. Aber ich spüre das Boot – etwa so, wie
einer von euch seinen linken Zeigefinger fühlt und weiß, daß er vorhanden
ist, auch ohne daß er ihn sieht.“
„Langer Rede kurzer Sinn“, schnaufte Thunderclap Genius und raufte sich
dabei wild die Haare, „Schwatzmaul spürt deutlich seinen linken Zeige
finger.“
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„Untertänigster Diener“, gab das Große Gehirn überhöflich zurück, „so ist
es!“
Ein einziger, lang anhaltender Seufzer schwebte durch die Hauptzentrale.
Die Anspannung wich aus den Gesichtern. Aber in den folgenden Stunden
vergingen doch nur wenige Minuten, in denen nicht jemand bei Karlie Mül
lerchen an der Funkleitstelle auftauchte und nach Neuigkeiten fragte. Karlie
ertrug alles mit stoischer Gelassenheit, aber es blieb nicht aus, daß mit der
verstreichenden Zeit die Unruhe bei allen wieder größer wurde.
Als sich auch am nächsten Morgen noch niemand von der A9 gemeldet
hatte, sagte Harpo: „Wir müssen nachsehen, Thunderclap! Schwatzmaul
kann noch so beruhigende Kommentare abgeben. Ich glaube nicht eher dar
an, daß unsere Freunde gesund und munter sind, bevor ich sie nicht mit
eigenen Augen gesehen habe!“
„Ich gehe mit!“ rief Anca sofort. Trompo, der nicht einmal katzengroße
Außerirdische, der einem winzigen Elefanten glich – ein irdischer Kurier
flieger hatte ihn einst auf der EUKALYPTUS zurückgelassen –, gab pfeifende
Geräusche von sich. Auch andere Stimmen wurden laut. Einige Besatzungs
mitglieder brannten wie Anca und Harpo darauf, so schnell wie möglich das
andere Gleitboot zu besteigen und nach dem Rechten zu sehen. Einige der
kleineren Kinder hatten Angst und wollten um jeden Preis aus der Nähe
dieses unheimlichen Planeten verschwinden. Sie dachten gar nicht daran,
daß die EUKALYPTUS selbst dann nicht entfliehen konnte, wenn sich riesige
Schlangen von der Planetenoberfläche zu ihnen heraufringeln sollten. Über
haupt kamen unterdrückte Ängste und Hirngespinste an den Tag.
„Was ist, wenn sie Ungeheuern begegnet sind?“
„Ach, du liest zu viele Schundromane!“
„Oder sie sind in eine Falle geraten!“
„Quatsch mit Soße! Wer soll die denn aufgestellt haben?“
„Weißt du Döskopp denn, wer auf Nordpol lebt? Sicher gibt es da Riesen
mit drei Beinen und nur einem Auge mitten auf der Stirn!“
„Pah!“
Der kleine Ollie verbreitete eine Version, wonach glotzäugige Ungeheuer
mit unheimlich langen Zähnen und einer ganz blaugefrorenen Haut im
Schnee vergraben lagen und auf herabfallende Raumfahrer lauerten. Je deut
licher er sich dieses Bild vorstellte, desto größer wurde die Angst. Er
schüttelte sich schließlich vor Entsetzen, und seine Zuhörer lachten ihn aus.
Da nach einiger Zeit alle einsahen, daß es besser war, Gewißheit zu haben,
als mit flatternden Pulsen über die Decks des Raumschiffs zu rennen oder vor
Angst in die Hose zu pinkeln, gab es keine Einwände mehr gegen die geplante
Suchexpedition. Die Lose fielen diesmal auf Harpo Trumpff, der vor Freude
darüber einen kleinen Luftsprung machte, Fantasia, die kleine Lori Powitz
mit den blauschwarzen Locken und dem süßen Lispeln und – Lonzo! Anca
guckte ziemlich traurig drein, weil sie nicht mitdurfte.
„Alter Blechmann“, sagte Harpo erfreut und klopfte seinem metallenen Ge
fährten auf die Brust. „Das ist aber riesig, daß du mitkommst!“
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„Grrrkk, grrkkk“, machte Lonzo, was wohl dem „Blechmann“ galt, denn so
etwas hörte er gar nicht gern. Aber es klang auch ein bißchen wie Lachen.
„Bitte an Bord kommen zu dürfen, Captain.“
Der Himmel allein mochte wissen, wo er die alte Seemannsmütze mit den
blauen Bändern aufgetrieben hatte, die er blitzartig hervorzauberte und über
das Metallei seines Kopfes stülpte.
Nachdem sich die Schleuse des Gleitbootes A7 hinter der Besatzung ge
schlossen hatte und die Funkhelme verteilt waren, zeigten leichte Knackge
räusche an, daß Karlie die Funkverbindung mit der Hauptzentrale hergestellt
hatte und dort vor den Geräten saß.
„Alles im Lot?“ fragte Thunderclap.
„Aye, aye, Sir!“ brüllte Lonzo. „Alle Mann in die Wanten! Refft die Segel!“ Er
blieb als einziger stehen, als sich die A7 behutsam in Bewegung setzte.
Schwatzmaul pumpte die Atemluft aus dem Hangar, dann glitt die quadra
tische Außenschleuse der EUKALYPTUS zur Seite. Langsam bewegte sich das
Gleitboot in den Weltraum hinaus.
Mit offenen Mündern starrten die Kinder auf das Panorama vor ihren
Augen. Es war phantastisch und noch viel erregender als von der Zentrale
aus! Der nachtschwarze Raum, nur durchstochen vom Glitzern und Funkeln
einzelner Fixsterne in verschiedensten Farbabstufungen, wirkte grenzenlos
und schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken – und so war es ja
auch. Das schmale Band der Milchstraße befand sich im Moment unter ih
nen, aber das war nur eine Frage der Perspektive und hing vom Kurs des
Gleitbootes ab.
Die größte Bewunderung rief das gerade verlassene Raumschiff hervor, das
zum ersten Mal in seiner ganzen Pracht und Größe zu sehen war.
„Das ist ja viele, viele Kilometer lang!“ stöhnte Harpo. Von der Zentrale aus
sah man immer nur einen winzigen Teil.
„Ist doch logisch, wenn man daran denkt, wie groß die einzelnen Decks
sind“, meinte Fantasia. Aber auch sie konnte ihre Begeisterung nicht ver
bergen.
„Das muß aber ein Getöse gewesen sein, als die EUKALYPTUS von der Erde
gestartet ist.“, lispelte Lori mit ihrem weichen Stimmchen. Da die kleine
immer sehr empfindlich reagierte, wenn sie meinte, daß sie nicht genügend
Beachtung fand, wollte Harpo schnell auf die Bemerkung antworten. Doch
Thunderclap kam ihm zuvor.
„Diese großen Raumschiffe sind nur für den Weltraum gedacht, Lori“, er
tönte seine Stimme in den Helmlautsprechern der Besatzungsmitglieder.
„Deshalb starten und landen sie niemals auf einem Planeten und werden
auch im Weltraum montiert. Das Material wurde aus dem Asteroidengürtel
herangeschafft, zum Teil aber auch von der Erde aus hochgeschossen.“
„Astro... Astaro... gürtel?“ fragte Lori neugierig und schüttelte verwundert
den Kopf. „Was ist das denn? Kenn’ ich gar nicht!“
Thunderclap lachte leise in sich hinein. „Kein Wunder“, sagte er dann et
was gönnerhaft. „Das ist nur etwas für ganz alte Raumhasen. Weißt du, zwi
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schen den Planeten Mars und Jupiter befindet sich ein Ring aus winzigen,
großen und ganz dicken Steinbrocken. Einige sind beinahe so groß wie der
Mond der Erde. Viele enthalten wertvolle Erze, aus denen durch Schmelzen
Metalle gewonnen werden. Übrigens glaubt man, daß dort in Urzeiten beina
he ein weiterer Planet entstanden wäre.“
„Nach einer anderen Theorie gab es einen solchen Planeten“, ergänzte
Harpo. „Man nimmt an, daß die Asteroiden die Reste von ihm sind, als er
auseinanderplatzte.“
Thunderclap war während der Planetenumkreisung ihr einziger
Gesprächspartner, aber die Zeit verging im wahrsten Sinne des Wortes wie im
Fluge, denn dem Rollstuhlfahrer – eine unbekannte Krankheit machte es ihm
unmöglich zu gehen – fiel eine interessante Geschichte nach der anderen ein.
Trotz seiner Jugend wußte er unheimlich viel. Die Krankheit hatte dazu ge
führt, daß Bücher und Zeitschriften seine besten Freunde wurden.
Unterwegs gab es noch helle Aufregung, als Harpo ausrief: „Wir müssen
umkehren, ich habe den Translator vergessen!“
Er meinte damit ein Gerät, das nicht größer war als eine Armbanduhr und
dazu dienen konnte, die unbekannte Sprache etwaiger Bewohner des Plane
ten verständlich zu machen. Bereits die erste Expedition hatte ein solches Ge
rät an Bord gehabt. Insgesamt besaßen sie nur fünf Translatoren und
behandelten sie entsprechend sorgfältig. Es waren Geschenke der Welt
raumärzte.
Aber dann entdeckte Harpo den Translator doch noch. Er hatte ihn beim
Betreten des Bootes gedankenlos in ein Ablagefach gesteckt. Er band sich das
kleine Wunderwerk sicherheitshalber um das Handgelenk.
Als die A7 in die Lufthülle des Planeten eintauchte und Thunderclaps
Stimme häufig durch Störgeräusche überlagert wurde, hatten Harpo, Fan
tasia und Lori das Gefühl, nun eine Menge mehr über den Menschen, den
Weltraum und den ganzen wunderbaren Kosmos zu wissen. So beeindruckt
waren sie von Thunderclaps Erklärungen. Sogar Lonzo, der nun wirklich
mehr wußte als alle Kinder zusammen, grunzte Beifall.
„Lesen kann einen tatsächlich nur klüger machen“, brummelte er tentakel
wedelnd. „Obwohl es natürlich auch darauf ankommt, was man liest.
Schundhefte sind Gift. Glaubt eurem alten Lonzo, der mehr Magengeschwüre
hat als Karlie Müllerchen Pickel auf der Nase!“
Obwohl das ein bißchen lehrerhaft geklungen hatte, mußte Harpo seinem
Metallfreund im Grunde recht geben. All die Superhelden in den bunten
Heftchen, ob sie nun Perry, Jerry oder Barry hießen, konnten ihm gestohlen
bleiben, seitdem er aus eigener Erfahrung wußte, wie großspurig dort auf die
Pauke gehauen wurde.
Dann stieß das Gleitboot durch die Wolkendecke hindurch. Gebirgszüge
tauchten auf. Ein großer See huschte gerade aus ihrem Blickfeld. Sie über
querten ein riesiges Waldgebiet, das unter einer dichten Schneedecke lag. Es
wurde langsam dunkler.
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„Wird es jetzt schon Nacht?“ fragte Lori gespannt. Lonzo erklärte, daß
dieses Phänomen damit zu tun hatte, daß die A7 sich der Nachtseite des
Planeten näherte.
„Höhe siebentausend Meter“, sagte Schwatzmaul, der sich bisher be
scheiden im Hintergrund gehalten hatte. Dann: „Viertausend Meter.“
Der geschwätzige Computer, nun die Sachlichkeit in Person, hielt das
Gleitboot genau auf Kurs. Zehn Minuten später überflogen die Kinder eine
Hügellandschaft, deren Gipfel etwa sechshundert Meter hoch aufragten.
Auch hier lag überall Schnee, aber man konnte erkennen, daß die Hügel sehr
gleichmäßig waren und eine runde Kuppe hatten. Und einer glich dem
anderen so sehr, daß man von oben glaubte, hier hätten einige Riesen platt
getretene Fußbälle verstreut. Das mußte die Landschaft sein, die ihnen schon
von der EUKALYPTUS aus aufgefallen war und das Ziel der ersten Expedition
gewesen war.
„Dort!“ rief Fantasia. „Die A9! Seht ihr?“
Richtig. Das Gleitboot stand verlassen zwischen zwei eng beieinander
stehenden Platthügeln. Es war fast eingeschneit, aber immer noch deutlich
zu erkennen. Thunderclap erkundigte sich aufgeregt nach Neuigkeiten, weil
er Fantasias Aufschrei mitgehört hatte.
„Außer dem Boot ist nichts und niemand zu sehen“, meldete Harpo ge
knickt.
Die A7 sank tiefer. Plötzlich verkündete ein feines, hohes Rauschen, daß
die Funkverbindung zu EUKALYPTUS abriß.
Harpo reagierte blitzschnell. „Rauf, Schwatzmaul, rauf!“ brüllte er aus
Leibeskräften, obwohl auch ein Flüstern genügt hätte. Ihm war eine Idee ge
kommen: Wenn die Funkstörung nun damit zusammenhing, daß die Hügel
näher rückten? Diese seltsam symmetrischen Felsformationen wirkten bei
weitem nicht so, als hätten die Naturgewalten sie im Laufe der Jahrmillionen
abgeschliffen.
Schwatzmaul hatte verstanden. Ein Ruck ging durch die A7 und brachte
das Boot leicht ins Trudeln, aber dann zischte es wie ein von der Sehne ge
schnellter Pfeil in die Höhe. Sofort war die Verbindung wieder einwandfrei.
„Muß mit der Höhe zu tun haben“, meinte auch Thunderclap nach
denklich. „Vermutlich wird die Verbindung wie bei den anderen abreißen,
wenn ihr landet. Aber ich höre gerade, daß euch Schwatzmaul auch ohne
Funkbefehl wieder heraufholen kann.“
Es stellte sich heraus, daß hierzu ein Knopfdruck ausreichte. Das dabei aus
gelöste Signal lief auf einer Frequenz, die von der Funksperre nicht beein
trächtigt wurde. Nachdem ausgemacht worden war, daß dieser Knopf nur im
Notfall gedrückt werden sollte und dann bedeutete: „Gleitboot sofort
starten“, konnte das Abenteuer der Landung gewagt werden. Behutsam
senkte sich die A7 in den Schnee neben das Schwesterboot.
Schnuppernd sogen die Kinder die Luft ein, als sie die Köpfe aus der
Schleusentür steckten. Es war kalt. Sie sprangen hinaus und versanken bis zu
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den Knien im weichen, flockigen Pulverschnee. Es war so hell, daß ihnen
anfangs die Augen brannten.
„Brrrrr“, machte Fantasia. „Bloß schnell wieder ins Boot und in die Schutz
anzüge. Hier friert man sich ja sonst was ab.“
„Angeberin“, meinte Harpo, folgte ihr aber rasch in das Gleitboot. Nur Lori
mußte erst mehrfach ermahnt werden, bevor sie ebenfalls hineinkletterte.
Lonzo, der sich meckernd geweigert hatte, auch nur die kleinste Spitze seiner
eisernen Füße in den Schnee zu setzen, weil er angeblich höllische Angst vor
Rostflecken hatte, half ihnen wieder hinein. Natürlich machte er nur Theater,
denn er bestand aus rostfreiem Edelstahl und hatte von Wasser, Schnee und
Eis nicht das geringste zu befürchten.
In den wetterfesten, heizbaren Anzügen betraten sie den Planeten Nordpol
erneut. Diesmal in ernsterer Stimmung, denn schließlich waren vier ihrer
Freunde verschollen. Da konnte man nicht Hanswurst spielen und naiv in die
nächste Falle rennen. Sie bedauerten, daß sie die Oberfläche des Planeten
unter diesen traurigen Umständen betraten. Viel lustiger wäre es gewesen,
jetzt eine Schneeballschlacht zu machen oder Schlitten zu fahren.
Mißtrauisch beäugte Harpo die Umgebung. Ihr Boot stand in einem Tal di
rekt am Fuß eines Platthügels. Das flache Gelände zwischen diesem und dem
nächsten Hügel maß etwa einen Kilometer. In allen vier Windrichtungen rag
ten kahle Hügel empor, denen ihr besonderes Augenmerk galt. Ein eisiger
Wind pfiff. Rasch wurden die Nasen rot. Harpo hob Lori auf Lonzos Roboter
körper, damit sie Huckepack reiten konnte. Die Kleine war trotz ihrer elf Jah
re im Wachstum zurückgeblieben und drohte bei jedem Schritt in dem für
Harpo und Fantasia nur knietiefen Schnee bis zum Bauch einzusinken.
„Halt!“ rief Fantasia plötzlich. „Ist das nicht eine Spur?“
Tatsächlich, das sah aus, als wäre dort jemand hingefallen. Selbst die
dünne Schicht Neuschnee konnte den deutlichen Abdruck eines Hinterteils
nicht verbergen.
Vorsichtig bewegte sich die Gruppe weiter nach Norden. Vereinzelte Lö
cher im Schnee, halb zugeschüttet, aber immer noch sichtbar, führten genau
auf einen der Hügel zu. Als sie ihn erreicht hatten, mußten sie die Köpfe weit
in den Nacken legen, um bis zur Kuppe hinaufzuschauen.
„Sie können sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben“, lispelte Lori
ungläubig.
Dann entdeckte Harpo im Schnee einen Handschuh. Er glaubte, daß er den
schon mal bei Brim Boriam gesehen hatte. Aber die Stelle, an der er lag, mar
kierte zugleich das Ende der Spuren. Als hätte Brim: „Sesam, öffne dich“ ge
sagt und sei direkt in die Hügelwand hineingegangen.
Seltsam. Brim und die anderen waren also hier gewesen, genau an dieser
Stelle. Aber was war dann geschehen?
„Es wird bald dunkel“, sagte Lonzo und zeigte mit einem Tentakel – die
anderen drei waren nötig, um Lori auf seinem glatten Körper Halt zu geben –
auf die am Horizont versinkende Sonne Archimedes. „In der letzten Nacht
haben wir kaum geschlafen. Schlage vor, wir gehen in die Hängematten unter
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Deck, Captain. Kleiner Imbiß in der Kombüse wäre natürlich vorher nicht zu
verachten!“
Als er das sagte, fühlten sich alle plötzlich hungrig und müde. Sie kehrten
ins Boot zurück, gaben Schwatzmaul mit dem Druckknopf Anweisung, das
Boot zu starten und lieferten der Zentrale ihren ersten Bericht ab. Die Stim
mung war ziemlich niedergeschlagen. Obwohl sie keine ausgesprochenen
schlechten Nachrichten durchgaben – zum Jubeln gab es keinen Anlaß.
Erfreulich war nur, daß man weder wilde Raubtiere noch Ollies glotzäugige
Astronautenfresser entdeckt hatte.
Harpo, Fantasia und Lori lagen lange wach. Obwohl sie eigentlich hunde
müde waren, wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen.
Rätselhafte Schatten
Mitten in der Nacht wachte Harpo auf, ohne zu wissen, was ihn geweckt
hatte. Er reckte sich und lehnte den Kopf gegen die Rundsichtscheibe. Er rieb
sich die Augen und lauschte dann in die Finsternis hinaus.
Etwas berührte sanft seinen rechten Arm. Lonzo. Da er eine Maschine war,
benötigte er keinen Schlaf. Er war die ganze Zeit wach gewesen.
„Psssst!“ zischte der Roboter. „Hörst du?“
„Mmmmmm“, brummte Harpo verschlafen. Seine Glieder schmerzten vor
Erschöpfung. Von irgendwoher drangen Geräusche. Er glaubte, daß die
Vermißten zurückkehrten, und wollte mit einem Freudenschrei aufspringen,
aber Lonzos Tentakel drückten ihn schnell zurück und verschlossen seinen
Mund. „Nicht bewegen, Junge“, flüsterte er dabei. „Draußen tut sich was.
Steh ganz langsam auf.“
Auch Fantasia erwachte durch das Gemurmel, dann Lori, aber beide begrif
fen schnell, daß es besser war, sich leise zu verhalten. Zaghaft hoben die
Kinder ihr Köpfe und spähten durch die Glaskuppel.
Im Schein der beiden winzigen, rötlichleuchtenden Monde des Planeten,
die einen geheimnisvoll anmutenden Schein über die Schneedecke warfen,
bewegten sich mehrere riesenhafte Gestalten, die jauchzend auf ihren Hin
terteilen die Schneehügel hinabrutschten und johlend in weiche Schnee
wächten plumpsten, sobald sie unten ankamen.
Die heimlichen Beobachter in der A7 glaubten ihren Augen nicht zu
trauen: sieben, acht, neun zottelfellige, langhaarige, entfernt menschenähnli
che Wesen benutzten die Stille der Nacht dazu, auf den Hügeln Schlitten zu
fahren. Allerdings ohne Schlitten. Und daß es ihnen Spaß machte, konnte
man an den Lauten, die sie ausstießen, leicht feststellen.
„Was sind denn das für welche?“ fragte die kleine Lori staunend. „Affen?“
„Bei allen Planeten!“ prustete Harpo los. „Wenn das ein Traum ist, Lonzo,
dann zwick’ mich!“
22
„So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen!“ rief jetzt auch Fantasia und
gluckste in sich hinein. Das war wirklich umwerfend komisch, wie die
schwerfällig wirkenden Gesellen die Schneebahn hinunterrutschten und
nach geglückter Landung sofort wieder den Hügel hinaufhasteten, um die
gleiche Prozedur von neuem zu beginnen.
Niemand konnte sich vorstellen, daß die fröhlichen Gestalten etwas mit
dem Verschwinden ihrer Freunde zu tun hatten. Immerhin wußten sie jetzt,
daß dieser Planet nicht unbewohnt war.
„Ob sie wohl intelligent sind?“ fragte Lori.
„Und ob!“ antwortete Lonzo. „Oder hast du schon mal lachende Bären
gesehen?“
„Sind das denn Bären?“
Nun, aus der Ferne wirkten sie wenigstens so oder sahen ihnen zumindest
doch sehr ähnlich. Gemeinsam beratschlagte man, ob man es wagen sollte,
mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Aber so mitten in der Nacht war die Ent
schlußfreudigkeit nicht sehr groß. Und in der Dunkelheit mochte das über
raschende Auftauchen von Menschen leicht zu Mißverständnissen führen.
Ganz abgesehen davon, daß die Bären es vielleicht gar nicht gern hatten,
wenn ihnen jemand den Spaß im Schnee verdarb.
So aufregend alles auch war, übermannte die Kinder doch bald wieder der
Schlaf. Am Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen den vierten Planeten in
Wärme und Licht badeten, waren die Zottelgestalten verschwunden. Nächtli
cher Schneefall hatte die Spuren beseitigt, als hätte es sie nie gegeben.
Schwatzmaul hob die A7 wieder einige tausend Meter hoch, und Fantasia
erstattete Bericht, während Harpo das Frühstück bereitete. Die Nachricht von
den augenscheinlich friedlichen und vergnügten Wesen wurde auf der EUKA
LYPTUS mit Begeisterung aufgenommen. Aber an gutgemeinten Mahnungen
und Ratschlägen fehlte es natürlich trotzdem nicht. Nach dem Frühstück
kletterten die vier Entdecker wieder in die Schneelandschaft hinaus. Sie teil
ten sich in zwei Gruppen: Harpo und Fantasia, Lonzo und Lori. Sie umrunde
ten den nördlichen Hügel, und als sie sich auf der anderen Seite trafen,
winkte Lonzo schon von weitem aufgeregt mit einem Tentakel. Harpo und
Fantasia liefen so schnell heran, daß der Schnee nur so spritzte.
„Habt ihr etwas entdeckt?“ fragten beide wie aus einem Munde.
„Ich will meinen Kopf aufessen, wenn ich nicht jemanden gesehen habe“,
krächzte Lonzo. „Ganz deutlich habe ich einen Schatten wahrgenommen.
Potz Galaxis! Ich könnte schwören, daß es der Geist des alten Captain Kidd
war!“
Fantasias helles Lachen kugelte zu den Hügelkuppen hinauf und rollte von
dort zurück. Harpo konnte ebensowenig ernst bleiben. Lonzo will uns wieder
einmal foppen, dachte er. Aber zum allgemeinen Erstaunen war der Roboter
nicht von seiner Behauptung abzubringen, daß er einen Schatten gesehen
hatte. Er tat sogar recht empört, als die anderen zur Tagesordnung übergehen
wollten.
23
„Glaubt ihr mir denn nicht, Freunde?“ knarrte er stur. „Ich meine es ernst!
Dieser Freibeuter hatte einen wüsten roten Vollbart und geflochtene Zöpfe!
Er schaute ziemlich grimmig drein, au weia!“
Lori, die noch immer, von Lonzo getragen, über den anderen thronte, ki
cherte verhalten. „Lonzo spinnt mal wieder“, meinte sie vergnügt. „Ich habe
jedenfalls niemandes Geist gesehen. Am allerwenigsten den von Captain
Kitz!“
„Kidd!“ zeterte Lonzo. „Nicht Kitz! Ha, du kennst ihn ja auch gar nicht,
mein Täubchen! Soll ich dir die Geschichte erzählen, wie ich zusammen mit
Captain Kidd auf der Knocheninsel nach der vergrabenen Schatztruhe such
te? Also, paß mal auf, die Sache war so: Nachdem wir aus dem Indischen
Ozean kamen, die langen Messer zwischen den Zähnen, gingen Kidd und
ich ...“
Lonzo plapperte drauflos, obwohl keiner richtig zuhörte. Diese Geschichte
kannten sie inzwischen auswendig, so oft hatte Lonzo sie erzählt. Man konn
te fast meinen, er sei tatsächlich dabeigewesen. Aber Harpo wußte genau,
woher Lonzo seine Lügengeschichten bezog: Nichts war leichter für den
Eisenmann, als Seefahrerbücher aus der Bordbibliothek auswendig zu lernen,
da er ein elektronisches Gehirn besaß, das niemals auch nur ein Komma
vergaß. Angefangen von Klaus Störtebeker bis hin zu Kapitän Marryat hatte
Lonzo alles aufgesogen, was sich mit Piraten beschäftigte. Sicherlich hatte er
dabei auch eine Menge Seemannsgarn mitverdaut.
Egal! Harpo und Fantasia, die Lonzo bereits lange kannten, wußten, daß
man sich auf ihn verlassen konnte, wenn es darauf ankam. Und der Me
chanismus des Roboters, eine Ansammlung aus Metall, Kristallen und
Neuronen, war bestimmt gegen Halluzinationen hundertprozentig gefeit.
Lonzo konnte Dinge wahrnehmen, die Menschen verborgen bleiben mußten,
weil ihre Augen für solche Feinheiten nicht geschaffen waren. Auch ein Hund
hört ja beispielsweise Töne aus dem Ultraschallbereich, die Menschen längst
nicht mehr wahrnehmen können.
„Noch einmal von vorn, Lonzo, altes Haus“, sagte Harpo deshalb. „Wie sah
das Wesen aus, das du gesehen hast?“
„Es war einen Meter groß, wieselflink, grau ... ähm ... ich meine, es schien
mir grau zu sein, weil es so wieselflink war. Es hatte einen Bart und Zöpfe und
einen Topf auf dem Kopf und einen komischen Anzug an, wie ein Taucher.“
„Topf auf dem Kopf?“ echote Fantasia ungläubig.
„Taucheranzug?“ fragte Harpo. „War es vielleicht ein Raumanzug?“
„Nitschewo!“ sagte Lonzo beharrlich. „Nein!“
Er schüttelte seinen freien Greiftentakel. „Der Anzug war ziemlich eng,
wollte ich damit sagen. Und der Bursche sah ziemlich rauflustig aus.“
Wieder wedelte er mit dem Tentakel, tippte damit auf Harpos Schulter und
brummte: „Er sah genauso aus wie der Kerl, der gerade hinter dir steht.“
„Huch!“ quiekte Lori.
Fantasia und Harpo wirbelten herum. Für einen Sekundenbruchteil glaub
te Harpo eine zwergenhafte Gestalt zu sehen, die sie aus einigen Metern Ent
24
fernung beobachtete. Dann war sie verschwunden. Sie löste sich im Nichts
auf und existierte nicht mehr!
„Ein Wichtelmann!“ rief Lori begeistert. „Mit Zöpfen! Wie süß!“
„Er ... ist ... weg ...“ stotterte Harpo verdutzt.
„Gar nicht wahr“, behauptete Lonzo. „Wieso denn? Er steht noch da! Sagt
mal, könnt ihr denn nicht sehen?“
„Wie?“ fragte Harpo.
„Jetzt kommt er sogar näher!“
„Harpo, ich fürchte mich“, flüsterte Fantasia.
„Uijuijui, ist der aber schnell!“
Alle rieben sich die Augen, nur Lonzo nicht. Es half nichts, die geheimnis
volle Zwergengestalt blieb ihren Augen weiterhin verborgen. Sie sahen nie
manden, obwohl Lonzo steif und fest behauptete, der Wichtel stände genau
neben Harpo.
„Also kann er sich unsichtbar machen“, folgerte Lori stolz, als hätte noch
keiner an diese Möglichkeit gedacht.
„Und wo ist er jetzt?“ fragte Harpo, der immer noch nicht wußte, was er
von der Sache halten sollte.
„Er gafft dich an“, versetzte Lonzo. „Ziemlich aufdringlich, wie ich finde.“
Harpo verlor vor Schreck das Gleichgewicht und machte einen Schritt zur
Seite. Ihm war, als prallte er gegen eine unsichtbare Mauer. Ein spitzer Schrei
erklang, der sich recht empört und wütend anhörte. Dann wurde der Wichtel
plötzlich sichtbar. Er schnatterte und keifte, da er genau wie Harpo den
Boden unter den Füßen verloren hatte und strampelnd im Schnee lag. Lang
sam begann die weiße Flockendecke im Umkreis seiner Gestalt zu
schmelzen.
„He, hallo!“ rief Fantasia. „Wer sind Sie denn?“
„Unglgrungmumpf“, war die knurrige Antwort. Wie alle zugeben mußten,
war das weder ein schöner Name, noch klang das ganze besonders freund
lich. Staunend nahmen die Kinder das schimpfend aufstehende und den
Schnee aus den Kleidern klopfende Zwergenwesen in Augenschein. Unter
einem spitz zulaufenden Ritterhelm mit kleinen Metallflügeln an den Seiten
schaute sie ein faltiges Gesicht mit rotblonden, buschigen Augenbrauen an.
Das Männlein besaß listige Äuglein, die zornig funkelten. Ein mächtiger Bart
sorgte dafür, daß man von seinem Gesicht nicht allzu viel erkennen konnte.
Feingeflochtene Zöpfe erinnerten die Kinder an einen MiniaturWikinger aus
der irdischen Geschichte.
Bekleidet war das Wesen mit einem blaugrauen Wams, gleichfarbigen
Hosen und hohen Stulpenstiefeln. Um seinen Bauch spannte sich ein breiter
Ledergurt, an dessen Vorderseite ein streichholzschachtelgroßes Gerät un
heimlich summte. Mehrere Schaltknöpfe waren darauf zu erkennen und paß
ten nicht zu dem sonstigen Äußeren.
Die Zunge vor Aufregung zwischen die Lippen geschoben, nestelte Harpo
an seinem Translator, bis er den Knopf gefunden hatte, der das Gerät ak
tivierte. Dieses Meisterwerk der Mikrotechnik barg einen Sprachcomputer,
25
aber zaubern konnte der auch nicht. Zunächst mußte er einige Minuten lang
die Laute einer unbekannten Sprache aufzeichnen und analysieren.
Es war also wichtig, daß der Fremde redete.
„Wie ist das werte Befinden, edler Seemann?“ fragte Lonzo und ersparte da
mit Harpo eine Arbeit.
Der Inhalt der Frage war unwichtig. Es kam nur darauf an, daß der Zwerg
sprach. Tatsächlich hörte er mit dem Knurren auf, begann zu grinsen, trat
frierend von einem Fuß auf den anderen und ratterte dann los wie eine
defekte Schallplatte.
Schnurrend setzte sich der Translator in Gang. Die Apparatur registrierte
wachsam jeden Laut. Es dauerte kaum zwei Minuten, da flossen die ersten
abgehackten Sätze aus dem Translator und wurden von Silbe zu Silbe siche
rer und verständlicher.
„... elende Affenkälte ... Konntest nicht aufpassen, du Lausebengel? ... Jetzt
Deflektorschirm im Eimer ... Mir frieren die Zehen ab ... Beim sieben
schwänzigen Schneegespenst!“
Harpo entschuldigte sich wortreich, und da begann der Zwerg aufzuhor
chen.
„Schneegestöber und Eiszapfen!“ gurgelte der Translator, als der kleine
Fremde mit dem mächtigen Bartwuchs zu einer Gegenrede ansetzte. „Wie
wird mir? Schon wieder diese Sternenbengel mit ihrer Sprechmaschine, die
die Sprache des Großen Flunkerers nachahmt!“
Die Kinder lachten vor Begeisterung, während Harpo stolz auf seinen
Translator sah. Nach dieser grantigen Einleitung grinste der Zwerg erst ein
mal ausgiebig und sprudelte dann so hastig los, daß der Translator sich schier
überschlagen mußte, um alles ebenso schnell zu übersetzen.
Während er redete, zerrte der Große Flunkerer aufgeregt an Lonzos Tenta
keln, die ihn sehr zu beeindrucken schienen. Sie sollten sich nur keine Sorgen
machen, sagte er. Die Freunde seien in der Obhut der „Raufbolde“ und bei
bester Laune. Man sei ihnen ja sooo dankbar, vor allem dem kleinen
schwarzen Doktor.
Er hatte sich jetzt richtig in Begeisterung hineingeredet, versuchte bis zu
den Schultern von Harpo und Fantasia hinaufzulangen und kollegial darauf
zu klopfen, tätschelte Lonzo und kitzelte Loris Füße. Dann machte er alle An
stalten, gleich zu explodieren, wenn sie nicht sofort mit ihm kämen, da er auf
dem besten Weg sei, zu einem bärtigen Eisklumpen zu werden.
Die anfängliche Verwirrung der Kinder wich schließlich, als Harpo, Fan
tasia, Lori und Lonzo begriffen, daß sie sich umsonst Sorgen um ihre Freunde
gemacht hatten.
Rasch folgten sie dem zitternden und zähneklappernden Flunkerer, der ih
nen großzügig gestattete, ihn „Flunki“ zu rufen. Er schleppte sie genau zu
jener Stelle, an der sie bereits einmal rätselnd gestanden hatten: direkt vor die
steile Hügelwand, die graublau an einigen Stellen unter dem Schnee hervor
leuchtete.
Und dann kam die große Überraschung. Die Wand öffnete sich.
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Ein seltsamer Berg
„Eintreten, Freunde!“ rief Flunki und rannte los. Schon hatte er das
schwarze Tor in der Felswand erreicht und war verschwunden.
Zögernd folgten ihm die Kinder.
„He“, ertönte es dumpf aus dem Berg, und der Translator übersetzte
pflichtschuldig: „He!“ Flunkis dicke Nase tauchte aus dem Dunkel auf. Sein
roter Bart schimmerte im Licht der Sonne. Die listigen kleinen Äuglein fun
kelten. „Beim einäugigen EisZyklopen!“ schimpfte er los. „Worauf wartet ihr
noch? Eure Vorfahren müssen Schnecken gewesen sein. Tausend Schnee
mücken sollen euch in den Hintern stechen!“
Die Kinder lachten, weil sie ja inzwischen wußten, daß man nicht alles
ernst nehmen durfte, was der Raufbold von sich gab. Aber sie setzten doch zu
einem kleinen Spurt an. Verderben wollten sie es sich mit dem kleinen Minia
turWikinger keinesfalls.
„Elender Schurke!“ fluchte Lonzo, der sich den sprachlichen Gegebenhei
ten dieses Planeten als erster anpaßte. „Mir qualmen schon die Socken. Mein
alter Freund Captain Kidd hätte Euch für Eure Redensart in Eisen gelegt. Ja
woll, Herr Raufbold!“
„Pah, Captain Kidd“, kam die Antwort. „Wenn er so langsam war wie ihr,
hätte er mich nie erwischt. Dem hätten ich die Zipfelmütze über die Ohren
gezogen und ihn dann mit Schnee eingeseift.“
„Himmel, Po und Zwirn!“ schrie Lonzo aufgebracht. „Er wagt es tat
sächlich, den mächtigen Captain Kidd zu beleidigen! Herr Raufbold, merkt
Euch gefälligst, daß Captain Kidd nie eine Zipfelmütze, sondern stets einen
prächtigen Dreispitz trug. Und so wahrhaft, wie ich LonzoJoachim Washing
ton de la Chevalier heiße: Schnee haben wir nicht auf einer einzigen unserer
vierhundertsiebzehn Kaperfahrten erspäht.“
„Lonzo!“ mahnte Fantasia entrüstet. „Seit wann gebrauchst du solche Aus
drücke? Und du sollst nicht so schauerlich lügen. Du heißt gar nicht Lonzo
Waschmirschon Dingsbums!“
„Was bedeutet der Ausdruck Schneewolke, verlängerter Rücken und Bind
faden?“ erkundigte sich Flunki neugierig.
„Schneewolken? Verlängerter Rücken ... und ...“ wiederholte Harpo und
prustete los. „Ach herrjeh! Da hat unser kleiner Translator aber wieder mal
eine Meisterleistung der Übersetzungskunst zustande gebracht.“
„Das haben wir gleich“, meinte Lonzo und drückte einen Knopf des Gerä
tes. „Für besondere Fälle“, dozierte er, „haben wir auch eine Deftig
Schaltung.“ Seelenruhig wiederholte er seinen Fluch und wartete, bis das
Übersetzungsgerät ihn in Flunkis Sprache übertrug. „So“, sagte er zufrieden
und ließ den Knopf wieder los.
Der Raufbold machte „Grrrrr!“ und sprang aus dem Stand zwei Meter hoch
in die Luft. „Gemeine Verleumdung! Meine Großmutter trinkt niemals!“
„Was hat der Translator denn gesagt?“ fragte Lori lachend.
27
„Da fragst du noch?“ brummte der Raufbold und funkelte sie an – was Lori
aber nicht einschüchtern konnte, weil man zu deutlich sah, welchen Spaß
Flunki diese Schimpferei machte. „Dieser mißratene Schneeochse hat etwas
von einem letzten Rülpser meiner betrunkenen Großmutter gesagt!“
Flunki machte eine Anstandspause und fügte dann schmunzelnd hinzu:
„Also ehrlich, Freunde. Bisher hielt ich eure komische Sprache ja für ziemlich
trocken. Wußte gar nicht, daß ihr so gute Flüche auf Lager habt.“
„Wir müssen wohl öfter mal den Knopf drücken, damit sich der Translator
weniger gewählt ausdrückt“, meinte Harpo schelmisch.
Er wußte inzwischen, daß diese winzige Apparatur, so nützlich sie war,
auch ihre Schwächen hatte. Normalerweise übersetzte sie ziemlich trocken
und bürokratisch, und manchmal waren hochgeschraubte Redewendungen
das Ergebnis. Die Kinder hatten das Gerät auf der EUKALYPTUS ausgiebig ge
testet und sich dabei vor Lachen gekugelt, wenn aus: „Heiliger Bimbam, was
zieht der Kerl für eine komische Visage“ ein gepflegtes „Gesegnetes Glo
ckengeläut, der Herr Kommerzienrat hat aber ein freundliches Lächeln“
wurde.
Da der Translator auch ein Programm besaß, in dem drastische und lustige
Wörter der Umgangssprache gespeichert waren, kam er mit der Sprache der
Raufbolde gut zurecht. Sobald Flunki redete, schaltete sich das Gerät
automatisch auf Programm II.
„Wollen wir nicht weitergehen?“ fragte Lori Powitz. Die Kleine brannte dar
auf, das Innere des geheimnisvollen Berges zu erkunden.
„Ein guter Streit ist wichtiger als alles andere“, tönte Flunki. „Aber im
Grunde hast du schon recht, Schneeflöckchen. Borro wird sicher langsam
müde, das Tor weiterhin offenzuhalten.“
„Borro?“ fragte Harpo neugierig.
„Ja, Borro“, erwiderte Flunki und tat sehr wichtig. „Der Schneekrabbler.“
„Ehrlich gesagt“, gab Harpo zu, „ich verstehe immer nur Schneekrabbler.“
„Ha“, sagte Flunki und freute sich diebisch. „Beim Ringelschwanz des alten
Frostaffen: Das wundert mich gar nicht.“
Die Freunde beeilten sich, Flunki weiter in das geheimnisvolle Innere des
Berges zu folgen. Plötzlich wurde es düster. Dort, wo sich eben noch der Ein
gang befunden hatte, erschien wie durch Zauberei eine Wand. Das Sonnen
licht konnte nicht mehr in die Höhle eindringen.
„Wird gleich wieder heller“, versicherte ihr Führer beruhigend. Man hörte
etwas rascheln. Allem Anschein nach kramte Flunki in seinen Taschen. Dann
blitzte der Lichtkegel eines kleinen Handscheinwerfers auf.
„Wir haben unsere Scheinwerfer natürlich im Beiboot gelassen“, meinte
Harpo und schlug sich schuldbewußt gegen die Stirn.
„Macht nichts“, sagte der Wichtelmann. „Nur die Außengänge sind dunkel.
Wir kommen bald in die beleuchteten Wohngebiete.“
„Wo ist denn der Eingang geblieben?“ forschte Fantasia mißtrauisch.
„Ho, ho, ho!“ lachte Flunki. „Wahrlich, bei den zehn Rüsseln des
fischfressenden Mammuts: Wo ist er denn?“
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Man sah ihm an der Nasenspitze an, daß er nicht im Traum daran dachte,
dieses Geheimnis zu lüften, zumindest nicht jetzt. Die Kinder vertrauten ih
rem neuen Freund inzwischen soweit, daß sie sich keineswegs eingesperrt
oder beunruhigt fühlten. Nur Lonzo konnte sich nicht verkneifen, seinen Senf
beizusteuern. „Mich dünkt, der Kollege Raufbold ist ein ganz entschiedener
Witzbold. Eine richtige Ulknudel!“
„He, he, he!“ lachte Flunki meckernd. „Das will ich meinen!“
Ein merkwürdiger Berg war dies wirklich, selbst wenn man nicht länger
über das Geheimnis des verschwundenen Eingangs grübelte. Der Boden fühl
te sich nicht etwa hart und felsig an, wie man es von einem ordentlichen Berg
erwarten sollte, sondern war weich und schwammig. Als würde man auf einer
prallgefüllten Luftmatratze gehen. Und warm schien er auch zu sein. Die
Wände des Tunnels, in dem sie ihrem eifrigen kleinen Führer folgten, waren
härter. Sie erinnerten an Kalkstein und schimmerten auch in hellen Farbtö
nen.
Die Freunde hatten bereits ein Dutzend anderer Tunnel gekreuzt und
kamen langsam zu der Überzeugung, daß der ganze Berg durchlöchert war
wie ein Schweizer Käse. In diesem Labyrinth konnte man sich bestimmt
leicht verlaufen.
Aber schließlich hatten sie einen ortskundigen Pfadfinder. Und zur Not
hätte wohl auch Lonzo den Rückweg gefunden, denn der brauchte ja nur sein
fotografisches Gedächtnis zu befragen. Wenn er wollte, konnte er zum Bei
spiel nacheinander hundert Kieselsteine beschreiben, die an einer beliebigen
Stelle in einem der künstlichen Bachbette an Bord des Raumschiffes EUKA
LYPTUS lagen. Er brauchte nur seinen elektronischen Schaltkreisen den
Befehl zu geben, diese gespeicherten Einzelheiten abzurufen. Die Kinder
beneideten ihn um diese Fähigkeit, besonders dann, wenn sie mühsam ver
suchten, sich irgend etwas Wichtiges einzuprägen, indem sie ein Buch mehr
mals lasen oder die Videofilme immer wieder ablaufen ließen. Lonzo genügt
ein einziger flüchtiger Blick aus seinen Sehzellen, und schon war das Ge
schehene Bestandteil seines Gedächtnisses.
Lonzo trug noch immer seine Matrosenmütze auf dem eiförmigen Wulst,
der aus dem ansonsten kugelrunden Metallkörper herausragte. Dort waren
seine wichtigsten Sensoren untergebracht, die die menschlichen Sinnes
organe ersetzten. Nicht zuletzt die funkelnden Sehzellen und die Sprech
membrane erinnerten an einen menschlichen Kopf. Lonzo hatte daneben
aber auch noch Sensoren, die ihm Ultraschall, die chemische Zu
sammensetzung von Stoffen, Luftfeuchtigkeit, Temperatur und manches
andere meldeten; Dinge, die Menschen nur mit technischen Hilfsmitteln
messen können. Er bewegte sich munter auf seinen beiden kurzen Beinen
voran, die wie die vier Tentakel aus winzigen Metallringen zusammengesetzt
waren. Überhaupt schien er bester Laune zu sein, denn er benahm sich abso
lut nicht wie ein Forschungsreisender auf einem fremden Planeten.
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„Alle, die mit uns auf Kaperfahrt gehen, müssen Männer mit Bärten sein“,
sang er laut und in schauriger Tonlage. „Flunki und Harpo und Lonzo und
Kidd – die haben Bärte, die fahren mit.“
„Is’ ja ga’ nich’ wahr“, lispelte Lori. „Nur Flunki hat einen Bart!“
„Macht nix“, meinte Lonzo fröhlich. „Dann bekommen die anderen Fah
rensleute eben einen Bart ehrenhalber verliehen.“
„Und was ist mit uns Mädchen?“ fragte Lori enttäuscht.
„Bärte sind nichts für Mädchen“, antwortete der Roboter. „Aber ich werde
mich bei Captain Kidd dafür einsetzen, daß Fantasia Einstein und Loretta Po
witz wegen besonderer Verdienste für den großen KlabauterOrden mit ge
kreuzten Knöcheln vorgeschlagen werden.“
„Klasse“, lispelte Lori. „Aber ich heiße nicht Loretta, sondern Lotharine!“
Flunki behielt recht. Als sie wieder einmal in einen anderen Höhlengang
des Labyrinths abbogen, leuchtete vor ihnen ein warmes, rotgelbes Licht, das
seine Lampe bald überflüssig machte. Der Raufbold verstaute sie wieder in
den Falten seiner Kleidung. Erstaunlicherweise kam das Licht aus dem Boden
des Ganges, der förmlich zu glühen schien.
Harpo hatte wie die anderen die Kapuze seines Schutzanzuges zurückge
schlagen und seine langen, blonden Haare aus der Umhüllung geschüttelt. Es
war wirklich sehr warm. Er öffnete den Reißverschluß des Anzugs und mach
te sich etwas Luft. Er hoffte, daß sie bald am Ziel waren und die Anzüge ab
legen konnten.
Plötzlich drang eine Gruppe von sechs Raufbolden lärmend aus einem
Nebentunnel.
„Heilige Winternacht mit Tannenzapfen!“ rief der eine, ein dickes, rundes
Männchen mit einem langen Zopf. „Mir sollen sofort alle Schneeläuse aus
dem Bart springen, wenn das nicht der Große Flunkerer persönlich ist. Und
diese rasierten Rotznasen sehen dem schwarzen Doktor verflucht ähnlich,
he!“
„Frostbeulen und Eishagel“, antwortete Flunki mit ausgebreiteten Armen.
„Kann man denn nicht ein einziges Mal in diesen Höhlen spazierengehen,
ohne über den dicken Wanst des alten Flusi und seinen Anhang zu stolpern?“
„Mann, wenn die in Massen auftreten, ist aber echt der Eisbär los“, meinte
Harpo staunend.
„He, he, he!“ lachte die Schar der Raufbolde, während Flunki und Flusi sich
begeistert auf die Schultern klopften.
Die Gruppe bestand aus drei männlichen und drei weiblichen Wesen, von
denen letztere kleiner und zierlicher wirkten als ihre Begleiter. Sie hatten
dünnere Nasen als die Männer und waren natürlich bartlos. Eine der Frauen
sah wie ein kleines Mädchen von zehn Jahren aus und trug das rotblonde
Haar offen. Die anderen hatten dicke Zöpfe wie die Männer.
Alle wirkten freundlich und lächelten die Besucher an. Gekleidet waren sie
wie die männlichen Raufbolde: derbes Lederwams oder ein grobgewebtes
Hemd, enge Hosen, Stulpenstiefel oder Sandalen mit Lederriemen bis über
die Knöchel und breite Gurte um die Hüften. Die meisten trugen jenes kleine
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Gerät an Stelle einer Gürtelschnalle, mit dem die Raufbolde die Schnelligkeit
ihrer Bewegungen erstaunlich steigern konnten.
„Meine Freunde hier wollen zu dem kleinen schwarzen Doktor“, erklärte
Flunki, nachdem er seine Begrüßungszeremonie mit einem Knuff in Flusis
Rippen abgeschlossen hatte. „Weiß einer von euch, wo er und die anderen
Burschen stecken?“
Brim hätte sich wohl gewundert, daß Wesen, die nur halb so groß waren
wie er, ihn als klein bezeichneten – aber gewiß hatte er inzwischen selbst sei
ne Erfahrung mit dem Wortschatz der Raufbolde gemacht. „Beim eisigen Eis
des Schneegockels“, erwiderte Flusi vergnügt, „gewiß weiß ich das!“
Wenn die Kinder jetzt erwartet hatten, daß Flusi weiterreden würde, sahen
sie sich getäuscht. Er grinste nur und zwirbelte seinen prächtigen roten Bart.
„Aber wie ich dich kenne“, knurrte Flunki mit geballten Fäusten, „willst du
es mir nicht verraten, he?“
„Freilich.“
„Beim Eiszahn des Frostvampirs!“ schrie Flunki. „Dann rede doch endlich,
Kerl!“
„Kein Grund zur Aufregung“, antwortete Flusi grinsend. „Der schwarze
Doktor und seine Freunde sind mit unserem Pilzsammelkommando weg und
kehren erst gegen Abend zurück.“
„Dann machen wir es uns einstweilen gemütlich“, sagte Flunki.
„Folgt dem Großen Flunkerer zu den Fleischtöpfen der Raufbolde. Sicher
lich seid ihr hungrig.“
Der Clan der Raufbolde
Die Kinder warteten, bis Lonzo nach einer chemischen Analyse mit einem
fröhlichen „Haut rein!“ die Speisen für unbedenklich erklärte, dann machten
sie sich mit Heißhunger über Fleischbrühe, Salat und Obst her.
Die chemische Analyse war notwendig, obwohl niemand an der Gutartig
keit der Raufbolde ernsthaft zweifelte. Die Möglichkeit konnte nicht ausge
schlossen werden, daß die Speisen für menschliche Organismen ungeeignet
waren.
Im Grunde aßen die Kinder nun zum ersten Mal in ihrem Leben natürliche
Nahrung, denn alles, was sie von der Erde und vom Raumschiff her kannten,
war synthetisch – sogenanntes Synthofood –, wenn es auch in Aussehen und
Geschmack natürlicher Nahrung angeglichen war.
„Das müßte Karlie miterleben“, sagte Harpo und kaute mit vollem Mund
an einer eiförmigen, grüngelben Frucht, die saftigsüß schmeckte. „Der
würde uns nicht länger mit seinen blöden Kartoffelpuffern in den Ohren
liegen.“
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Fantasia und Lori Lachten. Karlie Müllerchen war berühmtberüchtigt für
seine vielen KartoffelpufferRezepte. Wenn er Küchendienst hatte, und das
kam oft vor, weil er sich regelrecht danach drängte, war es nicht schwer, den
Speisezettel zu erraten.
Flunki gab sich nicht damit zufrieden, seine Gäste beim Essen zu beobach
ten, sondern langte selbst kräftig zu. Die Brühe schöpfte er aus einem riesigen
Metallkessel, dessen Inhalt mindestens drei Dutzend hungrige Mäuler
gestopft hätte. Obst und Salate reichte er aus großen Schüsseln und Körben.
Wie es schien, waren die Raufbolde mit ungeheurem Appetit gesegnet. Na,
kein Wunder, wenn sie sich so schnell bewegten und zusätzliche Kalorien
beim Fluchen verbrauchten.
„Ich will mal nicht so sein“, meinte Flunki augenzwinkernd. „Normaler
weise schalten wir nämlich beim Essen unser Beschleunigerfeld auf die
höchste Stufe, damit wir richtig reinschaufeln können. Würde ich das tun,
hättet ihr keine Chance gegen mich.“
Sein mächtiger Schnauzbart hatte beim Schlürfen der Brühe bis auf den
Boden der Kumme gehangen und tropfte jetzt wie ein Pinsel, den man in
Farbe getaucht hatte.
Lori kicherte leise in sich hinein und stieß mit dem Fuß Fantasia an.
„Schneebeutel und Eishörnchen!“ fluchte der Große Flunkerer. „Mir
scheint, das Schneeflöckchen Lotharine macht sich über mich lustig!“
„Nein, nein“, beruhigte ihn Harpo hastig. „Sie ist immer so albern beim
Essen.“
„Na, ausnahmsweise will ich das mal glauben“, sagte Flunki schmunzelnd.
Dann versuchte er Lori einen strengen Blick zuzuwerfen, der ihm so gründ
lich mißlang, daß die Kleine mit einem glockenhellen Lachen herausplatzte.
Das war so ansteckend, daß alle mitlachen mußten, selbst Flunki. Dabei
traten ihm vor Freude sogar die Tränen in die Augen.
Allein Lonzo schaute beim Essen zu, ohne etwas anzurühren. Ihm machte
das aber wenig aus. Als Roboter kannte er Gefühle wie Hunger und Durst
nicht, wenn er auch manchmal wie ein Mensch redete und es weit von sich
wies, eine Maschine zu sein. Allerdings freute er sich zuzusehen, wie es sei
nen Freunden schmeckte. Er beanstandete nur, daß Essen für Captain Kidd
stets eine wichtige und ernste Sache gewesen sei, die mit Albernheiten nicht
vereinbar war, und deshalb die Sache mit dem KlabauterOrden vielleicht
doch noch einmal überlegt werden müsse.
Ansonsten registrierte er in seinem fotografischen Gedächtnis, daß sie hier
in einer kleinen Grotte saßen, die man wohl als Küche bezeichnen mußte. Ein
niedriger, derber Holztisch trug das Eßgeschirr, das nur aus Kummen und
kleinen Messern bestand. Man hatte es sich auf dem weichen Boden bequem
gemacht und die warmen Anzüge abgelegt. Falls die Raufbolde Stühle ge
kannt hätten, wären sie ohnehin zu klein für Menschen gewesen.
Abgesehen von dem Tisch und den vielen Töpfen und Körben gab es nur
noch ein paar Regale mit allerlei Vorräten und in einer Ecke stand eine glü
hendrote Platte, auf der der Suppentopf gestanden hatte.
32
Das war wieder einmal erstaunlich. Obwohl die Raufbolde rustikal ein
gerichtet und angezogen waren und in Felsenhöhlen wohnten, hatten sie
andererseits doch einige Dinge, die nur mit einer hochtechnisierten Zivilisa
tion zu erklären waren, etwa Heizplatten, Taschenlampen oder die Gürtel mit
dem Beschleuniger. Nicht zu vergessen die Beleuchtung, die auch hier aus
dem Fußboden drang. Eigenartig nur, daß man die leuchtenden Fläche sah
und auch dunklere und hellere Flecken und Stränge ausmachen konnte, aber
weiter im Boden nichts zu erkennen war.
„Erzähl uns doch bitte was über die Raufbolde, Flunki“, platzte Harpo
schließlich heraus, als alle satt waren.
„O ja, bitte!“ fielen auch Fantasia und Lori ein.
Für einen Moment redeten alle durcheinander, aber schließlich setzte sich
Harpo durch.
„Wie viele Raufbolde gibt es eigentlich auf eurem Planeten?“ wollte er
wissen.
„Nicht mehr sehr viele“, antwortete Flunki. „In diesem Clan leben knapp
hundert von uns. Die ganze Ostgruppe besteht aus siebenundvierzig solcher
Clans. Und dann gibt es noch eine Westgruppe und eine Nordgruppe mit zu
sammen noch einmal einhundertelf Clans. Alles in allem besteht unser Volk
aus höchstens zwanzigtausend Raufbolden, Kinder und Greise mitgerech
net.“
„Oh“, machte Harpo. Das war wirklich nicht sehr viel. Besonders, wenn
man bedachte, wie groß der Planet Nordpol war. Auf der Erde lebten fast
zehn Milliarden Menschen!
„Früher waren wir mehr“, erklärte Flunki. „Damals war es aber auf dieser
Riesenmurmel noch nicht so hundekalt. War leichter, etwas zu Futtern für
uns und die Partner zu finden.“
„Woher habt ihr die BeschleunigerGürtel?“ fragte Fantasia, bevor Harpo
weiterfragen konnte. Er hätte gern gewußt, wen der Raufbold gemeint hatte,
als er von Partnern sprach.
„Ha!“ explodierte Flunki. „Bei den sieben Rotpelzen, die ich mit einem
Holzschwert erledigte! Ich möchte jedes Haar meines prachtvollen Bartes
einzeln darauf wetten, daß du uns nicht zutraust, daß wir genügend Grips
haben, so etwas selbst zu bauen! Du hältst uns für finstere Höhlenaffen, die
nichts können, als Schneebeeren und Frostpilze sammeln, he?“
„Aber nein, ich wollte nur ...“ protestierte Fantasia, die nicht recht wußte,
ob Flunki nun in der Tat beleidigt war oder wieder einmal den starken Mann
spielte. Und sie fühlte sich wirklich ein wenig schuldbewußt, denn sie hatte
tatsächlich daran gedacht, daß vielleicht eine andere Rasse den Raufbolden
ein paar technische Instrumente überlassen hatte.
„Schneematsch und Eisklumpen!“ redete sich der Gnom in Rage. „Wie
macht man diesen Rotznasen nur klar, daß wir Raufbolde schon Raumschiffe
besaßen, als die Menschen noch auf den Bäumen hockten und ihre Läuse
zählten?“
33
Er raufte sich theatralisch die Barthaare und fummelte dann an seinen
Zöpfen. Schließlich warf er seinen Helm mit den kleinen Metallflügeln zu
Boden und tat so, als würde er darauf herumtrampeln. Aber er achtete ge
schickt darauf, daß er nichts an seiner Kopfbedeckung beschädigte. Flunki
zeigte die Zähne, machte wieder mal: „Grrrr!“, und dabei funkelten seine
Augen vor diebischer Freude. Mit diesen Leuten von der Erde konnte man
sich so herrlich aufregen.
Schließlich hielt er erschöpft inne, holte tief Atem und erzählte, daß es in
grauer Vorzeit auf dem Planeten Nordpol einen Streit gegeben hatte zwi
schen Raufbolden, die immer weiter in den Kosmos hinausstürmen wollten,
und solchen, die lieber erst einmal auf dem Planeten alles in Ordnung
bringen wollten, bevor man sich auf Abenteuer einließ.
Tatsächlich hatte sich dann eine Gruppe von Raufbolden von ihren Part
nern getrennt und war ins All gestartet. Man hatte nie wieder etwas von ih
nen gehört. Die Zurückgebliebenen wurden nachdenklich. Man fragte sich,
ob es Sinn hatte, immer weitere Reichtümer auf Kosten anderer anzuhäufen,
sich gegenseitig zu beneiden und zu bekämpfen. Man fand einen anderen
Weg: mit den Partnern und in der Geborgenheit des Clans, in dem niemand
Not leiden mußte und jeder seinen Spaß hatte.
„Caramba!“ schimpfte Lonzo. „Dieser bärtige Knirps kann es einfach nicht
lassen, uns ehrliche Seeleute zu verschaukeln. Er will uns einfach nicht sagen,
wer denn diese geheimnisvollen Partner, von denen er dauernd redet, über
haupt sind!“
Plötzlich tauchte ein vor Anstrengung keuchender Jungraufbold am Ein
gang der Küchenhöhle auf. Seine großen, dunklen Augen blitzten freudig in
dem schwarzhäutigen Gesicht. Nanu, ein schwarzer Raufbold?
„Harpo! Lori, Lonzo, Fantasia!“ rief er. „Die Rrrraufbolde haben mmir
gesagt, daß eine zweite Eexpedition eingetroffen ist.“
„Mensch, Brim!“ schrien die anderen. Sie hatten ihren Freund von der
EUKALYPTUS in seinem neuen Raufboldanzug nicht erkannt. „Wir haben
uns die größten Sorgen gemacht, als der Funkkontakt abriß.“
„Ddas war wegen ...“
„Wissen wir schon alles“, unterbrach ihn Fantasia. „Erzähl doch mal, wie es
euch ergangen ist.“
Jetzt kamen auch Tom Schlitz, Micel Fopp und Fidel Flottbek angerannt.
Die Sonne Archimedes hatte sie braun gebrannt, und auch sie sahen in den
fremdartigen Kleidern abenteuerlich und verwegen aus. „Hat Borro uns ge
schenkt“, verkündete Brim Boriam stolz und deutete auf seine Stiefel.
„Mächtig dankbar, der Bursche!“
„Ich habe euch schon von draußen gespürt“, sprudelte Micel hervor, der
Junge mit den verkümmerten Ärmchen. Er verfügte über telepathische Kräf
te, das heißt, er konnte gelegentlich die Gedanken anderer Leute empfangen.
„Denkt nur, ich habe mich telepathisch mit Borro unterhalten. Einfach
Klasse, kann ich da nur sagen!“
34
„He, das wird aber eng hier“, knurrte Flunki. „Laßt uns in eine der Schwatz
höhlen rübergehen.“
Er setzte seinen Gedanken direkt in die Tat um und führte seine Gäste in
eine große Nachbarhöhle, in der alle genügend Platz hatten. Sie ließen sich
auf weichen Fällen am Boden nieder.
„Wo wart ihr denn die ganze Zeit?“ fragte Lori gespannt.
„Wir haben den Raufbolden bei der SchneepilzErnte geholfen“, verkünde
te Tom stolz, dessen krankhafte Blässe fast ganz verschwunden war. „Stellt
euch mal vor: Ich allein habe mehr als vier Tonnen geerntet. Da wird Borro
anständig über den Winter kommen!“
„Verflixt und zugenäht!“ explodierte Harpo. „Langsam reicht es mir aber.
Dauernd wird hier von Partnern und diesem Borro geredet, und niemand
hält es für nötig, uns diese mysteriösen Burschen einmal vorzustellen!“
„Jawoll!“ krähte Lonzo. „Selbst Captain Kidd würde niemanden so lange
auf die Folter gespannt haben!“
Micel blickte seinem Freund in die Augen, sah in Wahrheit aber viel tiefer,
nämlich in Harpos Gehirn. „He!“ rief er aus. „Die wissen tatsächlich noch
nicht, wer Borro ist!“
„Juchhu!“ lärmte Tom. „Dann steht euch die dickste aller dicken Überra
schungen ja noch bevor!“
„Hahaha“, lachte Brim. „Das zieht ja den stärksten Eskimo vom Schlitten.
Hört mal, Leute, könnt ihr euch vorstellen, daß man Borro übersieht?“
Die Neuankömmlinge schienen die Sache unheimlich lustig zu finden,
denn sie konnten sich kaum beruhigen vor lauter Lachen.
„Allmächtiger Schüttelfrost!“ jubelte Flunki, dessen mächtiges Organ alles
übertönte. „Ist das ein Spaß! Das muß ich nachher sofort den anderen erzäh
len. Und vor allen Dingen natürlich Borro.“
„Wo ist er denn, euer Borro?“ rief Harpo und sah sich um. „Holt ihn doch
endlich her, damit wir ihn sehen können.“ Aus unerfindlichen Gründen rief
auch diese Äußerung eine Lachsalve hervor.
„Großvater des Frostfiebers!“ kreischte Flunki in höchstem Entzücken und
mit Tränen in den Augen. „Ich kann nicht mehr. Diese Erdenwürmer sind
aber auch wirklich zu spaßig.“
Wider Erwarten hatte Brim Boriam dann doch ein Einsehen. „Hört zu“, sag
te er mit Verschwörermiene, „ihr werdet gleich mit uns lachen und einsehen,
wie komisch das alles ist. Borro ist ein Schneekrabbler und zugleich Partner
der Raufbolde. Sie leben mit ihm zusammen – genaugenomen sogar mehr als
das! Sie leben in ihm. Versteht ihr jetzt? Borro ist eine intelligente Riesen
schildkröte, die sich ganz gemächlich über den Planeten bewegt. Die Rauf
bolde leben in seinem Rückenschild, den wir anfangs alle für einen Hügel
gehalten haben!“
Er klopfte auf den weichen Höhlenboden. „Dies ist Borro“, verkündete er.
„Die Wände, das ganze System der Höhlen und Gänge, der ganze sechs
hundert Meter hohe Hügel – das alles ist Borro!“
35
„Potztausend!“ rief Lonzo begeistert. „Wenn das Captain Kidd noch erlebt
hätte!“
Harpo, Fantasia und Lori hatten ihren Ohren nicht trauen wollen. Aber
jetzt verstanden sie alles. Da hatten sie ja wahrhaftig vor lauter Bäumen den
Wald nicht gesehen. Natürlich, das erklärte alles: Der Eingang in den „Berg“
war nichts anderes gewesen als ein Muskel dieses riesigen Wesens und konn
te auch deshalb wieder verschwinden, weil er sich zusammenzog und die Öff
nung verschloß. Das erklärte auch die Weichheit des Untergrundes, auf dem
sie gelaufen waren. Sie hatten sich auf der Haut des Schneekrabblers vor
wärtsbewegt.
Jetzt lachten alle und riefen fröhlich durcheinander. Es war in der Tat
phantastisch. Sie hielten sich im Schutzpanzer eines lebendigen Wesens des
Planeten Nordpol auf. Thunderclap und die anderen Freunde auf der EUKA
LYPTUS würden Augen wie Mühlräder machen, wenn sie davon hörten.
„Erzählt uns mehr über die Schneekrabbler“, forderte Fantasia ungeduldig.
Ein komisches Erdbeben
„Es steigt die große Besichtigung des Schneekrabblers Borro!“ rief Flunki.
„Was Beine hat, folge mir!“
„Klar“, meinte Brim. „Es ist viel beeindruckender, alles selbst anzusehen,
als sich von den anderen was erzählen zu lassen. Wir kommen auch mit. Wir
haben uns noch lange nicht sattgesehen.“
Lärmend setzte sich die Schar in Bewegung. „Nehmt die Kratzer mit“, riet
Flunki und zeigte auf eine Reihe von schrubberähnlichen Instrumenten, die
an der Wand befestigt waren. „Die können wir wahrscheinlich gut gebrau
chen.“
Die Kinder ließen sich das nicht zweimal sagen und ergriffen die Geräte. Sie
durchquerten eine Reihe von Wohnhöhlen. Das Lachen, Grüßen und Fluchen
wollte überhaupt nicht abreißen, denn in den meisten Räumen hielten sich
andere Raufbolde auf. Da einige beim Essen waren, auf der faulen Haut lagen
oder in fröhlicher Runde den Becher mit Schnapshonig kreisen ließen, fragte
Harpo seinen Freund Brim verstohlen, ob hier denn nirgendwo gearbeitet
würde. Überhaupt hatten sie bisher noch nicht einen Raum bemerkt, in dem
es wie in einer Werkstatt, einer Wäscherei oder einer Fabrikationsstätte aus
sah. Und doch mußten die Kleider und Einrichtungsgegenstände dieser
Wessen irgendwo entstehen, gereinigt, geflickt und gewaschen werden.
„Wie das vor sich geht, weiß ich auch noch nicht“, gab Brim zu. „Aber glaub
ja nicht, daß die Raufbolde faul sind. Während sich der Schneekrabbler so
langsam fortbewegt, daß es ein menschliches Auge kaum wahrnehmen kann,
schwärmen sie mit automatischen Schlitten aus und sammeln Nahrung oder
pflanzen neue an. Du glaubst ja gar nicht, was alles unter der Schneedecke
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wächst! Der Planet ist überhaupt nicht so tot, wie er aussieht. Pausenlos wird
Nahrung eingefahren und gelagert. Riesige Mengen! Wirklich, du wirst dich
wundern. Unterwegs haben wir auch Raufbolde aus anderen Clans getroffen,
denn die Schneekrabbler bewegen sich ja in einer Gruppe über das Land.“
„Flunki hat erzählt, daß die Ostgruppe aus insgesamt siebenundvierzig
Clans besteht. Gibt denn das Land so viel Nahrung her?“
„Flunki?“ fragte der Raufbold, der alles verstanden hatte, obwohl die
beiden Jungen leise gesprochen hatten und außerdem genügend Lärm
herrschte, der nicht zuletzt durch sein eigenes lautstarkes Organ hervorge
rufen wurde. „Wer sagt etwas über den Großen Flunkerer, he? Heraus damit!“
„Wir unterhielten uns gerade über die riesigen Nahrungsvorräte“, erklärte
Brim Boriam bereitwillig. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß hundert noch
so hungrige Raufbolde derartige Mengen verdrücken können.“
„Na, die Futtermengen sind doch für Borro“, erklärte Flunki stirnrunzelnd
und mit gesträubtem Bart. „Und wieso frißt er sie nicht gleich?“ fragte Lori
naseweis.
„Eisregen und Frostnebel!“ knurrte Flunki. „Weil er schläft, natürlich!
Deshalb frißt er sie nicht, Schneeflöckchen.“
„He“, rief Tom ungläubig, „das stimmt doch gar nicht. Ich habe mit meinen
eigenen Augen gesehen, wie Borro sich weiterbewegt hat. Er schläft nicht.
Der marschiert munter weiter. Na, munter für seine Verhältnisse jedenfalls.“
„Grrrrr“, machte Flunki, ergriff dann mit beiden Händchen seinen Helm
und versuchte ihn sich über die Ohren zu ziehen. „Der Eisverkäufer soll mich
im Packeis einfrieren, wenn Borro nicht schläft. – Und munter nennst du sein
Schleichen? He, du müßtest mal sehen, wie er abzischt, wenn der Sommer
kommt! Dann machen wir die großen SchneekrabblerRennen, an denen sich
alle Clans beteiligen. Borro hat in den letzten tausend Jahren fast ein Viertel
aller Wettrennen gewonnen. Wenn er im Sommer erwacht, jagt er schneller
als ein galoppierender Quadrubbel durch die Gegend. Ganz zu schweigen da
von, wenn er sich ins Gletschertal hinabschlittern läßt! Könnt ihr euch das
überhaupt vorstellen, wenn diese wandelnden Berge wie Bobschlitten in die
Tiefe trudeln und dann zusammenstoßen? Das macht vielleicht Spaß! Junge
junge!“
„Halt!“ rief Fantasia nun. „Hast du nicht eben gesagt, Borro sei tausend Jah
re alt?“
„Habe ich nicht“, meinte Flunki und streckte ihr die Zunge heraus. „Er ist
nämlich zweitausend Jahre alt“, fügte er grinsend hinzu. „Schneekrabbler
vermehren sich selten, dafür werden sie aber auch steinalt.“
„Und ihr?“ fragte Micel. „Werdet ihr auch so alt?“ Noch bevor Flunki die
Antwort aussprach, hatte Micel sie bereits im Gehirn des Raufbolds gelesen.
„Nein, nein, beim eisigen Bart meiner Urgroßmutter“, versicherte Flunki
abwehrend. „Wir werden auch nicht viel älter als ihr Menschen. Aber hört zu,
ich will euch erklären, warum Borro schläft und trotzdem weiterkrabbelt –
und weshalb Raufbolde und Schneekrabbler so famos miteinander auskom
men.“
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Die Besucher von der EUKALYPTUS spitzten die Ohren, während Lonzo
wie üblich alles in seinem Gedächtnis speicherte.
„Dieser Planet, den ihr Wichte Nordpol nennt – unser Name für ihn ist
Raufboldparadies –, ist groß. Und es gibt auf ihm nur wenige Schneekrab
bler.“
Flunki zwirbelte seinen Bart. „Aber sie würden bald alles kahlgefressen
haben und müßten aussterben, wenn die Natur im Laufe der Evolution nicht
einen Schutzmechanismus entwickelt hätte. – Das geht so: Die Krabbler sind
nur zehn Tage im Jahr putzmunter. Dann machen sie das große Rennen, von
dem ich eben erzählt habe, und legen eine größere Strecke zurück als in den
anderen 350 zusammen. Außerdem futtern sie in diesen Tagen fast unun
terbrochen. Sie fressen derart viel, weil es für das ganze Jahr reichen muß.
Allein können sie gar nicht genügend Futter aufspüren in der kurzen Zeit.“
„Deshalb also helfen ihnen die Raufbolde“, unterbrach ihn Lori mit
erhobenem Zeigefinger.
„Genau, Schneeflöckchen“, gab Flunki lachend zu. „Wir sammeln die ganze
Zeit über Futter und stopfen es in die Hohlräume unter Borros Panzer. Wenn
er wach wird, schlingt er alles hinunter. Und noch einiges mehr, was er sich
dann selbst sucht.“
„Dafür ist er euch sicherlich sehr dankbar.“
„Stimmt. Er gibt uns das ganze Jahr über behaglichen Unterschlupf und
Wärme, was am wichtigsten für uns Raufbolde ist, denn wir sind sehr kälte
empfindlich. Deswegen auch unsere Beschleunigerfelder, die wir meistens
draußen einschalten, um schneller wieder zu Borro zurückkehren zu können.
Früher war es auch wichtig, daß Borro uns vor unseren Feinden schützte.
Aber das ist noch nicht alles.“
„Nein?“ fragte Lori.
„Borro kann noch viel mehr, denn er ist kein gewöhnliches Tier, sondern
ein hochintelligentes Wesen. Während sein Körper den größten Teil des Jah
res Winterschlaf hält, also gewissermaßen auf Sparflamme schaltet und dabei
doch langsam weiterkrabbelt, damit die Gelenke nicht einrosten, wacht sein
Gehirn! Er unterhält sich mit uns auf ähnliche Art wie euer Freund Micel, der
gelegentlich eure Gedanken lesen kann. Wir haben dann nicht nur großen
Spaß miteinander, sondern Borro kann uns auch fast jeden Wunsch erfüllen.
Deshalb hat Harpo auch nirgendwo Fabriken und Werkstätten entdecken
können. Borro selbst ist nämlich unsere Fabrik! Er entnimmt dem Boden
Mineralien, wandelt sie in flüssiges Metall, Glas oder was auch immer wir
brauchen um – und verwertet gleichzeitig die unverdauten Reste der
verzehrten Pflanzen. Wir machen dann die Konstruktionsentwürfe: für ein
Wams oder einen Helm beispielsweise – und Borro spuckt die fertigen Sa
chen aus.“
„Klasse!“ sagte Brim bewundernd.
„Phantastisch!“ mußte auch Harpo anerkennen.
„Das ist ... intergalaktisch!“ rief Lonzo jubelnd und wirbelte seine Tentakel
umher. „Das hätte Captain Kidd wissen müssen, als wir damals vor Kap
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Hoorn gekentert sind. Zwei Jahre hat es gedauert, bis wir wieder eine see
tüchtige Schaluppe unter die Füße bekamen.“
„Die Schneekrabbler haben sogar die Raumschiffe gebaut, mit denen die
andere Hälfte unseres Volkes zu den Sternen flog“, verriet Flunki augenzwin
kernd. „Allerdings hat er dafür schon eine Menge Zeit gebraucht.“
„Donnerwetter“, staunte Fantasia. „Dann sind Borros Leute ja wohl die
größten Ingenieure der Galaxis. Oder sagen wir mal, Schneekrabbler und
Raufbolde zusammen.“
„Das möchtste wohl auch mal können, wie?“ neckte Tom sie. Es hatte sich
herumgesprochen, daß das rothaarige Mädchen nichts lieber werden wollte
als ein einfallsreicher Raumschiffbauingenieur. „Fertige Raumschiffe ausspu
cken und so?“
Harpo glaubte plötzlich auf einem Drahtseil zu laufen, das im Begriff war,
sich erst nach links und dann nach rechts zu verschieben. Erschreckt ver
suchte er die Balance zu halten und erkannte, daß er keine Halluzination
hatte, sondern daß seine Freunde – einschließlich Flunki, dem der Helm bis
auf die Nasenspitze hinuntergerutscht war – mit demselben Phänomen zu
kämpfen hatten.
Der Boden bebte! Erschreckte Ausrufe drangen von allen Seiten auf Harpo
ein, dann purzelten die Kinder hilflos durcheinander. Von draußen ertönte
ein Krachen, das sich wie das Donnern eines Gewitters in den Bergen
anhörte.
„Die Engländer greifen Captain Kidd an!“ schrie Lonzo. „Alles in Deckung,
Leute! Es werden schwerste Geschütze eingesetzt. Na los! Geschützklappen
runter! Geben Sie dem unverschämten Kerl eine Breitseite, Mister Trumpff!“
„Was war denn das?“ fragte Fidel, der sich wie die anderen mit wirren Haa
ren aufrappelte, als die Erschütterungen nachließen. „Ein Erdbeben?“
Ein Nachläufer riß ihnen erneut die Beine weg. Vorsichtshalber blieben sie
eine Minute sitzen und beobachteten kichernd Flunki, dem der Helm nun bis
ans Kinn gerutscht war.
„Potz Galaxis!“ schrie der Raufbold. „Wollt ihr mich nicht von diesem
Blecheimer befreien? Ich sitze im Dunkeln!“
Lonzo war so frei.
„Uff!“ machte Flunki mit hochrotem Kopf. Obwohl die anderen nun alle
damit rechneten, daß er ein paar saftige Flüche ausstoßen würde, grinste er
nur breit und sagte: „Der Junge hat eben einen goldigen Humor. Wenn das
ein Erdbeben war, dann ein sehr komisches.“ Er schüttelte den Kopf, daß sei
ne Zöpfe flogen. „Nein, Freunde, Borro hat gelacht. Richtig herzhaft gelacht.“
„Gelacht?“ echote Lori erstaunt.
„Wie, wo, was?“ fragte Harpo verdutzt.
Lonzo schnaufte: „Dann möchte ich nicht erleben, wenn er sich über etwas
ärgert!“
„Hat er etwa über uns gelacht?“ meinte Fantasia pikiert.
„He, he, he!“ lachte Flunki. „Ich nehme an, daß ihm ein Witz besonders gut
gefallen hat. Ihr werdet gleich sehen.“
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Tatsächlich hörten sie aus der Ferne ein schallendes, überschäumendes
Gelächter, dieses Mal aber aus den Kehlen einiger Raufbolde, die in einer
Nebenhöhle saßen. Sie hatten flauschige Felle herangeschleppt, auf denen sie
gemütlich Schnapshonig tranken und dicke schwarze Zigarren rauchten. Das
Besondere an dieser Höhle war, daß hier das Bodengewebe viel heller aussah
und dicke Falten warf. Die Decke bestand ebenfalls aus weichem Gewebe
und nicht wie sonst aus dem Knochenkalk des Panzers. Dicke Stränge aus
fleischigem Material hingen tief in die Höhle hinein. Ob das Nervenstränge
waren?
„In solchen Kammern kann man sich besonders mühelos mit Borro un
terhalten“, bestätigte Flunki. „Sie sind direkt mit seinem Gehirn verbunden.“
„Ihr kommt gerade recht“, sagte einer der Raufbolde und nebelte sich der
art mit dem Qualm seiner Zigarre ein, daß man nur noch den bis zum Bauch
reichenden rotblonden Bart erkennen konnte. „Wir sind gerade dabei,
Flunki!“
„Dann legt mal los, Kollegen.“ Flunki rieb sich grinsend das Kinn.
Der andere Raufbold sagte: „Hör zu, Borro: Da kommt eines Tages der
Raufbold Rastus in das schneebedeckte Waldland von SüdTalizien, weil er
beschlossen hat, einige Klafter Holz zu hacken. Als er ankommt, sieht er eine
Menge anderer Raufbolde kräftig die Äxte schwingen. Kopfschüttelnd geht er
auf die anderen Holzfäller zu und fragt: ‚Wieso arbeitet ihr denn so langsam?‘
– Das regt die Befragten natürlich auf. Und das kann man verstehen, wenn
man weiß, daß sie den kleinen Rastus alle um einen ganzen Kopf überragen
und ihre Muskeln durch die wochenlange Hackerei mächtig stark geworden
sind. Geringschätzig sagt einer zu Rastus: ‚Sag mal, hast du Wicht überhaupt
schon einmal einen Baum gefällt, daß du hier so große Sprüche klopfen
kannst?‘ Rastus verschränkt die Arme vor der Brust, sieht hochnäsig zu dem
Frager auf und erwidert: ‚Klar! Zweifelt etwa jemand an meiner Kraft?‘ Dar
aufhin brechen die altgedienten Holzfäller in lautes Gelächter aus. ‚Wo soll
denn das gewesen sein, wo du Bäume gefällt hast?‘ fragt ein anderer. Und
Rastus antwortet: ‚In der Sandwüste von Pelombang natürlich!‘ Daraufhin
schrien die anderen lachend: ‚In der Sandwüste von Pelombang? – Aber da
gibt’s doch nicht einen einzigen Baum!‘ – ‚Tja‘, erwidert der clevere Rastus,
‚jetzt natürlich nicht mehr!‘“
„Ho, ho, ho!“ lachten die Raufbolde und schlugen sich auf die Schenkel.
Die Kinder stimmten in das Lachen ein. Dann wurden sie alle wieder einmal
durcheinandergeworfen. Das war Borro.
„Kennst du den schon, Borro?“ fragte ein anderer Raufbold. „Da kam eines
Tages der Raufbold Rastus in eine Schenke ...“
„Nichts wie weg!“ rief Lonzo, bei dem sich im allgemeinen Durcheinander
zwei Tentakel verknotet hatten. Lachend folgte ihm die Meute. Nur die
Witzeerzähler blieben in der Höhle zurück und waren bald außer Hörweite.
„Da staunt ihr, was?“ sagte Flunki mit leuchtenden Augen. „Ein paar von
uns sitzen immer hier und heitern Borro auf, damit er nicht trübsinnig wird,
während sein Körper Winterschlaf hält. Er hat ja sonst kaum Abwechslung.
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Als nächstes wird Borro dann den anderen Schneekrabblern die Witze telepa
thisch weitergeben.“
„Na, so was!“ meinte Harpo. Die anderen prusteten immer noch.
„Wenn ihr gute Witze kennt, müßt ihr sie mir unbedingt erzählen“, meinte
Flunki, „weil mein Repertoire neuen Stoff dringend nötig hat – aber jetzt
werden wir Borro einen anderen Gefallen tun, um den er mich gebeten hat.“
Er musterte mit Scharfblick die Wände. „Hier muß es sein.“ Er wies auf
besonders auffälliges, hellrot leuchtendes Gewebe. „Den Guten juckt es näm
lich hier. Er braucht ein paar Leute, die ihn kratzen.“
„Klar, machen wir!“ rief Tom begeistert. „Ran an die Schrubber und auf ins
Gefecht!“
Jubelnd stimmten die anderen mit ein und begannen damit, die Haut der
Riesenschildkröte mit ihren mitgebrachten Werkzeugen zu bearbeiten.
Lonzo, dessen Tentakel inzwischen wieder entknotet waren, stürzte hin
terher. „Weiter so, Matrosen!“ rief er. „Scheuert das Deck. Die Schaluppe
muß blitzen!“
Schlittenfahrt
Es war unmöglich, in der kurzen Zeit jede Besonderheit im Labyrinth des
SchneekrabblerPanzers zu besichtigen, denn schließlich war er nicht nur
sechshundert Meter hoch und an der längsten Stelle fast einen Kilometer
lang, sondern auch etwa hundert Meter dick.
Flunki zeigte ihnen das Wichtigste. Da gab es nicht nur den einen Einstieg,
durch den sie selbst in den Panzer gelangt waren, sondern mindestens ein
Dutzend solcher Öffnungen, meistens mit einem Muskel unter Borros Panzer
kontrollierbar.
Das Erstaunlichste war jedoch jener Teil des Panzers, der die runde Kuppel
bildete. Hier wurden die Nahrungsvorräte gelagert. Die engen Höhlen und
Gänge, die man bisher kennengelernt hatte, fehlten hier. An ihrer Stelle sahen
die Besucher richtige große Hallen, in denen sich menschengroße Riesen
pilze, Heu, Früchte unbekannter Art, zahllose ebenfalls unbekannte Ge
müsesorten und ein schilfartiges Gewächs türmten, das, so äußerte sich
Flunki, besonders gut unter der Schneedecke gedieh.
Selbst für die Raufbolde mit ihren Beschleunigern wurde es schwierig, sich
in diesen Vorratsräumen zu bewegen. Aus diesem Grund hatten sie quer
durch die Hallen eine Seilbahn gebaut. Von einer Gondel aus bestaunten die
Kinder die Nahrungsvorräte.
„Ein großes Problem stellen die zahlreichen Insekten dar“, erklärte Flunki.
„Ihr wißt schon: Stechmücken, Fliegen, Kakerlaken, Wanzen, Läuse und jede
Menge dieser elenden Käfer. Die sind nicht nur lästig und quälen uns, son
dern legen es auch darauf an, unsere Vorräte aufzuessen und Borro zu piesa
41
cken. Da es hier ziemlich warm ist und unzählige dunkle Winkel und Ritze
nur so zum Verkriechen einladen, sind dauernd einige von uns damit
beschäftigt, die Störenfriede zu bekämpfen. Auch dafür ist die Seilbahn
wichtig, denn mit ihr erreichen wir Bezirke, die sonst nur schwer zugänglich
sind.“
„Hat Brim euch gegen diese Insekten geholfen?“ fragte Lori gespannt.
„Ja“, erwiderte Flunki nickend. „Das hatte auch etwas mit Insekten zu tun.
Stellt euch vor, eine Mückenart hat eine große Stelle des Schneekrabblers in
derartig großen Schwärmen überfallen und ihm Blut ausgesaugt, daß sich die
Stelle entzündete. Wir wußten keinen Rat. Die Entzündung ging einfach nicht
zurück, sondern fraß sich immer tiefer in Borros Körper.“
„Ich habe Borro ein entzündungshemmendes Präparat gegeben“, meinte
Brim Boriam bescheiden. Er hatte sich dank der Hypnoschulung der Galak
tischen Mediziner wirklich zu einem erstklassigen Arzt gemausert. Das
fanden alle. „Am gefährlichsten war allerdings eine Pilzwucherung, die ich
mit Miconazolnitrat in den Griff bekam“, fügte er hinzu. „Ich benötigte meh
rere Tonnen von dem Zeug. Nur gut, daß die Arzneimaschine des Bootes auf
Nordpol genügend Grundmaterial fand, um den Stoff schnell zu synthe
tisieren.“
„Was er für Ausdrücke kennt!“ himmelte Lori „Doktor Boriam“ an.
„Borro bietet euch allen von der EUKALYPTUS für diese rasche Hilfe
Wohnrecht auf Lebenszeit in seinem Panzer an“, informierte sie Flunki.
„Das ist wirklich riesig nett“, antwortete Brim. „Aber im Augenblick wissen
wir wirklich noch nicht, ob wir auf diesem Planeten bleiben wollen.
Allerdings ist es schön, zu wwissen, daß man irgendwo ein Zuhause hat.“
Er hatte recht. Sie wußten wirklich noch nicht, wie alles weitergehen sollte.
Harpo allerdings wußte, daß es viele Kinder an Bord des ehemaligen Sanato
riumsschiffes gab, die um jeden Preis so schnell wie möglich wieder auf
einem echten Planeten leben wollten – selbst wenn er größtenteils mit
Schnee und Eis bedeckt war. Andererseits war ein nicht unbeträchtlicher Teil
der Mannschaft, darunter Thunderclap Genius, Karlie Müllerchen, der kleine
Ollie und auch er dafür, weiter durch das All zu fliegen, die Wunder des Kos
mos zu sehen und fremde Planeten zu erforschen.
Es würde eine schwierige Entscheidung werden. Daß die Raufbolde ihr
Angebot ernst meinten, bezweifelte niemand. Aber würde es auf die Dauer
Spaß machen, mit einem Schneekrabbler durch unbekannte Länder zu zie
hen, wenn man die Chance hatte, den Weltraum zu durchqueren? Anfangs si
cherlich, aber nach einigen Jahren ... Zudem war das einzige Eis, auf das
Harpo wild war, Schokoladeneis ...
„Mensch, Brim!“ rief Harpo plötzlich. „Wir haben uns schon eine Ewigkeit
nicht mehr mit Thunderclap verständigt. Am Ende glauben die, daß uns was
zugestoßen ist!“
„Verdammt“, erwiderte Brim nachdenklich. „Wir müssen unbedingt zu den
Beibooten zurück. Ihr könnt ja solange hierbleiben. Wir kommen wieder.“
„Ja, so ist es am besten“, stimmten die anderen zu.
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Flunki stieß einen schrillen Pfiff aus, worauf ein anderer Raufbold mit einer
zweiten Gondel erschien und Brim, Fidel, Tom und Micel zu einem Ausgang
in der Nähe der Beiboote brachte. Die anderen Kinder blieben zurück.
„Habt ihr eigentlich keinen König oder so was?“ fragte Lori und zupfte
dabei an Flunkis Ärmel.
„König?“ fragte Flunki zurück. Sein ganzes Gesicht drückte Erstaunen aus.
„Nie gehört, das Wort.“
„Na, einen Häuptling, Fürsten, Präsidenten oder Diktator. Einen, der alles
bestimmt.“
„So etwas gibt es bei uns nicht“, wehrte der Gnom entrüstet ab. „Jeder tut
bei uns, was er für richtig hält, was ihm Spaß macht. Wäre ja noch schöner,
wenn uns jemand vorschriebe, etwas zu tun, was uns keinen Spaß macht.“
„Und doch funktioniert alles?“ fragte Harpo. „Alle arbeiten?“
„Klar doch“, erwiderte der Raufbold. „Arbeit macht schließlich Spaß, wenn
man genau weiß, daß sie nützt. Und außerdem haben wir soviel Zeit, daß
Arbeit immer eine willkommene Abwechslung ist.“
Die Kinder mußten zugeben, daß Flunki eigentlich recht hatte. Seitdem sie
auf der EUKALYPTUS selbständig waren und sahen, wie etwas unter ihren
Händen entstand, waren sie viel fleißiger.
„Wos“, knurrte Flunki, „holtöt öhr von oinör kloinön Sprötztour möt döm
Schlöttön?“
Harpo schlug mit der Faust auf den Translator an seinem Armgelenk.
„Das Ding scheint einen Rappel zu haben“, sagte Fantasia lachend.
„Oinön Rappöl?“ fragte Flunki.
Harpo schlug wieder gegen das Gerät, und im gleichen Moment keifte
Flunki: „Der Eierdieb soll mich rauben, wenn das Schneeflöckchen nicht
eben über mich gelacht hat!“
„Na also, es funktioniert wieder“, sagte Harpo befriedigt. Er erklärte Flunki,
daß der Übersetzungsapparat soeben aus seinen Worten etwas Lustiges fabri
ziert hatte.
„Schade“, knurrte Flunki, „ich hätte gerne mitgelacht.“
Flunki wiederholte sein Angebot, eine Schlittenfahrt zu machen, und alle
stimmten begeistert zu. Der Raufbold steuerte die Seilgondel zu ihrem Aus
gangspunkt zurück und noch ein ganzes Stück darüber hinaus. „Aussteigen!“
rief er dann. „Wir sind da!“
Vor den staunenden Augen der Besucher lag eine Höhle, in der mindestens
zwanzig Fahrzeuge einsatzbereit dastanden. Im Vergleich zu den Raufbolden
waren es riesige Dinger, etwa zehn Meter lang. Ihre Aufgabe bestand, wie
Flunki erklärte, darin, möglichst schnell viele Pflanzen zu ernten und zum
Schneekrabbler zurückzubringen. Am vorderen Teil der Fahrzeuge waren
Messerköpfe und Greifarme angebracht, die von innen gesteuert werden
konnten.
„Wir brauchen sie jetzt nicht“, sagte der Raufbold und ließ sie per Knopf
druck verschwinden, als alle unter der durchsichtigen Glocke der Fahrer
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kabine angelangt waren. Geräuschlos verschwanden die Werkzeuge hinter
einer Verkleidung.
In Ruhe betrachteten die Kinder und Lonzo den Schlitten. Er war aus leich
tem Metall, hatte eine Steuerkuppel aus glasähnlichem Material, eine
schnittige, ovale Form und ähnelte einem Motorboot. Bei den Raufbolden
hätten sie eine solche Maschine gar nicht vermutet. Die Kinder staunten, als
Flunki wie ein erfahrener Pilot den Düsenantrieb startete und den Schlitten
zischend auf seinen Kufen an die Wand von Borros Panzer herangleiten ließ.
Jetzt wurde verständlich, daß selbst Raumschiffe für die Raufbolde nichts
Ungewöhnliches waren, obwohl sie selbst keine besaßen.
Als der Schlitten die Wand erreichte, reagierte Borro sofort. Er öffnete ein
Tor, das groß genug war, um den Schlitten passieren zu lassen. Flunki startete
durch, und im Nu rasten sie Borros schneebedeckten Panzer hinab.
Harpo, Lori und Fantasia quetschten sich die Nasen an der Sichtscheibe
platt, während Lonzo erfreut blubberte. Kein Wunder, denn zum ersten Mal
seit vielen Stunden befanden sie sich wieder im Freien. Und zum ersten Mal
sahen sie bewußt das Äußere des Schneekrabblers als das, was es war: als
Panzer eines riesigen Intelligenzwesens.
Aber im Grunde konnte man auch jetzt nicht mehr entdecken als zuvor.
Borro sah von außen eben tatsächlich wie ein Hügel aus, der zwar merk
würdig gleichmäßig geformt inmitten einer Gruppe ähnlicher „Hügel“ lag,
ansonsten aber unter einer dichten Schneedecke jede vielleicht interessante
Einzelheit geschickt verbarg. Im Hintergrund waren die Beiboote der EUKA
LYPTUS zu erkennen.
„Hat Borro eigentlich Füße?“ wollte Lori wissen. „Ich meine wie eine
Schildkröte?“
„Das will ich meinen“, gab Flunki verschmitzt lächelnd zurück. „Wie sollte
er sich sonst bewegen? Und er hat sehr große Füße, das dürft ihr mir glauben,
Freunde. Seht mal genau hin. Dort drüben entstehen doch in regelmäßigen
Abständen so kleine Trichter im Schnee. Gesehen?“
„Gesehen!“ schrien die Kinder.
„Dort sind seine Füße“, fuhr der Raufbold fort. „Beim Vorwärtsbewegen
stürzt immer etwas lockerer Schnee nach. Und jetzt schaut mal nach hinten.
Glaubt ihr jetzt, daß Borro sich bewegt?“
Flunki hatte recht. Ganz deutlich sah man hinter den Schneekrabblern tiefe
Furchen in der weißen Landschaft, die genau der Hügelbreite entsprachen.
Aber man mußte vorher wissen, auf was man zu achten hatte, um ihre Be
deutung zu erkennen. Und der eisige Wind wehte bereits wieder Schnee in
die Mulden und ebnete alles ein.
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß es in dieser Einöde Pflanzen
und Tiere geben soll“, murmelte Harpo mit gerunzelter Stirn.
„Abwarten“, brummte Flunki und drückte einen anderen Knopf. Jetzt
bohrte der Schlitten seine spitze Nase tief in den Schnee hinein. Es wurde
dunkel, so daß Flunki in der Kabine ein mattes Licht einschalten mußte. An
der Spitze des Fahrzeugs flammten Suchscheinwerfer auf.
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„Jetzt!“ schrie Flunki. Im gleichen Moment brach der Schlitten durch die
Schneedecke und glitt über einen Pflanzenteppich, der die weiche, weiße
Masse wie ein Dach vom Boden des Planeten fernhielt.
Eine völlig neue Welt tat sich vor den Augen der überraschten Besucher
auf. Sie war wohl dunkel und ohne Sonnenlicht, aber dennoch bedeckte
dichter Pflanzenwuchs den schwarzen Boden des Planeten. Das war so über
raschend wie der Formen – und Farbenreichtum, den man mitunter tief
unten auf dem Grund der Ozeane finden konnte, bevor die großen Chemie
konzerne das Wasser auf der Erde vergiftet hatten.
„Die Pflanzen arbeiten ähnlich zusammen wie die Schneekrabbler und
wir“, erklärte Flunki nicht ohne Stolz. „Symbiose nennt man das. Einzelne
Gewächse gedeihen nur am Körper von anderen. Gerade sie wachsen aber
durch den Schnee bis zum Sonnenlicht durch. Dort zersetzen sie sich,
schmelzen durch eine chemische Reaktion kurzzeitig Löcher in den Schnee
und führen dadurch Licht und Wasser für die anderen Pflanzen nach unten.“
„Und so sieht es überall auf dem Planeten aus?“ fragte Harpo verblüfft.
„Nein“, erwiderte Flunki lachend. „Natürlich nicht. Tatsächlich muß man
solche Gebiete mit der Lupe suchen; so, wie man auf der Erde eine Oase in
der Wüste finden muß. Aber im Aufspüren dieser Gewächszonen sind die
Schneekrabbler nun einmal wahre Meister. Überdies gibt es auf unserer
Welt auch ein ewiges Sommergebiet, wo man keinen Schnee findet. In der
Äquatorzone.“
„Und warum geht ihr da nicht hin? Dann müßtet ihr die Pflanzen unter der
Schneedecke nicht so mühsam abernten.“
Flunki zuckte die Schultern. „Die Sommerzone ist schmal. Außerdem
könnte sie die Krabbler schon aus dem Grunde nicht ernähren, weil die dort
herrschende Wärme andere Gewächse produziert. Nämlich solche, die die
Krabbler nicht mögen. Die dort lebenden Tiere sähen es sicher auch nicht
gern, wenn eine Herde unserer Partner ihnen in ein paar Monaten alles ratze
kahl leerfressen würde.“
„A propos sehen“, warf Lori ein. „Kann Borro denn überhaupt sehen?
Frieren ihm bei dieser Affenkälte nicht die Augen zu?“
„Bei Rastus und seinen vierzig Äxten“, meinte Flunki, „das würden sie tat
sächlich tun. Aber keine Sorge, Schneeflöckchen, unsere Partner brauchen
keine Augen. Ihre telepathischen Talente genügen völlig, um jedes andere
Sinnesorgan zu ersetzen.“
„Bitte, lieber Flunki“, bettelte Lori, „ich möchte so gern etwas mehr von
Borro sehen. Können wir nicht näher an ihn heranfahren?“
„Klar, machen wir!“ versprach Flunki gutgelaunt und betätigte das Steuer
des Schlittens.
„Heißt Flagge!“ brüllte Lonzo salutierend los. „Riesige Quadratlatschen
vierzig Grad Ost! Was sehen meine pulvergeschwärzten Piratenaugen?“
Tatsächlich kam in diesem Moment ein Gebilde ins Gesichtsfeld der Beob
achter, das dreimal so groß war wie ihr Schlitten. Man mußte erst einmal den
Blick hin und her schweifen lassen, bis man die einzelnen Zehen erkannte
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und die dicke, schuppige Haut. Das sah wahrhaftig aus wie der dicke, tapsige
Fuß einer Schildkröte in Großaufnahme. Und ganz ohne Zweifel konnte man
nun auch ausmachen, daß er ganz gemächlich, im Zeitlupentempo, ange
hoben und wieder abgesetzt wurde.
„Borro!“ flüsterte Lori entzückt.
„Du suchst dir nicht gerade kleine Spielgefährten aus, mein Schneeflöck
chen“, brummte Flunki gutmütig und strich ihr über die blauschwarzen Lo
cken. „Den Burschen da wirst du nicht so leicht zum Schmusen mitnehmen
können ...“
Stimmen in der Nacht
Leise summend glitt Flunkis Motorschlitten über den Schneeteppich. Sie
hatten Borro bereits weit hinter sich gelassen und steuerten auf das offene
Land jenseits der SchneekrabblerKolonne hinaus. Archimedes stand im
Zenit und schüttete ein Lichtmeer aus. Nur selten konnte man zwischen dem
Weiß einen Vegetationsstreifen entdecken. Der Schnee reflektierte das
Sonnenlicht so stark, daß den Kindern bald die Augen brannten.
„Beim fröstelnden Eierdieb!“ rief Flunki und schlug sich mit der Handflä
che gegen die Stirn. „Hab’ ich doch tatsächlich vergessen, euch Sonnen
brillen zu verpassen!“ Aufgeregt kramte er in der Ablage unter dem
Armaturenbrett, bis er mehrere Brillen hervorzerrte. Die Gestelle waren so
biegsam, daß man sie den Köpfen der Kinder anpassen konnte.
Die dunklen Brillengläser ließen die Landschaft in einem ganz anderen
Licht erscheinen. Harpo deutete auf einen abgerundeten weißen Hügel am
Horizont. „Was ist das, Flunki? Ein einzelner Krabbler?“
Der bärtige Raufbold kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. „Das
Hügelchen dort? Ein verlassener Iglu. Habt ihr Lust, ihn zu besichtigen?“
„Klar!“ war die einmütige Antwort.
Und Lonzo fügte hinzu: „Ein Iglu? Dann habt ihr wohl auch Eskimos, Eis
bären und Pinguine?“
Der Raufbold lachte dröhnend. „Abwarten“, meinte er grinsend.
Nach wenigen Minuten war der Schlitten bis auf zehn Meter an das Ziel
herangefahren. Mit jeder Sekunde beeindruckte die halbkugelförmige, aus di
cken Schnee und Eisblöcken zusammengesetzte Kuppel ein Stückchen
mehr. Sie schien gut zwanzig Meter hoch zu sein.
„Donnerschlag!“ rief Lonzo anerkennend. „Die Schneemaurer verstehen
wirklich etwas von ihrem Fach.“
Der Schlitten rutschte noch ein Stückchen vorwärts und bohrte sich dann
in den Schnee. Alle sprangen hinaus. Ein bißchen Bewegung tat gut, denn die
engen Sitze des Motorschlittens waren für die kleinwüchsigen Raufbolde ge
dacht und ließen den Beinen wenig Bewegungsfreiheit.
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Der Boden hier wirkte härter als anderswo und sah aus, als hätten ihn viele
Füße festgestampft. Harpo, Fantasia und Lori staunten das Bauwerk an und
gingen langsam näher. Der Iglu hatte einen Umfang von mindestens 150 Me
tern und war auch noch weitaus höher, als sie anfangs geschätzt hatten. In
regelmäßigen Abständen fehlten einzelne Schneequader in den Wänden,
vermutlich, um genügend Sonnenlicht hineinzulassen. Ein zehn Meter langer
Tunnel führte in das Innere und war so geräumig, daß man auch bequem mit
dem Schlitten hätte hineinfahren können.
Vor den Besuchern lag ein riesiger runder Saal: der gesamte Innenraum des
Iglus ohne Unterteilungen oder stützende Pfeiler. Das einfallende, flirrende
Sonnenlicht malte bizarre Kringel auf den festen Schneeboden und ließ die
weißen Atemwolken der Kinder wie Dampf aufsteigen. Die Atmosphäre hatte
etwas von der besinnlichen Ruhe und Feierlichkeit einer Kathedrale.
Nur Flunki zeigte sich wenig beeindruckt. „Kalt und ungemütlich“, knurrte
er. „Da lobe ich mir doch unseren lieben Borro. In dem läßt es sich wohnen!“
„Jedem das seine“, quakte Lonzo, dem Empfindungen wie Wärme und Käl
te fremd waren. „Ein Fisch findet es eben im Wasser schön und ein Teufel in
der Hölle. Und Captain Kidd fühlte sich nur wohl, wenn er Holzplanken unter
den Füßen hatte.“
„Wer hat dieses Ding gebaut?“ fragte Harpo. „Raufbolde etwa, die keinen
Schneekrabbler bekommen haben?“ Konnten die kleinen Burschen solche
Riesenbauwerke überhaupt errichten?
„Nein, nein“, rief Flunki. „Das würde uns niemals einfallen. Die Faulpelze
bauen solche Iglus.“
„Die Faulpelze?“ fragten die Kinder und lachten.
„Habt ihr noch keinen von diesen Burschen gesehen? Große Flegel mit
Haaren am ganzen Leib? Na ja, eigentlich heißen sie Rotpelze. Der Haupt
zweck ihres Lebens scheint Schlittenfahren zu sein.“ Flunki grunzte verdrieß
lich.
„Ein angenehmeres Leben kann man sich doch gar nicht vorstellen“, warf
Lonzo ein und kümmerte sich wenig um den mißbilligenden Blick, den ihm
daraufhin der Raufbold zuwarf.
Harpo erinnerte sich an die geheimnisvollen, bärenhaften Gestalten in der
ersten Nacht auf dem Planeten. Als er Flunki davon erzählte, riß der kleine
Mann empört Mund und Augen auf und schrie: „Ha! Haben die Nichtsnutze
wieder einmal unseren Borro als Rutschbahn mißbraucht! Diese Burschen
haben keinen Respekt! Der Schneegockel möge seine Eier im Fluge auf ihre
Köpfe werfen!“
So wütend sich das auch angehört hatte: Es fiel wieder einmal allen schwer,
den Raufbold ernst zu nehmen. Jetzt prasselten tausend Fragen auf Flunki
ein, so daß er notgedrungen etwas mehr über die Faulpelze erzählen mußte.
„Sie leben in Clans wie wir Raufbolde und ernähren sich vom Fischfang“,
ließ er seine Gäste wissen.
„Wo soll es denn hier Fische geben?“ fragte Harpo. „Bisher haben wir weit
und breit keinen Fluß entdecken können.“
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Flunki schmunzelte. „Es gibt aber welche, nur verlaufen sie unterirdisch.
Die Faulpelze hacken Löcher in die Eisdecken zugefrorener Seen und tau
chen hinab, um ihre Fangnetze auszuwerfen.“
Fantasia schüttelte sich. „Brrrrrrr! Bei dieser Kälte?“
„Es sind eben harte Burschen – und faule Flegel natürlich.“ Flunki zwin
kerte mit einem Auge und erzählte dann, daß die Bären einen Heidenrespekt
vor den viel kleineren und schwächeren Raufbolden hatten. Den Grund um
schrieb er recht blumig, aber wie es schien, hatte dies mit dem selbstbewuß
ten Auftreten und der deftigen Sprache der kleinen Männer zu tun. Damit
schüchterten sie die Rotpelze ganz schön ein.
„Wieso haben die Faulpelze denn ihren Iglu verlassen?“ lispelte Lori. „Er ist
doch noch sehr schön!“
„Treffend bemerkt, verehrte Frau Powitz“, stimmte Lonzo zu. „Nirgendwo
ist auch nur die allerkleinste Roststelle zu entdecken.“
„Ha!“ rief Flunki. „Weil Borro und die anderen Krabbler sich langsam nä
hern. Die Faulpelze senden Späher aus und verziehen sich, sobald sie unsere
Schneekrabbler am Horizont ausmachen.“
„Weil die Iglus sonst plattgewalzt werden?“
„Deshalb nicht. Aber unsere Leute können es nun einmal nicht lassen, die
Burschen kräftig anzuraunzen, wenn sie im Schnee liegen und sich die Sonne
auf den Bauch brennen lassen. Wenn wir kommen, suchen die Faulpelze das
Weite. Das war schon so, als ich noch ein kleiner, winziger Wichtel war.“ Er
sagte das mit solch einer Überzeugungskraft, daß man ihn glatt für einen
Riesen hätte halten können. Dabei überragte er die kleine Lori gerade um
einen Zentimeter. Und das auch nur, weil er einen Helm trug!
Etwas enttäuscht meinte Harpo: „Wie schade, dann werden wir sie wohl
nicht zu Gesicht bekommen. Na egal, Nordpol hat uns sicher noch mehr zu
bieten, oder?“
„Das will ich meinen!“ Flunki reckte sich stolz, wobei ihm der Helm fast
über die Augen rutschte. „Wartet nur ab, bis der Sommer kommt, nächste
Woche um drei Uhr! Dann kreucht und fleucht, kriecht und rennt, krabbelt
und wetzt, wimmelt und wummelt es hier nur so. Im Moment haben natür
lich die meisten Tiere ihre Schnarchzeit. Habt ihr schon mal Vögel gesehen,
die größer sind als Lonzo? Salamander, auf denen man reiten kann? Und
wunderschöne, meterlange Würmer?“
„Igitt!“ quiekte Lori. „Würmer! Gibt es bei euch keine Hasen?“
„Kleine Hopser mit langen Ohren“, erklärte Lonzo auf Flunkis verständnis
losen Blick hin.
„Wißt ihr was?“ fragte der Raufbold und trommelte sich mit den Fäusten
vor Begeisterung gegen die Brust. „Wir übernachten hier und schleichen uns
morgen zum Ufer des FettbauchfischSees! Vielleicht könnt ihr dort ein paar
rotfellige Faulpelze beim Fischen beobachten.“
Das war ein Wort! Freudig stimmten alle zu. Während Lonzo Decken und
Verpflegung aus dem Schlitten holte, wobei ihm seine vier Greiftentakel eine
große Hilfe waren, informierte Flunki über Funk seine Leute.
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Nach dem Zwielicht der Dämmerung kamen die ersten Sterne zum Vor
schein. Flunki hatte einen Spezialkocher aufgebaut und zauberte im Nu ein
duftendes Mahl. Schon beim Schnuppern wurde man richtig hungrig.
Lonzo brummte: „Beeilt euch, edler Lord Flunki! Der Kohldampf schnürt
mir schon die Eingeweide zusammen!“
Aber Flunki kramte nur in seinen Taschen und reichte ihm mit einem
artigen „Aye, aye, Sir!“ zwei Trockenbatterien und ein Ölkännchen.
„Guten Hunger, Steuermann!“
Lonzo beäugte beides mit großem Mißtrauen und gab es mit der Be
merkung zurück, das eine sei entschieden zu trocken für einen Seemann, das
Öl hingegen zu fett. Schließlich müsse er auf seine Linie achten, sonst
würden ihn die Robotermädchen nicht mehr anschauen.
In der Nacht erwachte Harpo. Lori schlief unter ihren Decken. Flunki
schnarchte so laut, daß davon der Boden erzitterte. Lonzo hatte sich wohl
abgeschaltet, um Energie zu sparen. Jedenfalls hockte er reglos auf dem
Boden und hatte nicht das gewohnte Funkeln in den Sehzellen. Nur Fantasia
hob fragen den Kopf. „Ist was?“ flüsterte sie.
Beruhigend erwiderte Harpo: „Nee, was soll sein?“ Zwar hatte er ein unge
wohntes Geräusch gehört, glaubte es gehört zu haben, aber bevor er nichts
Genaues wußte, wollte er andere nicht unnötig beunruhigen.
„Das sind doch Stimmen!“ murmelte Fantasia und setzte hinzu: „Harpo,
dort draußen ist jemand!“
„Pschscht!“ machte Harpo, schälte sich aus den Decken und reichte dem
rothaarigen Mädchen die Hand. Sie fühlte sich feucht an. Gemeinsam kro
chen die beiden zum Ausgang des Iglus. Im Eingangstunnel wurden die Ge
räusche immer deutlicher. Rotpelze?
Harpo und Fantasia hatten Angst. Was ging dort draußen vor? Leise pirsch
ten sie weiter. Etwa fünf Meter vor dem Ausgang stand ein Schlitten, der
nicht Flunki gehörte, aber entfernte Ähnlichkeit mit den Schlitten der Rauf
bolde hatte. Auf den zweiten Blick erkannte man, daß die Glaskuppel, die frü
her einmal vorhanden gewesen war, jetzt fehlte. Der Schlitten machte von
vorn bis hinten einen ungepflegten Eindruck. Fast schien es, als habe ihn je
mand in letzter Sekunde vor der Müllkippe bewahrt. Ein grimmiger, hünen
haft wirkender Rotpelz, der sicher nicht kleiner als Karlie Müllerchen war,
verstaute prallgefüllte Säcke auf der Ladefläche. Er stieß dabei ein leises
Knurren oder Brummen aus.
Jetzt erkannten die heimlichen Beobachter noch zwei andere Bärenwesen,
die in einem frisch ausgehobenen Schneeloch an der Igluwand standen und
weitere Säcke hinaufwuchteten. Sie legten ein ganz hübsches Tempo vor.
Harpo und Fantasia tauschten einen fragenden Blick. Was hatte das nur zu
bedeuten? Was holten die Bären aus der Erde? Einen vergrabenen Schatz?
Vielleicht gehörte ihnen gar nicht, was sie dort auf den Schlitten luden?
Harpos Wangen begannen zu glühen. Mann, oh Mann! Das war ein
Abenteuer nach seinem Herzen! Eine geheimnisvolle Rotpelzbande, die ihre
vergrabene Beute verlud, die vielleicht gefährlich war und das Messer locker
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sitzen hatte. Und er, Harpo Trumpff, Chronist und Logbuchführer der EUKA
LYPTUS, saß mitten im Brennpunkt des Geschehens.
„Wir müssen herauskriegen, was sie treiben“, wisperte er leise. Fantasia
nickte.
Wie zwei Schatten huschten die beiden auf die Rückwand des Schlittens zu,
während Rotpelz Nummer drei gerade zu den anderen zurückging.
Mit fliegenden Fingern versuchte Harpo einen der mit Lederschlingen ver
knoteten Beutel zu öffnen. Umsonst, die Säcke waren hart wie gefrorene Erde
und ungeheuer schwer. Fantasia hatte plötzlich zwei leere Beutel in der Hand
und zischte aufgeregt: „Hahaharpo! Er kommt zurück!“
Die beiden Rotpelze im Schneeloch hatten ihre Arbeit eingestellt und hal
fen sich gegenseitig hinaus, während der dritte bereits wieder auf den
Schlitten zuging. Nicht nur, daß der Iglueingang im Sichtfeld der beiden Bä
ren lag, jetzt bewegten sie sich auch noch schwatzend genau auf diesen Ein
gang zu. Harpo und Fantasia war der Rückweg abgeschnitten.
Die beiden durchfuhr ein eisiger Schreck. Aber Fantasia, die sonst immer
so schnell nervös reagierte, kam auf eine phantastische Idee und setzte sie
nach blitzartiger Verständigung mit Harpo in die Tat um: Beide kletterten auf
die Ladefläche des Schlittens, schlüpften hinter die Fracht und halfen sich
dann gegenseitig in die beiden leeren Säcke, die Fantasia gefunden hatte. Sie
duckten sich und spielten Fracht. Mit pochenden Herzen warteten sie darauf,
daß der Schlitten sanft anfuhr. Dann wollten sie sich in den weichen Schnee
rollen und unbemerkt zum Iglu zurückkehren.
Aber es kam anders. Der Schlitten ruckte nur kurz an und hielt wieder, weil
einer der Rotpelze zwei nachlässig verstaute Säcke entdeckte, die nicht ein
mal zugebunden waren. Er zerrte die Säcke zur Mitte der Ladefläche und
verschnürte sie.
Die beiden Kinder hatten diese unerwartete Wendung mit Todesangst ver
folgt, ohne recht zu begreifen, was geschehen war. Fest stand plötzlich nur,
daß sie sich aus eigener Kraft nicht befreien konnten. Das Versteck war zu
einem Gefängnis geworden. Das Beste, was sie aus der Situation machen
konnten, war, sich so ruhig wie möglich zu verhalten. Summend jagte der
Schlitten in die Nacht hinaus. Der riesige Iglu war bald zu einem winzigen
Punkt am Horizont zusammengeschrumpft.
Das Lager der Rotpelze
Harpo erwachte, als behaarte Hände seine Nase berührten. Die Sonne schi
en ihm in sein Gesicht, und er mußte niesen. Aber das machte ihn vollständig
wach.
Herrjeh! Er war eingeschlafen!
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Mehr als ein Dutzend Rotpelze umstanden den Schlitten und stießen
erstaunte Rufe aus. Ein sehr kleines Exemplar dieser Spezies, das kaum grö
ßer als Lori Powitz war, klammerte sich an einen der großen Bären und
brummte ängstlich: „Huh! Zwei Ungeheuer, Mama! Ich fürchte mich!“
Die anderen Bären lachten. Daran, daß Harpo den kleinen Rotpelz
verstanden hatte, konnte man erkennen, daß der Translator die ganze Nacht
über bereits genügend Vokabeln der neuen Sprache aufgenommen hatte,
um mühelos zu übersetzen. Die Bären beachteten den Translator nicht wei
ter. Vermutlich hatten sie sich an das Gerät bereits gewöhnt. Harpo mußte im
Laufe der Nacht ungewollt den Einstellknopf betätigt haben, denn er war si
cher, daß er das Gerät vor dem Schlafengehen abgeschaltet hatte. Vermutlich
hatte das plötzlich einsetzende Quaken aus dem Sack – so mußte den Rot
pelzen die Tätigkeit des mechanischen Übersetzers vorgekommen sein – so
gar zur Entdeckung der blinden Passagiere geführt.
Auch Fantasia krabbelte jetzt mit strubbligem Haar aus ihrem Sack und
musterte mit verstörten Blicken die Umgebung.
Die Rotpelze – in der Mehrzahl waren sie gut zwei Meter groß – hatten ein
weiches, rötlichbraunes Fell am ganzen Körper, auch im Gesicht, sowie
kleine, runde Ohren und überhaupt sehr viel Ähnlichkeit mit irdischen
Braunbären. Sie klopften sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Jemand faßte
Harpo wie eine Katze am Kragen und hob ihn mühelos hoch. Eine laute Baß
stimme grunzte: „Habt ihr so etwas schon gesehen, Kumpels? Ich wette, ihr
habt es noch nicht gesehen! Das ist der größte Zwerg unter der Sonne!“
„Der erste Raufbold ohne Bart!“ rief ein anderer.
„Er ist wahrhaftig größer als jeder Raufbold, den ich kenne“, meinte ein
dritter.
„Wie viele kennst du denn?“
„Zwei.“
So ging es weiter, bis der Rotpelz Harpo sanft zu Boden gleiten ließ und
brummte: „Was wollt ihr bei uns, ihr Winzlinge? Wollt ihr etwa unseren
Schneemann stehlen?“
Die Umstehenden gaben wieder ein brummelndes Gelächter von sich, das
eigentlich ganz gemütlich klang. Fantasia rutschte auf den Knien auf Harpo
zu und klammerte sich an ihn. Mehrere Rotpelzkinder umkreisten die beiden
zögernd und zupften zaghaft an ihren Haaren.
„Die kleine Raufboldfrau könnte fast eine von uns sein“, sagte jemand.
Feingliedrige Finger strichen über Fantasias rote Haarpracht, die wie Kupfer
in der Sonne leuchtete. Aber sonst hatte Fantasia eigentlich wenig Bären
haftes an sich ...
„Harpo, ich ... fürchte mich“, gestand sie leise.
„Ich mich auch“, gab Harpo zu.
„He“, rief an Rotpelz aus, „habt ihr das gehört? Die Raufbolde fürchten sich
vor uns!“
„Ahem“, räusperte sich Harpo. „Wir sind gar keine Raufbolde, sondern
Menschen.“
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„Menschen?“ Erstaunt sahen Harpo und Fantasia mit an, wie die Rotpelze
sich reihenweise auf die Bäuche warfen und prustend vor Lachen mit den
Fäusten auf den Boden trommelten. „Welch ein komisches Wort! Hahaha!“
Ihr Gelächter schwoll zu einem wahren Orkan an.
Kaum hatten sie sich etwas beruhigt, fing einer wieder an, brummte: „Men
schen!“, und schon lagen wieder alle vor Lachen am Boden. Weitere Lach
anfälle folgten, als Harpo und Fantasia ihre Namen nannten. Offenbar
erzeugte die Lautkombination in den Rotpelzen Heiterkeit, denn das Lachen
begann immer schon, bevor der Translator sich an einer Übersetzung ver
suchte.
Ein dicker Rotpelz, der sich die Lachtränen mit einer Pfote aus den Augen
wischte, sagte glucksend: „Ich heiße Fettwanst! Und dies hier“ – dabei deute
te er auf zwei ihm ziemlich ähnliche Bären – „sind meine Brüder Vielfraß und
Heringsbändiger. Das sind doch Namen, die etwas bedeuten! Aber eure? Pah,
die sind einfach nur witzig.“
Nun lachten die Kinder. Die Rotpelze sahen sich erstaunt an. Nicht im
Traum wären sie darauf gekommen, daß ihre Namen für fremde Ohren eben
falls lustig klangen. Murmelnd umstanden sie Harpo und Fantasia und kratz
ten sich verlegen hinter den Ohren.
Beinahe alle Mitglieder des Clans hatten inzwischen den Iglu im Hin
tergrund verlassen und die unfreiwilligen Gäste bestaunt. Harpo faßte sich
ein Herz, stand mutig auf und entschuldigte sich für die heimliche Schwarz
fahrerei.
„Macht nichts“, brummte Fettwanst leutselig. „Seht euch unseren Iglu an
und seid für ein paar Wochen unsere Gäste. Wir fressen niemanden – es sei
denn Fische. Und da ihr ja keine Raufbolde seid, werdet ihr uns sicherlich
auch nicht mit Quengeleien auf den Wecker fallen.“ So übersetzte es zu
mindest der Translator, obwohl die Bären wahrscheinlich gar keinen Wecker
kannten.
Im Innern des Iglus rannten Rotpelze geschäftig hin und her und wirkten
überhaupt nicht so faul, wie das nach Flunkis Erzählungen geklungen hatte.
Fettwanst führte seine Gäste herum, zeigte ihnen die Vorräte an eingefro
renen Fischen und erklärte, daß die geheimnisvolle Fracht des Schlittens aus
Dingen bestand, die man in der Eile des Umzugs hatte zurücklassen müssen.
Ein Schatz war der Inhalt der Säcke nicht gerade, für die Bären aber an
scheinend doch: verpackte Felle, Decken, Kochgeschirr, Gewürze, Angelzeug
und Netze.
Nachdem die wichtigsten Sehenswürdigkeiten betrachtet waren, lud Fett
wanst die Kinder in seine Familienecke ein. Sie lernten seinen kleinen Sohn
kennen. Er hieß Räucherfischvertilger, aber Harpo und Fantasia nannten ihn
Alexander. Fettwansts Frau, eine gemütliche rundliche Bärin, lud sie freund
lich zu einer wohlschmeckenden und stark gewürzten Fischsuppe ein, die ge
rade über einem offenen Feuer kochte. Anschließend zeigte Alexander stolz
seine Angelhakensammlung.
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Obwohl Harpo und Fantasia unbepelzt waren, froren sie in ihren warmen
Anzügen kein bißchen.
Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, ging das Leben der Rot
pelze schnell wieder den gewohnten Gang. Harpo und Fantasia besichtigten
die Arbeitsplätze der Bären, sahen ihnen beim Flicken beschädigter Netze zu
und bestaunten eine kleine Schreinerei, in der ein schon graufelliger Rotpelz
gemeinsam mit zwei Lehrlingen einen Schlitten herstellte. Da Schlitten die
einzigen Transportmittel für die Bären waren, war diese Arbeit sehr wichtig
und wurde deshalb auch von Jüngeren im Clan interessiert beobachtet.
Es stellte sich heraus, daß es keine ausgesprochenen Spezialisten unter den
Rotpelzen gab. Auch der graue Schreiner ging sonst fischen wie die anderen.
Jeder konnte jeden ersetzen, und niemand bildete sich etwas darauf ein,
wenn ihm die eine oder andere Arbeit besser von der Hand ging als dem
Nachbarn.
„Ihr lebt ziemlich einfach“, sagte Harpo zu Alexander. „Wie kommt ihr
dann zu dem Motorschlitten?“ Die Frage war berechtigt, denn die anderen
Schlitten der Rotpelze waren simple Holzschlitten ohne Antrieb.
„Oh“, erwiderte Alexander. „Wir fanden ihn unter einer Schneewehe. Er
war wohl steckengeblieben und dann festgefroren. Wir haben ihn aus dem
Eis herausgetaut und wieder aufgemöbelt. Es ist unser einziger, weshalb wir
auch sehr sorgsam mit ihm umgehen. Alle anderen Fahrzeuge müssen wir
leider selbst ziehen.“
Später feierten die Rotpelze zu Ehren ihrer Gäste ein Fest. Fässer wurden
herangerollt und hölzerne Becher herumgereicht. Es roch nach Tran. Ein
Dutzend Rotpelze stellte sich in zwei Reihen auf und begann mit einem lus
tigen, watschelnden Tanz, bei dem sie jedesmal, wenn sie sich den Rücken
zukehrten, die Hinterteile gegeneinanderknallten und dabei laut jauchzten.
Harpo und Fantasia sahen lachend zu, bis Fettwansts Bruder Vielfraß her
beigerannt kam, einige Bären beiseite schob und rief: „Ein Schlitten nähert
sich! Am Steuer habe ich einen Raufbold und einen komischen Kerl mit
einem Eisenkopf und Schlangenarmen erkannt!“
„Das ist Lonzo!“ Bisher hatten sich die Rotpelze nicht sonderlich für die
Herkunft der beiden Menschen interessiert, und deshalb war auch Lonzo
noch nicht im Gespräch gewesen. Harpo und Fantasia fiel jetzt siedendheiß
ein, daß sie über all dem Neuen nicht mehr an die Freunde gedacht hatten.
Schnell erklärten sie ihren Gastgebern, daß dort Freunde nahten, von denen
nichts zu befürchten war.
Daraufhin strömten brummelnde Rotpelze vor dem Iglu zusammen,
drängten aus allen Familienecken heran und steckten neugierig ihre wittern
den Nasen den Neuankömmlingen entgegen.
Flunkis Motorschlitten umkreiste donnernd das Schneegebäude und hielt
schließlich genau vor dem Eingang. Der Motor spuckte noch einmal, dann
fuhr die Glaskuppel zurück, und Lonzo tauchte auf. Die Bänder seiner See
mannsmütze flatterten im Wind. Harpo stand mit gesträubtem Bart neben
ihm und reckte drohen die Fäuste.
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„Beim Barte des Propheten!“ quäkte Lonzos blechernes Organ über die
Ebene. „Rückt sofort die entführten Matrosen heraus, sonst setzt es Hiebe!
Habt ihr verstanden? Die sieben Plagen schicke ich euch auf den Hals! Hier
spricht der bekannte und allseits gefürchtete Admiral von Schleifstein und
Tuttlingen und rasselt mit dem Tentakel ... äh, mit dem Säbel!“
„Har, har“, grunzte Fettwanst belustigt und sichtlich unbeeindruckt.
„Captain Kidd, feuern Sie eine Breitseite gegen den Dicken ab, der eben ge
lacht hat!“ schnauzte Lonzo.
„Was will der Eisenkerl, Papi?“ fragte ein kleiner Rotpelz.
Lonzo wirbelte mit seinen schlangengleichen Tentakeln, während Flunki
wutschnaubend Schattenboxen übte und danach seine Schnurrbartenden
zwirbelte. Von Lori Powitz konnte man kaum mehr als die Nasenspitze se
hen, weil die Bordwand ziemlich hoch war.
„Lonzo flunkert wider, daß die Heide wackelt“, kicherte Fantasia.
„Wir haben eure Spur im Schnee verfolgt!“ wetterte Lonzo weiter. „Ausre
den sind absolut zwecklos! Wenn Harpo und Fantasia nicht sofort ihre
Gesichter zeigen, werfe ich mit Schneebällen! Oder ich reibe den Dicken, der
vorhin gelacht hat, mit Schnee ein!“ Er drehte sich zu Flunki um und kläffte:
„Captain Kidd, machen Sie die Schneebälle klar!“
Flunki streckte den Rotpelzen die Zunge heraus und legte die Handflächen
hinter die Ohren.
Lachend rannten Harpo und Fantasia auf den wartenden Schlitten zu.
„Lonzo!“ schrie Harpo und winkte. „Du kannst aufhören, wir sind putz
munter. Niemand hat uns etwas getan!“ Rasch erklärten die beiden, wie sie in
dieses Abenteuer geschlittert waren.
Lonzo nahm seine Mütze ab und lispelte: „Nix für ungut, meine Bärinnen
und Bären. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Bärenmeister! Vergeben Sie
einem alternden Rocker seine bösen Worte, dann werde ich Ihnen auch mal
mein Motorrad leihen!“
Die Rotpelze brüllten und brummten vor Lachen. Viele stürmten nun auf
Lonzo los und wollten ihn unbedingt betasten. Im Triumphzug wurde er in
den Iglu getragen.
Flunki, der die Rotpelze sichtlich ignorierte, stiefelte mißtrauisch über den
mit Tierhäuten ausgelegten Boden, rümpfte die Nase und meckerte, weil nie
mand einen roten Teppich für ihn ausgerollt hatte. „Immerhin“, knurrte er,
„kommt es nicht alle Tage vor, daß einer der bekannten und beliebten Rauf
bolde in einem FaulpelzLager erscheint.“
Das hatte ein Rotpelz namens Alleswisser gehört. Er baute sich grunzend
vor Flunki auf. „Hast du FaulpelzLager gesagt?“ schimpfte er los. „Ich möch
te dir altem Quengelbruder einmal sagen, daß, als es vor sechshundert Jahren
darum ging, den Krabbler Jupp, der sich überfressen hatte, aus einem Erd
loch zu ziehen ... also, daß damals wir Rotpelze ihn mit vereinten Kräften ...“
„Ha!“ rief Flunki mit hochrotem Kopf. „Jawoll, vor sechshundert Jahren
habt ihr zuletzt richtig gearbeitet und seitdem auf der faulen Haut gelegen!
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Und selbst damals habt ihr die gesamten Wintervorräte der Raufbolde auf
gefressen, so daß Jupp beinahe verhungert wäre!“
„Habt ihr uns damals zu einem Imbiß eingeladen oder nicht?“ entgegnete
Alleswisser. „He?“
„Imbiß!“ röhrte Flunki. „Sagtest du Imbiß? Dieser Imbiß hätte für meinen
Clan ein Jahrzehnt gereicht! Wenn damals der einzige Rotpelz, den selbst wir
Raufbolde ehren und achten, euch nicht davon abgehalten hätte ...“
„Hühnerschreck?“ höhnte Alleswisser mit gefletschten Zähnen. „Der war ja
nicht einmal richtig rot! Eher hatte er ein rotbraunes Fell ...“
„Willst du mich etwa der Lüge bezichtigen?“ kreischte Flunki und machte
seinen bekannten Luftsprung, wobei er sich fast überschlug. Der Helm
rutschte ihm über die Augen. „Frostwanzen und Schneekakerlaken! Eis
nattern und Graupelwürmer! Haltet mich fest, damit ich diesen Wicht nicht
anfalle!“
Die Rotpelze, die beide Streithähne in einer dichten Traube umlauerten,
klatschten bei diesem Ausbruch spontan Beifall. Offensichtlich führten Flun
ki und Alleswisser hier eine Art Theaterstück auf. Harpo manipulierte an sei
nem Translator, während Flunki und der Rotpelz weiterhin aufeinander
einhackten. Die Kinder bekamen eine „gereinigte“ Fassung der Schimpfkano
naden zu hören und hielten sich dabei den Bauch vor lachen.
Flunki schrie: „Du schnatternder Eisvogel! Du wagst, meine Worte durch
den Dreck zu ziehen? Zieh blank, Halunke, und kämpfe wie ein Mann! Nie
mals in meinem Leben lief mir ein solcher Frechling über den Weg! Mein be
leidigtes Blut schreit nach Raaache!“
Der Translator übersetzte jedoch diplomatisch: „Herr Kommerzienrat, si
cherlich haben sie meine Worte mißverstanden. Ich bitte Sie freundlich,
lassen Sie uns darüber nicht streiten. Ich bin sicher, daß alles nur meine
Schuld ist. Ich verzeihe Ihnen großmütig und bitte Sie, mir huldvoll die glei
che Ehre zu erweisen! Lieber Herr Professor!“
Alleswisser höhnte: „Giftzwerg! Schrapphals! Der Lindwurm möge dich in
den Hintern beißen! Dieser Winzling wagt es, mir in einem solchen Gossen
jargon seine vor Unbildung strotzenden Beleidigungen an die Rübe zu
werfen! Ich schnappe über! Ich werde verrückt! Wo ist mein Knüppel? Bringt
mir sofort meinen dicksten Knüppel!“
Der Translator übersetzte brav: „Verehrter Herr Generaldirektor, verzeihen
Sie die Unbeherrschtheit meiner Ausführungen. Zweifellos war ich es, der
ihre Worte falsch auslegte. Jetzt verstehe ich alles viel besser. Vielen Dank!
Darf ich Sie zu einem Umtrunk in meine bescheidene Familienecke ein
laden?“
„Nun ist es aber genug“, keuchte Harpo lachend. Aber der letzte Satz schien
echt gewesen zu sein, denn Flunki und Alleswisser marschierten Arm in Arm
davon, was ziemlich komisch aussah, weil der große Rotpelz sich dabei auf
alle viere hinablassen mußte.
„Jetzt wird ein Fläschle Wein gesoffen und ein lustig Lied gepfoffen“,
vermutete Lonzo.
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Und Fettwanst fügte hinzu: „In Wahrheit sind die beiden seit Jahren dicke
Freunde. Sie tun immer nur so, als könnten sie sich nicht ausstehen, hihi!“
Die Reise ins Sommerland
Am nächsten Tag fragte Lori den erstaunten Fettwanst: „Sag mal, Fett
wanst, wer ist der Häuptling dieses Iglus?“
Der Rotpelz kratzte verständnislos seine Nase. „Häuptling?“ meinte er ent
geistert. „Was ist das denn? Kenn’ ich gar nicht, das Wort.“
„Na, jemand, der den anderen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben“,
erwiderte Lori.
„Was die anderen tun und lassen sollen, wissen sie doch selbst am besten“,
sagte Fettwanst. „Wie soll das ein einzelner wissen? Wie sollte ich zum Bei
spiel wissen, was Vielfraß tun will?“
Dann grinste er plötzlich und fügte hinzu: „Na also, wenn ich ganz ehrlich
bin: Wir haben tatsächlich so was. Bloß ...“
„Wie heißt denn der Häuptling?“ fragte Harpo.
„Oh“, machte Fettwanst. „Er heißt Schnellschwimmer ...“
„Schnellschwimmer?“ echote Lori.
„... und Vielfraß ...“
„Vielfraß auch? Ja, habt ihr denn zwei Häuptlinge?“
„Und Fettwanst, Schlafmütze, Regenmacher, Netzflicker“
Fettwanst begann mit den Armen zu rudern und zählte alle Clanmitglieder
auf, die ihm gerade einfielen, auch die Frauen und Kinder. Als er fertig war,
weil er ziemlich oft nachdenken mußte, keuchte er erschöpft. „Wie ihr seht,
ist bei uns jeder Häuptling. Jeder bestimmt über sich selbst. Früher hatten
wir tatsächlich mal einen, der alles allein bestimmte: wann wir fischen
gingen, wann Schlafenszeit war, was die Kleinen tun und was sie nicht tun
durften“ Fettwanst grinste. „Das haben wir alles abgeschafft. He, he ... kommt
mal mit!“
Er nahm Lori und Fantasia bei den Händen und stapfte mit ihnen – Lonzo,
Harpo, Flunki und Alexander im Schlepptau – in eine Ecke des Iglus, wo of
fensichtlich gerade eine Versammlung stattfand.
Zehn oder mehr Rotpelze saßen auf Bänken aus Schnee und hörten einem
weiteren Rotpelz zu. Er stand auf einem Podest, ebenfalls aus Schnee, wir
belte mit den Armen und brüllte mit Donnerstimme: „Wählt mich zum
Häuptling, Leute, dann wird hier alles anders werden! Ich verspreche euch:
besser, viel besser. Ich werde Tag und Nacht auf der faulen Haut liegen, grun
zen und futtern – und es wird mir eine helle Freude sein, euch beim Arbeiten
zuzusehen. Alle werdet ihr großen Respekt vor mir haben, mich untertänigst
grüßen und meine Pantoffeln bereitstellen! Wählt mich zum Häuptling, Leu
te, dann habe ich ein feines Leben!“
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Die Versammelten brachen in frenetisches Gelächter aus. Mehrere Rot
pelze schrien laut: „Buh! Buh!“
Harpo schüttelte den Kopf. „Also, den möchte ich auch nicht zum Häupt
ling haben, wenn er gar nichts tun will, als auf anderer Leute Kosten leben“
„Wartet ab“, flüsterte Fettwanst amüsiert. „Gleich kommt der nächste Red
ner.“
Ein anderer Rotpelz kletterte auf das Podest, räusperte sich und begann mit
vornehm gesetzten Worten: „Liebe Mitbürger! Ihr kennt mich alle als einen
ehrenwerten Rotpelz aus eurer Mitte. Ich bin volksverbunden und stets für
euch da. Ich kenne eure Probleme bestens, weil ich mich draußen im Lande
umgeschaut habe, und will mich für deren Lösung einsetzen. Deshalb gebt
mir eure Stimme!“
„Der ist gut“, sagte Harpo.
„Pscht“, machte Alexander lächelnd. „Warte ab!“
Einer der zuhörenden Rotpelze erhob sich von seiner Schneebank und
fragte: „Sehr gut gesprochen, wirklich! Aber wie stellen Sie sich zum Beispiel
die Arbeitsverteilung vor? Möchten Sie lieber Netze flicken oder unter Wasser
fischen?“
„Ahem“, meinte der Redner, „ich hatte eigentlich daran gedacht, mein
Können anders einzusetzen.“
„Wie zum Beispiel?“ rief Fettwanst von hinten.
„Nun ... indem ich für euch denke und plane“
„An richtige Arbeit haben Sie dabei nicht gedacht?“ fragte Fettwanst weiter.
„Nun ... ehrlich gesagt“ Der Redner fummelte an seinem Kragenfell und
schüttelte den Kopf.
„Und daran“, sagte Fettwanst zu Harpo, Fantasia und Lori, „erkennt ihr,
daß beide Redner dasselbe wollen, wenn sie es auch mit anderen Worten
sagen. Und wißt ihr einen Grund, weshalb wir uns diese Schneeflöhe in den
Pelz setzen sollten?“
„Mensch“, sagte Harpo, „das stimmt ja! Die hätten euch alle beide
verschaukelt. Bei dem zweiten hätte ich es nicht einmal gemerkt, so ge
schickt, wie der geredet hat.“
„Die beiden Redner heißen Schwätzer und Sabbler“, erklärte Fettwanst hei
ter. „Sie halten mehrmals im Monat solche Wahlreden.“
„Ja, aber“, meinte Fantasia erstaunt, „wenn sie solche Dinge erzählen, wird
sie doch niemand wählen! Wer will schon einen Häuptling, der nichts tut und
von den anderen dafür auch noch mit Respekt gegrüßt werden soll?“
Ein älterer Rotpelz, der den Einwand gehört hatte, drehte sich um. „Wir
wollen ja gar keinen Häuptling. Und Schwätzer wie auch Sabbler wären die
letzten, die einen solchen Beruf ergreifen möchten. Sie halten ihre Reden nur,
um uns daran zu erinnern, wie gut es uns geht, seitdem wir die Herrschaft
von Rotpelzen über andere Rotpelze abgeschafft haben.“
Bald darauf kam eine Gruppe von Rotpelzen vom Fischfang zurück. Die
Kinder halfen eifrig mit, die in den Säcken verstaute Beute zum Vorratslager
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zu schleppen, wo bereits andere Rotpelze warteten, um die Nahrung zu ver
teilen.
„Bekommen auch die etwas, die nicht beim Fang mitgeholfen haben?“
fragte Fantasia neugierig.
„Sicher. Dafür haben sie ja andere Arbeit geleistet. Zum Beispiel Netze
geflickt oder Fässer gebaut. Und morgen gehen sie vielleicht fischen.“
„Ja, und wenn nun einmal jemand weniger tut als die anderen? Bekommt
er dann auch weniger Fische?“
„Jeder von uns bekommt so viel, wie er essen kann“, brummte Fettwanst.
„Sieh mich an! Ich futtere sehr gern Fisch, mag aber dafür keinen Tran.“ Er
zog die schwarze Nase ganz kraus. „Tran trinkt aber Vielfraß ungeheuer gern,
der wiederum bestimmten Fisch überhaupt nicht mag. Es pendelt sich alles
irgendwie ein. Und wer mal weniger arbeitet, weil er gerade keine Lust hat,
sich nicht gut fühlt oder weil ihm die Arbeit einfach nicht recht gelingen will,
der macht das am nächsten Tag mit einer anderen Arbeit wieder wett.“
„Hmm...“ Fantasia waren solche Gedankengänge ungewohnt. „Was ist
aber, wenn einer einfach soviel nimmt, wie er will, obwohl er es gar nicht
braucht? Haben dann nicht andere zu wenig zu essen?“
„Wieso?“ Fettwanst runzelte die Brauen. „Niemand ißt mehr, als er in sei
nen Bauch hineinstopfen kann. Warum sollte er zu viel nehmen? Es würde
doch verderben.“
„Wenn du die Menschen näher kennen würdest“, warf Harpo lächelnd ein,
„würdest du diese Frage schon verstehen. Bei uns gibt’s das nämlich ziemlich
oft, daß einer mehr an sich rafft, als er brauchen kann.“
Fettwanst nickte und sagte: „Früher versuchte auch jeder Rotpelz, größer
zu sein und mehr zu besitzen als die anderen. Dabei gingen Freundschaften
zu Bruch, und die Leute sprachen nicht mehr miteinander. Wenn sie sich
trafen, hatten sie nichts Besseres zu tun, als gegenseitig anzugeben, daß sich
die Igluwände bogen. Und eines Tages ging das nicht mehr so weiter. Die
Rotpelze setzten sich zusammen und verjagten diejenigen, die ihnen diesen
Schneefloh ins Ohr gesetzt hatten, warfen alle ihre Güter in einen Topf und
leben seither in Frieden.“
Harpo erklärte, daß die Kinder es auf der EUKALYPTUS genauso machten.
Was sie in der Kindheit auf der Erde erlebt hatten, war ihnen allen eine Lehre.
Auf der Jagd nach dem besseren Leben hatte man die Erde nahezu vernichtet.
Es gab dort keine Wälder mehr und fast nur noch künstliche Nahrung. Wenn
es im Winter einmal schneite, dann war der Schnee nicht weiß wie hier auf
Nordpol, sondern schmutziggrau und roch nach Chemikalien. Die wenigen
Naturlebensmittel, die es noch gab, wurden in abgedichteten Treibhäusern
herangezogen und waren so teuer, daß nur wenige sie sich leisten konnten.
Der Raubbau an der irdischen Natur hatte dazu geführt, daß die Menschen
nicht mehr im Einklang mit ihrer Umwelt leben konnten. Sie wurden
aggressiv und gemütskrank. Allergien tauchten schneller auf als wirksame
Medikamente dagegen zu produzieren waren. Viele Ungeborene erkrankten
bereits im Mutterleib an neuen, unbekannten Krankheiten.
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Wegen solcher Krankheiten waren die meisten Kinder an Bord der EUKA
LYPTUS gekommen, die als eine Art Sanatorium die Erde umkreiste, bis eine
noch immer ungeklärte Katastrophe das Schiff in den Kosmos entführte und
die Mannschaft flüchten ließ. Aus eigener Kraft und mit Hilfe der Welt
raumärzte hatten die Kinder die auftauchenden Probleme gemeistert und das
Schiff schließlich in Besitz genommen.
Fantasia war es, die von den Weltraumärzten erzählte. Als sie zu Ende gere
det hatte, platzte Alexander heraus: „Hinter der Schneegrenze, dort wo die
Blumen blühen und die Erde überall grün ist, steht ein Iglu aus Eisen. Da lebt
ein Wesen, das haargenau so aussieht, wie du uns die Weltraumärzte be
schrieben hast. Mit einem birnenförmigen Kopf. Und ein anderes lebt bei
ihm. Es ist so winzig, daß es auf meiner Handfläche Platz hätte.“
„Mit einer gaaanz langen Nase?“ trompetete Lonzo. Harpo und die anderen
horchten auf.
„Ja“, rief Alexander. „Mit einer gaaanz langen Nase und Schlappohren. Es
ist sehr niedlich und sehr nett. Wir haben zusammen gespielt, als mein Vater
mich in den Eiseniglu brachte, weil meine Zähne wackelten.“
„Ein Weltraumarzt auf diesem Planeten?“ Die Kinder staunten und steck
ten die Köpfe zusammen. In der gleichen Sekunde wurde ein neuer Plan ge
boren. „Den müssen wir unbedingt besuchen!“
Sie rannten alle zusammen zu Flunki, der sich gerade wieder mit seinem
heimlichen Freund Alleswisser in den Haaren lag.
Der blinde Passagier
Flunki war sofort Feuer und Flamme, als er von dem Plan der Kinder er
fuhr. Selbstverständlich war er gern bereit, die Freunde in seinem Schlitten
zum Sommerland zu fahren. Der Schlitten war ja ein Mehrzweckfahrzeug,
das sich genauso gut auch außerhalb von Schneezonen auf einem Luftpolster
bewegen konnte.
„Beim Schneebesen!“ knurrte er, als Harpo seine Bitte vorbrachte. „Habe
ich euch nicht tausendmal erklärt, daß alles, was mir gehört, auch meinen
Freunden gehört?“
Schüchtern meinte Harpo: „Nun, vielleicht hast du etwas anderes vor ...“
„Papperlapapp! Klar fahren wir zu dem Zahnklempner hinaus! Der kann
sich bei der Gelegenheit direkt mal die Reste meiner Beißerchen ansehen.
Worauf warten wir noch? Alles aufsteigen, und ab geht es!“
Ganz so eilig hatten es die Freunde nun noch nicht. Schließlich mußte man
sich erst einmal ausgiebig von den Rotpelzen verabschieden. Und die Zu
rückgebliebenen, sowohl die Besatzungsmitglieder der EUKALYPTUS wie
auch die Raufbolde des BorroClans und ihre Gäste, mußten über den neuen
Ortswechsel informiert werden. Das war aber schnell getan. Micel Fopp, der
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gerade in der Funkzentrale des Beibootes A9 saß, freute sich, die Freunde zu
hören. Inzwischen hatte ein richtiger Pendelverkehr zwischen dem Raum
schiff und den Raufbolden eingesetzt. Die Boote kamen kaum zur Ruhe. Sie
schafften die EUKALYPTUSLeute zum Nordpol und die neugierigen Rauf
bolde auf das Sternenschiff.
Der Abschied von den freundlichen und gar nicht so faulen Rotpelzen fiel
allen schwer. Selbst Flunki, der vor Verlegenheit freundlich und grob zugleich
wurde und sich von Alleswisser mit einigen Knüffen verabschiedete. Alex
ander gab allen einen sanften Schmatz auf die Nase, worauf seine Mutter
meinte: „Wir beschmatzen uns immer auf die Nase oder reiben die Nasen
gegeneinander, wenn wir uns mögen. Unser Sohn scheint euch sehr gern zu
haben.“ Bei diesen Worten lächelte sie geheimnisvoll.
Fettwanst winkte mit einem rotgepunkteten Taschentuch, das ihm Lori ge
schenkt hatte. Die Rotpelze brummten ein Lied, das mit Abschied und
Wiedersehen zu tun hatte, außerdem von einem Raufbold handelte, der ewig
nörgelte. Es hörte sich sehr lustig an. Merkwürdig war eigentlich nur, daß
sich Alexander verdrückt hatte, als sich der Motorschlitten dröhnend in Be
wegung setzte.
Das Gefährt glitt knirschend über die Schneedecke und ließ das Lager der
Rotpelze schnell hinter sich. Der Raufbold stand hinter dem Steuer, ließ aber
gelegentlich auch Harpo und Fantasia die Bedienung übernehmen, nachdem
er ihnen alles genau erklärt hatte. Lonzo schaukelte mit seinen Greiftentakeln
die kleine Lori in den Schlaf und sang mit leiser, knarrender Stimme: „Wir
fahren durch bis morgen früh und singen bumsfallera ...“
Stunden später, als der Rieseniglu der Rotpelze weit hinter ihnen lag und
die Sonne Archimedes sich anschickte, hinter dem Horizont zu
verschwinden, begann Flunki plötzlich an den Armaturen herumzufummeln.
„Sack Zement!“ schimpfte er in sich hinein. Und dann: „Der Eierdieb soll
mich holen!“ Harpo sah, daß Flunkis Gnomengesicht sich in tausend Falten
legte und der Bart sich wie der Stachelpanzer eines Igels sträubte.
„Ist was?“ erkundigte er sich.
„Bei allen Rutschbahnen des Universums!“ fauchte der Raufbold. „Mit dem
Treibstoff ist etwas faul! Lonzo!“
„Zu Befehl, Herr Admiral!“
„Sei ehrlich!“ Flunki hob einen Zeigefinger und stieß ihn gegen Lonzos di
cken Metallbauch. „Hast du dich etwa erdreistet, von unserem Kraftstoff zu
trinken?“
„Iiiiich?“ krächzte der Roboter empört. „Warum werde ich bei solchen Ge
legenheiten immer verdächtigt? Bei meiner kalten Seele! Nie würde ich das
tun. Nie und nimmerlich!“ Zum Eid hob er zwei Tentakel in die Luft, worauf
Lori erwachte und sich die Augen rieb.
Der Raufbold setzte seinen Helm ab, wischte sich mit einem riesigen ka
rierten Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn, bleckte die Zähne und
knurrte: „Also wenn ich den erwische, der uns die 43.212,6 Schambuddels
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Treibstoff geklaut hat! Die fehlen nämlich. Na ja, könnte auch sein, daß wir
ein Leck ...“
„Wieviel sind denn 43.000 Schambuddels, Flunki?“ fragte Lori gähnend.
„Sicherlich sehr viel, oder?“
„Das will ich meinen“, erwiderte der Raufbold. „Mindestens ein Fingerhut
voll. Ein Skandal!“
Flunki überließ Harpo das Steuer und rieb sich die Hände. Noch immer
raste der Motorschlitten über die weite, weiße Landschaft dahin. Dann schob
der kleine Raufbold Fantasia beiseite und drängte sich an Lonzo und Lori
vorbei zu einem kleinen, nur mit einem Fellvorhang bedeckten Durchgang,
der zum Laderaum führte. Blitzschnell riß er den Vorhang zur Seite.
„Ha!“ brüllte er mit Donnerstimme. „Dachte ich mir’s doch!“
„Ich habe euren Kraftsaft nicht getrunken, Herr Raufbold!“ rief der kleine
Rotpelz, der dort stand und sich nun ängstlich die Hände vor die Augen hielt.
„Ich war es nicht, ganz gewiß nicht!“
„Ja, ist denn das ...“ Flunki machte wieder Anstalten, auf der Stelle zu explo
dieren. Er wirbelte herum, stand plötzlich auf den Händen, strampelte mit
den Beinen und biß schließlich wütend in den Fellteppich, der den Boden der
Kabine bedeckte.
„Alexander!“ dröhnte Lonzo blechern.
„Wo kommst du denn her?“ fragten Lori und Fantasia freudig überrascht
wie aus einem Munde. Harpo entglitt fast das Steuer. Rasch drosselte er das
Tempo. „Bist du etwa von zu Hause abgehauen?“ fragte er.
Der kleine Rotpelz, der jetzt schüchtern die Fahrerkabine betrat, schien
dem Weinen ernsthaft nahe zu sein. „Wenn’s gestattet ist, edle Damen und
Herren, edle Eisenmaschine, edler Oberraufbold: Mein Herz dürstet nach
Abenteuern, die ich, so wag’ ich’s anzutragen, an eurer geschätzten Seite in
fernen Landen zu erleben hoffe. Meine Eltern huben zwar an, mich zu war
nen, weil alldorten in der weiten, schneelosen Welt sich reichlich viel Gefah
ren über den Häuptern kleiner Rotpelze zusammendräuen, jedoch konnte
mich nichts zurückhalten, nicht länger mehr wollte ich fürderhin Angelhaken
sortieren ... Und so bin ich allhier.“
„Was spricht der denn auf einmal so komisch?“ fragte Lori kichernd.
„Jemand muß den Translator verstellt haben“, meinte Harpo. Flunki, in
dessen Ohren alles viel normaler geklungen haben mußte, da er die Rotpelz
Sprache verstand, sah einen Moment verständnislos drein, lachte dann aber
mit, weil man schließlich Gründe zum Lachen niemals verpassen soll.
„So seid ihr am Ende gar nicht vergrätzt und gram?“ fragte Alexander noch,
dann hatte Harpo den Translator wieder einjustiert. Bei dem Gelächter der
Freunde hatte der kleine Bär Hoffnung geschöpft.
Harpo schüttelte den Kopf, daß die langen Haare nur so flogen. „Ich be
stimmt nicht. Wenn Flunki nichts dagegen hat ... kannst du sicherlich mit uns
mitkommen.“
Flunki murmelte undeutlich etwas, das wie: „...Umpph, grrrumph ... Bären
bengel ... grrr ... aber nett ... soll mitkommen ...“ klang.
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Alexander atmete auf und meinte ziemlich selig: „Da bin ich aber beruhigt!
Ich dachte schon, ich hätte euch gründlich verärgert.“
Lonzo winkte den Ausreißer zu sich heran: „Du hast doch wohl eine
Erlaubnis von deinen Eltern für dieses Unternehmen?“ fragte er und tat sehr
grimmig. Aber in dieser Beziehung konnte ihn Alexander beruhigen. Jeder
junge Rotpelz ging einmal im Leben auf Wanderschaft und ließ sich dann gar
nicht selten in einem anderen Clan nieder. Damit wurde nicht nur erreicht,
daß die Bärenjungen und Bärenmädchen sich auf eigene Füße stellten und
die Welt kennenlernten, sondern gleichzeitig kam es auch dazu, daß man in
anderen Clans Freunde und Verwandte hatte und immer tüchtig feiern konn
te, wenn man einander mal begegnete. Da sich Harpo an das geheimnisvolle
Lächeln von Alexanders Mutter beim Abschied erinnerte, war damit wohl
ziemlich klar, daß der junge Rotpelz nicht flunkerte. Zumindest die Mutter
hatte von seinem Plan gewußt.
Als Flunki wieder das Steuer übernahm, erklärte er, daß er durch die Treib
stoffanzeige darauf gekommen war, daß sich eine zusätzliche Person oder
andere unbekannte Fracht an Bord befinden mußte. Die Instrumente waren
sehr empfindlich und zeigten bereits unerhebliche Differenzen an.
Kaum hatte er seine Erklärung abgegeben, als der Motor zu stottern be
gann. Sofort ging der Raufbold mit der Geschwindigkeit herunter.
„Da haben wir den Salat!“ brüllte Flunki. „Die elende Schneegurke
verweigert den Gehorsam! Das lasse ich mir nicht gefallen!“
„Tut doch etwas“, rief Harpo, dem der Gedanke, inmitten dieser Schnee
wüste zu stranden, gar nicht gefiel.
„Alle Mann von Bord!“ quakte Lonzo. „Frauen und Roboter zuerst. Oder
noch besser: Sämtlichen Ballast abwerfen.“
„Ich springe ja schon hinaus“, meinte Alexander schuldbewußt, aber Lori
und Fantasia hielten ihn an seinem glänzenden Fell zurück. „Aber du doch
nicht!“
Spotz, spotz! machte der Motor, dann setzte er endgültig aus. Der Schlitten
fegte noch einige Dutzend Meter weiter, schließlich fuhr er sich im lockeren
Schnee fest. Am Horizont war ein Grünstreifen aufgetaucht, aber bis dorthin
erstreckten sich noch viele Kilometer Schneeboden.
Flunki vertauschte fluchend seine Kleidung mit einer blauen Leinenmon
tur und zeigte dabei zum erstenmal, daß er dicke, graue, flauschige Un
terhosen trug. In dem Monteuranzug bot er ein ganz ungewohntes Bild und
wirkte eigentlich gar nicht mehr wie ein Raufbold, sondern wie ein viel zu
klein geratener Monteur von der Erde. Er zerrte ein paar Bodenbleche hoch
und krabbelte in einen darunter sichtbar werdenden Tunnel. Nach wenigen
Minuten kam er ölverschmiert zurück und ließ erst einmal einen schreckli
chen, meterlangen Dauerfluch los, bei dem sich Alexanders Pelz sträubte.
„Wir haben einen Plastikbulbsel verloren“, erklärte er schließlich. „Und
ausgerechnet einen, für den kein Ersatz an Bord ist!“
„Plastikbulbsel?“ fragte Lonzo. Ein lautes Klicken ertönte, dann öffnete sich
auf seiner Brust eine Klappe, und ein Kästchen mit allerlei Schräubchen,
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Dübeln, Haken, Nieten und Pfropfen sprang heraus. „Was immer ein Plastik
bulbsel sein mag: Vielleicht habe ich einen!“ rief er. „Schon Captain Kidd lob
te stets mein Sortiment an Tauwerk, Rum und Kleinodien.“
„Ha!“ rief Flunki, stürzte auf den Kasten zu und fischte eine Schraubenmut
ter mit selbstsichernder Kunststoffauskleidung heraus. Genau einen solchen
Bulbsel brauche ich! Dieser Seemann ist ja ein wandelnder Ersatzteilkasten!“
„Nicht verzagen, Lonzo fragen“, sagte der Roboter gelassen und ließ sein
Kästchen und die Klappe verschwinden, während Flunki bereits wieder in
den Tunnel hinabstieg.
Während noch repariert wurde, steckte Alexander seine Bärennase schnüf
felnd aus dem Schlitten hinaus und sog die Luft ein. „Herrlich riecht es hier“,
meinte er. „Wie im Sommer bei uns zu Hause.“ Er deutete auf die Grashalme,
die vereinzelt doch schon aus der nur noch dünnen Schneedecke ragten.
„Bald sind wir im Grünen. Ich kann es kaum noch erwarten.“
Bis auf Flunki, der reparierte, und Lonzo, der überflüssige Ratschläge für
die Reparatur gab, stiegen jetzt alle aus und liefen ein Stück dem Horizont
entgegen. Hier war es längst nicht mehr so kalt wie im Lager der Rotpelze.
Man schwitzte sogar ein bißchen in den dicken Anzügen. Fantasia entdeckte
in der Ferne einen ersten Baum, und Lori deutete verzückt auf ein kleines
Tier mit gelbem Pelz und buschigem Schwanz, das sie aus tiefschwarzen
Augen neugierig anstarrte und dann davonhuschte.
Die Luft war herrlich – sie schmeckte noch besser als Eiskrem und war mit
dem künstlichen Atemgemisch auf der EUKALYPTUS überhaupt nicht zu ver
gleichen. Und man konnte sich nach allen Seiten frei bewegen. Es gab keine
Metallwand, keine Decke und keine Treppe. Erst jetzt erfaßten die Kinder von
der Erde so richtig, was es hieß, einen ganzen Planeten vor sich zu haben.
Fantasia umarmte ganz überraschend Harpo. In ihren Augen stand die stum
me Frage, ob sie nicht alle die EUKALYPTUS vergessen sollten, um sich hier
irgendwo anzusiedeln. Bisher war ihnen allen dieser Planet als einzige Eis
wüste erschienen. Mit dem Grün erwachte ein neuer Unternehmungsgeist.
„He, ihr Träumer!“ bellte Flunki von weitem und schwang dabei einen
Schraubenschlüssel, der länger war als sein Unterarm. „Es geht weiter!“
Harpo zuckte zusammen. Er hatte tatsächlich für einen Moment lang ein
Bild aus einer greifbar nahen Traumwelt vor Augen gehabt. Es gab dort einen
Iglu am Rande des Schnees, in dem er mit Thunderclap, Ollie, seiner
Schwester Anca, Lori, Lonzo und all den anderen, vor allem aber mit Fan
tasia, lebte. Man tat, wozu man gerade Lust hatte: Schlitten fahren, fischen,
Netze flicken ...
„Kommt, Freunde“, sagte er und nahm erst Lori, dann auch Fantasia bei
der Hand. „Unser Weg ist noch nicht zu Ende!“
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Die Station des Weltraumarztes
Als der Schlitten die Schneegrenze überquerte, gab es einen leichten Ruck,
dann schaltete Flunki den LuftkissenAntrieb ein. Es wurde ein bißchen
lauter, aber sonst bemerkte man keinen großen Unterschied. Das Fahrzeug
schwebte jetzt dreißig Zentimeter über dem Boden dahin, getragen von
einem Polster aus zusammengepreßter Luft. Da die milde Witterung die
Schutzkuppel überflüssig machte, drückte der Raufbold kurzerhand einen
Knopf. Die durchsichtige Kuppel glitt zwischen die Blechverkleidung.
„Sollte mich gar nicht wundern, wenn sich diese Kiste auch noch in eine
Badewanne verwandeln läßt“, äußerte Harpo anerkennend.
„Das kannst du haben!“ rief der Raufbold und ließ einen dünnen
Wasserstrahl aus dem Armaturenbrett zielsicher in Harpos Gesicht schießen.
Flunki lachte dröhnend, als sich Harpo wie ein nasser Pudel schüttelte, wäh
rend die anderen Passagiere sich schreiend in Sicherheit brachten.
„Meine Frisur, meine herrliche Frisur!“ zeterte Lonzo, der nicht ein einziges
Haar unter seiner Matrosenmütze hatte.
Fünfhundert Kilometer hatten sie bereits zurückgelegt. In dieser Region
war von Schnee nicht mehr die geringste Spur zu bemerken. Vor ihnen öffne
te sich eine weite, grünblaue Ebene mit verstreuten Baumoasen. Die Blätter
der Bäume wuchsen direkt aus den Stämmen und waren so groß, daß man
sich dahinter verstecken konnte. Goldene Blütensporen trieben wie in Zeitlu
pentempo durch die Luft. Überall summte und zirpte es aus der hellblaumil
chigweißen Luft.
Flunki hatte nicht übertrieben, als er die Schönheit und Vielfalt des Plane
ten pries: Scharen von rotgefiederten Vögeln mit Krummschnäbeln und
Stelzfüßen sahen neugierig zu, als das Fahrzeug an ihnen vorbeizischte; ein
Rudel pferdeähnlicher, aber nur hundegroßer Tiere mit schwarzweißgefleck
tem Fell und spitzen Hörnern auf den Nasen flitzte auseinander, als sie einen
seichten Fluß durchquerten, in dem die Tiere gerade badeten. Das Wasser
spritzte und sprudelte, daß es eine wahre Pracht war. Aus dem Uferschilf ent
fernten sich aufgeschreckt blaue Eidechsen. Im Fluß tummelten sich see
hundgroße Fische, die man durch das kristallklare Wasser gut erkennen
konnte. Gelegentlich steckten sie ihre Köpfe über den Wasserspiegel, fuhren
sich mit langen Flossen über ihre haarigen Schnurrbärte und schickten zor
nige Jaullaute hinter dem Fahrzeug her. Am Himmel segelte ein drohender,
schwarzer Schatten: ein langhalsiger Vogel, der wie ein Geier einen kahlen
Kopf und eine dichte, aufgeplusterte Halskrause hatte.
„Das ist ein Eierdieb!“ rief Flunki aufgeregt, als Lori ihn auf den Vogel auf
merksam machte.
„Warum hat er denn diesen komischen Namen?“ wollte Lori wissen.
„Potzdonner, euer Wissensdurst gefällt mir“, sagte Flunki und zwirbelte die
Schnurrbartenden. „Der Kamerad heißt so, weil er seine eigenen Eier nicht
ausbrütet. Sie gefallen ihm nämlich nicht, weil sie rosa sind. Dafür klaut er
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sich dann die schönen, goldgesprenkelten Eier der Höhlensalamander und
schleppt sie in sein Nest. Groß genug ist er ja dazu, und mit seinen Klauen
möchte ich lieber keine Bekanntschaft machen. Ich habe einmal beobachtet,
wie ein kleiner Salamander in einem EierdiebNest ausschlüpfte. Der Vogel
hat vor lauter Schreck fast alle Federn abgeworfen. Hohoho! Eigentlich müß
ten die Eierdiebe ja mit der Zeit lernen, daß aus den Eiern, die sie ausbrüten,
Salamander krabbeln, aber sie sind einfach zu dumm dazu. Jahr um Jahr ma
chen sie das gleiche!“
„Und wer brütet ihre eigenen Eier aus?“ wollte Harpo wissen.
„Das schafft die Sonne allein“, antwortete Flunki zwinkernd. „Vorausge
setzt, sie fallen vorher nicht einem Eiersammler in die Hände.“
„Und was ist das für ein Tier?“ fragte Lori, begierig darauf, ein neues, phan
tastisches Wesen geschildert zu bekommen.
„Oh“, meinte Flunki grinsend. „Das sind Wesen mit großen Bärten und
Eisenhelmen. Man nennt sie auch Raufbolde.“
Fettwanst hatte ihnen eine Landkarte mitgegeben, die aus einem Stück Le
der mit eingeritzten Angaben bestand. Aber Flunki kannte den Weg so gut,
daß er die Karte nicht benutzen mußte. Schließlich konnte er stolz auf einen
Punkt am Horizont deuten, der schnell größer wurde und sich als die Station
des Weltraumarztes entpuppte – denn nach allem, was sie bisher gehört
hatten, konnte ja kaum ein Zweifel daran bestehen, daß ein Angehöriger
dieser Rasse sich hier aufhielt. Das Gebäude hatte eine gewisse Ähnlichkeit
mit einem irdischen Observatorium und trug auch tatsächlich in einem
Schlitz der Rundung ein gewaltiges Fernrohr. Aber auch Alexanders Bezeich
nung „Eiseniglu“ konnte nicht von der Hand gewiesen werden. Das Gebäude
ähnelte einem Iglu oder einer unten abgeflachten Riesenmurmel.
Die Freunde staunten, als ihnen Trompo entgegeneilte, jener Miniatur
elefant, den sie auf der EUKALYPTUS glaubten. Aber es war gar nicht
Trompo, stellte Lori fest, als sie nach draußen sprang und das kuschelige
Wesen auf den Arm nahm. Natürlich: Dies war Trompo II, jenes andere
Wesen aus Trompos Rasse, von dem Alexander schon erzählt hatte. Trompos
Artgenossen halfen den Weltraumärzten mit ihren besonderen Fähigkeiten
bei der Arbeit. Kein Zweifel, hier hielt sich ein Weltraumarzt auf.
Da kam er auch schon aus dem Gebäude, blickte freundlich zu ihnen her
über und erwartete sie dann mit verschränkten Armen am Eingang. Er trug
einen enganliegenden, silbernen Anzug mit einem schwarzen, ziemlich ho
hen Stehkragen. Sein Kopf glich einer auf die Spitze gestellten Birne mit
winzigen, spitzen Ohren und kugelrunden Augen.
„Ich habe euch schon erwartet“, sagte er zur Begrüßung und geleitete die
Besucher ins Innere.
„Ja, können sie denn Gedanken lesen?“ fragte Lori verblüfft.
„Verrat!“ machte sich Lonzo bemerkbar, aber jeder wußte ja, daß er es
nicht ernst meinte. Es gab nur eine Erklärung: Der Arzt hatte Kontakt mit der
EUKALYPTUS aufgenommen und erfahren, daß der Schlitten zu ihm unter
wegs war.
65
„Na, ganz so war es nicht“, erklärte der Mediziner, nachdem er zuvor
allerlei saftige Früchte aufgetischt hatte. „Ich erhielt einen Funkspruch von
Kollegen, die euch vor einigen Monaten im Weltall treibend gesehen haben.
Sie hielten es für möglich, daß das Raumschiff vom Schwerefeld eines Plane
ten im ArchimedesSystem eingefangen würde. Schließlich konnte ich euch
orten. Erst kürzlich gelang mir allerdings die Verbindung zu einem Burschen
namens Vielsprechermund ...“
„Schwatzmaul!“ riefen die Kinder. „Der Translator hat den Namen ja
mächtig verballhornt. Und außerdem hat die eitle Maschine verschwiegen,
daß sie ein Computer ist!“
„Er verband mich dann mit einem gewissen Donnerwetter Übermensch ...“
„Mit wem?“ schrie Harpo fasziniert, aber dann lachte er los, als ihm einfiel,
daß damit nur Thunderclap Genius gemeint sein konnte.
„Na“, meinte Flunki, „Thunderclap Genius hört sich aber auch komisch
an.“
„Eigentlich heißt er ja auch ...“ begann Lonzo, aber dieses Mal war es Har
po, der den vorwitzigen Roboter mit einem Knuff in die Metallrippen zum
Schweigen brachte. Thunderclap hütete seinen wahren Namen wie seinen
Augapfel, und der Grund dafür war, daß er noch komischer war als der
jetzige.
Nach dem Essen besichtigten sie die Station des Mediziners. Seinen
Namen hatte er mit einer Lautkombination angegeben, die selbst Lonzos fo
tografisches Gedächtnis kaum korrekt wiedergeben konnte. Er bestand aus
einer Ansammlung von Zischtönen und Konsonanten.
Lori schlug vor, den Arzt KarlHerbert zu nennen, was Harpo nicht gefiel,
worauf Fantasia Walter vorschlug, was Lonzo auf die Palme brachte. Der von
Flunki erfundene Name Zahnklempner stieß bei Alexander auf Ablehnung,
weshalb man sich schließlich und endlich auf „Hugo“ einigte. Flunki bedau
erte seinen Vorschlag nachträglich, als der hellhörig gewordene Galaktische
Mediziner sein Zahnarztbesteck heranschleppte und auf den Raufbold zu
ging.
Flunki riß nicht nur so geschwind aus wie ein Wiesel, sondern kletterte
auch noch auf einen Baum und war erst nach etlichen heiligen Eiden zu
überreden, wieder in die Station zu kommen.
Hugo versäumte es nicht, den Freunden seine Laboratorien zu zeigen, in
denen unübersehbare Reihen von chromglänzenden Maschinen standen.
Wie er erklärte, bestand der Hauptzweck der Station darin, auf Nordpol
wichtige Rohstoffe für Medikamente zu gewinnen, die anderswo im Kosmos
nur schwer aufzufinden waren. Da der Planet in seiner Sommerzone unge
wöhnlich fruchtbar war, existierten hier derart viele Formen pflanzlichen
Lebens, daß sich für die Medizin sehr günstige Essenzen gewinnen ließen.
Aber daneben war die Station natürlich auch dafür eingerichtet, diesen
Raumsektor medizinisch zu betreuen, und enthielt zahlreiche Diagnostik,
Heil und Operationsräume. Hugo und sein Begleiter, besser seine Begleite
rin, denn Trompo II hieß Neli und war ein Weibchen, lebten ganz allein hier.
66
Erst nach einer Dienstzeit von zehn NordpolJahren, was etwa sieben
irdischen Jahren entsprach, wurden sie abgelöst. Die Hälfte dieser Zeit hatten
die beiden bereits abgeleistet. Täglich schwollen die Stöße von Karteikarten
und Heftmappen an, und die Computer, von denen Hugo gleich mehrere be
saß, ratterten Tag und Nacht, um neue Testergebnisse zu verarbeiten. Hugo
ließ nämlich keine Gelegenheit aus, die teilweise noch unerforschte Fauna
nach weiteren Heilstoffen zu durchforsten und Testreihen zu beginnen.
Gelegentlich gab es auch Patienten aus den Reihen der Raufbolde oder Rot
pelze, und Hugo freute sich immer über Abwechslung. Glücklicherweise
wurden die NordpolBewohner äußerst selten krank, weil sie in einer glückli
chen Symbiose mit der Natur lebten und darauf verzichtet hatten, ihre Nah
rung mit künstlichen Zusätzen zu vergiften. Nur die Angewohnheit des
Rauchens, die besonders bei den Raufbolden sehr verbreitet war, gab ge
legentlich Anlaß zu einem Krankenbesuch.
„Denkt daran“, brabbelte Lonzo später, „daß auch Pommfritz ungesund
sind. Zu viel Fett dran und so!“
„Pommes frites heißt das“, verbesserte Lori kichernd.
„Du hast gut reden“, meinte Harpo anzüglich. „Du kommst mit ein paar
Batterien das ganze Jahr über aus und trinkst höchstens mal ein Kännchen
Öl. Außerdem bestehen unsere Pommes frites sowieso aus Synthofood, sind
also künstlich gemacht, und auch das verwendete Fett ...“
Nach den Anstrengungen der langen Fahrt fiel es allen leicht, in einen
tiefen Schlummer zu fallen, kaum daß sie es sich in einigen leerstehenden
Krankenbetten bequem gemacht hatten.
Hugo ließ seine Gäste ausschlafen. Erst am späten Vormittag erwachte Har
po als erster durch das Gezwitscher unzähliger, etwa daumengroßer Vögel.
Ein Teil der Metallwand war zur Seite geglitten und zeigte ein großes
Panoramafenster, durch das die Sonnenstrahlen auf die Betten fielen.
Alexander, der als zweiter erwachte, kletterte sofort aus dem Bett und
machte mit ausgestreckten Armen keuchend und schnaufend einige
Kniebeugen. „Ist gesund“, meinte er, als Harpo ihn fragend ansah.
„Ach du meine Güte“, jammerte Harpo und versteckte sein Gesicht im
Kissen. „Jetzt haben wir noch einen Gesundheitsapostel am Hals. Na, du
wirst dich gewiß mit unserem kleinen Ollie anfreunden. Wenn der Taschen
hätte, die groß genug wären, würde er die ganze Bordapotheke mit sich her
umschleppen.“
Wie hungrige Wölfe stürzte die Gruppe nach dem Duschen an den Früh
stückstisch, wo köstliche Brote und Marmeladen zum Verzehr einluden.
Flunki konnte es so wenig abwarten, daß er sein Beschleunigerfeld ein
schaltete und dann wie ein Bagger die guten Sachen in sich hineinschaufelte.
„Nicht so schlingen“, riet Alexander und gab dem Raufbold einen freund
schaftlichen Klaps auf den Rücken, so daß dieser fast mit dem Gesicht in sei
nen Teller tauchte. „Man kriegt Bauchgrimmen und Magengeschwüre
davon!“
67
Flunki schluckte verzweifelt und verdrehte die Augen. Schließlich ließ er
sich sogar dazu bewegen, sein Beschleunigerfeld abzuschalten, und aß dann
fast gesittet, obwohl auch das natürlich nicht ohne Schmatzen und Schlürfen
nach echter Raufboldart vor sich ging.
Nach dem Essen gesellte sich Hugo zu den Gästen und meinte: „Als ich mit
eurem Freund Thunderclap sprach, erzählte er mir übrigens von einem Men
schen, der auf der EUKALYPTUS im Tiefschlaf liegt.“
„Das ist Daniel Locke“, sagte Fantasia und nickte, nachdem sie sich erst
einmal den Mund abgewischt hatte. Harpo unterdrückte einen Rülpser, aber
Lonzo holte den für Harpo nach und warf ihm anschließend einen vorwurfs
vollen Blick zu. „Tut man denn so etwas?“
„Also Lonzo ...“ knirschte Harpo. Aber dann erzählte er Hugo von jenem ge
heimnisvollen Mann, der an Bord der EUKALYPTUS in einem gläsernen Sarg
lag und dennoch lebte.
Die beiden Weltraumärzte Robbie und Freddie hatten den Mann bereits
untersucht, konnten aber keine Diagnose stellen. Fest stand nur, daß Daniel
Lockes Leben von einer gefährlichen Krankheit bedroht wurde, gegen die zu
mindest die Ärzte auf der Erde kein anderes Mittel wußten, als ihn einzu
frieren, in der Hoffnung, ihn wieder aufzuwecken, wenn man entsprechende
Heilverfahren entwickelt hatte. Alle Körperfunktionen waren außer Betrieb
gesetzt, so daß er in seinem Kühlbehälter nicht alterte.
Hugo interessierte sich sehr für den Fall. Er hatte gerade erst sein Studium
abgeschlossen und leistete auf Nordpol gewissermaßen sein Praktikum. Da er
glaubte, mehr zu können, als Zähne zu ziehen und hier und dort einen Ver
band anzulegen, fühlte er sich von Daniel Lockes rätselhafter Krankheit her
ausgefordert.
„Wir kehren alle gemeinsam zur EUKALYPTUS zurück“, schlug Harpo vor.
„Dann kannst du dir den Patienten ansehen. Aber zuvor müssen wir ver
anlassen, daß eine der Landefähren uns abholt.“
Als sie mit der EUKALYPTUS Funkverbindung aufnahmen, meldete sich
Karlie Müllerchen, der nicht schlecht staunte, als aus seinen Lautsprechern
ein halbes Dutzend Stimmen auf ihn einredeten, so durcheinander, daß er
nicht ein einziges Wort verstand.
„Heilige Milchstraße!“ rief er aus. „Hör dir das bloß einmal an, Thunder
clap. Ein Hühnerhof mit gackernden Hennen ist dagegen ein Sanatorium!“
„Hallo, Freunde, hier spricht Logbuchführer Harpo Trumpff“, sprudelte
Harpo schließlich los, nachdem er sich mit mehrfachem „Pschtscht“ gegen
alle anderen durchgesetzt hatte. „Ich habe eine tolle Nachricht für euch ...“
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Der Schläfer erwacht
Auch die Galaktischen Mediziner, die bei den Kindern der EUKALYPTUS
unter den Namen Robbie und Freddie bekannt waren, hatten dem geheim
nisvollen Mann im gläsernen Sarg nicht helfen können. Trotz der Perfektion
ihrer durch die Galaxis sausenden Hospitalschiffe – die vorwiegend bei Not
fällen eingesetzt wurden , waren ihnen Grenzen gesetzt, die es in den plane
taren Stationen, wie Hugo eine bediente, nicht gab.
Zwar war auch der Weltraumarzt Hugo nicht in der Lage, einen Toten
wieder zum Leben zu erwecken, aber Daniel Locke war ja nicht tot. Brim Bo
riam, der schwarze Krauskopf aus Afrika, der an Bord der EUKALYPTUS die
Funktion eines Schiffsarztes ausübte, wurde nicht müde, in seinem weißen
Kittel Hugo die einzelnen Stationen auf der EUKALYPTUS zu zeigen, ihm die
Instrumente zu erklären. Am meisten beeindruckten Hugo die riesigen Ope
rationsmaschinen, mit deren Hilfe ein guter Mediziner auch die kom
plizierteste Operation am Kontrollschirm ausführen konnte. Dabei brauchte
er nicht einmal selbst ein Skalpell in die Hand zu nehmen. Die Maschine war
fähig, winzige Nervenbahnen miteinander zu verschweißen, und arbeitete so
genau, daß sie dem Auge längst nicht mehr sichtbare Fäden zusammenfügen
konnte.
Dennoch hatten Hugo und Brim fast zehn Tage lang alle Hände voll zu tun,
um hinter das Geheimnis von Daniel Lockes Krankheit zu kommen. Als erstes
ließ sich Hugo mit dem Beiboot A9 an Bord der EUKALYPTUS bringen,
wobei ihn mehrere Kinder begleiteten. Der Rest – einschließlich Flunki und
Alexander – kam mit der nächsten Maschine.
Hugo und Brim untersuchten den Schläfer in seinem gläsernen Sarg auf
Herz und Nieren, wie man so schön sagt, wenn man eine gründliche Unter
suchung meint. Das war auch nötig, da niemand genau wußte, wie lange der
unbekannte Mann bereits an Bord war und ob er sich durch das lange Liegen
nicht auch noch andere Schädigungen zugezogen hatte. Schließlich hatte es
damals, als die erwachsene Besatzung fluchtartig die EUKALYPTUS verließ
und die Kinder die Zentrale noch nicht kannten, Energieausfälle gegeben.
Energie ist aber nötig, um Kälte zu erzeugen. Thunderclap Genius erklärte
es seinen neugierigen Freunden, nachdem sie eine jubelnde Begrüßungsze
remonie über sich hatten ergehen lassen, folgendermaßen: „Elektrischer
Strom treibt eine Art Pumpe an. Mit der wird ein Kühlmittel verdichtet –
wobei es Wärme an die Umgebung abgibt – und anschließend wieder ent
spannt – wobei es Wärme aus dem Kühlbehälter aufnimmt.“
Das war schwer zu verstehen, und das wurde in diesem Moment all jenen
erschreckend bewußt, die die Lösungen der Physikaufgaben schlichtweg bei
anderen abgeschrieben hatten. Aber alle behielten, daß beim Kühlen immer
ein Temperaturunterschied zwischen einem kleinen Kühlraum und seiner
Umgebung entsteht. Die Wärme wird aus dem Kühlraum in den größeren
Raum der Umgebung geleitet. Der kleine Ollie kam sogar ganz allein auf die
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Idee, daß es überhaupt keinen Zweck hat, die Kühlschranktür offenstehen zu
lassen, wenn es einem in der Küche zu heiß ist: Ein offener Kühlschrank kühlt
überhaupt nicht mehr.
Da auch die beste Isolierung die Kälte nicht konstant halten kann, befürch
tete Hugo, daß bei einem Stromausfall der gläserne Sarg zu warm geworden
sein könnte. Aber nach der Untersuchung hellte sich sein Gesicht auf: Es war
alles in bester Ordnung.
Sechs reparierte Grüne trugen Daniel Locke mitsamt seinem Glasbehälter
zunächst in die A9 und dann in Hugos Hospitalstation auf Nordpol. Der
kurze Transport war ungefährlich. Auf der Station angekommen, wurde die
Kühlpumpe sofort wieder an das Stromnetz angeschlossen.
Jetzt konnten Hugo und seine elefantenartige Assistentin, unterstützt von
Brim Boriam, mit den Hilfsmitteln der Station das Problem in Angriff
nehmen. Zunächst wollte es jedoch einfach nicht gelingen, herauszufinden,
was Daniel Locke genau fehlte. Blut wurde abgezapft und untersucht. Nichts.
Der Körper wurde durchleuchtet.
Nichts.
Winzige Sonden glitten in jede Vene und jedes Organ, aber auch sie fanden
nichts. Erst eine Spezialuntersuchung einzelner Körperzellen brachte an den
Tag, daß eine krankhafte Zellkernwucherung das Leben des Unbekannten ge
fährdet hatte.
Ein wirklich schwieriges Problem. Aber Hugo und Brim gaben nicht auf.
Tagelang vergruben sie sich inmitten ihrer Geräte und entwickelten schließ
lich, mit Unterstützung des ArchivComputers, in dem die Daten von
Millionen Krankheiten sowie Mittel zu deren Bekämpfung gespeichert waren,
eine kombinierte Heilbehandlung. Sie bestand aus einem gespritzten Medi
kament und einer besonderen Strahlungsart. Während Daniel Locke seiner
Gesundung entgegenschlief, drückten Hugo und Brim sich glücklich, aber
zum Umfallen müde, die Hände und nahmen eine Mütze voll Schlaf.
Am nächsten Tag spritzte Hugo dem gleichmäßig atmenden Schläfer ein
belebendes Mittel ein. Fast alle Kinder der EUKALYPTUS befanden sich nun
auf dem Planeten Nordpol. Auch eine große Anzahl von Raufbolden hatte
sich neugierig eingefunden.
Zufällig hatte sich an der Grenze zur Sommerzone auch ein RotpelzClan
befunden, der von der Aktion gehört hatte und dabeisein wollte.
So gab es in Hugos Hospitalstation ein ständiges Kommen und Gehen.
Menschen, Rotpelze und Raufbolde drängten durch die Räume oder lieferten
sich an der Schneegrenze Schneeballschlachten. Die Rotpelze erwiesen sich
wegen ihrer größeren Erfahrung als fast unschlagbar, ließen aber hin und
wieder – gutmütig wie sie waren – auch mal die Kleinen gewinnen. Und es
war eine Seltenheit, wenn man keinen Motorschlitten aus Flunkis Clan zwi
schen den Hügeln dahinflitzen sah.
„Jemineh“, stöhnte Hugo, als er den Andrang wahrnahm. „Jetzt merke ich
erst einmal, wie schön Einsamkeit sein kann!“
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Als sie das Lager Daniel Lockes umstanden, fragte Fidel leise: „Was machen
wir, wenn der Alte versucht, uns Befehle zu erteilen?“ Er hatte nicht aufgege
ben, alle Erwachsenen als Alte zu bezeichnen und machte lediglich bei Babs
eine Ausnahme. Er war mißtrauisch gegenüber jedem, der älter als zwanzig
war.
Insgeheim mußte auch Harpo zugeben, daß er darüber schon nachgedacht
hatte. Weder wußte man, wer Daniel Locke war, noch was er auf der Erde ge
macht hatte. Vielleicht war er es gewöhnt, andere Leute herumzukomman
dieren, und sah die junge Mannschaft des Raumschiffes als eine Kinderschar
an, die eine starke Hand benötigte?
„Wir lassen uns das einfach nicht gefallen“, gab Harpo ebenso leise zurück.
Er wußte, daß alle so dachten. Und das war kein Wunder. Schließlich hatte
die ehemalige Besatzung die EUKALYPTUS in heller Panik verlassen und sie
alle einem ungewissen Schicksal ausgesetzt. Sie hatten nichts dazu beige
tragen, daß die Kinder den Planeten Nordpol erreicht hatten. Nein, das war
allein ihr Werk – und sie waren stolz auf das, was sie geleistet hatten. Es gab
keinen Grund, sich jemanden vor die Nase setzen zu lassen.
In diesem Moment schlug Daniel Locke die Augen auf. Er machte: „Hat
schi!“ und blickte in Hugos blaues, birnenförmiges Gesicht, weil dieser sich
gerade über seinen Patienten beugte. Dann drehte er leicht den Kopf, starrte
auf Brims schwarzes Gesicht, verharrte einen Augenblick auf Alexanders
zotteligem Bärenpelz und blieb dann an den freundlich grinsenden Zügen
Flunkis hängen, dessen listige Äuglein ihm entgegenblinzelten, während er
die Zähne fletschte und seinen Schnurrbart zwirbelte.
Verwirrt schloß der Mann die Augen und murmelte: „Ganz klar. Ich bin ver
rückt geworden. Kann gar nicht anders sein.“
„Daniel!“ rief Harpo. Er hatte sich nun tapfer entschlossen, den Mann
gleich mit seinem Vornamen anzusprechen, denn „Herr Locke“ klang gar
nicht gut – und wäre schon eine Art Unterordnung gewesen. „Es ist alles in
Ordnung. Wir haben dich im Tiefschlaf gefunden. Du warst sehr krank, aber
Weltraumarzt Hugo und Brim haben dich geheilt!“
Daniel hielt krampfhaft die Augen geschlossen. Seine Zunge leckte nervös
über die Unterlippe. Dann sagte er: „Ein Alptraum. In Breitwand und Farbe!“
Seine Stimme krächzte etwas, als seien seine Stimmbänder nach all den Jah
ren eingerostet. „Ich muß einfach spinnen!“
„He, er kann ja tatsächlich etwas sagen“, ulkte Flunki mit gespielter Über
raschung.
„Bären und Zwerge“, sagte Daniel. Offenbar blinzelte er doch ein wenig un
ter seinen Lidern hervor. „Jungejunge – das wird mir zu Hause keiner glau
ben!“
„Beim Vater aller Frostbeulen!“ schrie der Raufbold so laut, daß Harpos
Translator zu wackeln begann. Er sprang aus dem Stand in die Luft und gifte
te: „Diese Portion Tiefkühlkost wagt es, mich einen Zwerg zu nennen!
Schniefnase und Keuchhusten, dabei bin ich fast einen ganzen Meter groß!“
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Damit war der Bann gebrochen, denn Flunkis Lachfältchen, die deutlich
unter seinem struppigen Bart zu erkennen waren, sprachen eine ganze ande
re Sprache. Es gelang ihm überhaupt nicht, sie durch ein gewollt grimmiges
Augenfunkeln zu verbergen.
Alle jubelten und fielen sich in die Arme.
„Unter Captain Kidd gab es einen Piraten, der zwar nicht größer als Flunki
Raufbold war“, gab Lonzo zum besten, „aber dafür hatte er andere Talente: Er
wußte immer, wo der Captain seine Schnapsbuddeln versteckt hielt!“
Jetzt schlug auch Daniel Locke wieder die Augen auf. Nachdem sich die
erste Verwirrung gelegt hatte, guckte er eigentlich recht freundlich. Und ein
breites, glückliches Lächeln auf seinem Gesicht signalisierte: Er hatte
verstanden, daß sein Leben, das vor seinem Einfrieren an einem seidenen
Faden gehangen hatte, gerettet war.
„Ich scheine also doch nicht zu spinnen. Na, egal, jetzt könnt ihr euch si
cher vorstellen, daß ich darauf brenne, herauszukriegen, wo ich bin, was das
alles zu bedeuten hat, was das hier für ulkige Leutchen sind, und ... und ...
Ach, ihr wißt schon, ich habe tausend Fragen auf Lager.“
Damit ging es erst richtig los. Alle wollten schnellstens ihre Erlebnisse los
werden und dem Schläfer möglichst detailgetreu die Abenteuer der EUKA
LYPTUSBesatzung mitteilen. Selbst Fidel ertappte sich dabei, wie er mit
leuchtenden Augen den Schneekrabbler Borro schilderte. Es herrschte ein
kleines Chaos, so daß Daniel sich schließlich aufsetzte und stöhnend an den
Kopf griff, während Flunki und Lonzo in wilde Entzückensschreie ausbrachen
und ein Tänzchen im Sechsneunteltakt improvisierten.
Der Lärm lockte selbst Trompo und Neli an. Trompo, das kleine, rosa
farbene Elefantenwesen, hatte die Kinder in den letzten beiden Wochen nur
selten gesehen. Der Anblick der beiden kätzchengroßen Intelligenzen ließ
Daniel erneut schlucken, aber er fing sich rasch wieder. Später erklärte er, in
diesen ersten Minuten des Erwachens geglaubt zu haben, sich in einer
wundersamen Traumwelt mit allerlei Phantasiegeschöpfen zu befinden.
Schließlich verschaffte sich Thunderclap Genius Gehör und schilderte
sachlich, ohne viel auszulassen – aber auch ohne sich groß in Erzählungen
einzelner Abenteuer zu verfransen – die bisherige Fahrt der EUKALYPTUS
und die Verhältnisse auf dem Planeten Nordpol.
„Das“, sagte Daniel nach einer Pause, „muß ich erst einmal verdauen.“ Er
hatte sich bemüht, den Bericht des Jungen im Rollstuhl nicht durch Fragen
zu unterbrechen und fühlte sich jetzt so überfordert, daß ihm alle vorläufig
zurückgestellten Fragen wieder entfallen waren.
„Jetzt bis du an der Reihe, zu erzählen, wie du an Bord des Schiffes gekom
men bist“, platzte Harpos Schwester Anca heraus. Sie war als eine der letzten
von der EUKALYPTUS nach Nordpol gekommen und beneidete die beiden
ersten Landungsgruppen um die schon erlebten Abenteuer bei den Rauf
bolden und Rotpelzen.
„Immer langsam“, meldete sich Doktor Brim. „Daniel ist sicher unheimlich
müde und möchte erst mal schlafen.“
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„Schlafen?“ lachte Daniel. „Ich habe wahrhaftig lange genug geschlafen in
den letzten sechs Jahren.“ Aber er mußte durch ein heftiges Gähnen unfrei
willig zugeben, daß gerade der lange Schlaf ihn erschöpft hatte. „Ich fühle
mich ziemlich geplättet“, sagte er, als die Kinder sein raubtierhaftes Gähnen
mit einer Lachsalve beantworteten, „ungefähr so, als hätte mich eine Dampf
walze überfahren.“
Hugo fragte erst gar nicht lange, sondern verpaßte ihm eine Spritze.
„Autsch!“ quittierte Daniel verdutzt. „He, ich will nicht wieder eingefroren
werden, Hugo!“
„Keine Sorge, diesmal dauert es keine sechs Jahre, sondern höchstens sechs
Stunden“, versicherte der blauhäutige Mediziner.
„Ich bin aber wirklich ... uuuaahh ... gar nicht müde uuaaahh...“ Daniel
gähnte noch einmal herzhaft, dann fielen ihm die Augen zu. Das kantige Kinn
mit den winzigen Bartstoppeln sackte auf seine Brust. Tiefe und regelmäßige
Atemzüge verrieten, daß er eingeschlafen war.
„Scheint gar kein übler Typ zu sein“, meinte Harpo und sah dabei Fidel an.
Der nickte zögernd.
„Sieht so aus.“ Fidel zuckte mit den Schultern. „Hmm – ich glaube, ich muß
mal über etwas nachdenken, Harpo.“
„Nachdenken?“ fragte Anca. „Worüber denn?“
„Über Vorurteile“, erwiderte Fidel, während er hinausging.
„Ich wette, er hat einen gewaltigen Kohldampf, wenn er wieder aufwacht“,
meinte Karlie Müllerchen. „Ob er Kartoffelpuffer mag?“
Harpo verzog das Gesicht und sagte griesgrämig: „Wie kannst du daran
zweifeln, Karlie, he?“
Der über zwei Meter große Junge grinste von einem Ohr zum anderen.
„Dann werde ich ihm vorsichtshalber mal achtzig Stück in die Pfanne
hauen ...“
Die lockenden Sterne
Daniel Locke kehrte nach einem opulenten Mahl zusammen mit Harpo,
Thunderclap, Fantasia, Lonzo und Karlie auf die EUKALYPTUS zurück und
sah zum ersten Mal das Schiff, auf dem er so viele Jahre verbracht hatte, aus
der Nähe.
Er konnte nicht verbergen, daß dieser Koloß großen Eindruck auf ihn
machte. Zwar war er selbst Techniker auf einer Werft für Raumschiffe ge
wesen – und hatte sogar am Bau der EUKALYPTUS mitgewirkt , aber das
fertige Ergebnis seiner Arbeiten hatte er nur auf dem Bildschirm seines
Fernsehers betrachten können.
Und das war gar nicht so erstaunlich, wie es sich anhörte. Im allgemeinen
baute man Teile der großen Raumschiffe auf der Erde zusammen und brach
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te sie mit Lastraketen ins All hinaus, wo sie montiert wurden. So hatte Daniel
immer nur einzelne Teile zu Gesicht bekommen und deshalb keinen beson
ders großen Spaß an seiner Tätigkeit gehabt. Die Montagearbeit im All wurde
wieder von anderen Technikern ausgeführt, die auch nicht recht zufrieden
waren, weil sie mit den Vorarbeiten nichts zu tun gehabt hatten. Ihnen
wurden einzelne Fertigteile übergeben, die sie stur nach einem bestimmten
Konstruktionsplan zusammensetzten. Die Fließbandarbeit hatte man auf der
Erde längst abgeschafft, weil die Leute sie als unmenschlich empfanden und
ablehnten, aber dafür griff das Spezialistentum immer mehr um sich.
„Seht ihr?“ meinte der Rotpelz Alexander. „Bei uns haben wir das schon
lange rausgefunden, daß es nicht eben das Selbstbewußtsein stärkt, wenn
man stur immer wieder dasselbe machen muß. Erst wenn man eine Sache
ganz entstehen sieht, vom Anfang bis zum Ende – dann macht es Spaß!“
„Warum tun die Monteure denn diese Arbeit?“ fragte Karlie ernüchtert.
„Ich meine, wenn sie ihnen doch keine Freude macht ...“
Daniel zuckte die Schultern. „Sie müssen doch irgendwie Geld verdienen,
um Nahrung und Kleidung zu kaufen und eine Wohnung zu mieten“, erklärte
er. „Die meisten Jobs sind so beschaffen. Man kann sich die Arbeit einfach
nicht danach aussuchen, ob sie einem Spaß macht oder nicht.“
„Das ist aber wirklich fies“, meinte Harpo. „Die Leute auf Nordpol tun nur
das, was ihnen Spaß macht. Jeder kann alles. Wir haben es auf der EUKALYP
TUS ebenso gehalten. Und es klappt – wenigstens meistens.“
Daniel Locke kratzte sich hinter dem Ohr und nickte dann. „Ich staune so
wieso, daß ihr grünen Jungs mit Eierschalen hinter den Ohren dieses Riesen
schiff wieder in Schwung gebracht habt, nachdem ein Haufen hochkarätiger
Spezialisten die Flucht ergriffen hat.“
„Eierschalen?“ quakte Lonzo.
„Grüne Jungs?“
Lonzo machte: „Naaaa!“ und drohte Daniel mit allen vier Tentakeln gleich
zeitig.
„Oh, ‘tschuldigung“, erwiderte Daniel hastig. „Ich falle doch immer wieder
in diese alten Redensarten zurück. Ich bin halt zu erzogen worden. Tut mir
leid. Es dauert eine Weile, bis ich umdenke.“
Er wußte inzwischen, daß die Kinder Bezeichnungen wie „grüne Jungs“
überhaupt nicht hören mochten, und hatte sich auch schon gebessert, aber
gelegentlich rutschte ihm halt noch so etwas raus. Zwar wußten die anderen
genau, daß er es eigentlich gar nicht böse meinte und daß sogar ein gehöriges
Stück Bewunderung hinter seinen Worten steckte. Aber trotzdem ...
„Und wenn schon ‚grüne Jungs‘“ schimpfte Fantasia Einstein, „dann auch
‚grüne Mädchen‘. Wir haben nämlich auch allerhand getan.“
Daniel lachte verlegen. „Verzeihung Fantasia. Auch daran muß ich mich
erst noch gewöhnen. Als ich klein war, hat man mir den Blödsinn erzählt, daß
Mädchen nicht logisch denken können und deshalb auch nichts von Technik
verstehen.“ Er legte einen Arm entschuldigend um Fantasias Schultern.
„Na, wieder gut?“ Daniel blinzelte.
74
Fantasia nickte lächelnd. Sie fühlte sich sehr zu Daniel hingezogen, weil er
sie an ihren Vater erinnerte, obwohl er viel jünger war. Ihr Vater hatte auch
immer so ein angenehmes, breites Lächeln gehabt. Viele Kinder auf der EU
KALYPTUS waren Waisen – wie Harpo und Anca , aber Fantasia litt noch
immer darunter, daß sie ihre Eltern wahrscheinlich niemals wiedersehen
würde.
„Ich dachte mir das schon“, sagte Daniel, nachdem er die Atomreaktoren
und Antriebselemente der EUKALYPTUS besichtigt hatte.
„Was?“ fragten Harpo und Thunderclap wie aus einem Munde.
„Daß etwas faul ist an diesem Raumschiff. Damals auf der Werft wurde von
einem neuartigen Antrieb gemunkelt. Genaues erfuhr man nicht, weil alles
von den Sicherheitsheinis abgeschirmt wurde. Aber zweifellos wurde dieser
neue Antrieb in das Schiff eingebaut.“
„Und was ist daran faul? Hat das vielleicht etwas mit der Katastrophe zu
tun, die die EUKALYPTUS aus ihrer Kreisbahn um die Erde riß?“
„Vielleicht. Es ist auf jeden Fall ziemlich merkwürdig, daß ein Schiff, das
eigentlich nur die Erde umkreisen und nicht das Sonnensystem verlassen
soll, überhaupt einen Antrieb erhält! Was soll es denn damit? Eine normale
Raumstation hätte es für die offiziellen Zwecke auch getan. Und mehr noch:
Das Schiff bekommt einen gänzlich unerprobten Antrieb, mit dem die Men
schen zum ersten Mal größere interstellare Entfernungen überwinden und
mit dem die Schranke der Lichtgeschwindigkeit fällt.“
„Hm“, meinte Karlie. Da er sich stark für Astronavigation interessierte,
wußte er inzwischen, daß das Licht 300 000 Kilometer pro Sekunde zurück
legt und trotzdem einige Jahre benötigt, bis es von Stern zu Stern dringt. Wer
schneller reisen wollte, mußte also flinker als ein Lichtstrahl sein. Das galt
lange als unmöglich, weil der geniale Physiker Albert Einstein (der übrigens
nicht mit Fantasia verwandt ist) eine Theorie entwickelt hat, nach der die
Lichtgeschwindigkeit die höchstmögliche Geschwindigkeit im Universum ist.
„Stimmt eigentlich. Aber was steckt dahinter? Was ist der Sinn?“
„Keine Ahnung“, gab Daniel zu. „Vielleicht bleibt das immer ein Geheim
nis, denn nicht mal Schwatzmaul ist darüber informiert.“
„Der“, kicherte Harpo, „weiß von manchen anderen Dingen auch nicht
viel.“
„Einspruch“, sagte Schwatzmaul über sein Lautsprechersystem. „Ich
protestiere!“ Sein Gerede ging in Daniels weiterer Erklärung völlig unter.
„Ich bin davon überzeugt, daß die EUKALYPTUS nicht in erster Linie als
Sanatoriumsschiff für kranke Kinder gedacht war! Da wurde ein nagelneues
Schiff mit fast zweihundert Decks gebaut. Ein gewaltiger Kasten, auf dem
zwanzigtausend Menschen sich verlaufen können. Versehen mit einem Supe
rantrieb. Jeder bei uns auf der Werft glaubte, an einem Sternenschiff zu arbei
ten. Die Konzeption ist einfach großzügig und ungewöhnlich. Für ein neues
Sanatorium“, fügte er hinzu.
Er schwieg, denn trotz seiner vollständigen Gesundung war sein Tiefschlaf,
auf den Daniels Anwesenheit überhaupt zurückzuführen war, ein wunder
75
Punkt. „Ich bin jedenfalls nicht davon ausgegangen, daß dieses Schiff die
Erde auf ewig umkreist, als ich mich einfrieren ließ.“ Daniel hatte es, wie er
berichtete, nur einem Verwandten zu verdanken, daß man sich bereiterklärt
hatte, sich seiner auf dem Hospitalschiff anzunehmen. „Wenn ein Mann in
meiner Lage so schwer krank wird“, sagte er einmal, „dann muß er sterben.
Nur die Prominenten können da noch hoffen, weil sie die teuersten Heil
verfahren bezahlen können.“
Die Methode, Menschen einzufrieren, um sie erst dann wieder aufzuwe
cken, wenn ein Mittel gegen ihre Krankheit entdeckt wurde, war kostspielig.
Auf der Erde existierten private Tiefschlafdepots, aber wenn man da einen
einfachen Krankenschein vorlegte, kam man nicht einmal am Pförtner vor
bei. Daniel hatte deshalb schon beinahe resigniert, als ihm sein Arzt mitteilte,
daß er nur noch wenige Monate zu leben hatte.
Ein Verwandter machte ihn darauf aufmerksam, daß man Freiwillige für
ein Weltraumexperiment suchte, die eingefroren werden sollten. Was genau
dieses geheimnisumwitterte Experiment beinhaltete, war Daniel bis heute
unklar geblieben – und vermutlich war es auch gar nicht mehr zu rekonstru
ieren. Daß man seinen gläsernen Sarg jedoch an Bord der EUKALYPTUS
brachte, unterstützte seine Vermutung, daß dieses Schiff keineswegs allein
zur Erholung irdischer Kinder gedacht war.
„Sagt mal“, meinte er, nachdem er beinahe jeden Quadratzentimeter der
Maschinenräume inspiziert hatte, „ihr habt zwar tolle Arbeit geleistet und
viele Schäden beseitigt – aber ich verstehe nicht ganz, weshalb ihr den An
trieb nicht zu voller Manövrierfähigkeit gebracht habt. Es ist doch alles an Er
satzteilen vorhanden, was nötig ist.“
„Waaas?“ fragte Karlie entsetzt. „Das kann doch nicht wahr sein. Es stimmt
zwar, daß alle großen und komplizierten Teile in Reserve genommen wurden,
aber so manches kleine und lebenswichtige Detail fehlte, angefangen bei be
stimmten Schraubenarten und Werkzeugen.“
Daniel lachte. „Da habt ihr euch foppen lassen“, sagte er grinsend. „Ihr
habt bloß nicht erkannt, was zusammengehört! Habt ihr denn die Werkzeug
maschinen nicht gesehen? Wenn wirklich ein paar Verbindungselemente
fehlen, könnt ihr die doch mit Leichtigkeit auf den Dreh, Bohr, Fräs, und
Hobelmaschinen selbst anfertigen.“
Karlie und die anderen waren jetzt tatsächlich an der Reihe, rot zu werden.
„Wir haben keine Ahnung, wie man diese Maschinen bedient. Und – ehrlich
gesagt – wir haben nicht das geringste verstanden, wenn wir Schwatzmaul
danach fragten!“
„Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf“, schaltete sich das Große
Gehirn in die Unterhaltung ein, „so muß ich dazu bemerken, daß ich es un
seren verehrten Damen und Herren Ingenieuren immer wieder ganz präzise
beschrieben hatte. Und trotzdem haben sie behauptet, meine Worte seien für
sie unverständlich. Dabei bin ich seit dem ersten Stromstoß, der durch meine
Speicherzellen fuhr, dafür bekannt, daß ich äußerst knapp, exakt, ohne über
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flüssige Worte meinen Aufgaben genüge. Wie schon weiland der Kom
mandant in seinen Mußestunden zu sagen beliebte ...“
„Was hast du Karlie und den anderen denn gesagt?“ unterbrach Daniel den
Wortschwall des Elektronengehirns.
„Nun ja, ich erklärte ihnen kurz und knapp, was sie beachten müssen, be
vor sie eine Drehmaschine einschalten, nämlich ein bißchen Werkstofftech
nologie, ein wenig Elektrotechnik und eine Prise Zerspannungstechnik. Also:
Fe hat drei Modikatoren, nämlich kubischraumzentrierte Gitter, stabil bei
Temperaturen bis 911 Grad Celsius, kubischflächenzentrierte Gitter von 911
Grad bis 1392 Grad Celsius. Die Umwandlung geschieht bei steigender Tem
peratur endotherm, bei fallender Temperatur exotherm, wobei Modifikation
instabil existenzfähig infolge Umwandlungsträgheit bei überhärtetem le
gierten ...“
Karlie verdrehte die Augen.
„Nein“, stöhnte Daniel. „Das hast du ihnen erklärt?“
„Ja“, erwiderte Schwatzmaul. „Endlich mal jemand, der meine Ausfüh
rungen zu schätzen weiß! Es ist doch wirklich einfach, logisch und absolut
notwendig für das Verständnis, weshalb ich mich nicht scheue, an dieser
Stelle einmal auszusprechen, meine Damen und Herren – und das muß ein
mal gesagt werden , daß wir zu dieser Stunde im Bewußtsein unserer Verant
wortung, wie jeder zugeben muß ...“
„Halt!“ donnerte Daniel dazwischen. „Schwatzmaul, du bist ... du bist ein
Schwatzmaul, jawoll! Und ein Hornochse dazu!“
„Vielen Dank“, entgegnete Schwatzmaul. „Ich mag diese großen Tiere, die
Gras kauen und dabei eine Reaktionswärme von ...“
„Schwatzmaul!“ drohte Daniel.
Karlie keuchte: „Hilfe!“
„Aber darf ich wenigstens ...“
„Nein“, entschied Daniel. „Du darfst nicht.“
„Och, wie schade!“
„Durch solche Vorträge werdet ihr niemals lernen, wie man aus einem
Stück Metall eine Schraube anfertigt und sie härten kann. Oder wie man
schweißt und schmiedet. Oder ganz einfach Schrauben nicht zu fest und
nicht zu locker anzieht. Kommt mit, ich werde euch zuerst mal richtiges
Elektroschweißen beibringen.“
„Das können wir schon“, sagte Fantasia stolz. „Sonst wären wir nicht weit
gekommen bei unseren Reparaturarbeiten. Die Weltraumärzte haben uns das
gezeigt.“
Daniel biß sich verlegen auf die Unterlippe. „Beißt mich jetzt nicht“,
meinte er, „aber ich habe mir die Schweißnähte, die ihr gelegt habt, schon
angesehen. Also: Erstaunlicherweise hält das irgendwie, aber glaubt mir,
meinem alten Lehrmeister wären auf einen Schlag alle grauen Haare aus
gefallen, wenn er das gesehen hätte. Die Galaktischen Mediziner mögen zwar
Genies auf ihrem Gebiet sein, aber vom Schweißen haben sie nun mal keine
Ahnung.“
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„Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf“, mischte sich Schwatzmaul
wieder ein, „achtet darauf, daß die kristalline Struktur der Metallenden so
verändert wird, daß ein gleichartiges Ganzes ...“
Lachend flüchtete Daniel mit den Kindern. Unten in den Maschinenräu
men und Antriebskammern gab es nur ganz wenige Lautsprecher, aus denen
der redselige Computer seine Kommentare abgeben konnte. Ganz verzichten
wollten sie natürlich nicht auf ihn, und später erwies sich, daß sogar
Schwatzmaul sich mit einiger Mühe so ausdrücken konnte, daß man ihn
ohne Fachstudium verstand. Er zeigte ihnen genau, wo noch unterbrochene
Leitungen geschweißt, verlötet oder neu verlegt werden mußten und wo tau
be Teile gegen Ersatz auszutauschen waren.
Harpo, Thunderclap und die anderen kamen aus dem Staunen nicht mehr
heraus, als sie sahen, mit welcher Geschicklichkeit ihr neuer Freund Daniel
die Werkzeuge zu handhaben verstand. Er zeigte ihnen mit großer Geduld
nicht nur, wie geschweißt, gelötet oder an den Werkzeugmaschinen gearbei
tet wurde, sondern wußte überall Rat, wo es Schwierigkeiten gab.
Wenn ein Schraubenschlüssel zu kurz war, verlängerte er ihn kurzerhand
mit einem Rohr; wo sich festgebrannte Schraubenmuttern nicht bewegen
ließen, hämmerte er sie mit einem Meißel auf. Und lässig bewegte er mit
wenigen, geschickt angebrachten Hubzügen und Hydraulikpumpen hausho
he Antriebsaggregate, von denen die Kinder geglaubt hatten, daß auch
tausend Olympiasieger im Gewichtheben sie nicht von der Stelle bewegen
könnten.
Was eigentlich mit dem Antrieb passiert war, konnte auch Daniel nicht
feststellen. Er war ein guter Monteur, aber kein Wissenschaftler. Sicher war,
daß aus unvorhergesehenen Gründen eine Überlastung erfolgt war, bei der
ein Teil der Anlagen ausgefallen und das Raumschiff in einen Raumsektor ka
tapultiert worden war, der so weit von der Erde entfernt lag, daß der Sternen
himmel fremd erschien.
Wo immer die heimatliche Sonne als einer von vielen blitzenden Punkten
am Himmel leuchten mochte: Wenn sie in der halbdunklen Zentrale standen
und durch die gläserne Kuppel hinaufsahen zu den Sternen, spürte jeder der
Freunde ein erregendes Gefühl der Abenteuerlust. Welche seltsamen Welten
und Wesen mochten dort im All auf sie warten?
Zu neuen Abenteuern
Sie hatten sich in der Hauptzentrale der EUKALYPTUS versammelt. Dies
war vielleicht die letzte Versammlung, an der sie alle teilnahmen. Alle, die mit
dem Raumschiff zum Planeten Nordpol gekommen waren. Und schon vor
Beginn der Versammlung wurde deutlich, daß es zwei verschiedene Lager
gab: Die einen wollten auf Nordpol bleiben, während die anderen darauf
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brannten, mit dem Schiff zu neuen Planeten vorzudringen. Vergessen war die
Zeit, als sie diesen Planeten erreichten, manövrierunfähig und einzig und
allein darauf bedacht, eine neue Heimat zu finden.
Ein bißchen Schuld dabei trug Daniel Locke, denn er hatte maßgebend
dabei geholfen, daß die restlichen Schäden an der EUKALYPTUS behoben
waren. Alle halfen bei der Reparatur, auch diejenigen, die nicht daran dach
ten, den Schneeplaneten wieder zu verlassen. Aber die Abenteuerlustigen un
ter den Kindern hatten keine ruhige Minute mehr, seit Schwatzmaul bestätigt
hatte, daß das Raumschiff nicht nur in jeder Beziehung startklar war, sondern
auch über so große Reaktorvorräte verfügte, daß man damit ein paar hundert
Jahre lang durch das All schippern konnte.
„Riskant ist es trotzdem“, äußerte sich Daniel. „Wir wissen immer noch
nicht, wie der Antrieb funktioniert und welche Tücken und Kinderkrankhei
ten damit verbunden sind. Wer sagt uns, daß sich die Katastrophe nicht
wiederholt, die das Schiff aus dem Orbit der Erde gerissen hat?“
„Pah“, machte Lonzo wegwerfend. „Wenn Captain Kidd so gedacht hätte,
wäre er niemals Pirat geworden, sondern höchstens Heringsfänger auf dem
Bodensee!“
„Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden“, meinte auch Thunderclap
Genius. „Wenn wir uns auf Nordpol einigeln, erfahren wir niemals, was im All
vorgeht.“
„Ja, müssen wir das denn?“ fragte Fantasia. „Warum genügt es euch nicht,
bei unseren Freunden, den Raufbolden und Rotpelzen zu bleiben? Hier ist es
doch prima!“
Sie hatte eigentlich recht, und Thunderclap wußte selbst ganz gut, daß es
ihm und vielen anderen nur darum ging, neue Abenteuer zu erleben.
„Beim Schneegockel und seinen vierzig Zitterhühnern!“ schimpfte Flunki
los, der neben Alexander, Hugo und einigen weiteren Raufbolden und Rot
pelzen als Ehrengast an der Versammlung teilnahm. „Warum könnt ihr euch
nicht darauf einigen, daß Nordpol eure neue Heimat wird, daß ihr aber ge
legentlich Kap... äh ...“
„Kaperfahrten!“ half Lonzo aus.
„... Kaperfahrten zu anderen Planeten macht? Ihr kehrt natürlich immer
wieder in den Heimathafen zurück und bringt euren Freunden Andenken
mit!“
„Respekt, Raufbold“, schmetterte Lonzo los. „Das ist ein wahrhaftig pira
tiger Einfall! Eine Ehrensalve mit Tusch für den Admiral der Landpiraten von
Nordpol!“
„Rärärärääää!“ brüllte Oliver aus Leibeskräften. „Operationsbasis Nordpol!“
„Wie weit ist es bis zum nächsten Fixstern?“ wollte Harpo wissen.
„Exakt 11,365789456 Lichtjahre“, meldete sich Schwatzmaul, „wobei ich
allerdings voraussetzte, daß sich kein Protest erhebt, als ich die letzte Kom
mastelle stillschweigend aufrundete ...“
„Und wie lange benötigen wir für die Hin und Rückreise?“ fragte Thunder
clap.
79
„Die reine Fahrzeit: drei Monate, zwei Wochen, vier Tage, dreizehn
Stunden, siebenundzwanzig Minuten, vier Sekunden, zwölf Mikrosekunden,
acht ...“
„Also können wir bereits in einem halben Jahr zurück sein, wenn wir uns
nicht länger als drei Monate in dem fremden Sonnensystem aufhalten“, un
terbrach dieses Mal Harpo den Computer. „Ich finde, daß Flunkis Einfall
wirklich großartig ist. Es ist demnach gar nicht nötig, daß wir uns trennen –
weil wir einfach immer wieder zurückkehren.“
Ganz so einfach war es natürlich nicht, denn für die weiter entfernten Ster
ne würde man eine entsprechend längere Fahrzeit benötigen. Aber die
Kinder waren erleichtert, daß es kein Abschied für immer sein würde, wenn
eine Gruppe auf Nordpol zurückblieb und die andere sich auf den Weg zu
den Sternen machte. Das hatte sie nämlich alle sehr bedrückt. Sie waren in
den vergangenen Monaten zusammengewachsen.
„Dann stellen wir jetzt die neue Besatzung der EUKALYPTUS zusammen!“
rief Micel Fopp begeistert. Daß der Gedankenleser mit den kurzen Ärmchen
die nächste Reise mitmachen würde, war von Anfang an so klar wie dicke
Tinte.
„Wer bleibt also auf Nordpol zurück?“ fragte Thunderclap.
„Ich!“ schrie Flunki, und seine Raufboldfreunde fielen auf der Stelle mit ein.
„Tausend Eierdiebe mögen mir ihre Brut auf den Kopf werfen, wenn es in
einem Schneekrabbler nicht doch gemütlicher ist, als in dieser Sardinen
büchse!“
„Und wer noch?“ fragte Thunderclap lachend.
Wie nicht anders zu erwarten war, meldeten sich Tom Schlitz und ein gutes
Dutzend seiner Freunde. Sie hatten sich in den letzten zwei oder drei Wo
chen stark mit dem RotpelzClan, aus dem Alexander stammte, angefreundet
und wollten zurück in den Iglu, wo Fettwanst und seine Verwandtschaft sich
ihrer angenommen hatten.
Auch Daniel Locke wollte auf dem Planeten bleiben. Er genoß es, endlich
frei zu sein von einengenden Wänden. Er liebte es, stundenlang durch den
Schnee zu stapfen, die frische, ozonreiche Luft in die Lungen zu pumpen und
den kühlen Wind auf der Haut zu spüren. All das hatte er auf der Erde nie ge
kannt, und nun wollte er es gehörig auskosten. Das war verständlich.
Außerdem wollte Hugo ihn noch eine Weile unter Beobachtung haben, um
ganz sicher zu gehen, daß die Krankheit ausgeheilt war.
Es gab noch drei Menschen, für die Hugo sich stark interessierte, weil er
hoffte, etwas für sie tun zu können: Thunderclap, Lucky Cicero und Babs
Monroe. Thunderclap weigerte sich jedoch Stein und Bein, auf dem Planeten
zu bleiben. So gern er seinen Rollstuhl in die Ecke stellen wollte, war ihm
doch das Zusammenbleiben mit seinen engsten Freunden wichtiger – jeden
falls im Moment. Außerdem wußte er, daß selbst mit den medizinischen
Künsten der Galaktischen Mediziner eine Hilfe für ihn – wenn überhaupt
möglich – sehr, sehr langwierig war. Er hoffte, daß er später auf Hugos
Angebot zurückkommen konnte.
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Babs und Lucky ließ Hugo sich aber nicht entreißen. Babs war organisch
gesund, brauchte aber dringend eine eingehende psychische Behandlung.
Wie er Lucky helfen konnte, wußte er noch nicht, aber er war überzeugt,
daß ihm etwas einfallen würde. Einigen Freunden war es nicht so recht, daß
sie auf die Gesellschaft des immer fröhlichen Spielkameraden verzichten soll
ten, und sie meinten sogar, daß Lucky lieber so bleiben sollte, wie er war.
Aber schließlich sahen sie doch ein, daß sie sehr egoistisch dachten.
Sicherlich würde er etwas ernster werden, wenn es gelang, seinen Geist aus
diesem Kokon zu befreien, der ihn gegen die Umwelt abschirmte, weil dann
viele Probleme und Konflikte auf ihn warteten wie auf jeden Menschen.
Andererseits würde Lucky jedoch eine andere Art von Lebensfreude kennen
lernen, uns sein rätselhaftes Talent würde sich dann vielleicht voll entfalten.
Weil der kleine Mongoloide Lucky auf Nordpol blieb, wollte auch Fantasia
die nächste Reise nicht mitmachen. Ihr kleiner Liebling sollte nicht allein zu
rückbleiben. Es fiel ihr natürlich schwer, Micel und Ollie, ihre beiden anderen
„Pflegekinder“ ohne sie abreisen zu sehen, aber was sollte sie machen?
Die Freunde verloren mit Fantasia auch ihre allerbeste Ingenieurin, aber
man konnte sie ja schließlich nicht dazu zwingen, auf der EUKALYPTUS zu
bleiben. Und sie gönnten ihrem Freund Lucky, daß wenigstens einer aus dem
engsten Freundeskreis vom ehemaligen Deck 27 bei ihm blieb.
Noch jemand zog es zu Lucky, den Raufbolden und Rotpelzen. Das war zur
allgemeinen Überraschung Fidel Flottbek. Er wollte nicht so richtig mit der
Sprache herausrücken, weshalb gerade er, der die Erwachsenen doch gar
nicht leiden mochte, in nächster Nähe von Daniel und Babs bleiben wollte.
„Das sind keine richtigen Alten“, sagte er, als man ihn darauf ansprach, und
genauso meinte er es auch.
Wenn wir Flunki glauben dürfen, der bei aller Poltrigkeit eine Spürnase da
für hatte, blieb Fidel vor allem deshalb, weil eine gewisse rothaarige In
genieurin, die er gut leiden mochte, nicht mitfuhr, na ja, wer weiß, vielleicht
hatte Flunki auch nur geflunkert ...
Harpo guckte ein bißchen enttäuscht, als er hörte, daß Fantasia noch ande
re Verehrer hatte, nahm es aber hin.
Der kleine Trompo mochte ähnliche Probleme haben, denn der Abschied
von seiner neuen Gefährtin Neli fiel ihm ebenfalls nicht leicht. Aber Neli
wurde auf Hugos Hospitalstation gebraucht – und wenn etwas Trompo über
die Liebe ging, dann war es die Abenteuerlust.
Eine andere Entscheidung wäre auch deshalb schwer möglich gewesen,
weil der ganze Planet Nordpol mit allen Schneeiglus und Krabblern und Ve
getationsgürteln unter dem Schnee gar nicht ausgereicht hätte, um ein Ver
steck zu bieten vor dem kleinen Ollie. Der Krauskopf mit der
fransenverzierten Lederhose hätte es niemals geduldet, daß sein Spielkame
rad Fahnenflucht beging. Aber das wollte er ja auch gar nicht.
Lori Powitz fühlte sich hin und hergerissen zwischen den alten Freunden
an Bord und den neuen unter den Raufbolden, aber schließlich siegten Flun
ki und Borro.
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Flunki versprach hoch und heilig, aus Lori eine gute RaufboldFrau zu ma
chen, auf sie aufzupassen, sie zu beschützen und ihr nicht allzu viele
schlimme Flüche beizubringen.
Mit Alexander, dem rotbepelzten Bärenjungen, wurde ein neues Mitglied in
die Mannschaft aufgenommen. Fast ohne Unterbrechung erzählte er tage
lang vor der Abfahrt jedem, egal, ob er es hören wollte oder nicht, daß er sich
aufmachte, die allerschönste und allerlängste Entdeckerfahrt aller Rotpelze
zu unternehmen. Aber schließlich hatte er ja auch recht damit.
Endlich war der Starttag gekommen.
Alle hatten sich auf Nordpol versammelt. Die Raufbolde und Rotpelze
hatten sogleich ein großes Fest daraus gemacht und verabschiedeten die
Raumfahrer zu Hunderten. Und natürlich fehlte auch keiner der Zurück
bleibenden, auch Hugo und Neli nicht, als die letzten Kinder in die Beiboote
krochen, um auf das Raumschiff, das den Planeten umkreiste, zurückzukeh
ren.
Es gab ein paar Tränen, aber dann winkten und jubelten alle und freuten
sich schon jetzt auf das Wiedersehen.
Die nächste Weltraumexpedition der EUKALYPTUS konnte beginnen!
Schwatzmaul richtete seine elektronischen Lauscherohren wieder in den
Kosmos hinaus, in Richtung des neuen Kurses.
Dann begannen die Antriebsaggregate kaum merklich zu summen. Die EU
KALYPTUS drückte sich sanft aus der Umlaufbahn um Nordpol. Unter der
gleichmäßigen Beschleunigung wurde die Geschwindigkeit immer größer.
Für die Zurückbleibenden schrumpfte der Lichtfleck am Himmel zu einem
winzigen Stern zusammen und verging.
Niemand an Bord wußte, was sie in den nächsten Wochen und Monaten
erwarten mochte.
Aber irgendwo im weiten All, genau auf dem vorprogrammierten Kurs des
Raumschiffes, trieb ein uralter, eiserner Koloß.
Noch war er viele Millionen Kilometer von der EUKALYPTUS entfernt.
Doch das Raumschiff näherte sich ihm unaufhaltsam.
Irgendwann würden die Sensoren des Computers Alarm geben ...
Ende
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Die Besatzung der EUKALYPTUS
Harpo Trumpff:
Sechzehn. Blondes, schulterlanges Haar. Hat gelegentlich Angst vor dem
Alleinsein in der Dunkelheit. Grund seines Aufenthalts auf dem Sanatoriums
schiff: Schwindelanfälle, Gedächtnisstörungen nach Stürzen. Chronist und
Logbuchführer der EUKALYPTUS.
Anca Trumpff:
Harpos Schwester. Zwölf. Langes schwarzes Haar. Klein. Etwas pummelig.
Regt sich auf, wenn man sie „Pummelchen“ nennt. Liebt Tiere. Mit Ollie sehr
eng befreundet. Übertreibt gern. Wurde auf das Schiff geschickt, damit Harpo
sich nicht allein fühlt.
Brim Boriam:
Vierzehnjähriger Negerjunge. Krauses Haar. War anfangs sehr schüchtern.
Litt unter starken Sprachstörungen. Stottert jetzt nur noch, wenn er sehr auf
geregt ist. Hat medizinisches Talent. Wurde von den Galaktischen Medi
zinern in einem Schnellhypnose Verfahren zum Arzt ausgebildet.
Thunderclap Genius:
Deckname eines gelähmten fünfzehnjährigen Jungen. Hütet seinen echten
Namen sorgsam. Hochintelligenter Tüftler. Technisch begabt. Alleswissende
Leseratte mit eidetischem Gedächtnis (vergißt kaum etwas, was er einmal ge
hört oder gelesen hat). Hobby: Entschlüsseln von Geheimschriften.
Lucky Cicero:
Zehn. Kann nur wenige Worte sprechen. Mongoloide. Sehr verspielt.
Freundlich. Verfügt über geheimnisvolle parapsychologische Geisteskräfte.
Ist sich ihrer nicht bewußt. Kann sie nicht steuern. „Telekinet“ und
„Teleporter“ (Kann Gegenstände mit reiner Geisteskraft bewegen). Verfügt
über die Gabe, seinen Körper aufzulösen und an anderer Stelle wieder kom
plett zusammenzufügen. Verbringt seine Zeit hauptsächlich damit, zu
sammen mit Lonzo nach nicht existierenden Schätzen zu suchen. Beste
Freundin: Fantasia Einstein. Kümmert sich um ihn, als wäre er ihr kleiner
Bruder.
Lonzo:
Roboter. Im Gegensatz zu seinen maschinellen Kollegen, die wegen ihrer
teddybärartigen Aufmachung die „Grünen“ genannt werden, ohne Verklei
dung. Behauptet von sich, überhaupt keine Maschine, sondern ein ehema
liger Seeräuber zu sein. Ist zweifellos defekt. Steht voll auf der Seite der
Kinder. Akzeptieren ihn, so wie er ist. Klopft gern Sprüche. Hat so ziemlich je
des Buch über Piraten gelesen. Ist in der Lage, kleinere Verletzungen und
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Krankheiten mit einem eingebauten medizinischen System zu behandeln.
Besitzt aus Metallringen zusammengesetzte Beine und einen kugelrunden
Kopf.
Fantasia Einstein:
Fünfzehn. Rothaarig. Sensibel. Blaß. Wirkt nervös. Sehr still. Lerneifrig.
Kümmert sich rührend um Lucky Cicero. Möchte eines Tages Raumschiff
bauingenieurin werden.
Fidel Flottbek:
Dunkelblond. Hat Pickel. Neben Harpo und Thunderclap der älteste Junge
an Bord der EUKALYPTUS. Hatte eine schlimme Jugend. Wuchs in Waisen
häusern auf. Ist daher den Erwachsenen gegenüber nicht besonders positiv
eingestellt. Hält sie alle für schlecht. Kann aggressiv sein. Ist aber nicht ver
stockt, sondern kann einsichtig sein, wenn man ihm eine andere Meinung in
den richtigen Worten nahebringt.
Micel Fopp:
Vierzehn. Schwarzhaarig. Dunkle Augen. Wurde durch falsche Medi
kamente, die seine Mutter während ihrer Schwangerschaft einnahm, mit ver
kürzten Armen geboren. Hände klein wie die eines Fünfjährigen und direkt
an seinen Schultern angewachsen. Ansonsten körperlich unversehrt. „Tele
path“ (ist in der Lage Gedanken zu lesen).
Karlie Müllerchen:
Fünfzehn. 2,20 Meter groß. Niemand weiß, wann er aufhören wird zu
wachsen. Bürstenhaarschnitt. Liebt nichts mehr als Kartoffelpuffer. Tischt sie
jedesmal, wenn er mit Küchendienst an der Reihe ist, den anderen in hundert
Variationen auf. Hat Humor und starkes Interesse an Funktechnik und Astro
navigation.
Tom Schlitz:
Genannt „Big Tom“. Fünfzehn. Kaut ständig an den Fingernägeln. Hat
puppenhaftes, weißes Gesicht und einen muskulösen Körper für seine Größe.
Anfangs ein ziemlich ruppiger Bursche. Wird später den anderen mehr und
mehr zum Partner. Freundet sich mit Fidel Flottbek an, der in seiner Kindheit
eine ähnliche Entwicklung durchmachte.
Ollie:
Elf. Strubbelkopf. Fransenbesetzte Lederhose. Ziemlich frech. Sogenannter
„Hypochonder“ (eingebildeter Kranker). Kerngesund, redet sich aber ständig
ein, gegen alles und jeden allergisch zu sein. Schreit nach Medizin, sobald er
einen einsamen Pickel auf seiner Haut entdeckt. Sein Ziel: rasch erwachsen
zu werden, weil er Anca Trumpff heiraten will.
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Moritz: Dackel. Ollies Liebling. Darf eigentlich nicht in die Zentrale. Wird
von Ollie immer wieder eingeschmuggelt. Hat es auf Lonzos Metallbeine
abgesehen. Und auf Trompo, den er für eine Art Hund hält.
Trompo: Außerirdisches Wesen von Katzengröße. Sieht wie ein rosa
farbener Elefant aus. Schlappohren. Haut ist von einem Fell bedeckt. Ist kein
Tier, sondern ein intelligentes Lebewesen von einem Planeten mit unaus
sprechlichem Namen. Lebte als eine Art „Krankheitsaufspürer“ bei den Ga
laktischen Medizinern, bevor er auf das „Raumschiff der Kinder“ kam.
Babs Monroe: Geheimnisvolles, achtzehnjähriges Mädchen. Anwesenheit
auf der EUKALYPTUS bislang unerklärlich. Große blaue Augen. Mittellanges,
hellblondes Haar.
Daniel Locke: Mehr ein Mythos als eine Person. Ein Mann in einem gläser
nen Sarg. Die Kinder können mit ihm keine Verbindung aufnehmen, weil er
im Tiefschlaf liegt.
Schwatzmaul: Elektronengehirn der EUKALYPTUS. Umfaßt alle
elektronischen Teile, Steuer und Kontrollelemente des Schiffes. Und die
Speicherbänke. Die Bordbibliothek. Ist nicht perfekt. Muß manchmal
zugeben, daß er Wissenslücken hat. Redet mit menschlicher Stimme viel,
gern und geschwollen. Auch über Sachen, die keinen interessieren. Das hat
ihm seinen Namen eingetragen.
EUKALYPTUS: Den Namen erhielt das Schiff erst durch die Kinder. Obwohl
es ja eigentlich eher wie eine riesige Hantel aussieht. Zwei Kugeln, ein zy
lindrisches Verbindungsstück. Besteht aus einer Vielzahl von Decks, jedes ki
lometergroß, viele davon als künstliche Wüsten und Dschungel ausgestattet.
Ob das Raumfahrzeug ursprünglich als eine Art Auswanderungsschiff für
interstellare Reisen vorgesehen war, weiß man nicht so genau. Sicher ist nur,
daß es einen neuartigen, vorher nicht getesteten Antrieb besitzt, der mehrfa
che Lichtgeschwindigkeit zuläßt. Es umkreiste als Hospitalschiff für kranke
und umweltgestörte Kinder die Erde bis es sich aus noch ungeklärter Ursa
che aus seiner Umlaufbahn riß. Die ursprüngliche Besatzung ließ das Schiff
und die Kinder im Stich. Diese mußten selbst lernen, das Schiff zu steuern.
Oder steuern zu lassen, denn die meiste Arbeit nimmt ihnen der allgegen
wärtige Computer Schwatzmaul ab. Daß sich die EUKALYPTUS überhaupt
wieder manövrieren läßt, verdanken die Kinder vor allem den hilfreichen
„Weltraumärzten“, einer extraterrestrischen Rasse. Die EUKALYPTUS hat
mehrere Beiboote, Fabrikationsstätten für alles, was an Bord benötigt wird,
Wartungsroboter – und natürlich eine sehr tüchtige, aber auch fröhliche Be
satzung.
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