Henry Keating Mord ohne Möder (Eine Leiche zum Dessert)

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PLAYBOY

Roman

Henry Keating

Mord ohne Mörder

Eine Leiche zum Dessert

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Moewig

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PLAYBOY Band Nr. 6176

Moewig Taschenbuchverlag Rastatt

PLAYBOY, Häschenmarke, Playmate und

Femlin sind registered trademarks von

PLAYBOY Enterprises Inc., Chikago, USA

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Copyright © by F. A. Herbig Verlags-

buchhandlung, München

Lizenzausgabe mit Genehmigung

Umschlagillustration: Tom Rummonds

Umschlagentwurf und -gestaltung: Franz

Wöllzenmüller, München Verkaufspreis inkl.

gesetzt. Mehrwertsteuer

Auslieferung in Österreich: Pressegroßver-

trieb Salzburg, Niederalm 300, A-5081 Anif

Printed in Germany 1986

Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin

ISBN 3-8118-6176-X

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1

»Nein!«
Die Stimme hallte wütend durch die

hohe, ehrwürdige Bibliothek des alten
Hauses.

»Nein, nein, nein, nein, nein. Das kann

nicht wahr sein. Das darf nicht wahr sein.
Das ist einfach entsetzlich. Eine Zumutung.«

Lionel Twain, an achtzehnter Stelle der

reichsten Männer dieser Welt – ach nein,
Verzeihung, an siebzehnter: gerade kam die
Nachricht vom bedauerlichen Hinscheiden
der laufenden Nummer 17 – demnach also
an siebzehnter Stelle der reichsten Männer
dieser Welt, feuerte das Buch, das er gerade
zu Ende gelesen hatte, vom einen Ende sein-
er Bibliothek in die entfernteste Ecke.

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Und was für ein Wurf das war! Der Raum

war etwa fünfundzwanzig Meter lang, und
jeder dieser Meter war ringsum von unten
bis oben bedeckt mit Büchern; Bücher in
kostbares altes Kalbsleder gebunden. Die
Titel auf ihren eleganten Rücken waren er-
haben in Gold geprägt. Diese Bücher waren
die schönsten Ausgaben, die es gab. Und
jedes einzelne von ihnen war ein Krimi;
einschließlich desjenigen, den Lionel Twain
gerade mit solcher Wut quer durch den gan-
zen Raum geschleudert hatte.

Er setzte sich in seinem großen Lederses-

sel etwas aufrecht und starrte in das ge-
waltige, harmlose Feuer in dem gewaltigen,
harmlosen Kamin.

»Nein«, wiederholte er noch einmal, und

seine Stimme bebte noch immer vor Zorn.
»Das ist einfach nicht gut genug. Das war
jetzt der millionste Krimi, den ich gelesen
habe, und er hat eine verdammt alberne, un-
wahrscheinliche Auflösung, genau wie all die

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anderen

neunhundertneunundneun-

zigtausend,

neunhundertneunundneunzig.

Nein. Nein. Nein! So kann das nicht
weitergehen.«

Er nahm die kleine Glocke neben sich

und läutete nach Benson, seinem treuen But-
ler. Im Augenblick konnte er nur an den
Drink denken, den er jetzt brauchte. Einen
großen und sehr starken Drink. Einen Drink,
der

bewirken

konnte,

daß

der

siebzehntreichste Mann der Welt seinen
Kummer vergaß, den Kummer über seine
schreckliche Entdeckung. Im Zuge seiner
Lieblingsbeschäftigung hatte er nunmehr
nicht weniger als eine Million Kriminal-
romane gelesen; sie hatten alle eines gemein-
sam: der jeweilige Schluß war zu glanzvoll,
um wahrscheinlich oder auch nur möglich zu
sein.

Aber als Benson schließlich die Biblio-

thek betrat – denn er hatte einen langen,
langen

Weg

zurückzulegen

von

den

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Wirtschaftsräumen dieses großen alten, ein-
samen Hauses – lagen Lionel Twains Wün-
sche auf ganz anderer Ebene. Auch der Aus-
druck auf seinem Gesicht hatte sich in der
Zwischenzeit total verändert.

Seine Augen sprühten jetzt nicht mehr

vor Wut, sondern nun lag in ihnen der Aus-
druck wilder Entschlossenheit. Und wenn
ein Mann wie Twain, der durch eigene An-
strengung reich geworden war (jedenfalls bis
zur

letzten

Beförderung),

sich

einmal

entschlossen hatte, sollte man ihm lieber aus
dem Weg gehen oder eben tun, was er sagte.
Lionel Twain wurde dann zu einem kleinen
Dynamo, zu einem kleinen, atomgetriebenen
Dynamo.

»Benson!« brüllte er (sein Brüllen hatte

ein wenig von dem Brüllen einer Maus, aber
das machte ja nichts). »Benson, bring mir
ein paar Einladungskarten. Gott noch mal,
bring mir fünf Bütten-Einladungskarten.«

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In weniger als einem Augenblick lagen

fünf Einladungskarten, dick, reinweiß und
Bütten vor ihm auf einem Silbertablett.
(Glücklicherweise hatte sich der alte Benson
daran erinnert, daß noch ein Packen Ein-
ladungskarten in einer Schublade von
Twains großem alten Eichenschreibtisch
lagen.)

»Benson«, sagte Lionel Twain, »ich habe

folgendes vor…«

»Jawohl, Sir.«
»Ach, übrigens, würdest du zuerst mal

den kalbsledergebundenen Band da hinten
in der Ecke aufheben. Er liegt auf dem
Boden. Kann mir gar nicht vorstellen, wie er
dahingekommen ist.«

»Nein, Sir, höchst seltsam«, sagte Benson

und machte sich auf den Weg.

»Höchst seltsam, höchst seltsam. Es ist ja

schließlich ein Krimi. Ein ausgesprochen
seltsamer dazu, verdammt noch mal.«

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Lionel Twain empfand einen Hauch von

Amüsement. Warum auch nicht, wenn er
einen Witz machte.

Er hatte kaum aufgehört, lautlos in sich

hineinzukichern, als Benson mit dem mil-
lionsten enttäuschenden Krimi zurückkam.

»So, Benson, jetzt hör mal zu«, sagte sein

Herr und betupfte vornehm seine Augen.
»Wir werden eine Dinner-Party geben.«

»Sehr wohl, Sir.«
Benson war ein in England ausgebildeter

Butler und kannte sich aus, was ein hie und
da diskret gemurmeltes »Sehr wohl, Sir«
betraf.

»Jawohl, sehr wohl, Benson. Und rate,

wem wir dazu einladen werden.«

»Wen werden wir dazu einladen, Sir?«
Benson verstand sich auch sehr gut da-

rauf, bei grammatikalischen Mißachtungen,
die über die Lippen seines nicht britischge-
borenen Herrn kommen sollten, diskrete
Korrekturen anzubringen. Er kann ja nichts

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dafür, dachte er oft nachsichtig, ihm waren
eben gewisse Geburtsprivilegien vorenthal-
ten worden. Ich meine, wenn man schon
unter einem Präsidenten Soundso leben
mußte… na, unter solchen Umständen kon-
nte man eben keine Grammatik erwarten.

»Benson«, entgegnete Lionel Twain un-

beeindruckt von dieser diskreten Verbesser-
ung, denn man wurde nicht so reich wie
Twain, wenn man sich von irgend jemand et-
was sagen ließ. »Benson, wir werden die fünf
berühmtesten Detektive der ganzen Weltlit-
eratur zum Dinner einladen. Und, Benson…«

»Jawohl, Sir.«
Ganz diskret, ganz Benson.
»Benson, wir werden ihnen einen Mord-

fall liefern, der beweist, daß sie auch nicht
halb so verdammt klug sind, wie sie zu sein
glauben.«

»Sehr wohl, Sir.«
Lionel Twain hätte eigentlich eine etwas

heftigere

Reaktion

auf

seinen

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außergewöhnlichen Einfall erwartet. Aber er
wußte andererseits, daß er sich nicht um-
sonst einen englisch-perfekten Butler enga-
giert hatte. Man bekam seinen Service – man
bekam seine diskreten leisen Antworten –
man bekam grammatikalische Korrekturen.
Aber auf spontanes Überraschtsein mußte
man verzichten.

Oder man mußte sich selbst überraschen.
»Nun, Benson, du wirst Zeuge einer der

größten Kriminalfälle aller Zeiten werden.
Und du wirst die fünf berühmtesten Detekt-
ive zu sehen bekommen, die es heute gibt.
Und du wirst sie total verwirrt und ratlos
sehen.«

»Tatsächlich, Sir?« murmelte Benson.
Aber lag nicht diesmal in dem diskreten

Murmeln ein Hauch, ein kleiner Hauch von
Ungläubigkeit oder gar Erstaunen? Hegte
Benson vielleicht tief in seinem geheimsten
Innern eine kleine glühende Verehrung für
die großen Detektive, deren Abenteuer auch

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er gelesen hatte in den kalbsledergebunden-
en, kostbaren Ausgaben, mit denen die
Wände der geräumigen Bibliothek vom
Boden bis zur Decke bedeckt waren? Sagte
Benson vielleicht gerade zu sich selbst:
»Warten wir’s ab?«

Genau das.
Nichtsdestotrotz

verließen

nach

an-

gemessener Zeit fünf Einladungen das ehr-
würdige Haus an der Lola Lane. Fünf
schwarz beschriftete Einladungen auf gol-
dumrandetem Büttenpapier.

Und Lionel Twain war ganz sicher, daß,

obwohl einige seiner Gäste einen halben Er-
dumfang von diesem fast düsteren, re-
gengepeitschten, Viktorianischen Haus ober-
halb der großen Metropole San Francisco
wohnten, jeder einzelne von ihnen rechtzeit-
ig zur angegebenen Zeit kommen würde. Der
Wortlaut der Einladung ließ keinen Zweifel
daran:

Sie werden freundlichst eingeladen

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zum Dinner…

sowie zu einem MORD

Ort: 22 Lola Lane, San Francisco

Zeit: am kommenden Samstag um 7 Uhr

abends.

Lionel Twains kleine, weiße Hand nahm

den obersten Briefumschlag von dem kleinen
Stapel von Kuverts auf dem alten Schreibt-
isch in der Bibliothek. Die Anschrift lag un-
ten, als das Kuvert in den hellen Lichtkegel
der hohen, schweren Schreibtischlampe
gelegt wurde. Das Kuvert wurde sanft em-
porgehoben. Einen Augenblick lang hing es
schwer und gewichtig an einer Ecke zwis-
chen den Fingerspitzen, bislang noch ohne
die schwere Bütten-Einladung. Dann wurde
es

mit

einer

plötzlichen

Wendung

umgedreht.

Der Umschlag trug bereits eine Adresse,

handgeschrieben

mit

dicker,

schwarzer

Tinte. Es war die gleiche Handschrift wie die
der

Unterschrift:

Lionel

Twain.

Eine

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eigenartige Handschrift. Ein guter Grapho-
loge hätte in all diesen Schnörkeln und Sch-
leifen ein Festessen gesehen, in dem Sch-
wung und den Extravaganzen. Aber davon
abgesehen hatte Lionel Twain es immer
sorgfältig vermieden, daß seine Handschrift
unter ein Mikroskop oder in die Hände qual-
ifizierter oder gar gerichtlicher Graphologen
geriet. Lionel Twain war ein sehr vorsichtiger
Mann.

Das wurde schon dabei offenbar, in welch

vorsichtiger Weise er zu formulieren pflegte.
Außergewöhnliche Vor- und Umsicht. Er war
ein Talent, gar ein Genius darin, kein unvor-
sichtiges Wort fallenzulassen. Das sowie ein
weiteres Talent – ebenfalls genial – für das
Makabre. Er beherrschte jede seiner Gesten,
jedes Wort – er war ein glänzender
Schauspieler.

In der Tat würde genau das Wissen um

diese Eigenschaften die höchst auserlesenen
Gäste an den Tisch dieses speziellen Dinners

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locken. Sicher wie ein gigantischer Elektro-
magnet in dunkelster Nacht würde es den er-
sten Gast anziehen, dessen Name auf dem
schweren weißen Kuvert geschrieben stand,
auf dem Lionel Twains Blicke gerade ruhten:

Mr. Dick Charleston und
Mrs. Dora Charleston
und ihr Terrier-Hündchen

Dick Charleston gehörte zu dem halben

Dutzend der berühmtesten Detektive der
Welt. Einst war Dick Charleston, kühl und
unnahbar, das As der Pan-American Invest-
igation Agency gewesen; dann hatte er sich
zur Ruhe gesetzt und war seither glücklich
verheiratet mit der süßesten, intelligen-
testen, vorlautesten Millionenerbin zwischen
Cape Cod und der Golden Gate Bridge, sein-
er liebsten Gefährtin, sowie einer gewissen
Myron,

der

bellenden,

anhänglichen

Myron…

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Die erste Einladungskarte glitt sacht in

ihren schweren Umschlag. Der Umschlag
wurde hochgehoben, aus dem Lichtkegel
genommen und außerhalb desselben kurz
mit einer Zungenspitze berührt, einer klein-
en, spitzen, sehr rosigen Zunge, und dann
fest verschlossen.

Wieder im Licht griff Lionel Twain nach

dem nächsten Kuvert. Wieder hielt er es ein-
ige wenige Sekunden lang zwischen seinen
sorgfältig manikürten Fingerspitzen, wobei
die Anschrift, Name und Adresse abgewandt
und noch im Geheimen des alten Eichens-
chreibtisches lagen. Dann brachte es das
grelle Licht an den Tag – offensichtlich zu
Twains Vergnügen:

Inspektor Sidney Wang

im Hause des Hauptpolizeireviers, Cataline,

Calif.

Es konnte kaum ein Zweifel daran be-

stehen, daß Sidney Wang, der hawaiianisch-
chinesische Detektiv, mindestens so gefeiert

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und hochgeschätzt wie Dick Charleston, der
rätselhafte Rätsellöser des Außergewöhn-
lichen, diese mysteriöse Einladung für den
kommenden Samstag zum Dinner anneh-
men würde, zum Dinner und zum Mord,
einem Mord, mit Bedacht geplant für diesen
unausweichlichen Zeitpunkt.

Ein verhaltenes Donnergrollen lag in der

Luft – vielleicht auch ein Kichern aus der
Dunkelheit der großen Bibliothek hinter dem
grellen Lichtkegel der Schreibtischlampe. Vi-
elleicht war es aber nur das niederbrennende
Feuer in dem großen Kamin…

Und schon wurde die dritte Karte aufge-

hoben, wie schwebend an einer Ecke zwis-
chen zwei wohlgepflegten Fingerspitzen ge-
halten und schwungvoll ins Licht gedreht:

Monsieur Milo Perrier

Blackharbour Mansions, London W.1.,

England

Milo Perrier, ein listiger kleiner belgis-

cher Detektiv, der schon lange in England

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lebte, wohin es ihn als Flüchtling in den lang
vergangenen Tagen des Ersten Weltkrieges
verschlagen hatte, war ein Meister der klein-
en grauen Zellen, stolzer Besitzer eines
moustache formidable. Auch er würde völlig
außerstande sein, dieser Einladung nicht
Folge zu leisten. Anwesend zu sein, wenn ein
Mord begangen wurde! Nun, für ihn konnte
es doch nur eine Sache der genauen Überle-
gung und Kombination sein, den Mörder zu
überführen. Jawohl, kein Zweifel, Monsieur
Milo Perrier würde eilends den Atlantik
überqueren (so sehr er Reisen haßte), um
beim Dinner am kommenden Samstag
Abend hier in der Lola Lane anwesend zu
sein. Und – dessen durfte man sicher sein –
wenn die Einladung auf sieben Uhr abends
lautete, würde er pünktlich um sieben Uhr
eintreffen.

Wieder trat die böse kleine rosa Zunge in

Aktion. Der dritte Brief wurde versiegelt.
Und wieder nahm Lionel Twain den

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nächsten Umschlag mit der Anschrift nach
unten von dem kleinen Stapel und machte
sich ein spannendes Vergnügen daraus, den
schon geschriebenen Namen bis zum letzten
Moment im Verborgenen zu lassen.

Ein greller Blitz zerriß die Dunkelheit vor

den hohen Fenstern des großen alten
Raumes. Er zuckte grün und rot. Und noch
bevor das folgende Donnerkrachen losbrach,
wurde

der

Umschlag

umgedreht.

Der

schwarzgeschriebene Name war klar zu
lesen:

Mr. Sam Diamond

Sam Diamond, so lautete der Name. Und

die Adresse? Ein schäbiges Büro in einem
wenig vornehmen Teil San Franciscos. Ein
Büro mit einem schäbigen Drehstuhl hinter
einem ebenso schäbigen Schreibtisch, darauf
ein Blechaschenbecher, immer halb mit
Zigarettenkippen gefüllt und auf den ver-
streuten Papieren hatten sich überall kleine
Ascheflöckchen niedergelassen. Ein Büro mit

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einem nackten Fenster, ohne Vorhang, das
nur manchmal geöffnet wurde, wenn zufällig
kein Nebel und es auch nicht gerade uner-
träglich heiß war. Aus dem schmalen Hinter-
hof

stieg

ein

leiser

Hauch

von

salmiakgeschwängerter Luft auf, gerade
genug, um die verstreute Asche auf den
Schreibtischpapieren zu trägen Bewegungen
zu ermuntern, bevor sie sich an anderer
Stelle wieder niederließ. Das Büro eines Priv-
atdetektivs. In dem schäbigen Aktenschrank
hinter dem Schreibtisch stand immer eine
Flasche Bourbon und ein halbes Dutzend
Pappbecher, die darauf warteten, benutzt zu
werden.

Aber welch ein Privatdetektiv! Jeder kan-

nte ihn. Er pflegte seine Fälle nicht einfach
zu lösen, sondern er brachte sie sozusagen
zur Explosion. Eine Explosion mit Blitz und
Donner.

Sam Diamond war kein ausgesprochener

Dinner-Gast, der im Smoking daherkommen

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würde. Aber Sam Diamond würde mit
größter Wahrscheinlichkeit die Dinner-Ein-
ladung für den nächsten Samstag annehmen.

Flick, flick ging die kleine rosa Zungen-

spitze wieder einmal. Ein kleines Hüsteln
wurde

aus

dem

Dunkel

hinter

dem

Lichtkegel hörbar. Ein kleines, selbstzu-
friedenes Hüsteln. Oder waren es nur die
Buchenscheite im Kaminfeuer, die in ihrem
glühendroten Bett zusammenrutschten?

Noch einer. Das letzte Kuvert wurde er-

griffen, einen Augenblick in der Schwebe ge-
halten

und

dann

dem

hellen

Licht

ausgesetzt:

Miss Jessica Marbles,

Church Cottage, Mead St. Mary, Sussex,

England

Wie kam eine solche Adresse in die

Gesellschaft der übrigen Kuverts? Sollte dem
Einladenden,

der

doch

sonst

so

außergewöhnliche Sorgfalt an den Tag gelegt

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hatte, ein Irrtum unterlaufen sein? Jetzt
schon?

Mitnichten,

obgleich

Miss

Jessica

Marbles wohl nicht zu den professionellen
Detektiven gerechnet werden konnte. Sie
war ebensowenig ein Polizist oder gar eine
Polizistin wie man eine Schmusekatze als Ti-
ger bezeichnen würde. Aber zu ihrer Zeit
hatte sie Fälle gelöst, die der größten Meister
würdig gewesen waren. Da gab es die denk-
würdige Geschichte von dem berühmten
Hollywood-Filmstar, der in dear old England
an den Galgen mußte, weil er die gleichen
charakteristischen

Züge hatte wie ein

Gemüsehändlerssohn, der seine Liebste
hatte sitzenlassen. Dann die Sache mit dem
Millionär, der als großer Philanthrop galt,
dessen Gesicht Miss Marbles jedoch so stark
an die Gesichtszüge des Pfadfinderführers
des kleinen Städtchens erinnerte, der sich
früher einmal mit den ganzen achtundzwan-
zig Pfund, drei Shillingen und vier Pence des

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lokalen Ausflugsfonds davongemacht hatte.
Und dieser Millionär wurde gerade noch
rechtzeitig daran gehindert, die Küste von
dear old England, mit Wertpapieren von
über einer Million Pfund, im doppelten
Boden seines Krokodillederköfferchens ver-
staut, zu verlassen.

Nein, wenn es um Verbrechen ging, kon-

nte Miss Marbles mitreden. Und wenngleich
es für eine ältere Dame beschwerlich war,
den Atlantik und die gesamte Breite der
Vereinigten Staaten zu überqueren, konnte
doch kein Zweifel daran bestehen, daß Jes-
sica Marbles am kommenden Samstag hier
in Nr. 22, Lola Lane, San Francisco, an der
Dinner-Tafel sitzen würde – Nebel oder kein
Nebel. Miss Jessica Marbles war eine ver-
dammt entschlossene alte Dame.

Der letzte Brief bekam einen kleinen Kuß

von der kleinen rosa Zunge, wurde versiegelt
und auf den Stapel zu den anderen gelegt.
Eine geisterhaft weiße Hand streckte sich

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über die große dunkle Fläche des prächtigen
Schreibtisches nach der kleinen Glocke aus
und läutete.

Das zarte Klingeln verlor sich in der Fin-

sternis des großen alten Hauses und erstarb.
Stille breitete sich wieder aus. In der Ferne
grollte noch ein-, zweimal der Donner, und
Regen klopfte beständig gegen die hohen
Fenster.

Dann wurde die Stille plötzlich durch ein-

en kleinen, kaum hörbaren Laut gebrochen.
Tap.

Wieder Stille. Der Regen fiel sanft gegen

das Glas der hohen Fenster. Vom Kamin
kam kaum mehr ein Laut. Die Gestalt am
Schreibtisch war bewegungslos wie eine
Statue, eine wartende Statue.

Tap. Tap, tap. Tap, tap, tap. Tap.
In jeder Sekunde kam das leise Geräusch

ein wenig näher, immer das gleiche
schwache Geräusch in dem völlig stillen
großen, unheimlichen, viktorianischen Haus.

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Ein abgehacktes, leises Geräusch, dessen
Quelle schwer zu bestimmen war.

Die Blitze, die jetzt weiter entfernt

schienen, zuckten hin und wieder auf. Ein
schwaches

rotes

mit

grün

gemischtes

Leuchten huschte spielerisch über die satten
Ledersessel und über die schier endlosen
Reihen muffig riechender Bände in den
Regalen.

Tap, tap. Tap. Top.
Lauter und lauter jetzt. Näher und näher.

Unregelmäßig. Wenn auch leise, so doch un-
überhörbar. Leise wie Geisterschritte. Tap.
Tap, tap, tap. Tap.

Noch immer rührte sich die Gestalt am

Schreibtisch nicht. Noch immer glühte das
Feuer in dem gewaltigen Kamin lautlos vor
sich hin. Noch immer fiel der Lichtkegel der
Schreibtischlampe auf die fünf Briefkuverts
auf

der

dunklen

Fläche

des

großen

Schreibtisches.

Tap, tap, tap. Tap, tap, tap.

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Und jetzt war es schon sehr nah, ziemlich

nahe an der Tür.

Und dann wieder Stille. Stille in der alten

Bibliothek. Und Stille außerhalb der Türe.

Und dann, sehr leise, auch von den quali-

fiziertesten Ohren kaum zu hören, kam ein
suchendes Streichen. Ein suchendes, sanftes
Streichen an der Außenseite der hohen
Bibliothekstür.

Die Gestalt am Schreibtisch, die still über

die fünf Einladungen gebeugt dasaß, hatte
sich noch keinen Millimeter gerührt.

Dann erstarb das Geräusch. Langsam

drehte sich der Türknauf…

»Sie haben geläutet, Sir?«
Es war Benson. Nach wie vor sah er aus

wie die Inkarnation eines Butlers, von sch-
lanker

Gestalt,

mit

indifferenziertem

Gesichtsausdruck, der schwarzen Jacke und
den gestreiften Hosen, maßgeschneiderter
Service,

die

Verkörperung

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unausgesprochener Wünsche, die er besser
kannte als man selbst.

Und doch war jetzt etwas anders an ihm.

Er trug kein silbernes Tablett mehr vor sich
her, auf dem gewöhnlich genau der Drink
stand, von dem sein Herr gerade erst zu
ahnen begann, daß er ihn sich wünschte.
Statt dessen hielt seine rechte Hand lässig
einen langen, weißgestrichenen Spazier-
stock. Dieser Stock hatte das Tap-tappen von
den weit entfernten Wirtschaftsräumen bis
hierher verursacht. Tastend hatte er seinen
Weggesucht durch die langen, düsteren Kor-
ridore, tastend hier eine Treppenflucht hin-
auf, dort eine hinunter, und war schließlich
tastend zum Ausgangspunkt des kleinen
Glockenläutens gelangt. Denn Benson war
blind wie ein Maulwurf. Sein glattes, leicht
fragendes Gesicht war von einer großen,
schwarzen Brille beherrscht.

»Sie haben geläutet, Sir?«

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»Ja«, sagte Twain, »die Einladungen sind

fertig. Würdest du sie bitte frankieren und
zur Post bringen. Sie sollten noch heute
abend auf den Weg kommen.«

»Sehr wohl, Sir.«
Aus dem kleinen Kästchen, das den Mit-

telpunkt der Schreibtischgarnitur bildete,
nahm Twain eine Handvoll Briefmarken und
hielt sie Benson hin. »Hier, bitte.«

Benson nahm sie in Empfang, als hätte er

die ausgestreckte Hand sehen können. Er
nahm die erste Marke, führte sie an den
Mund, leckte sie an, beugte sich leicht vor
und klebte sie an ihren Platz. So machte er
die Briefe einen nach dem anderen fertig.
Dann richtete er sich wieder auf.

»Sie glauben wirklich, daß sie kommen

werden, Sir?« erlaubte sich Benson mit
einem Hauch von möglichem Zweifel zu
fragen.

Mit einem kaum hörbaren Seufzer – viel-

leicht der Zufriedenheit? – antwortete der

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Herr des Hauses zuversichtlich. »O ja, sie
werden kommen. Sie werden bestimmt
kommen.«

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2

Nebel. Nebel überall. Nebel bis hinunter

zur San Francisco Bay, er wogte vorbei an
Goat Island und Angel Island und Alcatraz.
Nebel in allen Straßen; er schob sich zwis-
chen den Häuserblocks hindurch und über
die Gehsteige der großen (und schmutzigen)
Stadt. Nebel in Chinatown, Nebel in Nob
Hill. Nebel kroch in die Abteile der Cable-
Car, Nebel lag auf den Dächern und fing sich
in den Fernsehantennen der Hochhäuser;
Nebel verhüllte die Leuchtreklamen der Res-
taurants und Nightclubs. Nebel geriet in
Hals und Augen der alten Küstenbewohner
und vernebelte ihre Mattscheiben; Nebel
kroch in Kopf und Stiel der Feierabendp-
feifen, bis in den tiefsten Keller; kalter Nebel
griff grausam in die Fingerspitzen und Zehen

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der kleinen Mädchen, die auf dem Weg zum
nächsten Schnapsladen waren. Die wenigen
Autofahrer, die sich auf der Golden Gate
Bridge befanden und aus ihrem Wagenfen-
ster in die dichten Nebelschwaden unten
schauten, fühlten sich in einen Hubs-
chrauber versetzt, der in eine dicke Wolke
hineingeraten war.

Am unheimlichsten war dieser unheim-

liche Abend jedoch in der Nähe der hohen al-
ten viktorianischen Häuser, die an beiden
Seiten der Lola Lane in dem dichten Nebel
standen, der hier am dichtesten war. In der
Lola Lane Nr. 22 schien überhaupt die
Quelle des Nebels zu liegen.

Das war nicht weiter überraschend, da

Lionel Twain, als meisterhafter Showman
des Makabren, auf seinem ausgedehnten
Besitz die größte gottverdammte Nebel-
maschine bauen ließ, die für Geld zu kriegen
war.

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Irgendwo da draußen krochen fünf Autos

durch den Nebel zur Lola Lane. Fünf
hochangesehene Persönlichkeiten befanden
sich auf dem Weg zu einer Einladung zum
Mord. Am weitesten vorgedrungen war ein
altes Rolls-Royce-Cabriolet. Ein toller Wa-
gen, wenn auch nicht gerade besonders
geeignet für das derzeitige Wetter. Aber man
sah ihm den Chic, die Distinguiertheit und
das dicke Bankkonto an. Man sah ihm auch
seinen zuverlässigen Motor und seine vom
Handwerk garantierte Verläßlichkeit an.
Genau in diesem Augenblick, allerdings,
blieb er stehen. Dick Charleston, elegant im
Smoking (mit Schalkragen) – letzter Schrei –
stand an der Straße und sah in den Motor
hinunter. In der rechten Hand hielt er mit
der unvergleichlichen Könnerschaft, die
lange, lange Übung ausmacht, ein Glas
Martini. Im Wagen saß seine Frau, Dora, un-
ablässig mit Puderquaste und Schminkstift
beschäftigt. Das Kleid, das sie trug, ließ

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einen Schalkragen – und sonstige Kragen –
vergessen. Es war einfach umwerfend – und
auch sehr teuer. Ganz sicher war es nicht die
zweckmäßigste Bekleidung in einer solch
verdammten Nebelnacht. Der Hund Myron
war da besser dran. Er saß neben Dora in
seinem eigenen, dickwolligen Fellkleid.

Der Rolls-Royce seinerseits wurde gut

gesehen. Und zwar von keinem geringeren
als Lionel Twain.

Mit beträchtlichem Kostenaufwand hat-

ten gewisse Herren, die auf Umwegen von
ihm dazu engagiert worden waren, den
Charleston-Garagen (Platz für fünf Autos)
einen Besuch abgestattet und den Rolls, den
Dick immer für Besuchsfahrten zu benutzten
pflegte – schließlich hatte er Stil – mit gewis-
sen zusätzlichen Extras ausgestattet. Unter
anderem mit einigen Mikrophonen, einem
ausgezeichneten kleinen Mini-Sender und
zwei sorgfältig versteckten Fernsehkameras.

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So konnte also jedes Detail der Panne

klar empfangen werden, und zwar in Farbe,
auf

einem

großen

Bildschirm

im

Fernsehraum der 22, Lola Lane, San Fran-
cisco. Und in diesem Fernsehraum verfolgte
Lionel Twain alle Vorgänge mit fröhlichem
Interesse.

»Hast du schon herausgefunden, woran

es liegt, Dickie?« hörte er Doras anteil-
nehmende Frage.

Woher hatte sie bloß diesen britischen

Akzent, fragte er sich. Vielleicht aus der
gleichen

Gegend,

aus

der

ihr

atem-

beraubendes Kleid stammte. Um beides war
sie zu beneiden.

Dick hob den Blick von den maschinell

gefertigten Teilen des Innenlebens des Rolls-
Royce.

»Ja, Schätzchen«, antwortete er. »Oder

jedenfalls bin ich schon nahe dran.«

»Nahe dran, Schätzchen?«
»Am Motor, Schätzchen.«

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Er gönnte sich einen kleinen Schluck von

seinem Martini. Den brauchte er noch.

»Gut gemacht, Liebling«, sagte Dora

anerkennend.

»Danke, Liebes«, kam es automatisch

von ihm zurück.

Dora dachte über die letzte Auskunft von

Dick nach. Myron neben ihr sah auch ein
wenig nachdenklich aus.

Dann kam Dora auf einen neuen

Gedanken.

»Kannst du’s reparieren, Lieber?«
»Nur, wenn ich was von Motoren ver-

stünde«, entgegnete Dick und gab damit eine
gewisse Unvollkommenheit zu.

»Mutter«, bemerkte Dora, indem sie halb

in die Nebelnacht hinaussprach und halb an
ihren Hund gewandt, »Mutter hat mich im-
mer davor gewarnt, einen Detektiv zu
heiraten.«

Myron zeigte eine Spur von Interesse, im

Gegensatz zu der Nebelnacht draußen und so

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fuhr Dora fort: »Mutter sagte immer: ›Dora-
Kind, eines Nachts wirst du dich verloren in
einer nebligen Nacht wiederfinden, auf dem
Weg zu einem unheimlichen Haus, und dann
werdet ihr plötzlich eine Panne haben und
dein

Mann

wird

hilflos

davorstehen,

ahnungslos in den Motor starren und dazu
einen Martini trinken.‹«

»Das hat Mutter gesagt?« wollte Dick

wissen.

»Genau das waren ihre Worte. Sie war

eine sehr kluge Frau.«

»Und glücklicherweise«, setzte Dick leise

hinzu, »sehr reich.«

Wieder starrte er lang und mit gerunzel-

ter Stirn in die von Mr. Rolls und Mr. Royce
ausgetüftelten Kniffeligkeiten. »Ah!« rief er
dann. »Würdest du bitte mal ins Hand-
schuhfach sehen, Liebling?«

Dora öffnete es eilfertig.

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»Was brauchst du denn?« fragte sie mit

gedämpfter Stimme, da ihr Köpf halb in dem
geräumigen Handschuhfach verschwand.

»Die Oliven«, gab Dick ungeniert zurück.

»Ich habe die Oliven da hineingelegt. Ich
mag einfach keinen Martini ohne Olive.«

Ganz weiblicher Gehorsam zog Dora das

kleine Olivengläschen hervor.

Myron, der sich wohl auch etwas

Nahrhaftes aus dem Handschuhfach er-
hoffte, leckte liebevoll Doras Gesicht.

»Myron, bitte, hör auf zu lecken«, sagte

sie, soweit sie wegen der aktiven kleinen ro-
ten Zunge sprechen konnte. »Mami hat sich
doch gerade frisch gepudert.«

Das Bewußtsein, daß sie jetzt wahr-

scheinlich wie ein farbenfrohes impression-
istisches Gemälde nach einem schicksal-
haften Regenguß aussah, warf Dora seelisch
etwas zurück.

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»Dickie«, sagte sie, »meinst du nicht

auch, daß wir uns vielleicht nach einer Tele-
fonzelle umsehen sollten?«

Dick war zu beschäftigt, seine Olive

schwungvoll im Glas kreisen zu lassen, als
daß er ihr eine wohlüberlegte Antwort hätte
geben können.

»Moment, mein Schätzchen.«
Plötzlich erscholl aus der Dunkelheit das

schauerliche Geheul eines Wolfs, dank Mr.
Lionel

Twain

und

einer

kostspieligen

elektronischen Lautsprecheranlage.

»Nun«, sagte Dick unbeeindruckt, »wenn

du keine Ruhe gibst. Gehen wir eben eine
Telefonzelle suchen.«

Im Fernsehraum im Haus Nr. 22 sah

Lionel Twain zu, wie die drei loszogen: Dick
noch immer mit seinem Martiniglas in der
Hand, Dora, wie sie vorsichtig die Weite
ihres unbeschreiblichen Kleides eng um sich
raffte – obwohl es an gewissen Stellen wohl
kaum enger oder körpernäher hätte sein

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können – und Myron am Ende seiner Leine
hinterhertrottete. Vielleicht war es Dicks
Beispiel, das ihn inspirierte, denn Twain
läutete nach Benson wegen eines besonders
großen Martini, mit Olive.

Benson hatte, wie sich zeigte, bereits er-

raten, daß sein Herr um etwa diese Zeit ein-
en Martini wünschen würde – und daß der
Martini mit Olive gewünscht werden würde.
Er hatte direkt hinter der hohen Sessellehne
seines Herrn gestanden und schon seit eini-
gen Minuten mit stillem Interesse die Ges-
chehnisse in und um den Rolls Royce herum
mit angesehen.

»Ich hatte den Eindruck«, sagte er milde,

während er das Glas auf dem Silbertablett
hinüberreichte, »daß Mr. Charleston sich in
Anbetracht der Motorpanne sehr gelassen
und bewunderungswürdig souverän verhal-
ten hat.«

»Bah«, entgegnete Lionel Twain.
»Bah, Sir?« erkundigte sich Benson.

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»Motorpanne, bah. Habe ich doch arran-

giert. Den Leuten gesagt, daß sie den Tank
ablassen. Hat der Dummkopf überhaupt
nicht gemerkt. Fabelhafter Detektiv, bah.«

»Ach, tatsächlich, Sir«, sagte Benson.
Aber das kam ein wenig traurig heraus,

und in seinem Innersten hoffte er, daß Dick
Charleston binnen kürzester Zeit – schließ-
lich hatte er jeden einzelnen seiner Filme
mindestens zweimal gesehen – eine Chance
haben würde, seinen Ruf wiederherzustellen.

Inzwischen hatte unser kleines Trio

draußen im Nebel, nach einem langen
Marsch über die Landstraße, die nur spärlich
mit gelegentlichen Telefonzellen versehen
war, schließlich doch noch eine solche gefun-
den, als wäre sie gerade für sie dorthin ge-
baut worden.

War sie natürlich auch. Benson und

Twain machten es sich gemütlich, um nun
den zweiten Teil anzuschauen.

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Während Dick dankbar die Telefonnum-

mer des Hauses Lola Lane 22 wählte, griff
Lionel Twain nach einer großen, bereitlie-
genden Drahtschere.

»Es läutet – Freizeichen«, sagte Dick zu

Dora und seine Stimme klang wieder etwas
zuversichtlicher.

Er warf einen Blick hinunter auf Myron.
»Liebling«, sagte er zu Dora, »könntest

du nicht vielleicht ein paar Schritte weiterge-
hen mit ihm. In diesem Nebel könnte ihm
sonst eines meiner Beine wie ein Baum
erscheinen.«

An seinem Ohr wiederholte sich noch im-

mer das Freizeichen. Dürfte nicht mehr
lange dauern, bis man ihnen zu Hilfe kom-
men würde.

Dora stand jetzt mit Myron in sicherem

Abstand und schaute ihm zu.

»Ausgerechnet hier eine Panne zu

haben«, quengelte sie, denn ihre Zuversicht

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und Fröhlichkeit näherte sich mehr und
mehr dem Gefrierpunkt.

»Hast ja recht«, gab Dick zu, »ein paar

Meilen vorher gab es ein paar Stellen, die
viel gemütlicher gewesen wären!«

Dora fand das gar nicht komisch.
»Ist denn immer noch keiner an das ver-

dammte Telefon gegangen?«

»Es läutet ja. Wird ein großes Haus sein,

was die da haben. Ich kann mir vorstellen,
wie der Butler erst ein oder zwei Meilen ho-
her schmaler Korridore bis zum Telefon
zurücklegen muß. Vielleicht hat er erst noch
einige Martinis zu servieren, bevor er sich
auf den Weg zum Telefon machen –«

Er brach ab. Das verheißungsvolle Läuten

hatte abrupt geendet.

»Hallo«, rief er, »Hallo? Hallo?«
»Na gut«, sagte Dora, die in Hörweite

war. »Sag ihnen, daß wir Hilfe brauchen.«

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Wau, wau, mischte auch Myron sich ein.

Ein schönes offenes Kaminfeuer bei der
Ankunft wäre das richtige.

»Es ist keiner dran«, sagte Dick. »Das

Telefon war plötzlich tot.«

»Warum

sagst

du

dann

dauernd

›hallo‹?«

»Ich hätte schwören können…«
»Was denn Dickie?«
»Es hörte sich an, als ob jemand plötzlich

den Draht durchgezwickt hätte.«

»Wirklich? Wie hört sich das denn an?«
»Schnips«, sagte Dick.
Nach wie vor wurde jede ihrer Bewegun-

gen genußvoll in der Lola Lane Nr. 22 beo-
bachtet, als die drei sich wieder auf den lan-
gen, langen Weg zurück zu ihrem Ausgang-
spunkt bei dem Rolls machten. Die neblige
Umgebung war noch die gleiche, ohne jede
Autowerkstatt mit Vierundzwanzig-Stunden-
Service.

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Aber schließlich kamen die vernebelten

Umrisse der aristokratischen Karosserie in
Sicht und dankbar sanken sie in die vorderen
Sitze. Im gleichen Augenblick, als Dora Platz
nahm, fiel ihr Blick auf die Benzinuhr, die
auf ›leer‹ stand.

Sprachlos vor Wut wies sie mit dem

Finger darauf.

Aber Dicks Gesicht hellte sich sofort auf.
»Na also«, sagte er, »das ist wenigstens

ein Problem, dem ich mich gewachsen
fühle.«

»Du fühlst dich also dem Problem ge-

wachsen, mitten auf einer finsteren Land-
straße ohne Tankstelle mit einem leeren
Tank dazusitzen?«

»Selbstverständlich.«
Dick neigte sich vor. Er öffnete das Hand-

schuhfach. Da lag, hinter dem Gläschen mit
den Oliven, eine kleine, flache, silberne
Flasche. Sie enthielt vielleicht einen halben
Liter Martini – abzüglich der bisher auf

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dieser Fahrt getrunkenen Gläschen. Dick
nahm die Flasche heraus, stieg aus dem Wa-
gen und spazierte nach hinten (schon ein
kleiner Spaziergang). Dann kam er zurück –
wirklich ein langes Gefährt. Er stieg wieder
ein. Dann zog er den Anlasserknopf. Der
Rolls schnurrte. Der Rolls mochte Martini
genauso gern wie sein Fahrer!

Im Fernsehraum im Hause Nr. 22

hüstelte Benson diskret. »Ich finde, das hat
er doch ziemlich gut gelöst, Sir«, sagte er.

»Bah«, entgegnete Lionel Twain.
Aber selbst mit Martinis tat sich der Rolls

schwer. Dick starrte angestrengt zwischen
den lautlos tätigen Scheibenwischern auf die
fast unsichtbare Straße vor ihm. Endlich ent-
deckte er ein Straßenschild an einer Ecke, wo
der Nebel besonders dicht zu sein schien. Er
gab sich alle Mühe es zu entziffern:

ACHTUNG! DICHTER NEBEL!

Lionel Twains Laune verbesserte sich

auffallend bei der Reaktion der Charlestons

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auf diesen, seinen besonderen kleinen
Scherz. Beide verloren mehr als nur ein
wenig die Contenance.

»Das sind genau die Augenblicke im

Leben«, sagte Dick außer sich, »wo ich wün-
schte, daß Myron ein Bluthund wäre.«

»Dickie, ich bitte dich«, kam es äußerst

schockiert von Dora. »Du weißt doch, wie
sensibel Myron ist.«

Sie wandte sich zu den Rücksitzen um,

um das arme kleine Hündchen zu trösten.

»Nicht wahr, so was darf man doch in

deiner Gegenwart nicht sagen, Myron, mein
Liebes. Myron! Myron? Dick. Dick! Halt an!«

Sie standen sofort.
»Was ist denn los?«
»Myron«, hauchte Dora. »Wir haben ihn

draußen gelassen, als der Wagen wieder
fuhr.«

»Benson«,

sagte

Lionel

Twain

im

Fernsehraum, »noch einen Martini.«

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»Jawohl, Sir«, sagte Benson und ganz

leise, kaum hörbar, kam von seinen Lippen
ein »Bah«.

»Und dann, finde ich, sollten wir auf das

nächste Programm umschalten, Benson.«

»Sehr wohl, Sir.«
Klick.
Irgendwo draußen in dem Nebel fuhr ein

Chevy, Baujahr 1940, in die ungefähre Rich-
tung der Lola Lane. Er fuhr kaum schneller
als der Rolls, trotz des ungeduldigen Mannes
am Steuer. Wenn der junge Willie Wang
auch von oben bis unten orientalisch wirkte,
so hatte er doch nichts von der Ruhe, die
normalerweise mit der Weisheit des Ostens
gepaart ist. Ganz im Gegenteil, innerlich wie
äußerlich war er viel eher durch und durch
ein Amerikaner, der seinen Weg machte. Nur
bei diesem Nebel fand er es recht beschwer-
lich, überhaupt einen Weg auszumachen.
Aber neben ihm im Wagen saß jemand, so
ruhig und gelassen, wie es nur Orientalen

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sein können, niemand anderer als der ge-
feierte Mr. Sidney Wang, Enträtsler von
Dutzenden von mysteriösen Fällen, mit den-
en die Untersuchungsbehörden der Cataline-
Polizei sich konfrontiert sahen. Nur sein An-
zug entsprach nicht gerade der Tracht des
Alten China, sondern bestand statt dessen
aus

einem

konservativ

geschnittenen

dunklen Anzug, einem guten, warmen Man-
tel

mit

garantierten

Anti-Nebel-Ei-

genschaften und einem soliden schwarzen
Hut, der zuverlässig die Kälte von den aller-
wichtigsten Bereichen des Kopfes fernhielt.

Seit einigen Meilen waren sie jetzt schon

ganz langsam gefahren, ohne ein Wort zu
sprechen. Aber jetzt konnte der junge Willie
Wang offenbar nicht länger schweigen,
gerade

rechtzeitig

für

das

heimliche

Publikum.

»Ganz schön neblig, nicht, Paps?«

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»Bitte, fahren«, gab sein Vater ungerührt

zurück. »Wetterbericht hab’ ich schon
gehört.«

»Junge, Junge«, sprach Willie trotzdem

weiter, als hätte sein ehrwürdiger Vater gar
nichts gesagt. »Junge, Junge, dick wie Erb-
sensuppe. Weit und breit keine Seele. Weißt
du, was ich glaube, Paps?«

Jung-Willie

wartete

nicht, ob sein

verehrungswürdiger Senior wissen wollte,
was er glaubte.

»Für einen Mord, wie geschaffen, diese

Gegend hier«, sagte er fröhlich.

Lionel Twain im Fernsehraum lachte.

Und lachte. Benson seufzte.

»Du reden wie Flitterwochenfernse-

hfilm«, sagte das As der Cataline-Polizei.
»Überflüssig.«

»Entschuldige, Paps.«
Kurzes Schweigen.

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»Mann, hoffentlich servieren diese Leute

das Abendessen so schnell wie möglich. Ich
bin am Verhungern.«

»Keine Überraschung«, antwortete die

väterliche Stimme. »Eine Stunde vergangen,
seit du zu Hause gegessen.«

Aber manche Söhne haben keine sens-

iblen Antennen für sanften Sarkasmus.

»Wohin fahren wir überhaupt, Paps?

Und wer ist dieser Mr. Twain, der dich einge-
laden hat? Und was sollte das heißen: ›Din-
ner und ein Mord‹?«

»Fragen wie Elefantentritte«, gab sein

gepriesener Vater zurück. »Nach gewisser
Zeit enervierend.«

Für etwa fünf Sekunden trat im Innern

des alten Chevy wiederum Stille ein. Dann
sprach Sidney Wang.

»Bitte Wagen anhalten.«
»Warum das?« fragte Jung-Willie und

blinzelte noch immer in den Nebel nach vorn

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bei einer Fahrtgeschwindigkeit von zehn
Meilen pro Stunde. »Stimmt was nicht?«

»Wagen anhalten, bitte.«
Willie brachte den Chevy zum Stehen.
»Bitte Motor abstellen«, verlangte sein

autoritärer Papa.

Willie gehorchte. In der Nebelnacht hatte

die Stille wieder die Oberhand.

»Hören«, befahl Sidney Wang.
»Ich höre nichts, gar nichts«, erwiderte

sein Sohn sofort.

»Hörst du was?«
»Kann nicht hören. Ein Hund«, sagte

Sidney Wang.

Und tatsächlich, durch den Nebel, der

wie ein undurchdringlicher Vorhang über al-
lem lag, war das scharfe Kläffen eines klein-
en Hundes zu hören.

»Wieder«, sagte Mr. Wang. »Du hören?«
»Na, eben ein Hund«, antwortete Willie

schulterzuckend.

»Na, und?«

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»Nicht irgendein Hund«, sagte sein Vater

ruhig und bestimmt. »Das sein ganz beson-
deres Wauwau. Wenn ich nicht irren, gehört
Hund Mista Dick Charleston.«

Aber Willie war nicht so beeindruckt von

der Brillanz des großen Detektivs, wie er
hätte sein sollen. Dagegen war – in Lola
Lane 22 – Benson sehr beeindruckt.

»Höchst bemerkenswert, Sir«, murmelte

er.

»Bah«, sagte Lionel Twain.
»Wer ist Dick Charleston?« fragte Willie

seinen Vater.

Diese letzte Frage wurde auf eine allge-

mein überraschende Art und Weise beant-
wortet. Aus der weißen Nebelwand tauchten
urplötzlich

Kopf

und

Schultern

eines

Mannes auf. Genau vor dem offenen Fenster
des alten Chevys.

»Ich bin Dick Charleston«, sagte eine

Stimme.

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Der

Kopf

wurde

ins

Wageninnere

gesteckt.

»Sagen Sie mal«, fragte Dick, »haben Sie

vielleicht zufällig einen kleinen weißen –
Wang!«

»Einen kleinen weißen Wang?« sagte

Willie und meinte, plötzlich völlig neue Per-
spektiven in seiner Familie zu erkennen.

»Himmel noch mal«, fuhr Dick fort und

spähte gründlich in das Wageninnere. »Sid-
ney Wang. Was machen Sie denn in dieser
gottverlassenen Gegend?«

»Ohne Zweifel selbe wie Sie«, gab Sidney

Wang ungerührt zurück. »Suchen Brücke,
die führen zu Haus von Gastgeber, Mista
Lionel Twain.«

»Ah, Sie also auch?« sagte Dick. »Muß ja

wohl besonders wichtig sein, wenn er zwei so
große Detektive einlädt… wie ich sehe, haben
Sie Ihren Kopf schon wieder im Schoner.«

Wang nickte nur lässig.

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»Man braucht gutes Dach auf Haus worin

Gehirn

wohnen.

Entschuldigung,

bitte

möchte Ihnen japanischen Sohn Willie
vorstellen.«

»Hey«, sagte Willie, nicht im geringsten

japanisch.

»Japanisch?« fragte Dick. »Aber ich

dachte immer, Sie wären…«

»Chinese?« vollendete Wang seinen Satz.

»Bin ich auch, natürlich. Aber Mrs. Wang
und ich konnten nicht Kinder haben. Daher
Willie sein adoptierter Sohn Nummer drei.«

»Angenehm«, sagte Dick höflich. »Nun,

geben Sie gut acht auf dieser Straße, sie ist
recht tückisch.«

In dem alten Chevy wurde der Motor

wieder angelassen.

»Tückische Straßen sein wie frische

Pilze«, hakte Sidney Wang sofort ein. »Man
muß immer…«

Aber da machte der Chevy auch schon

einen Satz nach vorn.

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»Idiot«, brüllte Wang seinen Sohn an.

»Nicht fertig gesprochen. Wollte ihm erzäh-
len von Pilzen.«

»Nun«, sagte Lionel Twain und rieb sich

in

seinem

abgedunkelten

Fernsehraum

genüßlich die Hände. »Ich glaube, daß der
große Sidney Wang in einige Schwierigkeiten
kommen wird, wenn er sich all den kleinen
Überraschungen gegenübersieht, die wir hier
noch für ihn auf Lager haben, stimmt’s,
Benson?«

»Möglich, Sir«, antwortete Benson.
Und er hob die Nase in Richtung

Zimmerdecke.

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3

Lionel Twain kontrollierte die Knöpfe auf

der nahen Konsole, die mit der Nebel-
maschine auf seinem Grund und Boden in
Verbindung standen. Sie ließen keinen
Zweifel daran, daß der wattedichte Nebel
noch immer mit voller Kraft in die Luft
geschleudert wurde, zusätzlich zu der natür-
lichen Produktion in San Francisco und
Umgebung. Er seufzte zufrieden.

»Wenden wir uns einmal der Milo-

Perrier-Show zu«, sagte er zu seinem
getreuen Benson. »Ich wette, das bringt uns
einiges Amüsement.«

»Wie Sie wünschen, Sir«, antwortete

Benson.

Er beugte sich vor und drückte einen

Knopf. Auf dem Bildschirm erschien der

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Innenraum eines luxuriösen Citroen. Durch
den natürlichen Nebel, der in der Stadt
herrschte, war es möglich festzustellen, daß
der Wagen sich noch im Stadtbereich be-
fand, obwohl der uniformierte Chauffeur
sich offensichtlich nach Kräften bemühte,
daß das Genie der kleinen grauen Zellen
rechtzeitig zu dem alten Haus gelangen
würde. Im Augenblick kaute der Gourmet ex-
traordinaire
gedankenvoll an einem großen
Schokoladenriegel.

Aber plötzlich, während er in dem dicht-

en Nebel immer noch das eine oder andere
Neonschild erkennen konnte, schüttelte der
Detektiv par excellence seinen berühmten
(eiförmigen) Kopf.

»Können wir nicht etwas schneller

fahren«, fragte er Marcel, seinen Chauffeur.

»Tut mir leid, Monsieur«, antwortete

Marcel. »Aber ich sehe einfach nichts. Dieser
Nebel ist so dick wie eine Bouillabaisse.«

»Ohne Nüsse«, sagte Perrier ungehalten.

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»Wie soll ich das verstehen«, fragte Mar-

cel und sah sich vor dem Problem, ob Nebel
so dick wie Nüsse sein könnte oder nicht.
Dann war es noch die Frage, ob Haselnüsse
oder Erdnüsse? Schwer zu sagen.

»Keine Nüsse, überhaupt keine Nüsse«,

wiederholte Perrier wütend. »In meinem
Schokoladenriegel sind überhaupt keine
Nüsse. Wenn wir se-en ein magazin – wie
sagt man gleich? – einen Laden, in dem die
echte Schweizer Schokolade verkauft wird, -
ältst du gefälligst an, denn dieser Schwach-
kopf in dem Süßwarenladen -at dir Rosin-
enschokolade angedreht, wo ich doch aus-
drücklich einen Riegel mit Nüssen verlangt -
atte.«

Marcel zuckte mit den Achseln.
»Er hatte keinen mit Nüssen«, gab er un-

willig zurück.

»Der Mann in dem Süßwarenladen?«

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»Jawohl, Monsieur, und aus genau

diesem Grund habe ich wenigstens eine Tafel
Schokolade mit Rosinen erstanden.«

»Schon gut, schon gut«, gab Perrier un-

geduldig zurück. »Wird ja auch nicht mehr
lange dauern, bis wir da sind und schließlich
wurden wir ja zum Dinner eingeladen, und
zu einem Mord, allerdings. Sicherlich gibt es
geräucherten Lachs mit sauce bearnaise.
Und dann ist diese Gegend -ier auch berüh-
mt für die Zubereitung von Täubchen – wie
sagt man gleich? - Nest-äkchen. Man dünstet
sie ganz sanft in…«

»Aber, Monsieur, die Menüfolge wurde

auf der Einladung nicht erwähnt. Wie kom-
men Sie darauf, daß es Lachs oder Täubchen
geben wird?«

Milo

Perrier

seufzte.

Immer

diese

Phantasielosen!

»Kein Mensch würde einen Milo Perrier,

den Größten aller Detektive, einladen«,
erklärte er geduldig, »noch dazu quer über

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den verdammten Atlantik, um ihm dann nur
– wie sagt man gleich? – Bohnen mit Hot
dogs vorzusetzen.«

Zufrieden

mit

seiner

ausführlichen

Klärung des Themas, blinzelte er wieder
durch die Windschutzscheibe nach vorne.
Plötzlich kam Bewegung in seinen großen,
feisten Körper.

»Wagen an-alten!« rief er.
»Den Wagen?«
»Oui, Schwachkopf, Wagen an-alten.«
Marcel brachte das glänzende Prachtauto

zum Stehen. Um sie herum wogten weiße
Nebelschwaden und hüllten sie ein.

»Motor abstellen!« befahl Perrier.
Marcel gehorchte.
»Was ist los, Monsieur?« flüsterte er

ängstlich.

»Ru-ig«, flüsterte Perrier zurück. »Nicht

bewegen. Kein Wort! Und vor allem, bleib im
Wagen.«

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Und dann war er im Nu im allesver-

schlingenden Nebel verschwunden.

»Ich glaube, Sir«, sagte Benson, seiner-

seits in der gemütlichen Wärme des
Fernsehraumes in der Lola Lane 22, »daß
Monsieur Perrier einen seiner genialen
Geistesblitze hat, die mit ihrer unfehlbaren
Intuition seinen Büchern so unvergleichliche
Lebendigkeit verleihen.«

»Bah«, sagte Lionel Twain. »Noch gibt es

keinen Anlaß für ihn, Geistesblitze zu haben.
Noch hat er nichts mit meiner kleinen Trick-
kiste zu tun bekommen.«

»Nein, Sir.«
»Nein, Sir? Nein, Sir? Wie meinst du das,

›nein, Sir‹; und überhaupt, was soll dieser
Ton? Wozu braucht Perrier momentan einen
intuitiven Geistesblitz? Eh? Eh? Na komm,
sag schon.«

»Monsieur Perrier, Sir«, gab Benson

selbstbewußt zurück, »hatte niemals die
Angewohnheit, wie Sie sich sicherlich

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erinnern werden, seinem Watson, dem un-
glaublich begriffsstutzigen Captain East-
bourne, seinen lückenlosen Gedankengang
zu offenbaren, nicht bevor sich ein ents-
prechend geeigneter Zeitpunkt von selbst
ergab.«

Lionel Twain grunzte.
»Nun, in dieser Angelegenheit wird sich

überhaupt

kein

geeigneter

Zeitpunkt

ergeben«, sagte er. »Und warum? Weil ich
hier die Story schreibe, kapiert?«

»Jawohl, Sir. Sicherlich, Sir.«
»Schalte noch mal um zu den Charle-

stons, bitte. Von denen können wir uns einen
brauchbaren Dialog erhoffen, wenngleich
wohl kaum eine brauchbare Aufklärung.«

Entzückt von seinem kleinen privaten

Scherz, wandte sich der siebzehntreichste
Mann dieser Welt wieder leise kichernd dem
Bildschirm zu.

Der Rolls erschien auf der Mattscheibe.

Dick forschte noch immer in der vernebelten

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Landschaft nach dem verlorengegangenen
Myron und erzählte gerade Dora von seinem
Zusammentreffen mit den Insassen des et-
was verbeulten alten 1940er Chevys.

»Der ist der einzige Detektiv in der Welt,

der mir einmal bei einem Fall den Schneid
abgekauft hat«, sagte er.

»Na also, laß mich mal raten. Inspektor

Maigret.«

»Nein, nein«, sagte Dick leicht gering-

schätzig. »Na, laß es lieber.«

»Nein, das macht mir Spaß! Lew Archer

vielleicht?«

Schweigen.
»Nero Wolfe?«
Kaltes Schweigen im Wagen. Ein böses

Kichern im Fernsehraum.

»Philip Marlowe?«
Eisiges Schweigen im Wagen. Lautes

Lachen von Lionel Twain.

»Lord Peter Wimsey?«

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Tödliches Schweigen im Wagen. Schal-

lendes

Gelächter

des

Entzückens

im

Fernsehraum.

»Pater Brown?«
»Dr. Fell?«
»Mr. Champion?«
»Ellery Queen?«
»Vielleicht sogar Inspektor Ghote aus

Bombay?«

Lionel Twain in seinem Fernsehraum

schaukelte vor Lachen wild in seinem Sessel,
und vor lauter Lachen rannen ihm Tränen
übers Gesicht.

»Inspektor Ghote aus Bombay«, wieder-

holte er. »Inspektor Ghote aus Bombay. Fa-
belhaft. Wunderbar!«

Er wandte sich um zu Benson.
»Mann«, sagte er, als er wieder genug

Luft zum Sprechen hatte, »das war genau
der Detektiv in dem millionsten Krimi, den
ich voller Empörung quer durch die ganze
Bibliothek geschleudert habe, an dem

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Abend, an dem wir mit dem Ganzen hier
angefangen haben. Weißt du noch? Inspekt-
or Ghote, der ist überhaupt der Schlimmste
von allen. Ach, die gute Dora, welch ein
Frauenzimmer. Wie das ihren aalglatten
Göttergatten pieksen muß. Er kann einem
direkt leid tun.«

»Sollen wir vielleicht umschalten, Sir?«

fragte Benson.

Lionel Twain blinzelte in Richtung

Bildschirm.

»Nun, da Charleston jetzt wirklich ziem-

lich vernichtet wirkt«, meinte er, »sollten wir
das vielleicht tun. Versuchen wir’s mal mit
Diamond. Schalte den Kanal von Sam Dia-
mond ein.«

Mit mißbilligend zusammengekniffenen

Lippen beugte Benson sich vor und schaltete
um.

Genauso langsam wie die anderen quälte

sich nun ein verbeultes altes Auto durch den
Nebel auf dem Weg zu einem verheißenen

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Dinner samt Mord. Darin saßen zwei Person-
en. Am Steuer saß ein Mann im Trenchcoat,
Kragen hochgeschlagen, breitkrempiger Hut,
tief in die Stirn gezogen. Was unter dieser
Hutkrempe und durch den Nebel zu
erkennen war, sah zwar gut, aber auch vom
Leben gezeichnet aus. Neben dem Fahrer
war ein Mädchen zu erkennen. Eine
Blondine. Sie ließ sich mit einem einzigen
Satz beschreiben: Sie war nicht von gestern!

Und in eben diesem Augenblick schien

sie nicht besonders glücklich.

»Wenn du mich fragst, Sam«, sagte sie

eingeschnappt, »das hier führt doch zu
nichts.«

»Hat dich aber keiner gefragt, Tess-

Baby«, schoß eine knurrige Stimme zurück.

»Doch, man hat«, antwortete Tess indig-

niert. »Nämlich du hast mich gefragt, Sam
Diamond. Du hast mich noch zu Hause ge-
fragt, ob ich glaube, daß das hier zu etwas
führen würde.«

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»Das war zu Hause und jetzt sind wir

hier, und niemand weiß, was morgen sein
wird«, kam die Antwort aus zusammenge-
preßten Lippen, heiser und lakonisch. »So ist
das nun mal, ob es dir gefällt oder nicht.«

Ganz gerührt, auch wenn sie sich äußer-

lich so forsch gab, legte Tess ihre Hand auf
die von Sam, die auf dem Lenkrad ruhte.

»Ach, Sam«, sagte sie. »Manchmal

mache ich mir wirklich Sorgen um dich.
Ehrlich.«

Ein gequältes Lächeln durchbrach die

vom Leben gezeichneten Gesichtszüge Sams.

»›Ach,

Sam‹«,

äffte

er

sie

nach,

»›manchmal mache ich mir wirklich Sorgen
um dich…‹ Das ist wirklich toll, Engelchen.
Wie vielen Burschen hast du das bisher
schon gesagt?«

»Nur zu dir, das schwöre ich. Du bist der

einzige Sam, den ich kenne.«

»Schon gut«, knurrte Sam. »Laß den

Schmus. Diese Fahrt ist für mich rein

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geschäftlich. Also, was wissen wir über
diesen Twain.«

Tess zog einen etwas zerknitterten Papp-

deckel aus ihrer Handtasche. Sie klappte ihn
auf, blätterte durch ein halbes Dutzend bes-
chriebener Seiten. Dann zog sie eine heraus
und begann vorzulesen.

Im Fernsehraum beugte Lionel Twain

sich vor und beobachtete den Bildschirm mit
glänzenden Augen.

»Nirgendwo war besonders viel über ihn

zu erfahren«, meinte Tess zu Sam. »Aber er
hat Piepen, soviel ist mal sicher. Er hat sich
das Haus und den dazugehörigen Grund für
fünf Millionen gekauft. In bar.«

»Verheiratet?« kam die knappe Frage aus

den schmalen Lippen.

»Sechsmal«, antwortete Tess prompt.
»Stell’ dir das vor. Wo leben sie jetzt?«
»Sie ist tot.«
»Sie?«

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»Er hat immer wieder dieselbe Frau ge-

heiratet«, erklärte Tess. »Er war ganz ver-
rückt nach ihr.«

Sam seufzte.
»Ich habe in dieser Branche schon einige

Zeit auf dem Buckel, Engelchen«, sagte er.
»Und dabei hab’ ich eines gelernt. Traue
keinem Burschen, der dieselbe Schlampe
gleich sechsmal heiratet.«

Mit großen Augen nahm Tess dieses

kleine Stück stahlharter Lebensweisheit in
sich auf.

»Kinder?« war die nächste Frage.
»Eine Tochter, zweiunddreißig«, hatte

Tess anzubieten. »Sie heißt Irene, aber sie
nennt sich Rita. In der Schweiz aufgewach-
sen und erzogen, war verheiratet mit einem
polnischen Schachspieler, der Selbstmord
beging, nachdem er hintereinander dreihun-
dert Spiele verloren hatte, keines davon ge-
gen Bobby Fischer.«

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»Glaube, ich hab’ darüber gelesen«, sagte

Sam. »Weiter.«

»Twain wurde 1905 in San Francisco ge-

boren. Seine Mutter war römisch-katholisch,
sein Vater ein orthodoxer Jude. Zwei Tage
nach der Hochzeit trennten sie sich.«

»Ganz Dame«, kam die Stimme aus den

schmalen Lippen. »Mach nur weiter, En-
gelchen, du machst das prima.«

»1932 wurde er in Chicago verhaftet we-

gen Verkaufs von pornographischen Bibeln«,
fuhr Tess fort und entzifferte angestrengt
ihre eigenen Notizen. »Der Staatsanwalt
mußte die Anklage jedoch fallenlassen, weil
die Kirche sich weigerte, die Bibeln wieder
herauszurücken. Danach war nichts mehr bis
1946, als er in El Paso in Texas aufgegriffen
wurde.«

»Was gab’s diesmal, Baby?«
»Er hatte versucht, eine Lastwagen-

ladung voll reicher weißer Amerikaner über
die Grenze nach Mexiko zu schmuggeln zum

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Melonenpflücken. Man schickte ihn ins
Staatsklinikum von Dallas zur psychiat-
rischen Beobachtung.«

Sam überlegte.
Im Fernsehraum warf Lionel Twain einen

verstohlenen Blick zu Benson hinüber. Der
Butler nickte wissend. Twain rieb sich die
Hände.

»Mir scheint, wir haben uns da von

einem komischen Vogel einladen lassen,
mein Engelchen«, sagte Sam schließlich.

»Aber du hast brav deine Hausaufgaben

gemacht.«

In Tess’ großen Augen blinkte es plötzlich

feucht.

»Danke, Sam«, hauchte sie.
»Wie bist du an das ganze Zeug her-

angekommen?« fragte Sam.

»Ich habe Twain einen Brief geschrieben

und ihn gefragt«, kam die schlichte Antwort.

»Gut ausgetüftelt, Engelchen.«

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Im Fernsehraum brach Lionel Twain ein

weiteres Mal in schallendes Gelächter aus.

»Nun, Benson«, brachte er schließlich

glucksend heraus, »was hältst du jetzt von
deinem Lieblingsdetektiv und seiner Lady?
Eh? Nun?«

»Könnten wir uns vielleicht Miss Jessica

Marbles zuwenden, Sir?« fragte Benson.

Eisiges Schweigen.
Dann: »Meinetwegen. Selbstverständlich.

Schalte nur um.«

Das Gefährt, das jetzt auf dem Bildschirm

erschien, kroch aus östlicher Richtung durch
den Nebel gen San Francisco. Hinter ihm la-
gen bereits 4500 Meilen von New York bis
hier, immer im gleichen langsamen aber
stetigen Tempo. Aber im Ganzen genommen
kam es von noch viel weiter her. Es war ein
Londoner Taxi.

Der Fahrer – kleine Schweinsäuglein und

walroßähnlicher Schnurrbart – hatte einen
schweren Wollmantel eng um die Schultern

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geschlagen. An der Spitze seiner kartoffelför-
migen, tomatenroten Nase hing ein silbrig
glänzender, durchsichtiger Tropfen. Selb-
stverständlich saß er allein vorne in dem ho-
hen, eckigen Vehikel. Im Fond, durch eine
Glasscheibe von ihm getrennt, saß Miss Jes-
sica Marbles, mit entschlossenem Gesicht
und trotz ihrer Jahre in aufrechter Haltung,
von Kopf bis Fuß in Tweed gekleidet. Neben
ihr und fast schlafend ein unförmiges, kaum
definierbares Bündel, in das sie von Zeit zu
Zeit wie fragend hineinstupste, wie um sich
zu vergewissern, daß noch Leben darin war.

Hin und wieder beugte sie sich nach vorn

und kurbelte die Trennscheibe ein paar
Fingerbreit herunter.

»Fahrer«, sagte sie, kurz nachdem die

Übertragung auf dem Bildschirm zu sehen
war, »hoffentlich werde ich Ihnen keine
Bummelei vorhalten müssen. Glauben sie ja
nicht, daß Sie von mir ein Trinkgeld

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erwarten können, wenn wir nicht pünktlich
ankommen.«

Die schweinsäugige Gestalt am Steuer tat

einen tiefen Seufzer, so daß der Tautropfen
an der leuchtenden Nasenspitze gefährlich
ins Zittern geriet.

»Sie werden pünktlich dasein, Madam«,

brummelte er wie jemand, der die gleiche
Drohung schon etwa siebenhundertzweiun-
dzwanzig Mal zu hören bekommen hat, seit
Miss Marbles sein Taxi herangewinkt hatte,
als er vor nunmehr sechs Tagen am Victoria-
Bahnhof in der britischen Hauptstadt
vorbeifuhr.

»Das hoffe ich«, kam die energische Ant-

wort von Miss Marbles. »Schließlich haben
wir ja kein extrem schlechtes Wetter oder
ähnliches.«

Vergnügt schaute sie aus dem Taxifenster

in die wogenden weißen Nebelschwaden. Da
sie keine routinierte Reisende war, freute sie
sich, beim Blick aus dem Fenster an die ihr

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bekannten nebligen Londoner Straßen erin-
nert zu werden, wenn sie hie und da mal aus
ihrem Häuschen in Sussex eine kleine Reise
in die Hauptstadt unternahm.

»Fahrer?«
»Ja, Madam?«
»War das eben eine gelbe Tulpe, die ich

da draußen gesehen habe?«

Der Fahrer richtete nicht einmal seinen

schwankenden Tautropfen in die angegebene
Richtung. Wenn eine Tulpe am Straßenrand
stand, war das höchstens eine gewöhnliche,
wilde Tulpe, nichts besonderes.

»Ja, doch«, sagte Miss Marbles ganz

entschieden. »Eine gelbe Tulpe. Daran
dürfte wohl kaum ein Zweifel sein:

Vergißmeinnicht – Vergiß’-mein-nicht,
Gelbe Tulpe – unglückliche Liebe,
Orchideen sagen: ›Ich wart’ auf dich‹,
Dahlien steh’n für Betrug und Intrige.

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Jawohl, eine gelbe Tulpe. Ach, meine

Liebe. Meine Liebe. Und es ist schon so lange
her…«

Die Spur einer Träne – oder war es nur

Kondenswasser vom Nebel? – lag auf ihren
Augen. Sie ließ sie ein wenig dort liegen, als
plötzlich ein Gedanke kam und sie energisch
das kleine Tröpfchen hinwegwischte.

»Oder war es vielleicht eine Dahlie?«

fragte sie laut. »War es eine Dahlie?«

»›War es eine Dahlie?‹« wiederholte

Lionel Twain strampelnd vor Vergnügen.
»Hast du das gehört, Benson? Also, sie kennt
sich noch nicht einmal in der simpelsten
Botanik aus, ganz zu schweigen von kompliz-
ierteren Bereichen. Ach Herrje, ach Herrjeh,
ach Herrjeh.«

»Sehr wohl, Sir«, murmelte Benson.
Bosheit

lag

in

Lionel

Twains

Gesichtszügen.

»Nun, jetzt brauchen wir aber wieder et-

was Leben«, sagte Lionel Twain. »Wir

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wollen doch was sehen. Action. Schalte
zurück zu Diamond. Mir ist jetzt gerade nach
ein paar von den knallharten Sätzen, die er
zwischen

seinen

schmalen

Lippen

hervorquetscht.«

»Glauben Sie nicht, Sir, daß Monsieur

Perrier vielleicht mehr Unterhaltung bieten
würde? Es ist doch immer noch die Frage, ob
er nicht in der Nebelnacht einen gravier-
enden Fehler begeht, Sir.«

»Ich habe Diamond gesagt, Mann. Und

dann meine ich auch Diamond. Schalte um.«

»Sehr wohl, Sir.«
Der verbeulte, alte Wagen bewegte sich

langsam aber stetig voran.

Langsam, aber plötzlich nicht mehr so

stetig.

Der Motor fing an zu stottern. Dann

schepperte es. Und nach einer weiteren
Minute blieb der Wagen stehen.

»Was ist los?« fragte Tess und in ihrer

Stimme schwang unüberhörbar Angst mit.

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Sam Diamond lehnte sich in seinem

abgeschabten Ledersitz zurück.

»Na, was schon«, sagte er. »Kein Sprit

mehr.«

Lionel Twain hob anerkennend eine

Augenbraue.

»Das hätte ich mit allen machen sollen«,

sagte er.

Für kurze Zeit herrschte Schweigen in

dem verbeulten Auto, während draußen der
Nebel in zärtlichem Wabern zur Ruhe kam.
Die Fenster und Türen schlossen nicht mehr
besonders gut, so daß er hie und da auch in
das Innere einen Weg fand. Dann machte
Tess einen verlockenden Vorschlag.

»Ungefähr vor fünf Meilen habe ich eine

Tankstelle gesehen, Sam.«

Sam bedachte sie mit einem langen,

wohlwollenden Blick. Nachdenklich zog er
die Unterlippe zwischen die Zähne. Dann
war sein Entschluß reif. Er griff über die
Rückenlehne und tastete suchend den Boden

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im Fond ab. Als er sich wieder aufrichtete,
hielt er einen großen leeren Reservekanister
in der Hand.

Er überreichte ihn Tess.
»Du sollst wissen«, sagte er sanft, »daß

ich auf dich warten werde, Baby.«

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4

Endlich, endlich näherte sich der erste

der fünf Wagen langsam dem großen Haus
auf dem ausgedehnten Grundstück. Gegen
die Umwelt wurde es von einem breiten,
schnell fließenden Bach abgeschirmt, über
den nur eine einzige Brücke führte. Auch
hier war eine Fernsehkamera installiert, die
nur auf ihren Einsatz wartete. Es war der
1940er Chevy mit dem bemerkenswerten
Sidney Wang, den sie als erstes vor die Linse
bekam.

Hier war der Nebel noch dichter, seine

wogenden Schichtungen noch intensiver als
in der Landschaft ringsum. Als hätte die
Natur selbst sich eingesetzt, um ein düsteres
altes

Haus

und

seine

Geheimnisse

(wennschon mit einiger Hilfe von Lionel

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Twain, Esquire) zu schützen. Auch das Ge-
heimnis selbst stand noch aus: der ver-
sprochene Mord.

Im Fernsehraum saß Lionel Twain

gespannt zusammengekauert in seinem
Sessel.

»Jetzt wird’s spannend, Benson, und viel-

leicht lustig.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Benson.
Und drückte seine beiden britischen

Daumen.

»Da ist in die Brücke, Paps«, sagte Willie

Wang. »Kommt mir aber nicht besonders
sicher vor.«

Gut gesagt. Die Brücke sah etwa so un-

sicher aus, wie eine Brücke nur aussehen
konnte oder wie der Meister des Makabren,
L. Twain, sie eben entsprechend herrichten
konnte. Sie war aus Holz, zwei unbehauene
Baumstämme liefen seitlich von einem Ufer
zum anderen und verloren sich in der nebli-
gen Finsternis. Von ihnen gingen ein paar

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windige Streben hinunter zur steilen Ufer-
böschung. Das schnell fließende, dunkle
Wasser des kleinen Flusses gluckste böse, als
wüßte es von dem sich langsam nähernden
Auto und erwartete bald, sehr bald eine
leichte Beute. Quer über die beiden immer
dünner werdenden Baumstämme waren die
Planken genagelt worden, wobei zwischen
ihnen aus unerfindlichen Gründen reichlich
Abstand gelassen worden war. Zwei von
ihnen waren, noch dazu kunstvoll, an-
geknackst worden, wodurch die Chancen des
glucksenden, dunklen Wassers noch of-
fensichtlicher waren. Nur auf einer der
beiden Seiten lief ein Geländer entlang, je-
doch ein so morsches, brüchiges, daß es sich
eher als Falle herausstellen würde, wenn je-
mand darauf vertrauend über die Brücke
ging. Beim ersten Anfassen würde es, nach L.
Twains Berechnungen, zusammenbrechen
und ins Wasser stürzen und die halt-
suchende Person wahrscheinlich noch mit in

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die eiskalten Fluten ziehen. Willie sah die
Brücke. Er wünschte sich zurück nach Hause
in Cataline. Im Heim der Wangs gab es Zent-
ralheizung, wenn auch nur eine mit-
telmäßige. Auch einen Kühlschrank gab es,
der allerdings vor lauter Altersschwäche, vor
allem nachts, von Zeit zu Zeit schrecklich
stöhnende und gurgelnde Geräusche von
sich gab. Aber in seinen Fächern befanden
sich allerlei chinesische Leckerbissen, und so
ein kleiner Imbiß zwischendurch konnte
einem sehr wohltun. Einen Fernseher gab es
im Hause Wang nicht – Sidney Wang hielt
Fernsehen für unvereinbar mit seinem
Image – aber Radios gab es, an denen man
so lange herumspielen konnte, bis schöne
laute Pop-Musik herauskam. Und Pop-
Musik konnte einem auch sehr wohltun.

Beides war jedenfalls wesentlich wohltu-

ender als dicker weißer Nebel, der um den
1940er Chevy herumwogte, dachte Willie.
Wesentlich wohltuender auch als eine uralte,

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verrottete Holzbrücke über einem dunklen,
reißenden, böse glucksenden Bach.

»Paps, sehr sicher sieht das nicht aus«,

stellte er mit verblüffender Scharfsicht fest.

»Ausprobieren, dann wissen wir«, ant-

wortete sein Vater.

»Fahr’ rüber.«
Willie seufzte. Guter chinesischer Sohn

folgt elterlichem Befehl ohne viel Aufhebens.
Ebenso macht es ein guter japanischer Ad-
optivsohn. Er legte den Gang rein und der
schwere alte Chevy kroch langsam vorwärts.

»Halt«, befahl Sidney Wang.
Wieder gehorchte der gute Junge dem

väterlichen Befehl ohne Widerrede, beson-
ders, weil ihm dieser elterliche Befehl sehr
gelegen kam.

»Gut so«, sagte Sidney Wang. In weniger

als einem Augenblick war er raus aus dem
Chevy und stand auf der sicheren Straße.

»Jetzt fahren«, sagte er.

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Oben im Fernsehraum gestattete Benson

sich ein diskretes Hüsteln.

»Ganz schön schlau, Sir, denke ich«,

sagte er.

»Denken

gehört

nicht

zu

deinem

Ressort«, gab Lionel Twain bissig zurück.
»Du bist mein Butler, nicht wahr? Also, But-
ler, zum Teufel mit dir, Butler.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Benson.
Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie

Willie in dem alten Chevy vorsichtig den er-
sten Gang einlegte. Langsam, langsam ließ er
die Kupplung kommen, und der schwere alte
Wagen kroch millimeterweise auf die noch
ältere glitschige Bruchbrücke zu. Der japan-
ische Adoptivsohn hoffte offensichtlich und
inständig,

daß

sein

chinesischer

Ad-

optivvater

seinen

wahnsinnigen

Befehl

widerrufen würde, denn sonst hieße* es, ihm
ohne Widerspruch zu gehorchen.

»Wohl überlegt, Sir, da die Möglichkeit,

beim Absturz mit dem Wagen auf der Seite

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zu liegen zu kommen, absolut gegeben ist.
Dadurch hätte er eine Chance, dem eisigen
Wasser in dem schwarzen, gurgelnden Bach
vielleicht doch zu entkommen«, bemerkte
Benson.

Keine Antwort von Lionel Twain.
Willie hielt sein japanisches Ohr so nah

wie möglich ans offene Fenster, offenbar im-
mer noch in der Hoffnung auf einen Laut
von seinem chinesischen Vater, der diesen
dummen Befehl zurücknehmen könnte, dem
man ohne viel Aufhebens gehorchen mußte.

Die neblige Nacht war still, ganz still.
Die Räder des Chevys berührten die erste

Brückenplanke. Die ganze Konstruktion er-
bebte und klapperte, als wäre sie aus Kastag-
netten erbaut. Der Wagen war jetzt mit dem
vollen Gewicht der Vorderräder auf der er-
sten Planke. Die Räder schienen sie ein
wenig durchzudrücken und dort festzuhal-
ten, denn die wildgewordenen Kastagnetten
beruhigten sich wieder. Dann berührten die

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Räder die zweite Planke. Wieder brach
wildes, spanisches Geklapper los. Dann hiel-
ten die Räder auch die zweite Planke fest.
Die Kastagnetten verklangen leise, um sofort
darauf von einem neuen temperamentvollen
Ausbruch geschüttelt zu werden, als die
Räder sich gegen die dritte Planke schoben.
Langsames Abklingen, dann wieder ein Cres-
cendo. Aber nun, da der Wagen mit seinem
ganzen Gewicht auf der Brücke war, schien
sie gerade dadurch noch zusammenzuhalten.

»Kleine Fehlberechnung, Sir?« fragte

Benson.

»Überhaupt nicht, ganz und gar nicht«,

zischte Lionel Twain.

Plötzlich wurden die Kastagnetten von

Oboen abgelöst, dazu Bässe, Posaunen und
hin und wieder das hohe Schrillen einer
Klarinette.

Aber Willie sah aus, als fände er Pop-

Musik aus dem Radio im sicheren chinesis-
chen Zuhause doch viel gemütlicher. Der

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Wagen schob sich Zentimeter für Zentimeter
vorwärts. Der Motor lief so langsam und
leise, daß man nicht nur das Stöhnen und
Ächzen der Brücke deutlich hören konnte,
sondern von tief unten noch ein weiteres
Geräusch, das böse Glucksen des Wassers.

Endlich konnte Willie die entsetzliche

Anspannung nicht länger ertragen. Er ram-
mte seinen rechten Fuß hart auf das Gasped-
al, so daß das alte Gefährt einen gehörigen
Satz nach vorne machte. Bestimmt hatte er
sich gesagt, daß ein kalter, glucksender Bach
keine würdige Endstation für einen alten
Chevy war, der so viele Jahre lang einem dis-
tinguierten Detektiv treu gedient hatte.

Die Brücke protestierte. Offenbar teilte

sie ganz und gar nicht die Ansicht des alten
Chevy. Zweifellos hatte sie sich erhofft, daß
endlich ihr großer Augenblick gekommen
sei. Nach all den Jahren des schnöden Nicht-
beachtetwerdens, noch dazu mit den Legion-
en von verfluchten Insekten, die an ihren

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Pfeilern nagten, sollte ihr grandioses Ende
doch darin bestehen, das Ende eines distin-
guierten chinesischen Detektivs herbeige-
führt zu haben. (Woher sollte eine Brücke
schließlich wissen, daß ein wirklich distin-
guierter chinesischer Detektiv soviel gesun-
den Menschenverstand besitzen würde, den
schweren alten Chevy zu verlassen, bevor er
sich mit einer Brücke von solcher Gesinnung
einläßt.) Und nun tat dieser verdammte alte
Chevy offenbar sein Bestes, um die gute, alte,
bösartige Brücke auch noch um den glan-
zvollsten Augenblick ihrer Existenz zu bring-
en. Der schwere alte Chevy war nun sicher
auf dem Ufer.

»Ah, ausgezeichnet, Sir«, sagte Benson.
»Bah«, sagte Lionel Twain.
Auf der anderen Seite, auf dem schönen,

wunderschönen, festen, ausgezeichnet festen
Boden, stellte Willie den Motor ab und
beugte sich aus dem offenen Fenster.

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»Ich hab’s geschafft, Paps! Ich hab’s

geschafft!« rief er fröhlich hinüber.

Er konnte seinen distinguierten chinesis-

chen Vater von hier aus nicht mehr sehen,
weil der Nebel zu dicht und die Dunkelheit
zu finster war. Aber er hörte ihn fröhlich
zurückrufen:

»Braver Junge. Jetzt komm’ zurück und

hole deinen Adoptivvater.«

Oben im Fernsehraum stieß Lionel Twain

Benson in die Rippen, was man zwar eigent-
lich mit einem erfahrenen britischen Butler
nicht tut, jedenfalls nicht, wenn man nicht
wenigstens der neunzehntreichste Mann der
Welt ist.

»Man kann nicht alles haben, Sir«, sagte

Benson und wich ein wenig zurück. »Und
wer weiß, vielleicht schafft der Wagen es
auch

noch,

mit

beiden

heil

’rüberzukommen.«

»Natürlich schafft er’s, Dummkopf«, ant-

wortete Lionel Twain mit einem bösen

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Grinsen. »Glaubst du, ich wollte sie er-
säufen, bevor ich richtig angefangen habe?
So, nun schalte auf jemand anderen um.
Schauen wir uns an, wie einer von den an-
deren hereinfällt.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Benson. »Wollen

wir es mit Monsieur Perrier versuchen?«

»Nein, wollen wir nicht. Hol Charleston

ran.«

In dem schnieken Rolls, der noch immer

langsam in Richtung Lola Lane 22 kroch,
herrschte wieder eitle Freude. Myron war
auch wieder dabei, und Dick Charleston er-
hob eben seine Stimme, um zu singen:

»Zwei Männer gingen durch das Korn,
der eine hinten, der andere vorn,
doch keiner ging in der Mitte,
das kam daher, ’s fehlte der Dritte…«

Voll und satt verklang der letzte Ton.

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»Na, der wird nicht mehr lange singen«,

sagte Lionel Twain und rieb sich seine lilien-
weißen Hände.

»Aber er singt doch wirklich hübsch,

Sir«, warf Benson ein.

»Hübsch? Hübsch? Was ist das wieder

für

eine

verdammte

britische

Umschreibung.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Benson.
»Du bist ja recht fidel, muß ich sagen«,

bemerkte Dora.

»Bin ich, nicht wahr?« gab Dick geistvoll

zurück. »Und weißt du auch, warum, mein
Liebling?«

»Nein, Liebling, ich weiß nicht, warum.«
»Es liegt ein Verbrechen in der Luft; das

rieche ich.«

»Das überrascht mich nicht«, kam es

kurz angebunden von Dora. »Du hast gerade
ein kleines Tier überfahren.«

Lionel Twain strampelte vor lauter

Wonne mit den Beinen.

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»Großartiger

Detektiv,

großartiger

Detektiv«, japste er, und aus seinen Augen
strömten Tränen vor Lachen.

»Auch dem besten Fahrer kann mal ein

kleines Mißgeschick passieren, Sir«, sagte
Benson.

Dick Charleston am Steuer des Rolls

Royce schien der gleichen Ansicht zu sein.

»Hier gibt es überall gespenstische Schat-

ten«, sagte er nach einer kleinen Pause, wie
um sich zu verteidigen. »Eben zum Beispiel
hätte ich schwören können, daß da vorne je-
mand zu Fuß auf der Straße geht, bis der
Nebel ihn wieder auslöschte.«

Dora spähte hinaus in die Finsternis.

Dunkle Schatten hingen über dem Land. Der
Nebel brodelte.

»Diese Gegend macht mir Gänsehaut«,

sagte sie. »Sie erinnert mich an die Moore in
Schottland.«

»Nein, nein, Liebling«, korrigierte Dick

sie

rasch.

»Die

Moores

haben

ein

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Strandhaus. Du verwechselst sie mit den
Kents – die haben ein Haus in ländlicher
Gegend.«

»Die Moores«, bemerkte Dora eisig, so

eisig wie der kriechende Nebel, »die Moores
wohnen gleich neben den Kents auf dem
Land. Sie sind letzten Winter dorthin
umgezogen.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Dick. »Ich

dachte, die Moores hätten –«

Plötzlich brach er ab.
»Mein Gott.«
Eine menschliche Gestalt war urplötzlich

direkt vor dem Kühler des Rolls aus dem di-
chten Nebel aufgetaucht, nur in schwarzen
Umrissen erkennbar, unheimlich. Kaum ein
Meter trennte sie von dem mächtigen
Kühler.

Dick trat voll auf die Bremse. All die

kleinen Details, die Mr. Rolls und Mr. Royce
sich für einen solchen Fall in ihren Werkstät-
ten im alten England ausgedacht hatten,

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kamen voll zum Einsatz. Ohne Quietschen
und Knirschen stand der große Wagen
binnen Sekundenbruchteilen.

Im selben Moment erscholl direkt vor

ihnen ein grauenhafter Schrei. Die Gestalt,
die so plötzlich aus dem Nebel aufgetaucht
war, wirbelte herum und warf die Arme in
die Luft. Dann nur noch ein scheußlich
dumpfer, kurzer Ton. Dick beugte sich aus
dem rasch heruntergelassenen Seitenfenster.

»Ist was passiert?« rief er in den Nebel.
Keine Antwort.
Dora legte tröstend eine Hand auf seinen

Arm.

»Hallo«, rief er noch einmal. »Ist etwas

passiert?«

Noch immer kein Laut.
Dick suchte nach dem Türknauf. Hatte er

jemanden totgefahren? War das vielleicht
schon der Mord, von dem in der Einladung
die Rede gewesen war? Ein Mord per Auto?
Ein Opfer, das urplötzlich ausgerechnet

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direkt vor den Wagen eines Detektivs
geschleudert wird?

»Hallo, ist da jemand?«
Aber da, noch bevor er Gelegenheit hatte,

seinen Wagen zu verlassen, taumelte die
Gestalt aus dem Nebel ins Licht der beiden
Nebelscheinwerfer. Es war eine Frau. Und
sie war blond. Alles, was es von ihr zu sagen
gab, war, daß sie nicht von gestern war.

Sie taumelte und das war kein Wunder.

Gerade hatte sie wieder den schweren Ben-
zinkanister aufgehoben, den sie zu dem
stehengebliebenen Auto weiter vorne auf der
nebligen Straße schleppte.

»Ich hab’ noch immer fast drei Meilen zu

laufen bis zurück zu meinem Wagen«, sagte
sie

als

Antwort

auf

Dicks

sofortige

Entschuldigung. »Gott sei Dank haben Sie
mich rechtzeitig gesehen.«

Dick war ganz ihrer Meinung. »Ich

möchte nicht gern zweimal Blut an meinen
Händen haben heute abend.«

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Er ließ den Motor des Rolls wieder an.
»Bin ich froh, daß Ihnen nichts passiert

ist«, sagte er. »Bleiben Sie nur schön am
Rand der Straße.«

Er winkte ihr fröhlich zu. Im Augenblick

hatte der Nebel den großen Wagen wieder
verschlungen, fast so, wie ein Gourmet sich
eine Auster in die Kehle gleiten läßt.

Benson fragte sich, ob sein Herr und

Meister Gefahr lief, vom Schlag getroffen zu
werden. Kaum je hatte er einen Menschen so
lachen gesehen. Ein leichtes Bedauern
durchzog sein Gemüt.

»Nun, Sir«, sagte er schließlich, als das

Lachen sich soweit erschöpft hatte, daß man
eine einigermaßen vernünftige Unterhaltung
wieder anknüpfen konnte. »Nun Sir, Sie
können nicht bestreiten, daß Mr. Charleston
nie seine Wohlerzogenheit außer Acht läßt,
ganz gleich unter welchen Umständen.«

»Wohlerzogenheit? Soll das vielleicht

gutes Benehmen sein, die arme kleine

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Blondine da allein mitten im Nebel herum-
laufen zu lassen?«

»Ich meinte doch, Sir, daß er sich in aller

Form von der Dame verabschiedet hat. Und
nebenbei bemerkt, der Nebel würde nicht
halb so dicht sein, Sir, wenn es Ihre
Maschine nicht gäbe.«

»Ganz recht, Benson. Ganz recht. Und

mein Nebel verschafft ihnen eine einmalige
Situation. Hast du je so viele Komiker
gesehen?«

»Wie dem auch sei, Sir. Aber ich habe be-

merkt, daß inzwischen die ersten unserer
Gäste vor dem Haus angekommen sind –
trotz Ihres Nebels und ihrer Brücke und Ihr-
er geleerten Treibstofftanks.«

»Treibstoff, Benson? Was um Himmels

willen meinst du mit Treibstoff?«

»Treibstoff, Sir, ist der gewähltere Aus-

druck für Benzin. Oder wie es manche Bür-
ger dieses Landes gar zu nennen belieben:
Sprit.«

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Bensons Gesicht war zur Maske erstarrt,

als er sich jetzt wieder dem Bildschirm
zuwandte.

Vor dem großen, unheimlich dunklen

Haus im Nebel konnte man einen alten
1940er Chevy sehen, der gerade zum Stehen
kam. Auf den letzten Metern beim Ausrollen
streckte Sidney Wang vorsichtig den Kopf
aus dem Fenster und beäugte, was von dem
Gebäude im Nebel zu sehen war. Das war
herzlich wenig. Nur ein Bogen über dem
Haupteingang, über dem in großen schwar-
zen Ziffern die Hausnummer angebracht
war,

weiter

hinten

hohe,

abweisende

Mauern. Sofern es darin Fenster gab,
mußten sie sorgfältig verschlossen sein. Nir-
gendwo der kleinste Schimmer eines Lichts.

Willie stieg aus und schleppte einen dick-

en alten Koffer mit sich. Er und sein Vater
stiegen zusammen die breite Treppenflucht
empor zum Eingang. Wangs Augen blickten
unruhig von einer Seite zur anderen, als

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würde in seinem Kopf eine Blatte laufen, die
immer wieder sagte: »Sie werden höflichst
eingeladen zum Dinner… und zu einem
Mord.«

Aber so wie er dastand, war das Dach des

Hauses nicht zu sehen, denn die oberen Re-
gionen wurden fast gänzlich vom Nebel ver-
hüllt. Und dort hinauf hätte er sehen
müssen. Hätte er wirklich! Zu seinem eigen-
en Besten.

Denn dort oben, hoch, hoch über dem

Eingang, gab es auf einem vorspringenden
Giebel eine gewaltige steinerne Statue. Nicht
nur eine. Insgesamt zierten sechs von ihnen
die obere Fassade des Landsitzes. Nur diese
eine wurde gerade in diesem Augenblick vor-
sichtig von dem pflichtgetreuen Benson weit-
er zur Kante geschoben. Zentimeter für
Zentimeter.

Auch, wenn es ihm gar nicht konvenierte,

arbeitete Benson doch schwer, um diese
gewichtige steinerne Figur vorwärts zu

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bringen. Die Statue stellte eine eigenartige
Version der Justitia dar, in einer Hand hielt
sie eine Waage (die eine Schale neigte sich
eine Spur tiefer als die andere), und in der
anderen hatte sie ein hocherhobenes Sch-
wert mit abgebrochener Spitze. Um den Kopf
herum, eher wie das verrutschte Kopftuch
einer betrunkenen Dame des späten Mit-
telalters wirkend, lag ein steinernes Tuch
über ihren Augen.

Und Zentimeter für Zentimeter kam das

Ungeheuer der Simskante näher.

Senkrecht darunter war inzwischen der

vorsichtige Wang angekommen und beäugte
die hohe Eingangstür vor sich. Auch die
Steintreppe hatte er erst sorgfältig in Au-
genschein genommen, bevor er hinaufgestie-
gen war. Langsam kamen ihm eine Anzahl
chinesischer Sprichwörter in den Sinn.

Benson, oben im Nebel, schob und schob.

Eine Spur britischer Transpiration netzte in-
zwischen seine Stirn, und auch in seinen

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weißen Handschuhen, die er auf Anweisung
seines Herrn trug, wurde es langsam feucht.
Manche Leute lesen einfach zu viele verdam-
mte Kriminalromane. Noch ein Stück. Und
noch eins, ein wenig noch, gleich… Unsere
leicht betrunkene, mittelalterliche Dame mit
der steinernen Augenbinde fühlte sich mehr
als nur etwas beschwipst, schien es. Warum
lehnte sie sich sonst plötzlich so leichtsinnig
schwankend nach vorn?

Unten, auf der letzten Stufe der Freit-

reppe, standen die beiden Wangs dicht
nebeneinander vor der Eingangstür, Schulter
an Schulter.

Plötzlich sprach der weise Vater.
»Halt!«
»Ha?« kam es von dem unweisen Sohn.
»Nicht bewegen«, kläffte Wang Senior.

»Etwas sein hier nicht in Ordnung.«

»Was ’n los, Paps?«

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»Tun, was ich sage«, antwortete Wang.

»Keine Fragen fragen. Wenn ich sagen
spring, spring. Eins…«

Oben auf der Simskante schwankte un-

sere betrunkene Dame langsam zurück, als
hätte sie plötzlich beschlossen, daß diese
Nacht nicht so gut geeignet war, um aus-
zuprobieren, ob sie fliegen könne. Die be-
handschuhten Hände schoben wütend. Die
Dame schien jetzt zu denken, daß vielleicht
aber diese Nacht so gut wie jede andere sei,
um ein wenig in der Gegend herumzufliegen.
Vielleicht wäre auch der Nebel nützlich. Die
Luft ist dadurch gewissermaßen nicht so
dünn, nicht wahr?

Von den Stufen senkrecht darunter er-

tönte es: »Zwei!«

Ja, tatsächlich, die Dame hatte sich en-

dgültig zum Flugversuch entschlossen. Und
jetzt konnte sie diesen Entschluß auch nicht
mehr rückgängig machen – auch eine Frau
steht zu ihren Entschlüssen.

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Unten auf der letzten Stufe hieß es:

»Drei!«

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5

Eine gewisse, leicht beschwipste, mit-

telalterliche Dame, in der einen ausgestreck-
ten

Hand

eine

Waage

(im

leichten

Ungleichgewicht),

in

der

anderen

ein

aufrechtes Schwert (mit abgebrochener
Spitze), unternahm in der Überzeugung, daß
dichter Nebel doch eine leichte Hilfe sein
könnte, in der dunklen, nebligen Nacht einen
Flugversuch. Jedoch, da sie aus einem
schweren Steinbrocken gehauen war und ihr
Gewicht knapp eine halbe Tonne ausmachte,
flog sie mit den Füßen voraus.

Und obwohl sie natürlich mit großer und

immer größerer Schnelligkeit durch die Luft
sauste (man denke an die Experimente des
Galilei am Schiefen Turm von Pisa), ähnelte
ihre Bahn kaum dem, was ein unbefangener

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Beobachter eine Flugbahn nennen würde,
denn sie führte auf direktem Wege nach un-
ten auf den Boden.

Und da unten, auf der obersten Stufe der

breiten

Freitreppe,

die

hinauf

zum

Haupteingang der Lola Lane 22 führte, wo
Sidney Wang, der berühmte chinesische
Detektiv und Willie Wang, der nicht berüh-
mte Adoptivsohn Nummer Drei Schulter an
Schulter

standen,

erscholl

ein

lautes

»Spring!«

Sidney Wang selber sprang nach rechts,

weit nach rechts. Willie, immer bewußt, daß
man elterlichen Befehlen ohne viel Auf-
hebens und möglichst rasch folgen sollte,
sprang nach links, vielleicht sogar noch weit-
er als sein distinguierter, aber beleibter
Vater.

Die leicht betrunkene Dame mit dem

Schwert und der Waage landete genau zwis-
chen ihnen beiden. Mit einem gewaltigen
Krach.

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Als sich der Krach in dem umgebenden

Nebel verloren hatte, breitete sich eine lange
Stille aus, die schließlich von Willie
gebrochen wurde.

»Heiliges Shanghai!« rief er aus. »Gut

gezählt, Paps. Aber woher wußtest du?«

»Hier, schauen«, sagte sein Vater und

streckte den Zeigefinger aus.

Und tatsächlich, obwohl nun etwas über-

pudert von dem Steinstaub der zerschmet-
terten Dame, aber noch immer klar erken-
nbar, wenn man genau hinschaute, sah man
in Kreide gemalt zwei Paar Schuhsohlen.

»Sogar die Schuhgröße stimmt«, be-

merkte Wang. »Jemand hat sich sehr viel
Mühe gegeben, das Willkommen nicht allzu
herzlich zu gestalten.«

Er zuckte leicht mit den Schultern.
»Bitte läuten«, sagte er dann zu Willie.
Willie starrte ihn an, als tanzten plötzlich

kleine rosa Männchen auf seiner schwarzen
Hutkrempe.

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»Bist du verrückt geworden, Paps?«

fragte er. »Jemand hat gerade versucht, uns
umzubringen.«

»Sollte interessanter Besuchsabend wer-

den, nicht?« antwortete sein Vater nicht im
geringsten

erschüttert.

»Bitte

Glocke

läuten.«

Willie stieg vorsichtig über einen gewalti-

gen Schutthaufen, die Reste einer gewissen
Dame, die früher auf dem Dachsims gest-
anden hatte mit einem abgebrochenen Sch-
wert in der einen und Waagschalen in der
anderen Hand (wer mag sie wohl aus dem
Gleichgewicht gebracht haben? Sie konnte
sich einfach nicht mehr daran erinnern. Viel-
leicht hat sich ein Vögelchen einmal auf eine
der Waagschalen gesetzt. Oder gar ein Ei
hineingelegt. Ein Ei aus Blei!). Er näherte
sich dem großen eisernen Türklopfer, über
dem in Schmiedeeisen die Buchstaben B-E-L
angebracht waren.

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»Nun, Sir«, sagte Benson in dem klimat-

isierten Wohlbehagen des Fernsehraums
»diese Runde ging zweifellos an Sidney
Wang. Das müssen Sie zugeben.«

»Es ziemt einem Butler nicht, solche

schiedsrichterlichen Überlegungen anzustel-
len«, grummelte Lionel Twain.

»Sie haben natürlich recht, Sir. Aber Sie

müssen doch zugeben, daß es schwer sein
dürfte, Mr. Wangs Art, diese Situation zu
meistern, zu überbieten.«

Lionel Twain schwang in seinem Dreh-

sessel herum und starrte Benson mit dem
Rücken zum Bildschirm, böse triumphierend
an.

»Schwer zu überbieten«, sagte er knurrig.

»Das war gerade soviel, wie ich bei ihm
einkalkulieren konnte. Ich hätte meinen
Fuchs doch nicht erschossen, bevor die
Treibjagd überhaupt beginnt.«

»Ich glaube, Sir«, sagte Benson, »daß uns

hier

gewisse

Sportbegriffe

etwas

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durcheinander geraten. Eine Fuchsjagd hat
recht wenig gemein mit einer Treibjagd,
jedenfalls in der Gegend, aus der ich
stamme.«

»Wenig gemein«, wiederholte Lionel

Twain abfällig.

Und er hätte noch einiges mehr zu

äußern gehabt über Butler, die sich derartige
Äußerungen erlaubten. Aber in diesem Mo-
ment bemerkte Benson etwas auf dem
Bildschirm.

»Gleich wird er die Hausglocke betätigen,

Sir«, unterbrach er seinen Herrn und schien
gar eine Spur aufgeregt. Lionel Twain
kicherte.

»Sehen wir mal, wie dein unerschütter-

licher Sidney Wang damit fertig wird«, sagte
er.

Willie Wang hatte den schmiedeeisernen

Klingelzug ergriffen und zog mit einem
kräftigen Ruck daran.

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Tief aus dem Innern des alten Gemäuers

erscholl ein schauriger, echogejagter Todess-
chrei und zerriß die dunkle, neblige Nacht.
Ein Schrei puren Entsetzens, und noch dazu
der Schrei einer Frau, daran gab es keinen
Zweifel. »Heiliger Strohsack!« stieß Willie
hervor. »Da drin wird jemand umgebracht.«

Schweiß stand auf seiner Stirn. Stumm

flehend blickte er seinen Vater an.

»Laß uns die Tür aufbrechen, Paps«, bat

er.

Er wandte sich um und stemmte sich mit

Rücken und Schultern gegen die massive
Eichentür, obwohl offensichtlich war, daß
seine Kräfte für ein solches Unternehmen
nicht ausreichen würden. Aber versuchen
wollte er es wenigstens, das ließ er sich nicht
nehmen. Der schrille Schrei hallte noch im-
mer in seinen Ohren, obwohl es hinter der
Tür jetzt wieder grabesstill geworden war.

»Beruhige dich doch, bitte«, sagte sein

Vater und hob warnend die Hand.

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»Aber, Paps… aber Paps, du hast doch

den Schrei gehört!«

»Du hast Schrei gehört«, antwortete Sid-

ney Wang mit der Betonung auf dem »Du«.

Bedauernd schüttelte er seinen klugen

Kopf.

»Erfahrene Ohren haben gehört Haus-

glocke«, sagte er.

»Nein, ist das nicht ausgezeichnet, Sir,

ganz ausgezeichnet«, kam es von Benson. Er
konnte sich nicht zurückhalten, als er Sidney
Wangs ruhige Bemerkung aus dem übertra-
genden Lautsprecher hörte.

»Benson, das hier ist kein verdammtes

Kricket-Spiel.«

Ȇblicherweise bezeichnet man es als

›Match‹, Sir. Ein Kricket-Match. Und es ist
unüblich, jedenfalls in gehobeneren Kreisen,
von einem solchen als einem ›verdammten‹
zu sprechen.«

Lionel Twain schwang in seinem Sessel

herum. Es war einer dieser kostspieligen

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Sessel, die für dramatisches Herumwirbeln
konzipiert waren.

»Aber, Benson«, sagte er mit einem

bösen Grinsen von einem Ohr zum anderen,
»das hier sind keine gehobeneren Kreise.
Und auch kein Kricket-Spiel. Es handelt sich
um eine persönliche Angelegenheit zwischen
mir und diesen Herrschaften, die mir den
Genuß an jeder Freizeitstunde geraubt
haben, die ich zu meiner Entspannung hatte.
Ist das klar?«

»Absolut Sir«, sagte Benson.
»Würdest du dich dann bitte in den Lift

da begeben und nach unten sausen zur
Haustür und endlich deine Rolle spielen,
verdammt nochmal?«

»Sehr wohl, Sir.«
»Und, noch was, Benson.«
»Sir?«
»Du hast deinen weißen Stock vergessen

– und deine Brille.«

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»Vielen Dank, Sir. Höchst nachlässig von

mir, Verzeihung, Sir.«

Lionel Twain wandte sich wieder dem

Bildschirm zu. »Manchmal«, murmelte er
vor sich hin, »habe ich das Gefühl, als ob
dieser Kerl auf der anderen Seite steht.«

Unten in der Eingangshalle des großen

alten Hauses schwang die eisenverriegelte
Eichentür quietschend auf. Sidney Wang und
sein Adoptivsohn Nummer Drei sahen sich
mit Mr. Twains vertrautem Butler konfron-
tiert, mit schwarzer Blindenbrille und einem
weißen Spazierstock am Arm. Willie riß die
Augen auf. Der unerschütterliche orientalis-
che

Vater

blieb

unerschütterlich

und

orientalisch.

»Guten Abend«, sagte der Butler auf san-

fte, zurückhaltende britische Art. »Wir
haben Sie erwartet.«

»Aber wie Zustände!« sagte Wang streng.

»Dachrenovierung erforderlich.«

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»Wirklich?« antwortete der Butler mit

dem genau passenden Maß britischen Er-
staunens. »Nun ja, ich fürchte, das ganze
Haus fällt langsam zusammen.«

Er stand auf der Türschwelle, eine eigen-

artige, fast unheimliche Gestalt in Butleruni-
form, mit dem dünnen weißen Stock, der von
seinem Handgelenk herabbaumelte und
dieser undurchschaubaren schwarzen Brille,
die seine Augen verbarg. Mit keiner Bewe-
gung forderte er die Wangs auf, einzutreten.

Schließlich sagte der Chinese: »Dürfen

wir eintreten?«

Der Butler zuckte leicht zusammen.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung«,

sagte er. »Ich dachte, Sie wären schon
hereingekommen. Sind Sie Mr. und Mrs.
Charleston?«

Willie warf einen einigermaßen er-

staunten Blick auf seinen korpulenten ori-
entalischen Vater. Mr. Charleston? Na, also
gut, jeder kann sich mal irren, und vielleicht

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war Charleston ein alter orientalischer
Name. Aber Mrs. Charleston? Mrs.? Und
welchen von ihnen beiden hielt dieser Kerl
wohl dafür?

»Nicht direkt Mista und Missis Charle-

ston«, erklärte sein Vater unerschütterlich.
»Ich bin Inspektor Wang von der Cataline-
Polizei. Und dies sein Adoptivsohn Willie.«

»Ach ja, natürlich, Sir«, murmelte der

Butler.

Jetzt endlich trat er beiseite und ließ die

beiden in das Haus eintreten.

Da gab es für beide allerhand Ungewöhn-

liches zu sehen. Die große Eingangstür
führte direkt in die Halle des großen Hauses.
Sie war groß genug, um einen Swimming-
pool darin einzubauen, aber düster und ge-
heimnisvoll. Hoch oben an den Wänden
ringsum hingen Jagdtrophäen, hie und da
als Krönung ein Tigerkopf. In den Ecken und
Nischen standen alte Rüstungen, die aus-
schauten, als ob sie einen anschauten, mit

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beobachtenden Augen. In ihrer Nähe hingen
die verschiedensten antiken Waffen an der
Wand, Schwerter, alte Pistolen, Pickel und
Morgensterne. Tödliche Waffen.

Die beiden Wangs standen schaudernd

mit weit aufgerissenen Schlitzaugen da.
Nicht nur, weil diese scheunengroße Emp-
fangshalle lausig kalt war, obwohl das auch
genügt haben müßte, wenn man bedenkt,
was Lionel Twain es sich hatte kosten lassen,
um diese eisige Zugluft in der Halle und in
den Korridoren herzustellen.

»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme

Reise, Sir«, sagte der Butler und verbeugte
sich höflich in Richtung Sidney Wangs, der
allerdings genau hinter ihm stand.

»Obwohl ich fürchte«, fügte er mit genau

dem Quentchen britischer Höflichkeit, die
manchmal zuviel sein kann, hinzu, »fürchte,
daß der Sturm Ihnen doch Unannehmlich-
keiten bereitet haben könnte.«

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Der Sturm? Willie Wang fragte sich, an-

gesichts der endlosen Stunden, die er sich
am Lenkrad durch den dichten, stillen, alles
zudeckenden Nebel gequält hatte, wovon
zum Teufel dieser komische Kauz eigentlich
redete. Bis er zufällig zu einem der hohen
Fenster in der Halle hinaufblickte.

Da sah er allerdings Blitze zucken, gefolgt

von grollendem Donner und hörte nun auch
das unaufhörliche Prasseln von Regen an
den Scheiben.

Offensichtlich hatte nun auch sein Vater

Notiz genommen von diesen eigenartigen
Wetterverhältnissen. Denn er wandte den
Blick von den Fenstern ab, um aus der noch
immer halb geöffneten Eingangstür hinaus-
zuschauen. Und draußen wogte und quirlte
noch immer der gleiche dichte Nebel, wie auf
dem ganzen Weg aus der Stadt bis hierher.

»Seltsam Wetter«, bemerkte er. »Sturm

nur draußen, wenn man drinnen.«

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»Ach, das meinen Sie«, sagte der Butler

geringschätzig und gab damit seinem be-
vorzugten

chinesischen

Detektiv

einen

schnellen, unerlaubten Tip.

»Das ist nur eines von Mr. Twains klein-

en Spielsachen. Eine elektronische Einrich-
tung. Mr. Twain hat gerne, wie Sie sehr bald
selbst

erleben

werden,

seine

eigene

Atmosphäre…«

Er suchte nach einer noch treffenderen

Beschreibung. »Trübe Atmosphäre.«

Willie Wang sah seinen Vater an. Sein

Vater sah unerschüttert aus.

»Einen Augenblick bitte, ich muß noch

die Tür schließen«, sagte Benson dann.

Seinen weißen Stock schwenkend ging er

zurück, bis der Stock gegen die Tür stieß. Mit
seiner freien Hand gab er der Tür einen Stoß,
daß sie zufiel – aber dann zurückschwang
und weit offen blieb.

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»Nun«, sagte er dann, offenbar zufrieden,

»würden Sie bitte so freundlich sein, mir zu
folgen. Ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«

Er durchquerte die riesige Halle und stieg

die breite Treppe hinauf, die sich am Ende
der Halle majestätisch in die oberen Region-
en des alten Gebäudes wand. Die beiden
Neuankömmlinge folgten ihm schweigend
durch einen langen und teuflisch zugigen
Korridor. Abweisende, fest geschlossene
Türen zu beiden Seiten des Korridors wirk-
ten auf sie wie ein feindseliges Spalier. Über-
all waren dunkle Schatten.

Gerade waren sie an einer weiteren dieser

Türen vorbeigekommen, als hinter ihr ein
tiefes, böses Knurren erscholl, ein Knurren
wie von einem Wolfshund.

Oben schaltete Lionel Twain einen Knopf

aus und wartete auf die Resultate.

»Was bitte sein das?« fragte Sidney

Wang ruhig.

»Das ist nur die Katze.«

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»Das sein Katze?« fragte Wang etwas er-

staunt.

»Füttern

Sie

Katze

mit

Hundefutter?«

»Ich fürchte, es ist eine ziemlich böse

Katze, Sir«, antwortete der Butler so gewählt
und britisch wie möglich. »Mr. Twain küm-
mert sich – eh – persönlich um sie, und das
scheint ihr nicht zu gefallen.«

»Bah«, sagte Lionel Twain oben vor sich

hin, »der Bursche mogelt. Willie hätte
wenigstens ohnmächtig werden müssen vor
Schreck.«

Schweigend dachte Sidney Wang nach,

und Willie Wang, der kaum zu atmen wagte,
geschweige

denn

nachzudenken,

ging

zusammen mit den anderen weiter durch
den endlosen, schlecht beleuchteten und zu-
gigen Korridor. Schließlich blieben sie vor
einer der abweisenden Türen stehen.

Benson öffnete sie mit großer Geste vor

ihnen. Der Raum dahinter war stockdunkel.

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Mit einer leichten Verbeugung bat Ben-

son Sidney Wang einzutreten, und Sidney
Wang, der noch im echt orientalischen, höf-
lichen Stil erzogen worden war und schon
zum Frühstück Nudeln serviert bekam, trat
ahnungslos ein. Es gab ein entsetzliches
Spektakel, als ob ein halbes Dutzend Besen
in ein halbes Dutzend leerer Blechschüsseln
fiel.

»Sehr hübsche Besenkammer«, bemerkte

er sanft. »Aber sehr schwierig für schlafen.«

»Die Besenkammer«, murmelte der But-

ler in offensichtlichem Erstaunen, »tut mir
unendlich leid, Sir. Muß ich mich geirrt
haben.«

»Ja, Sir«, fuhr er fort. »Meistens benutze

ich

die

Hintertreppe,

wenn

ich

hier

heraufkomme. Daher hab’ ich die falsche
Richtung eingeschlagen. Ihr Zimmer ist
zweifellos hier, Sir. Genau gegenüber.« .

»Große Häuser sein wie zu dicke

Frauen«, tröstete Wang ihn.

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»Man verliert den Überblick.«
Willie schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Mann, ist das ein kaltes Haus«, sagte er.
Über Bensons Gesicht huschte ein

flüchtiger Ausdruck des Bedauerns. Schade,
dachte er, daß der Junge seinem Herrn auch
noch in die Hände spielte. Nun, ja…

»Darum habe ich mich bereits geküm-

mert, Sir«, sagte er beruhigend. »Sie werden
ein hübsches, gemütliches Feuer in Ihrem
Zimmer vorfinden.«

Er stieß die Tür auf. Tatsächlich war ein

hübsches, gemütliches Feuer in dem Zim-
mer. Es loderte hellauf mitten in dem großen
Doppelbett, per Fernsteuerung von oben
durch einen Knopfdruck im Fernsehraum
entfacht. Wang und Willie stürmten hinein
und durchwühlten das Bettzeug.

»Das Dinner findet um acht Uhr statt«,

verkündete Benson ungerührt von der Tür
aus. »Mr. Twain würde es gern sehen, wenn
Sie im Abendanzug kämen.«

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Er schloß die Tür hinter den Wangs und

ging eilig zurück in die schwarze Besenkam-
mer. Durch eine geheime Tapetentür in der
rückwärtigen Wand verließ er sie wieder und
drei Sekunden später hatte ihn der Express-
Lift schon in das oberste Stockwerk des
Hauses getragen, wo sich nach wie vor sein
Herr und Meister befand.

Lionel Twain schien nicht bester Laune

zu sein.

»Benson«, sagte er hinterhältig wie eine

Hyäne, »du hilfst diesen Burschen. Ich habe
keine Ahnung, wie du es machst, aber wahr-
scheinlich gibst du ihnen irgendwelche
Zeichen.«

Benson sah gekränkt aus, tief gekränkt.
»Bei mir zu Hause, Sir«, sagte er, »gibt es

keine höhere Tugend als fair play.«

»Und deshalb verliert ihr auch immer«,

knurrte Lionel Twain schadenfroh. »Und
diesmal wirst du verlieren, Benson, das ver-
spreche ich dir.«

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»Wie sie meinen, Sir«, antwortete

Benson.

In Gedanken aber verweilte er noch bei

Sidney Wang und genoß dessen ruhige, un-
erschütterliche Art, mit der er die Dinge
bisher aufgenommen hatte. Er war doch tat-
sächlich heute noch von Kopf bis Fuß so gut
wie in seinen ersten Filmen.

»Haben Sie das Feuer ausgemacht?«

fragte Lionel Twain gereizt. »Ich will näm-
lich nicht, daß ihretwegen das ganze Haus
abbrennt.«

»Ich hege keinen Zweifel, Sir, daß die

Grundbegriffe der Feuerbekämpfung absolut
im Bereich von Sidney Wangs Fähigkeiten
liegen. Und dann würde ich Ihnen em-
pfehlen, Ihre Aufmerksamkeit auf den
Empfangshallen-Monitor zu lenken, Sir. Die
Charlestons scheinen hereinzukommen. Ich
habe die Tür Ihrem Wunsche entsprechend
offengelassen, Sir.«

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»Hm«, sagte Lionel Twain und wandte

sich dem richtigen Bildschirm zu.

»Wie mir scheint, Sir«, fügte Benson mit

meisterhaft kaschiertem Triumph hinzu,
»hat Mr. Charleston das Problem der her-
unterfallenden Statue des Eros, wie er am
Piccadilly Circus zu London steht, mit
bezeichnender Überlegenheit gemeistert.«

Und tatsächlich, wie auf dem Bildschirm,

der die Eingangshalle übertrug, klar zu
erkennen war, hatte Dick Charleston nur
einen Hauch von Steinstaub auf seinen eleg-
anten Schultern.

Dora dagegen war halb ohnmächtig in

einen tiefen Sessel gesunken, wo ihr Dick ein
Glas mit den allerletzten Tropfen Martini an
die Lippen hielt, die er dem versoffenen
Rolls-Royce in weiser Voraussicht vorenthal-
ten hatte.

»Trink das, Liebling«, sagte er gerade.

»Dann fühlst du dich gleich besser.«

Dora nahm einen winzigen Schluck.

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»Wenn Myron nicht gebellt hätte«,

hauchte sie, noch ganz echauffiert, »hätten
wir diese Statue niemals fallen sehen. Was
war es eigentlich? Eros?«

»Eros war’s, Liebling. Der Gott der Liebe.

Aber ich glaube nicht, daß er uns umbringen
wollte. Es galt nur als Warnung. Jemand
möchte uns Angst einjagen.«

»Oh, wie er das macht! Macht er das

nicht fabelhaft, Sir«, murmelte Benson.

Am liebsten hätte er applaudiert.
»Wissen Sie, Sir«, sagte er zu Lionel

Twain. »Es sollte mich nicht überraschen,
wenn Mr. Charleston derjenige ist, der
diesen Mordfall lösen wird.«

»Nun, ich wäre schon überrascht«, gab

Lionel Twain böse zurück. »Ich wäre es
schon, wenn es dieser Angeber überhaupt
noch bis zum Dinner schafft.«

Benson lächelte überlegen. Und Genera-

tionen britischer Butler hatten Bensons
überlegenes

Lächeln

derart

überlegen

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gemacht, daß man schon von Herrschaften
gehört hat, die vor diesem Lächeln weinend
auf den Knien gelegen haben sollen.

Aber Lionel Twain war aus härterem

Holz geschnitzt. Damit hatte er es auch zum
siebzehntreichsten Mann dieser Welt geb-
racht, und er würde wohl kaum durch das
Lächeln eines Butlers in die Knie gezwungen.

»Fahr’ runter in die Halle, los«, bellte er

Benson an. »Und wehe, wenn du noch ein-
mal faule Tricks versuchst.«

»Ein britischer Butler macht keine faulen

Tricks, Sir. Und ich würde Ihnen nahelegen,
den Citroen im Auge zu behalten.«

Nichtsdestotrotz wandte sich Benson mit

stark gerunzelter Stirn dem Express-Lift zu,
und genauso verärgert schaltete Lionel
Twain

keinesfalls

vom

Charleston-Pro-

gramm zu dem von Perrier um.

Zwei Sekunden später berührte Dick

Charleston Dora sanft an der Schulter.

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»Da oben, Dora«, sagte er leise. »Schau

mal.«

Sie folgte seiner Blickrichtung zur weit

hinten liegenden Treppenflucht. Ta, tap, ta-
tap-tap kam eine Gestalt die breiten Stufen
hinunter, angetan mit einer kurzen schwar-
zen Jacke, gestreiften Hosen und einer
dunklen Brille. Mit Hilfe eines dünnen,
weißen Stocks fand er den Weg nach unten.

»Ein blinder Butler?« flüsterte Dick.
Dora ergriff angstvoll seinen Arm.
»Dickie«, jammerte sie leise, »was immer

du auch tun magst, laß ihn bloß nicht den
Wagen parken.«

Der Butler kam auf sie zu. Aber kaum

hatte er sie fast erreicht, als Myron beschloß,
seinerseits das eine oder andre zu dieser
Situation zu sagen. Er stieß ein kurzes,
wütendes Bellen aus, nur um zu sehen, was
geschehen würde.

Die Reaktion war allseits unerwartet.

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»Machen Sie sich nichts draus, Ma’am«,

sagte Benson in Doras ungefähre Richtung.
»Das ist nur die Katze.«

Er führte die drei in Richtung auf die

große Treppe.

»Wir… hm… wir haben noch einen Koffer

im Kofferraum«, sagte Dora stockend.

»Ich bringe ihn später hinauf, Ma’am«,

antwortete Benson, »wenn ich Ihren Wagen
geparkt habe.«

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Doras verzweifelter Ausdruck, mit dem

sie die wie selbstverständliche Äußerung des
blinden Benson aufnahm, den großen, kost-
baren Rolls parken zu wollen, ihr schieres
Entsetzen war ein reiner Hochgenuß für
Lionel Twain, der oben gemütlich im
Fernsehraum saß, mit untergeschlagenen
Beinen, und der jede Bewegung der Charle-
stons bei ihrer Ankunft mit ansah.

Nichts auf der Welt konnte ein so vollen-

detes Gemälde wie Doras Make-up derart
vernichten, wie die pure Angst um ihr Auto,
dachte er. Wie sehr freute er sich da erst auf
den weiteren Verlauf des Abends, wo dieses
herzige Pärchen sich zweifellos gegenseitig
an die Kehle gehen würde. Dann werden wir
ja sehen, wie clever Dick Charleston ist,

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wenn es darum geht, diesen einmaligen
Mordfall aufzuklären, ganz abgesehen von
den paar anderen kleinen Überraschungen,
die ich noch für ihn bereit habe.

Immer vorausgesetzt, dachte er weiter,

daß Benson keine unerlaubten Tricks anwen-
det. Ein Butler sollte schließlich loyal sein.
Und ein britischer Butler sogar mehr als das.
Wofür hatten sie schließlich eine Queen,
wenn nicht dafür, sich in Loyalität zu üben?

Plötzlich

trat

der

Ausdruck

bösen

Mißtrauens in seine Augen, und er wandte
sich wieder dem Bildschirm zu. Auf dem
oberen Flur folgten Dick, Dora und Myron
dem blinden Butler auf dem Weg zu ihrem
Zimmer,

das vorbereitet worden war.

Vorbereitungen ganz eigener Art waren hier
getroffen worden.

»Viele Leute kommen uns ja heutzutage

nicht mehr besuchen«, sagte Benson gerade.
»Es ist nett, wieder einmal Gäste zu haben.«

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»Oh, wie freundlich«, antwortete Dora,

ihren Charme verströmend. »Vielen Dank…
eh?«

»Benson, Mum«, half ihr der Butler.
»Vielen Dank, Benson.«
»Bensonmum«, verbesserte sie der But-

ler, indem er sich strikt an den vorges-
chriebenen Dialog hielt, den sein Herr und
Meister für diese Gelegenheit geschrieben
hatte, trotz all seiner inneren Zweifel, ob das
wirklich komisch wäre.

»Mein Name ist Bensonmum. Jamessir

Bensonmum.«

»Jamessir?« hakte Dick ein.
»Jawohl, Sir.«
»Jamessir Bensonmum?« fragte Dick

noch einmal, da er seinen eigenen überra-
genden Ohren nicht traute.

»Jawohl, Sir«, gab Bensonmum fest

zurück und hielt sich damit streng an die
Regeln.

»Du lieber Gott«, sagte Dick.

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»So hieß mein Vater, nur andersherum«,

gab Benson zurück, der blitzschnell eine
Chance der Eigenimprovisation erkannte.

»Wie hieß Ihr Vater?«
»Gottlieb, Sir, Gottlieb Bensonmum.«
»Ihr Vater war also Gottlieb Benson-

mum?« fragte Dick immer verwirrter.

»Nun, Sir«, fiel Bensonmum schnell ein.

»Ich glaube, mein Vater war vergleichsweise
recht gottesfürchtig.«

Dick Charleston stöhnte leise.
Oben im Fernsehraum fand Benson Gn-

ade und Verzeihung für alles. Wenn die
Charlestons jetzt nicht bereits gehörig ins
Schwitzen geraten waren, lag es gewiß nicht
an dem Briten. Diese Wortspielereien, also
die hätten direkt von ihm, Twain, sein
können. Wirklich.

»Da sind wir schon«, sagte Benson (oder

Bensonmum). »Das Zimmer der verstorben-
en Mrs. Twain. Sie ist hier verschieden.«
Größte Genugtuung lag in der Betonung

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dieses letzten Satzes. Dann zog er glücklich
lächelnd einen gewaltigen Schlüsselring aus
der Tasche mit Dutzenden von Schlüsseln.
Langsam und ohne die Augen zu senken
tasteten sich seine Fingerspitzen von Schlüs-
sel zu Schlüssel auf der Suche nach dem
richtigen.

»Sie ist hier drin gestorben?« fragte

Dora, mehr um die peinliche Pause zu
überbrücken.

»Jawohl, Mam«, antwortete Benson fre-

undlich und zuvorkommend.

»Woran gestorben?« fragte Dick, ohne

sich aus der Ruhe bringen zu lassen.

»Sie ermordete sich, Sir«, antwortete

Benson ohne die Spur zu zögern. »Ermor-
dete sich im Schlaf.«

»Sie meinen Selbsttötung?«
»O nein, Sir. Es war schon richtiger

Mord. Mrs. Twain haßte nichts auf der Welt
so sehr wie sich selbst.«

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Bensons Fingerspitzen tasteten derweil

noch immer suchend von Schlüssel zu
Schlüssel.

»Mr. Twain hat sie sehr geliebt, Sir«, set-

zte er mit trauerumflorter Stimme hinzu.
»Deshalb erhielt er ihr Zimmer auch
genauso, wie es bei ihrem Tod vor neun
Jahren war.« Er schob die Tür auf.

Spinnweben lagen dick und dicht über al-

lem, was im ersten Moment von dem Raum
zu sehen war. Sie verbanden das Bett mit
dem Sessel, den Sessel mit dem Waschtisch,
den Waschtisch mit dem Kamin, mit üppigen
weiten Schwüngen. Und Staub. Überall lag
Staub. Jeder Quadratzentimeter, der einiger-
maßen waagerecht war, war fingerdick mit
Staub bedeckt.

Plötzlich, als so unerwartet nach nur

neun Jahren die Tür aufgestoßen wurde,
schoß eine kleine Maus unter dem Sessel
hervor und huschte auf geradem Wege unter
das Bett. Dora kreischte auf.

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»Ah, die Hausklingel«, sagte Benson

blitzschnell. Er wandte sich um, um zu
gehen.

»Das«,

sagte

Dick,

»war

Mrs.

Charleston.«

»Ich dachte, sie sei hier oben bei uns«,

antwortete Benson und übertraf sich damit
selbst in seiner vorgeschriebenen Rolle.

»Ich bin ja auch hier«, sagte Dora. »Und

außerdem – in diesem entsetzlich schmutzi-
gen Zimmer werde ich nicht wohnen.«

»Schmutzig?« fragte Benson erstaunt.
Er zuckte die Schultern.
»Sehr wohl, Madam. Ich werde mich

während des Dinners darum kümmern.«

»Vielen Dank, Bensonsir«, sagte Dick.
»Mum«, sagte Benson.
»Was?«
»Bensonmum, Sir. Madam.«
Er wandte sich um und tappte suchend

zur Tür hinaus.

Dick schloß sie rasch hinter ihm.

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Als Benson drei Sekunden später aus

dem geheimen Expreß-Lift oben in den
Fernsehraum trat, schwang Lionel Twain in
seinem Sessel herum.

»Benson«, sagte er, »ich habe dir Abbitte

zu leisten. Das hast du fabelhaft gemacht.
Die beiden wissen kaum mehr, was sie tun
sollen.«

»Danke, Sir«, murmelte Benson. »Ich

fürchte, daß Sie recht haben könnten.«

»Fürchten?«
Blitzhaft verlor sich der Ausdruck süffis-

anter Freundlichkeit in Lionel Twains
Gesicht.

»Hör zu, Benson«, sagte er, »es handelt

sich hier um Ratten, die wir in unserem
Experimentier-Labyrinth haben. Ist das
klar?! Seit Jahren haben sie mir das Leben
zur Hölle gemacht. Millionen von unschuldi-
gen Menschen haben ihretwegen Frustra-
tionen erlitten. Und jetzt bekommen sie nur
eine Kostprobe ihrer eigenen Medizin.«

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Benson seufzte.
»Wie Sie meinen, Sir. Aber ich muß

trotzdem zugeben, daß ich an ihren Büchern
auch viel Freude gehabt habe. Ich meine
damit zum Beispiel, Sir, wie höchst amüsant
sind doch immer die Passagen zwischen Mr.
und Mrs. Charleston. Und dann ist er auch
noch so scharfsinnig. Ich muß schon sagen,
Sir, manchmal hatte ich das reinste Vergnü-
gen, Sir.«

»Das reinste Vergnügen, bah. Scharfsin-

nig? Hör doch auf! Dick Charleston ist unge-
fähr so scharfsinnig wie eine stumpfe Strick-
nadel scharf und sinnig ist. Sieh ihn dir doch
an. Sieh ihn dir doch jetzt mal an! Ich wette,
er tut momentan nichts anderes, als diese
seine larmoyante Frau zu beruhigen, die we-
gen Spinnweben und Staub gleich die Fas-
sung verliert. Sieh ihn dir doch an.«

Er schwang wieder herum zu den Bild-

schirmen und drückte unwirsch auf einen
Knopf.

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»Mehl«, hörte man Dick Charleston

sagen.

»Was?« sagte Dora.
»Dieser Staub ist Mehl. Und diese

Spinnweben –«

Dick beäugte ein paar aus der Nähe…
»- sind Zuckerwatte. Alles erst kürzlich

und sorgfältig hierher manipuliert, zu dem
einzigen

Zweck,

uns

zu

Tode

zu

erschrecken.«

Benson wandte sich ab und schien sehr

beschäftigt

mit

dem

Zubereiten

eines

Martinis, nur um sein Grinsen zu verstecken,
das er diesmal nicht unterdrücken konnte.

Unten in dem Zimmer blies Dick gerade

soviel Mehl von der Bettkante, um sich hin-
setzen zu können.

»Aber warum?« fragte er laut. »Warum

nur? Was soll das für ein Spiel sein, das
Twain da treibt.«

»Was

auch

immer«,

stellte

Dora

entschlossen fest, »ich habe keine Lust,

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mitzuspielen. Nicht mit einer Maus unter
unserem Bett.«

Dick lächelte ihr nachsichtig zu und griff

unters Bett.

Oben im Fernsehraum drückte Benson,

der seine Fassung inzwischen wiederge-
wonnen hatte, heimlich die Daumen.

»Eine Maus, Liebling?« fragte Dick.

»Oder nur ein Aufzieh-Spielzeug?«

Er richtete sich wieder auf, und seine

Hand umschloß fest ein kleines pelziges Et-
was, so daß nur ein paar schwarze Knopfau-
gen

und

zwei

samtige

Ohren

herausschauten.

Mit der anderen Hand staubte er für

Dora ein Plätzchen auf dem Bett ab. Sie kam
und setzte sich neben ihn.

»Eine Statue, die uns knapp verfehlt

hat«, resümierte Dick skeptisch, »eine Tür-
glocke, die Wahnsinnsschreie ausstößt. Ein
blinder Butler. Ein künstliches Gewitter.
Und Spinnweben aus Zuckerwatte. Twain

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wird doch wohl nicht glauben, daß er zwei so
erfahrene Detektive wie Wang und mich mit
solchen Mätzchen erschrecken kann. Und
doch, er –«

Plötzlich brach er ab. Der Ausdruck rein-

en Entsetzens breitete sich auf seinem
Gesicht aus.

»Was ist los, Dick?«
»Die Maus! Sie ist echt.«
Er ließ den kleinen Nager auf den Boden

fallen, schüttelte sich angewidert und wis-
chte wild seine Hände an der Jacke ab.

Es war qualvoll, Lionel Twains Gelächter

mitanhören zu müssen. Benson versuchte,
an etwas anderes zu denken – an die Queen,
an Shakespeare, grüne Hügel, lauwarmes Bi-
er – aber es half alles nichts. Die Wirklich-
keit war zu stark, kaum zu ertragen. Hatte
doch sein Held tatsächlich Angst vor einer
Maus.

»Ich glaube, Sir«, sagte er, »ich sollte

mich jetzt lieber um die Vorbereitungen fürs

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Dinner kümmern. Schließlich hat man ja
eine gewisse Reputation zu wahren.«

Lionel Twain sah ihn wie geistesab-

wesend an.

»Ja, Benson, ja«, sagte er dann, »natür-

lich. Kümmere dich um das Dinner. Du hast
schließlich deine Reputation.«

Benson wandte sich um und glitt ger-

äuschlos zum Lift. Er war sehr stolz auf seine
Art des Gleitens.

»Und, Benson«, rief Lionel Twain ihm

nach, als sich die Lifttür schon beinahe
geschlossen hatte. »Ich habe eine Küchenhil-
fe für dich organisiert. Ich meinte, das kön-
nte dir eine Hilfe sein, im Hinblick auf die
Wahrung deiner Reputation.«

Aber erst, als sich die Lifttür fest

geschlossen hatte, strampelte er mit den
Füßen vor Vergnügen und lachte laut und
hemmungslos.

Britische Butler, dachte er bei sich. Brit-

ische Butler und ihre Reputation. Und ihre

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faulen Tricks. Nun, auch Master Benson er-
warteten ein paar Überraschungen, von den-
en er nicht einmal etwas ahnte.

Indem er sich vorbeugte, öffnete er eine

kleine versteckte Holzverschalung neben
seinen vielen Fernsehmonitoren, wodurch
noch ein weiterer Bildschirm zum Vorschein
kam. Auf diesem war nun die gesamte Küche
des alten Hauses zu sehen, in Farbe.

Benson, als blinder Butler komplett mit

seiner schwarzen Brille, ging eilig durch das
ihm vertraute Terrain. Bis er die Ankunft
seiner Hilfe bemerkte. Indem er voll in sie
hineinlief. Sie verlor kein Wort über diese
abrupte Begegnung, und so standen sie Nase
an Nase voreinander, zum höchsten Vergnü-
gen von Lionel Twain oben im Fernsehraum.

»Wer sind Sie?« fragte Benson.
Keine Antwort.
Benson hob die Hände und fing an, das

Gesicht abzutasten, das dem seinen so nahe
war. Zufrieden mit dem, was er als Gesicht

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ertastete, wanderten seine Hände weiter
über den Nacken zu den Schultern, von dort
über den Rücken, über das Hinterteil…

Plötzliches Entsetzen überzog das Gesicht

des

schweigenden

Opfers

seiner

Abtastereien.

»Ah«, sagte Benson schließlich, »Sie

müssen das neue Küchenmädchen sein. Hof-
fentlich können Sie kochen.«

Aber auch nach dieser kleinen Ansprache

gab das Mädchen noch keine Antwort.

»Antworten Sie«, sagte Benson streng.

»Nun reden Sie schon.«

Aber es geschah nichts weiter, als daß das

Mädchen aus der Tasche seines Kleides ein
Stück Papier hervorzog und dicht vor die
schwarzen Brillengläser des Butlers hielt.
Darauf stand: »Mein Name ist Yetta. Ich
kann weder hören noch sprechen.«

»Was ist los?« fragte Benson ungeduldig.

»Ich kann Sie nicht hören.«

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Er legte den Kopf schief, um dadurch vi-

elleicht besser zu verstehen, was seine neue
Hilfe ihm zu sagen hätte. Aber nichts
geschah.

»Na, ist ja auch egal«, sagte er schließlich

achselzuckend. »Es werden zehn Personen
zum Dinner da sein. Hier ist die Menüfolge.«

Er tastete nach einer nahen großen An-

richte, fühlte darauf herum, bis er die große
Karte erreichte und sie Yetta übergab. Sie
warf einen Blick darauf und zog dann aus
einer anderen Tasche ihres Kleides einen
weiteren Zettel. Darauf stand: »Ich bin neu
in diesem Land. Englisch kann ich nicht
lesen. Dieses Papier wurde für mich ges-
chrieben (Unterschrift) Acme Briefschreib-
Service.«

»Ist das klar!?« donnerte der stockblinde

Benson streng. »Um acht Uhr wird das Din-
ner serviert. Wenn ich Sie brauche, wird die
Glocke da an der Wand dreimal läuten.« Er
wandte sich ab.

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»Na schön«, sagte er. »Also fangen Sie

an.«

Er wies mit seinem weißen Stock in die

ungefähre Richtung auf den Herd. Aber der
Stock wies auch mehr oder weniger auf einen
Stuhl, der unter den Küchentisch geschoben
war. Gehorsam ging Yetta hin, zog den Stuhl
hervor und setzte sich. Benson ging hinaus,
zufrieden, daß unten in der Küche für alles
gesorgt war.

Lionel Twain erwartete seine Rückkehr

im Fernsehraum mit sorgfältig verstecktem
Vergnügen. Yetta würde Benson noch den
einen oder anderen Schock verpassen, bevor
dieser Tag vorüber war. Geschah ihm recht.
Sich mit diesen Typen gegen ihn, seinen
Herrn, zu verbünden. Na, er wird schon
sehen.

»Komm herein, komm rein, Benson«,

sagte er, als die Lifttür sich öffnete. »Du
kommst gerade richtig für die Milo-Perrier-
Show. Glaube fast, daß sie noch amüsanter

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werden könnte als die Show von Dick und
Dora Charleston.«

»Mich würde es sehr interessieren, das

Grundsätzliche an Monsieur Perriers großem
Können zu entdecken, Sir«, gab Benson
zurück.

Stillvergnügt bemerkte Lionel Twain, daß

sich Benson, trotz seiner gewählten Aus-
drucksweise, einige Sorgen machte. Zweifel-
los war er nicht gerade glücklich über das
Dinner und darüber, was seine Reputation
anbelangte.

»Sieh«, sagte er, »sieh doch. Sie kommen

gerade herein.« Benson wandte den Blick
zum Bildschirm.

»Nun, Sir«, bemerkte er, »wenigstens

haben sie den statuarischen Teil der Ankunft
überlebt. Das ist doch schon etwas.«

»So, haben sie das?« fragte Lionel Twain

leise und boshaft zurück. »Haben sie das
wirklich? Sieh dir das doch an.« Und tat-
sächlich, Milo Perriers Auftritt in der großen

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Eingangshalle wurde dadurch beeinträchtigt,
daß er seinen immer treu ergebenen Marcel
mit den Füßen voraus hereintragen mußte.

Wütend schnaufend schleifte Perrier den

widerstandslosen und bewußtlosen Chauf-
feur über den Steinfußboden der gewaltigen
Halle. Schließlich entdeckte er in einer klein-
en Nische, über der eine besonders furchter-
regende Waffensammlung an der Wand
hing, ein Telefon. Er ließ Marcels Füße
fallen.

»Hab’ ich dir nicht gesagt ›spring‹?« ver-

langte er von dem zusammengekauerten
Körper zu wissen. »,Eins, zwei, drei, spring’,
habe ich gesagt. Warum hast du mir nicht
zugehört?«

»Oh, lassen Sie mich in Ruh«, murmelte

Marcel schwach und unter schmerzlichem
Stöhnen, wie er da so flach auf dem Rücken
lag.

»Ja, oh ja«, sagte der große Detektiv,

»dich in Ruhe lassen, damit ich mir in

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Zukunft meine Eiscremes selber kaufen
muß.«

»Aber Sie haben sich doch ein Eiscreme

gekauft«, jammerte Marcel. »Deshalb sind
wir auch verspätet angekommen, und nur
deshalb ist mir diese verteufelte Statue auf
den Kopf gefallen.«

Oben im Fernsehraum lächelte Benson

milde.

»Auf Milo Perrier kann man sich doch

immer verlassen, Sir«, sagte er, »wenn es
darum geht, eine Sache zum Platzen zu brin-
gen. Vorzugeben, daß er sich das Eis nur de-
shalb gekauft hat, um dadurch einer töd-
lichen Falle zu entgehen. Ausgezeichnet, Sir,
das müssen Sie doch zugeben.«

»Schwachkopf«, fauchte Lionel Twain.
»Schwachkopf«, fauchte Milo Perrier un-

ten in der Halle und starrte den armen,
geschundenen Marcel fast noch wütender
an. »Zu versuchen, sich von der Venus von
Milo umarmen zu lassen, wo man doch weiß,

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daß die Dame keine Arme hat. Was hast du
denn für eine Reaktion erwartet? Pah.«

Er wandte sich zum Telefon und hob den

Hörer ab.

»Allô?«bellte er hinein. »Allô? Ver-

mittlung, hören Sie mich: Allô. Allô. Allô.«

»Tot, Sir«, verkündete eine düstere

Stimme hinter ihm. Benson hatte sich ein
weiteres Mal des schnellen Lifts bedient.

Perrier wirbelte herum und ließ den

Hörer fallen.

»Wer… wer sind Sie?« fragte er.
»Der Butler, Sir«, antwortete Benson,

korrekt wie immer in seiner perfekten
Butler-Uniform.

Perrier kniff die Augen zusammen, die,

um ehrlich zu sein, auch schon nicht zusam-
mengekniffen rechte Schweinsäuglein waren.

»Der Butler, so«, sagte er. »Das dacht’

ich mir fast.«

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»Ich fürchte, das Telefon ist außer

Betrieb, Sir«, sagte Benson höflich. »Schon
die ganze letzte Woche.«

»Wirklich?«
Perrier beugte sich vor und hob das

mißhandelte Kabelende der Anlage auf. Er
prüfte es, zugleich adler- und schweinsäugig.
Und er roch daran.

»Ich sage Ihnen«, sagte er dann und hielt

das Kabelende dem Butler vor die blinden
Augen, »daß dieser Draht vor weniger als
einer Stunde durchgeschnitten worden ist,
wie Sie leicht sehen können.«

Innerlich applaudierte Benson. Vielleicht

sind kleine graue Zellen ein wenig aus der
Mode gekommen, aber sie funktionierten
immer noch.

»Also«, fuhr Perrier dann fort, »da wir,

wie es scheint, nicht nach einem docteur
schicken können, brauche ich für meinen
Chauffeur eine kalte Kompresse, und da
meine Frisur etwas derangiert worden ist,

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brauche ich für mich einen coiffeur, oder
wenigstens einen miroir, ganz abgesehen
von einer Tasse heißer Schokolade, n’est-ce
pas?«

»Ich fürchte, Nes-pas haben wir nicht,

Sir«, antwortete der unerschütterliche Ben-
son. »Aber natürlich haben wir alle gängigen
Marken. Hershey’s, Cadbury’s… ich sage
dem Mädchen Bescheid.«

Er ging hinüber zur Wand, und nach

längerem Suchen fand er schließlich die
Klingelschnur. Energisch zog er sie dreimal.

Unten in der Küche saß Yetta immer

noch auf dem Stuhl. Ergeben und geduldig
lagen ihre Hände gefaltet in ihrem Schoß. In
Erwartung von Befehlen starrte sie ins Leere.
Lionel Twains Fernsehkamera hatte ihr
Gesicht in Nahaufnahme. Er hörte, wie die
Glocke an der Wand dreimal summte. Aber
Yetta saß und blieb wo sie war, ohne mit der
Wimper zu* zucken. Die Glocke summte drei
weitere Male. Yetta blieb sitzen. Wieder die

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Glocke, einmal, zweimal, dreimal, laut und
wütend. Yetta blinzelte. Nun, dachte Twain
bei sich, jeder Mensch muß hie und da
blinzeln.

Benson, oben in der Halle, runzelte

zornig die Stirn.

»Oh, ich werde mich lieber selber um

Ihre Schokolade bemühen, Sir«, sagte er un-
terwürfig. »Wenn Sie mir inzwischen erst
einmal zu Ihrem Zimmer folgen würden.« Er
wandte sich zu der Freitreppe. Perrier warf
einen Blick auf den angeschlagenen Marcel,
stellte fest, daß er absolut fähig war, auf ei-
genen Beinen zu stehen, packte ihn am Arm
und zog ihn heftig auf die Füße. Der benom-
mene Chauffeur stolperte unsicher hinter
seinem Herrn drein.

»Irgend etwas an diesem Butler kommt

mir eigenartig vor«, zischte Perrier ihm zu.
»Ist dir aufgefallen, daß er einem niemals
direkt in die Augen sieht?«

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»Er ist blind, Monsieur«, antwortete der

benommene Marcel, der trotz allem gut
beobachtete.

»Unsinn«, gab Perrier scharf zurück.
Lange und aufmerksam studierte er das

Tap-tappen des Butlers, wie er vor ihnen die
große Treppe hinaufstieg und leise traurig
seufzte.

Aber als sie oben an der Treppe an-

gekommen waren und den langen, langen
Korridor hinuntergingen, beschloß der Meis-
terdetektiv, daß es an der Zeit sei zu zeigen,
wer der Meister war. Parbleu!

Er eilte dem tap-tappenden Butler nach

und holte ihn ein. »Ich freue mich darauf,
unseren Gastgeber kennenzulernen«, sagte
er mit übertriebener Beiläufigkeit, »aber ich
glaube mit einiger Sicherheit behaupten zu
können, daß er wohl kaum größer als fünf
Fuß und vier Inches sein kann.«

Er beobachtete Bensons Gesicht genau,

in

der

Erwartung

von

höchster

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Überraschung, wie er sie aus seinen Büchern
gewohnt ist, wenn er eine seiner wirklich
einzigartigen Feststellungen trifft. In Ben-
sons Gesicht indes rührte sich nichts.

Perrier starrte ihn an.
»Sehen Sie doch, wie niedrig die Bilder

hier an den Wänden hängen«, fuhr er den
Butler wütend an.

Noch immer keine Reaktion.
»Fünf Fuß und vier Inches, höchstens«,

schrie Perrier. »hab’ ich recht?«

»Nach dem Klang seiner Stimme zu ur-

teilen, kommt er mir auch eher klein vor,
Sir«, antwortete Benson gleichmütig.

Perrier wandte sich um und gab Marcel

einen kleinen Wink. Aber Marcel war in
Gedanken noch immer zu beschäftigt mit
seiner

Begegnung

von

einer

halb-

tonnenschweren Nachbildung der Venus von
Milo, um die Subtilität des Vorgehens seines
Herrn zu erfassen.

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Perrier schritt zur nächsten Attacke ge-

gen Benson.

»Ebenso wie ich feststellen konnte«,

sagte er, indem er seinen Zeigefinger vor
Bensons Nase hob, »daß Sie einmal in der
Britischen Armee beim Nordafrika-Feldzug
gedient haben. Stimmt’s?«

Bensons Augenbrauen, die sonst hinter

der schwarzen Brille versteckt waren, hoben
sich bei dieser Bemerkung ein wenig.

»Jawohl, Sir«, sagte er. »Aber woher –«
»Ihre aufrechte Haltung kann den ehem-

aligen Soldaten nicht verleugnen«, antwor-
tete Perrier triumphierend. »Und außerdem
rollen Sie die Füße ab, was für jahrelanges
Gehen und Marschieren in heißem Sand
spricht!«

»Erstaunlich, Sir«, sagte Benson flach.

Aber gleichzeitig warf er seinerseits einen
triumphierenden Blick in die Richtung, in
der er die Kamera seines Herrn vermutete.
Er öffnete die Tür des Zimmers, das als

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besonders geeignet für den großen belgis-
chen Detektiv ausgesucht worden war und
ließ Perrier und Marcel eintreten.

»Dinner wird um acht serviert, Sir«,

sagte er. »Und ich werde dem Mädchen
sagen, daß sie Ihre heiße Schokolade herauf-
bringen soll.«

Er verbeugte sich.
»Einen Augenblick«, kam es von Perrier.
»Jawohl, Sir?«
Perrier marschierte direkt auf ihn zu und

starrte ihm aus größter Nähe ins Gesicht.
Dann blies er die Backen auf und streckte die
Zunge heraus.

Benson stand unbewegt mit einem leicht

fragend-erwartenden Ausdruck im Gesicht.

Perrier steckte seine Daumen in die

Ohren und wackelte mit den gespreizten
Fingern.

Benson blieb unverändert in abwartender

Haltung.

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Perrier rollte wild mit den Augen, wack-

elte mit den Ohren und ließ sogar seine Na-
senspitze von einer Seite zur anderen zeigen.

Benson legte nur ein klein wenig den

Kopf schräg, ganz Aufmerksamkeit, einen
Wunsch entgegenzunehmen.

Perrier seufzte tief.
»Vielen Dank«, sagte er. »Das wäre dann

alles.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Benson ernsthaft,

wandte sich um und verließ den Raum.

Perrier wirbelte herum zu dem immer

noch etwas reduzierten Marcel.

»Das«, sagte er bedeutsam, »waren

meine komischsten Gesichter. Ich sage dir:
der Mann ist blind.«

»Sir«, sagte Benson, als er oben dem Lift

entstieg, »die Gesichter, die er schnitt, waren
wirklich wahnsinnig komisch. Ich mußte an
meine liebe Mutter denken, Sir, um ein
Lachen zu vermeiden.«

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7

Aber nichts von dem, was Benson auch

sagte, konnte die hämische Freude Lionel
Twains mindern. Er sprang aus seinem Ses-
sel auf und hüpfte im Fernsehraum hin und
her wie ein kleines Kaninchen.

»Dieser kleine Belgier und seine kleinen

grauen Zellen«, sagte er. »Pah, wohl eher
kleine graue Luftlöcher. Der kann ja nicht
mal das Alphabet aufsagen.«

»Monsieur Perrier erfreut sich eines

außergewöhnlichen Rufes und ist sehr hoch
angesehen«, sagte Benson, »und ganz
abgesehen davon finde ich seinen moustache
bezaubernd.«

»Bezaubernd, bezaubernd. Das ist doch

wohl das Abgedroschenste in sämtlichen
Büchern.

Ein

Held,

der

auf

nichts

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Idiotischeres stolz sein kann als auf seinen
gezwirbelten Schnurrbart. Kinderkram.«

»Aber, Sir, da wäre auch noch sein eiför-

miger Kopf.«

»Keinen Penny würde ich für seinen ei-

förmigen Kopf geben. Und keinen Penny für
Sidney Wang und seine orientalischen
Aphorismen. Nicht einen Penny für Dick und
Dora Charlestons Binsenweisheiten. Da geb’
ich doch tagtäglich Geschliffeneres von mir.«

»Sicherlich, Sir, Sie haben eine ganze

Reihe bemerkenswerter Scherze gemacht,
Sir«, antwortete Benson. »Aber darf ich Sie
daran erinnern, daß noch immer zwei große
Detektive ausstehen, die für heute einge-
laden waren.«

»Schon gut«, sagte Lionel Twain und

sprang augenblicklich zurück in seinen
Drehsessel. »Schon gut, schalt sie ein. Schalt
ein und laß uns sehen, wie sie vorankom-
men. Hilfe! Hilfe! Hilfe! Benson, hol mich

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aus diesem Sessel runter. Ich fall’ runter!
Hilfe, gleich fall’ ich runter!«

Benson erfaßte die Situation mit be-

merkenswerter Schnelligkeit, hielt den Sessel
an und half seinem Herrn herunter. Er
erntete keinen Dank.

»Schalt ein«, wiederholte Lionel Twain,

sowie er mit beiden Beinen wieder sicher auf
dem dicken Teppich stand. »Schalt schon
ein. Wo ist Diamond? Ich will Diamond se-
hen. Und diese gottverdammte Schlampe.«

Er drückte ein, zwei Knöpfe auf der breit-

en Konsole.

»Hier scheint’s zu sein«, sagte Diamond,

als eine lichte Stelle im Nebel die Strahlen
der Scheinwerfer des alten verbeulten Wa-
gens soweit durchließ, daß man die Umrisse
von Lola Lane 22 ausmachen konnte.

Er wandte sich zu Tess, die völlig er-

schöpft neben ihm in ihrem Sitz zusam-
mengesunken war.

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»Alles in Ordnung, Engelchen?« fragte er

knapp.

Tess stöhnte.
»Meine Füße – kaum auszuhalten«, jam-

merte sie. »Warum hast du mir nicht gleich
gesagt, daß wir auch noch Öl brauchten, be-
vor ich losging, um das Benzin zu holen?«

»Weil ich dir eine Fünfzig-Dollar-Note

hätte geben müssen, um für beides zu bezah-
len, aber für das Benzin allein reichten die
zehn Dollar, die ich noch hatte«, antwortete
Sam. »Vielleicht wärst du zurückgekommen,
vielleicht auch nicht. Das konnte ich doch
nicht so einfach riskieren, Engelchen.«

»Vertraust du mir denn nicht, Sam?«

fragte

Tess

mit

ausdrucksstarkem

Augenaufschlag.

»Dir trauen?«
Sam riß den Blick von dem Nebel vor sich

los, wandte sich zur Seite und sah ihr voll in
die Augen.

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»Hör mal zu, Baby, als ich das letzte Mal

einer Dame vertraut habe – das war 1940 in
Paris – da sagte sie zu mir, sie würde nur
eben eine Flasche Wein einkaufen gehen.
Zwei Stunden später marschierten die
Deutschen in Frankreich ein. Ich habe
dazugelernt, Süße.«

Er streckte seine Hand nach ihr aus. Tess

sah ihn mit großen, traurigen Augen an wie
ein verwundetes Reh.

»Oh, Sir, Sir«, rief Benson. »Ist er nicht

einfach toll? Hart wie Stahl, Sir. Und so un-
mittelbar. Der beliebteste Amerikaner auf al-
len britischen Inseln, Sir.«

»Mach, daß du aufs Dach kommst und

die Statue in Bewegung bringst«, knurrte
Lionel Twain. »Dann werden wir ja sehen,
wie stahlhart er ist. Warten wir’s ab.«

Der alte Wagen hielt vor dem bogenför-

migen Haupteingang des Hauses.

Mit mißbilligend herabgezogenen Mund-

winkeln spähte Sam hinaus.

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»Schaut hier nicht gerade aus wie in Co-

pacabana, hm?« murmelte er zwischen sch-
malen Lippen.

Tess schauderte leicht.
»Ich hab’ überhaupt so ’n komisches Ge-

fühl, Sam«, sagte sie. »Vielleicht ist der heut-
ige

Abend

der

Endpunkt

deiner

Glückssträhne.«

»Vielleicht«, antwortete Sam. »Für jeden

von uns kommt einmal der Tag, Engelchen,
und wenn es jetzt auch Nacht ist – wer
weiß.«

Gott sei Dank, dachte Lionel Twain, daß

ich Benson aufs Dach geschickt habe.

Sam öffnete die Autotür und stieg aus. Er

blieb stehen und besah sich das ne-
belumwaberte große Haus. Tess kam um den
Wagen herum und stellte sich neben ihn. Er
packte sie am Ellbogen und schob sie zu der
hohen, einer Kirchentür nicht unähnlichen
Eingangstür.

»Nach dir, Schätzchen.«

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Mit Tränen in den Augen wandte sie sich

zu ihm um.

»Küß mich erst noch, Sam«, hauchte sie.
Sams Gesicht erstarrte.
»Ich küsse nicht«, knurrte er.
Tess’ Augenlider flatterten.
»Bitte Sam. Nur dieses eine Mal.«
Sam stampfte mit dem Fuß auf.
»Ich mag die Küsserei nicht«, fuhr er sie

wütend an. »Das weißt du doch, also laß
mich in Ruhe.«

Oben im Fernsehraum bedauerte Lionel

Twain, daß er Benson aufs Dach geschickt
hatte.

Noch weiter oben schoben weiß behand-

schuhte Hände die Freiheitsstatue (kleinere
Ausgabe) und zogen und stießen dieses
Steingewicht von einer halben Tonne lang-
sam, aber unaufhaltsam zum Abgrund.
Plötzlich

stürzte

sie

hinunter

in

die

Finsternis.

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Benson wandte sich ab, unfähig hinun-

terzuschauen und eilte zum Lift und in die
Küche.

Da war noch ein Versprechen zu erfüllen,

das er Perrier gegeben hatte. Ein Meisterde-
tektiv seines Kalibers und seines Umfangs
verdiente

es

nicht,

auf

seine

heiße

Schokolade und seine kalte Kompresse zu
warten. Er ergriff ein Handtuch von dem
Wäschestapel im Schrank und hielt es unter
den laufenden Wasserhahn am Spülbecken.
Dann machte er sich an die Zubereitung der
Schokolade.

In drei Minuten war er soweit, sie in eine

Tasse zu füllen. Er stellte Tasse und Unter-
tasse säuberlich auf ein kleines Tablett.
Gerade als er damit fertig war, zerriß der
entsetzliche Schrei einer Frau die Stille des
großen, alten Hauses.

»Ah, die Hausglocke.«
Er wandte sich um zu der neuen Küchen-

hilfe, die er bisher gar nicht bemerkt hatte

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(wie blind doch ein blinder Butler sein
kann!). Nach wie vor saß sie geduldig auf
dem Stuhl, den sie seit ihrer Ankunft noch
nicht verlassen hatte.

»Keine Angst«, sagte er, »das ist nur die

Hausglocke. Eine kleine Marotte unseres
Herrn. Würden Sie bitte öffnen gehen?«

Yetta zeigte keine Reaktion (wie taub

kann ein taubstummes Mädchen sein?).

»Haben Sie mich gehört?« brüllte

Benson.

Noch immer keine Antwort.
Benson seufzte schmerzlich.
»Na, macht nichts. Ich geh’ schon selber.

Hier, bringen Sie das hinauf zu Monsieur
Perrier, vierzehntes Zimmer rechts im West-
flügel.« Er hielt ihr das Tablett hin. Zwar war
sie stumm und taub und konnte außerdem
kein Englisch lesen, aber wenn man ihr ein
Tablett hinhielt, so bedeutete das etwas für
sie.

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Sie nahm’s. Benson eilte zur Haustür,

deren Klingel-Schrei noch durchs Haus
schrillte. Yetta sah auf das Tablett. Nun, ein
kaltes, feuchtes Handtuch tut dem Gesicht
immer gut als Erfrischung. Und eine Tasse
heißer Schokolade ist auch nicht zu
verachten.

Oben eilte Benson durch die weitläufige

Halle, vor sich seinen weißen Stock schwen-
kend, tap, tap-tap, tap-tap-tap, tap. Schließ-
lich kam er an der Haustür an, suchte sie mit
den Fingern nach dem Schloß ab, fand es
schließlich und zog die große Tür schwung-
voll zurück.

Ein Mädchen stand vor ihm. Sie war

blond und sonst blieb von ihr nur zu sagen,
daß sie nicht von gestern war.

Gleich hinter ihr, knapp außerhalb des

Torbogens, sah er einen Haufen Bruchstein,
aus dem – sein Herz blieb fast stehen - ein
Paar

getragener

Schuhe

herausragten,

Schuhe, wie sie eigentlich nur einem

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hartgesottenen Privatdetektiv gehören kon-
nten, dessen schäbiges Büro kaum mehr als
einen alten Sessel, einen alten Schreibtisch
mit ständig halbgefülltem Blechaschenbech-
er

und

einer

steten

Schicht

von

Ascheflöckchen enthielt, die von Zeit zu Zeit
in schwache Bewegung kamen durch die auf-
steigende, salmiakgeschwängerte Luft, die
aus dem engen Hinterhof durch das hal-
bgeöffnete Fenster heraufstieg.

Ein Schluchzen entrang sich Tess’ Kehle.
»Er… er ist tot«, stieß sie stockend

hervor.

Aber Benson war sich der allgegenwärti-

gen Kameras bewußt und hielt sein Mitge-
fühl zurück. »Ich bitte um Verzeihung«,
sagte er daher schlicht, jedes Wort ein
Zeugnis Britanniens.

»Sam Diamond«, stieß Tess mühsam

zwischen neuerlichem Schluchzen hervor,
»Sam Diamond, der Mann… für den ich

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arbeite… der Mann… meines Lebens. Er…
liegt da draußen. Er ist erschlagen.«

Sie taumelte einen halben Schritt vor-

wärts und war damit knapp durch die Tür.

»Oh, mein Gott«, murmelte sie, »ich

werde ohnmächtig. Fangen Sie mich auf.«

Benson war nicht umsonst ein in England

ausgebildeter Butler. Er wußte, daß, wenn
ein Besucher, noch dazu eine Lady (wenig-
stens halbwegs eine Lady) aufgefangen zu
werden wünschte, es seine Pflicht war, sie
auch aufzufangen.

Er streckte die Arme aus.
Aber Benson war auch nicht umsonst ein

blinder Butler. Er streckte die Arme in die
falsche Richtung aus.

Mit geschlossenen Augen und recht

dekorativ in sich zusammenfallend landete
Tess mit einem ordentlichen Bums auf dem
harten Steinfußboden.

»Madam, Madam«, rief Benson bestürzt

und wandte sich in annähernd der Richtung

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um, aus welcher der Bums gekommen war.
»Madam, ist Ihnen auch nichts passiert?«

»O.K. das reicht jetzt.«
Diese Stimme klang amerikanisch, knall-

amerikanisch, genau die Stimme, die einem
Privatdetektiv gehören würde, der unten in
San Francisco ein Büro haben würde mit
wenig mehr als einem mitgenommenen
Schreibtisch samt mitgenommenem Sessel.

»Keine

Bewegung,

Schwarzauge«,

schnarrte Sam Diamond.

Keine

Bewegung

vom

glücklichen

Benson.

Sam richtete seine Fünfundvierziger auf

den mageren Magen des blinden Butlers.

»Pfoten hoch«, tönte es. »Und Gesicht

zur Wand.«

Gut machte Benson das mit den Pfoten

hoch. Gesicht-zur-Wand war schon etwas
schwieriger. »Welche Richtung, bitte, Sir?«
erkundigte er sich.

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Sam packte ihn an der Schulter, stieß ihn

herum und hielt fest. Jetzt wußte Benson, wo
die Wand war.

»So recht, Sir?«
»Recht so, Schwarzauge.«
Sam warf einen Blick auf Tess, der länger

an ihrem Hinterteil hängenblieb.

»Gut gemacht, Engelchen«, sagte er,

»kannst wieder aufstehen. Gut gemacht.«

Tess kam wieder auf die Beine. Sie küm-

merte sich kaum um ihr Hinterteil.

»Also«, sagte Sam dann zu Bensons Hin-

terkopf, »nehme an, unser kleines Emp-
fangsgeschenk aus Beton kam zwei Sekun-
den zu früh unten an, Ihr Pech. Sehr über-
rascht waren sie ja nicht, als Miss Skeffing-
ton Ihnen sagte, daß ich mausetot da
draußen läge, oder?«

Der Colt wechselte von der einen in die

andere Hand.

»Vielleicht«, fuhr er fort, »überrascht es

Sie viel mehr, daß ich hier aufrecht stehend

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die gleiche Luft atme wie Sie. Stimmt’s, mein
Lieber?«

Die Ironie war beißend.
Oh, dachte Benson, wie fabelhaft. Wie be-

wunderungswürdig eiskalt. Wie sehr tat ich
ihm doch Unrecht, auch nur einen Augen-
blick daran zu zweifeln.

»Sehen Sie sich diese Hand an«, führte

Sam weiterhin aus, obwohl er kaum er-
warten konnte, daß der Butler es wagen
würde, sich umzuwenden.

»Sehen Sie sich diese Hand an. Nun, ge-

meinhin bin ich weniger nervös. Sie sollten
nur wissen, wie nahe Sie dran waren, eine
fünfundvierziger Kugel durch Ihre But-
lerkluft zu kriegen.«

Bensons Butlerkluft erschauerte von

oben bis unten vor lauter Glück.

»Darf ich Ihnen mein Bedauern für jeg-

liche Unannehmlichkeiten ausdrücken, Sir«,
sagte er englischer als Five-o’clock-Tea.

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»Und darf ich eventuell die Hände wieder
herunternehmen?«

»Laß

es

nicht

drauf

ankommen,

Shakespeare«, schnarrte Sam warnend, »ich
habe Ihre hübsche Einladung zum Dinner
bekommen, nur wußte ich nicht, daß ich das
Dessert darstellen sollte.«

Der Colt wechselte ein weiteres Mal von

der einen Hand in die andere.

»Hm, ja«, sagte er, »hatte mal einen

kleinen Bruder, den hat’s vor zwei Jahren
auf genau dieselbe Art erwischt bei einem
ganz ähnlichen Fall wie diesem. Nächsten
Donnerstag

wäre

er

dreiundsechzig

geworden.«

Plötzlich packte ihn die Wut und der Colt

wirbelte von einer Hand in die andere, als
wollte er den Butler mit dem Ding
verdreschen.

»Zwei Cents, und ich würde –«
»Sam! Tu’s nicht!«
Das war Tess.

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Sam starrte sie an. Aber er ließ den er-

hobenen Arm sinken. »Schaff ihn mir aus
den Augen«, knurrte er. »Schaff ihn weg, be-
vor ich ihn ausstopfe, wie eine dieser
Tigertrophäen.«

Tess nahm den Butler schnell beim Ärmel

und führte ihn beiseite.

Er hüstelte diskret.
»Erschreckend, sein Temperament, nicht

wahr?« sagte er glücklich.

Unten in der Küche erging er sich genüß-

lich in weiteren aufregenden Gedankengän-
gen. Gottlob war die Küchenhilfe rechtzeitig
eingetroffen, dachte er und sah blind um
sich, so brauchte er sich darum doch wenig-
stens nicht zu kümmern.

Und die Küchenhilfe saß noch immer da,

wie seit Anbeginn, auf dem Stuhl am
Küchentisch. Sie hatte sich des angenehm
kühlen Handtuchs bedient, das dieser selt-
same Mann ihr freundlicherweise gereicht
hatte und auch die Tasse mit heißer

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Schokolade

hatte

sie

gehorsam

aus-

getrunken. (Seltsame Sitten haben diese Ein-
heimischen, aber wenn man es in Rom den
Römern gleichtun soll, sollte man sich wohl
auch hier landesüblich anpassen und eine
Tasse Schokolade trinken, sowie man das
Haus betreten hat.)

»Es ist gleich acht Uhr«, sagte Benson

aufgeräumt. »Zeit fürs Dinner.«

Die Küchenhilfe, ganz sicher in ihrer

lautlosen Welt der Taubstummen, sah dem
seltsamen Mann mit mildem Interesse zu
(die Sitten und Gebräuche der Eingeborenen
gaben schon oft Anlaß zu intellektuellen
Spekulationen). Als Benson keine Antwort
bekam, erhob er seine Stimme.

»Gleich acht«, wiederholte er. »Ist alles

bereit?«

Dann aber, als noch immer Stille

herrschte, kam ihm ein leiser, schrecklicher
Verdacht.

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Irgend etwas fehlte hier, was hätte da

sein müssen. In einer normalen Küche kurz
vor einem großen Essen für zehn Gäste sollte
man…

Ah, ja.
Er steckte die Nase in die Luft und

schnüffelte.

»Ich rieche nichts«, sagte er. »Sie würzen

wohl nicht sehr großzügig, wie?«

Die engagierte Köchin gab keine Antwort.

Benson runzelte die Stirn.

»Füllen Sie die Suppe in die Terrine«, be-

fahl er. »Unter den Täubchen stellen Sie die
Flamme bitte ganz klein.«

Jawohl, in brillanter Vorschau hatte Milo

Perrier auch in diesem Punkt wieder richtig
geraten. Zarte junge Täubchen, angerichtet
in der deliziösesten Sauce, standen als zweit-
er Gang auf der Menükarte.

Aber nur da standen sie.
»Ich werde die Cocktails servieren«, fuhr

Benson fort, einfallsreich wie immer. »Wenn

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Sie den Summer hören, stellen Sie das Feuer
unter den Täubchen wieder etwas höher.
Haben Sie das verstanden?«

Keine Antwort.
Nun, dachte Benson, einige Leute sind

eben wortkarg. Oder kontaktarm. Oder ein-
fach maulfaul. Das kann man halten, wie
man will. Die Menschen sind halt ver-
schieden. Leben und leben lassen, sage ich.
Wenn das Mädchen den Mund nicht
aufmachen will, bitte. Soll sie nur auf ihre
Art weitermachen mit den Vorbereitungen
für das Dinner.

Er machte sich auf den Weg zum

Wohnzimmer nach oben, wo vor dem Essen
die Cocktails serviert werden sollten. Selb-
stverständlich, zu Hause in England, wo man
noch Lebensart besaß, würde man zu einem
solchen Zeitpunkt Sherry servieren, dachte
er bei sich. Sherry als Auftakt zu einem her-
vorragenden Dinner. Aber diese Amerikaner
sind eben Barbaren, und man kann nichts

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gegen ihre barbarischen Sitten machen. Also
Cocktails. Umgerührt, nicht geshaked, umge-
hend serviert. Angemessen für ein Dinner.

Yetta saß in der leeren, kalten Küche, saß

und saß.

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8

Inzwischen bereiteten sich die Gäste

voller Vorfreude auf die zivilisierten Genüsse
vor, die ihrer harrten. Und auf den Mord.

Dick und Dora Charleston waren gerade

mit dem Umkleiden fertig. Sie traten aus ihr-
em Zimmer: Dick im Smoking mit Schalkra-
gen (jawohl, mit Schalkragen) verkörperte
bis ins letzte Haar seines teuflisch dünnen
Bärtchens eleganteste Perfektion. Dora stand
ihm an Eleganz nichts nach in ihrem
Dreißiger-Jahre-Kleid

in

leuchtenden

Farben und eng, wo es eng sein sollte.

Im Korridor, gegenüber ihrer Zimmertür,

hing ein gewaltiger, goldgerahmter Wand-
spiegel an der Wand und leuchtete matt im
schwachen Licht einer der wenigen Lampen,
die diesen dunklen, schattenreichen Teil des

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Hauses beleuchteten. Dora blieb davor
stehen und vollführte eine kleine Pirouette
(keine wirkliche Dame würde je eine große
Pirouette vollführen!).

»Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie

ich aussehe, Dickie«, fischte sie wie ein Pre-
isangler nach einem Kompliment.

Dick trat hinter sie und legte seinen Kopf

an ihr Ohr.

»Du siehst aus wie immer, Liebling«,

murmelte er zärtlich, »hinreißend!«

Er

küßte

sie

diskret

(kein

fetter,

schmatzender Kuß) auf die bloße Schulter.

Eine rührende Szene.
Eine Szene mit Zuschauer. Hinter dem

Spiegel war eine große Fernsehkamera ver-
borgen und ermöglichte es einem finsteren
Burschen, diese rührende kleine Szene der
Galanterie und Zärtlichkeit voll auszukosten.

Er konnte sehen, wie Dora den Kopf

zurückbog, um Dick voll in die Augen sehen
zu können.

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»Liebst du und verehrst du mich?« mur-

melte Dora.

Dick sah ihr ebenfalls gerade in die Au-

gen und legte seine Hand – zart wie ein Gen-
tleman – auf ihre bloße Schulter.

»Ich liebe und verehre dich«, murmelte

er zurück.

Ein leidenschaftlicher Unterton lag in

seiner Stimme, der dem unheimlichen
Betrachter keinesfalls entging.

Niemand außer ihnen befand sich im

Korridor. Dicks Hand glitt langsam von Dor-
as Schultern abwärts. Er sah sie hingerissen
an. In seinen Augen flackerte Begierde. Oben
im Fernsehraum hielt jemand gebannt den
Atem an.

Dicks gentlemanhafte Hand war auf Dor-

as verlängertem Rücken angekommen. Sein
Atem ging jetzt ganz ungentlemanhaft –
stoßweise. Dora sah ihm in die Augen. Im
Fernsehraum sprang jemand plötzlich aus
seinem Sessel hoch.

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Dicks Hand hatte ihre Wanderung fortge-

setzt. Er flüsterte ganz und gar nichts Gentle-
manhaftes in ihr Ohr!

»Darling,

du

hast

bestimmt

den

strammsten Popo der High Society.«

Dora, nun auch von Leidenschaft ge-

packt, hauchte zurück: »Jahrelanges Reiten,
mein Schatz.«

Oben im Fernsehraum hüpfte jemand

unablässig auf und ab.

Die jetzt gar nicht mehr gentlemanhafte

Hand klapste den reitergestählten Popo auf
wenig gentlemanhafte Art und Weise (klaps,
klaps). Dora schauderte wollüstig. – Im
Fernsehraum schluckte jemand trocken und
krampfhaft. Aber…

Aber etwas weiter auf dem schummrigen,

schlecht beleuchteten Korridor öffnete sich
plötzlich eine Tür und ließ einen breiten, hel-
len Lichtschein hinaus in das Halbdunkel.
Eine eindrucksvolle Gestalt zeichnete sich als
Silhouette in diesem Licht ab.

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Angetan mit einem langen, königlich-

farbenprächtigen

chinesischen

Gewand,

passend dazu reich verzierte chinesische
Pantoffeln, auf dem Kopf ein kleines, rundes,
reich besticktes chinesisches Käppchen,
wollte Sidney Wang sich auf den Weg zum
Dinner machen.

Willie dagegen trug einen ganz und gar

amerikanischen Smoking, jedoch wohl aus
Respekt vor seinem Vater auch ein kleines,
besticktes chinesisches Käppchen. Er trat
nach seinem Vater aus dem Zimmer.

Und natürlich war den hochqualifizierten

chinesischen

Detektivaugen

nichts

entgangen.

»Ah, guten Abend, Charleston«, sagte

Sidney

Wang

mit

gut

gespielter

Gleichgültigkeit. »Gehen Sie den Dingen
gerade mal wieder auf den Grund?«

Dick und Dora stoben auseinander.

Gewisse Dinge tut man eben nicht in der

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Öffentlichkeit. Aber Dicks Geistesgegenwart
entsprach ganz der Situation.

»Ah, Wang«, sagte er, als er ihn erkannte.
Er wandte sich an seine Frau.
»Dora, du erinnerst dich –«
»Aber

natürlich.

Wie

schön,

Sie

wiederzusehen, Mr. Wang.«

Sidney Wang schob seinen Sohn Num-

mer Drei vor.

»Darf ich Adoptivsohn Willie vorstellen.«
»N’abend zusammen!« sagte Willie,

packte Doras Hand und schüttelte sie heftig.

Dora befreite sich vorsichtig aus seinem

Griff.

Was waren sie doch alle für gute Freunde.

Auf den ersten Blick. Aber in Wirklichkeit
wußte jeder Detektiv genau, daß der andere
sein erbitterter Gegner war, wenn es um den
Titel des Weltbesten ging. Und es war ihnen
außerdem ganz bewußt, daß das, was ihnen
an diesem Abend bevorstand, sehr nach
einem Wettbewerb um eben diese Ehre

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aussah. Warum sonst lautete ihre Einladung
zu einem Dinner und einem Mord? Aber
noch waren längst nicht alle Konkurrenten
für

diesen

Wettbewerb

vollzählig

versammelt.

Irgendwo draußen in der Nebelnacht

kämpfte sich noch immer ein Londoner Taxi
in Richtung Lola Lane No. 22 durch. Der alte
Fahrer mit dem Walroß-Schnauzbart fühlte
sich nicht im geringsten durch die Witter-
ungsverhältnisse behindert, aber er war sich
bewußt, daß ein Londoner Taxi ein ganz
bestimmtes Tempo einhalten sollte, und
dieses war Schleichtempo. Sam Diamond
und Tess Skeffington hatten noch immer
damit zu tun, sich nach ihrer etwas chaot-
ischen Ankunft wieder aufzurappeln.

In diesem Augenblick öffnete sich eine

weitere

Zimmertür

auf

dem

schlecht

beleuchteten Korridor, und heraus trat der
hochverehrte Milo Perrier, dicht gefolgt von
dem nicht verehrten Marcel.

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Perrier trug einen höchst altmodisch

geschnittenen Bratenrock. Marcel trug eben-
falls einen Bratenrock, dessen Schnitt an
längst vergangene Zeiten erinnerte, und dazu
ein Paar schwerer, solider Chauffeursstiefel.

»Aha«, sagte Perrier, als er die kleine

Gruppe unter der schwachen Lampe er-
spähte, wodurch der große goldgerahmte
Spiegel zu einem gewissen Zentrum ge-
worden war. »Aha, hier trifft sich also Ost
und West auf – wie sagt man gleich – höchst
bizarre Weise.«

»Perrier!« rief Dick Charleston aus. »Ich

wußte gar nicht, daß Sie auch eingeladen
wurden.«

Und dabei dachte er im stillen, das hier

soll also ein Rennen mit mehr als zwei
Startern werden. Um so besser. Er deutete
eine halbe Verbeugung in Richtung von Sid-
ney Wang an.

»Sie kennen doch Wang?« fragte er.
Perrier verbeugte sich steif und förmlich.

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»Ich hatte das Vergnügen, vor vielen

Jahren mit Inspektor Wang in Shanghai zu
speisen.«

Er holte kurz Luft und dann:
»Hong ching chu kow ding woo

fong?«fragte er so gelassen wie möglich (und
Gelassenheit war seine große Stärke, wenn
sich die entsprechende Gelegenheit bot).

Wang legte den Kopf ein wenig schräg.
»Ja«, sagte er. »Sehr gut. Sie erinnern.

Sie hatten hong ching chu und ich hatte kow
ding woo fong.
«

Dick Charleston, immer auf zivilisierte

Formen bedacht, machte sich neuerlich
daran, die anwesenden Herrschaften ein-
ander vorzustellen.

»Meine Frau Dora… Monsieur Milo

Perrier.«

Perrier verbeugte sich tief.
»Très charmante«, murmelte er.
Dora hob ihm ihre bezaubernde weiße

Hand entgegen. Perrier verbeugte sich ein

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weiteres Mal, vollführte einen höchst eleg-
anten Handkuß und – brach in einen wilden
Hustenanfall aus.

»Tut mir leid«, erklärte Dora liebenswür-

dig. »Unser Zimmer ist irgendwie so
staubig.«

»Mein Fehler, Madame«, entgegnete Per-

rier höchst galant. »Ich hätte erst pusten
sollen.«

Er machte eine Handbewegung zu der

hinter ihm stehenden Gestalt in Bratenrock
und Chauffeursstiefeln.

»Darf ich bekanntmachen mit meinem

Secrétaire und Chauffeur, Marcel Cassette?«

Marcel verbeugte sich fast noch tiefer

und versuchte, noch galanter zu sein als sein
Chef.

»Haben Sie sich von Ihrem Verkehrsun-

fall gut erholt, Marcel?« fragte Dick Charle-
ston so nebenbei.

Überrascht sah Marcel den Fremden an.

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»Oui, monsieur«, antwortete er. »Aber

woher wissen Sie…«

Dick machte eine lässig-wegwerfende

Handbewegung.

»Ach, nur aus der Art, wie Sie sich ver-

beugen«, antwortete er. »Demnach müssen
Sie von links von einem Citroen angefahren
worden sein, denke ich. Ich glaubte auch, ein
leichtes metallisches Klicken vernommen zu
haben, woraus sich schließen läßt, daß man
Ihnen ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt
hat. Aus Stahl?«

»Aluminium«, antwortete Milo Perrier,

krampfhaft bemüht, sich weder Wut noch
Neid anmerken zu lassen. »Sie sind ja noch
genauso schnell wie eh und je, Charleston.«

Dick zuckte lässig die Schultern. Lässiges

Schulterzucken war eine seiner großen
Spezialitäten, die er fast jeden Morgen vor
einem mannshohen Spiegel übte, und er war
überzeugt, daß er darin jetzt ziemlich perfekt
war.

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Nun trat Sidney Wang einen Schritt vor,

sein ausdrucksloses orientalisches Gesicht
fast noch ausdrucksloser als sonst, etwa wie
eine steinerne Tempelstatue, die sich in einer
hochspielenden Runde um ein undurch-
dringliches Pokergesicht bemüht.

»Krankenzimmer Nummer 403«, sagte

er. »Stimmt’s?«

Marcel staunte, ihm fiel der Unterkiefer

herunter. Er schnappte nach Luft.

»Mais oui«, sagte er. »Aber… woher

wissen…?«

Wang erlaubte sich den Anflug eines

Lächelns, das jedoch höchstens einen halben
Zentimeter

seiner

linken

Oberlippe

kräuselte.

»In Europa ist Dr. Miguel Dos Passo der

einzige, der Aluminium-Hüftgelenke ein-
pflanzt«, erklärte er. »Sein Krankenhaus ist
das ›Zur Schmerzensreichen Jungfrau‹ in
Madrid. Milo Perrier sorgt sicher dafür, daß
sein treuer Diener bestes Zimmer im Haus

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bekommt, und bestes Zimmer in ›Sch-
merzensreicher Jungfrau‹ in Madrid hat
Nummer 403.«

»Bravo, gut gemacht Paps«, bemerkte

der junge Willie und grinste in die an-
wesende Runde wie um zu sagen: »Na, jetzt
haben Sie mal erlebt, wozu ein wirklicher
großer Detektiv fähig ist.«

»Formidable, Monsieur Wang«, sagte

Milo Perrier mit einer Verbeugung. »Und
darf ich noch sagen, wie leid es mir für Sie
tut, daß Ihr Zahnarzt gestorben ist?«

Willie sperrte den Mund auf. »Woher

wissen Sie…?«

»Mister Wang«, erklärte Perrier, »hat auf

zwei Vorderzähnen Kronen, wovon die eine
um eine Spur weißer ist als die andere. Die
weißere von beiden wurde zuerst gemacht
und ist offensichtlich meisterhafte Arbeit.
Warum würde man einen anderen Zahnarzt
aufsuchen, der weniger gut arbeitet. Die Ant-
wort darauf liegt – wie sagt man gleich – auf

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der Hand. Der erste Zahnarzt hat entweder
seine

Praxis

geschlossen

oder

er

ist

gestorben. Da kein ausgezeichneter Zahnarzt
seine Praxis je schließen würde, noch dazu
mitten in einer Behandlung, kann er be-
dauerlicherweise nur tot sein.«

»Touché und noch einmal touché«, rief

Marcel begeistert aus.

Aber noch war Sidney Wang nicht am

Ende. Mit einer kleinen chinesischen Ver-
beugung wandte er sich an Dick Charleston.

»Und Sie, Mister Charleston«, fragte er,

»hat es Ihnen nicht gefallen, als Mrs. Charle-
ston ihr Haar blond gefärbt hatte?«

Dick sah verdutzt in die Runde.
»Was meinen Sie?«
Diesmal war der Hauch von Wangs

Lächeln fast noch weniger sichtbar als zuvor.

»Mrs. Charlestons Haar ist rot«, erklärte

er. »Sie aber haben blonde Haare auf der
Schulter Ihres Smokings, Mr. Charleston.
Das bedeutet, daß Mrs. Charleston ihr rotes

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Haar blond gefärbt hat, und dann wieder rot,
denn sonst müßte das Haar ja von einer
anderen…«

Er brach ab. Der Ausdruck höchster

gesellschaftlicher Verlegenheit breitete sich
auf seinem sonst so undurchdringlichen
Gesicht aus.

»Ähem… wollen wir jetzt nicht hinunter

zum Dinner gehen, bitte?« schlug er vor.

Schweigend begann die Gesellschaft, die

riesige Treppe hinunterzusteigen. Dora warf
Dick einen Blick zu, so giftig wie ein Hornis-
sennest plus Mehrwertsteuer. Dick schaute
zur Decke hinauf, auf die Stufen hinunter, zu
den Wänden rechts und links, wieder hinauf
zur Decke und zurück zu den Stufen. Überall
hin, nur nicht zu Dora.

Gleich hinter ihnen warf sich Willie Wang

in die Brust: »Junge, Junge, Paps«, sagte er,
»da hast du aber -«

»Halt deinen japanischen Mund«, kam

schnell die elterliche Notbremse.

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Noch immer recht verlegen schritten sie

weiter die große, beidseitig von Bildern
flankierte Treppe hinunter zu den verheißen-
en Cocktails, dem verheißenen Dinner und
dem verheißenen Mord. Milo Perrier und
Sidney Wang, die Seite an Seite gingen, ka-
men eben an einem großen Ölgemälde
vorbei, das einen Hund mit hängender
Zunge vor einem leeren Wassernapf darstell-
te. (Sehr rührend und zu Herzen gehend.
Sicherlich konnte nur ein Mensch mit großer
Sensibilität und Tierliebe sich ein solches
Bild an die Wand gehängt haben.)

Aber während die beiden großen Detekt-

ive auf gleicher Höhe mit dem Gemälde ka-
men, vollzog sich ein eigenartiger Wechsel
mit demselben. Die großen, treuen braunen
Augen des armen kleinen Hundes ver-
schwanden. Nur, um fast gleichzeitig ersetzt
zu werden von einem Paar böse blitzender
Augen, die zweifellos menschlicher Natur
waren. Und die lange heraushängende Zunge

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verschwand ebenfalls und wurde durch eine
viel kürzere, etwas belegte, menschliche
Zunge ersetzt.

Die beiden großen Detektive gingen weit-

er. Aber hinter ihnen war Willie Wang
gerade in genau dem richtigen Blickwinkel,
um dieses Phänomen zu beobachten.

»Hey, Paps.«
Die Stimme war laut und unüberhörbar.
Aber Sidney Wang hatte jahrelange

Übung darin, diese besondere, unüber-
hörbare Stimme zu überhören. Er wandte
sich an Dick Charleston.

»Mista Charleston«, sagte er, indem er

sich an etwas erinnerte, das er seinem
geschätzten Kollegen schon seit geraumer
Zeit mitteilen wollte, »Mista Charleston, wie
ich schon früher am heutigen Abend be-
merkte, besteht ein Zusammenhang zwis-
chen gefährlichen Straßen und frischen
Pilzen. Sie müssen immer –«

»Hey, Paps!«

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Dieses Mal war die laute, unüberhörbare

Stimme direkt neben Sidney Wangs Ohr.
Nur ein Mensch ohne Trommelfell hätte sie
überhören können. Sidney Wang jedoch
erblickte das Licht dieser Welt komplett mit
Trommelfellen und hat sie sich auch weiter
wohl erhalten.

Er wandte sich zu seinem Adoptivsohn

um. Sein gewöhnlich ausdrucksloses orient-
alisches Gesicht war wutverzerrt und ganz
und gar nicht mehr ausdruckslos.

»Warum läßt du mich ihm nicht von

Straßen und Pilzen erzählen?« wütete er.

Willie sah ihn tief beleidigt an ob dieser

elterlichen Ungerechtigkeit.

»Aber Paps«, sagte er. »Aber Paps, der

Hund auf dem Bild –«

»- hat uns beobachtet«, vollendete Sid-

ney Wang den Satz seines Sohnes.

Willie sperrte den Mund auf.
»Was – du wußtest?«

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»Habe Augen von Hund auf Bild gese-

hen«, antwortete Wang und hatte sich auch
schon wieder völlig in der Gewalt.

»Trägt Kontaktlinsen. Höchst ungewöhn-

lich für einen Hund.«

Aber Dora Charleston, welche diese Un-

terhaltung mit angehört hatte – wie sollte sie
auch nicht, bei der unüberhörbaren Stimme
von

Willie

und

dem

unorientalischen

Wutausbruch seines Vaters, der noch immer
keine Gelegenheit fand, seine Straßen-
Pilzgeschichte an den Mann zu bringen –
war höchst beunruhigt.

»Mr. Wang«, sagte sie mit angstvoller

Stimme, »Sie meinen, jemand hat uns
beobachtet?«

Aber diesmal antwortete Milo Perrier, der

wahrscheinlich fand, daß er seine große de-
tektivische Gabe schon viel zu lang unter den
Scheffel gestellt habe. Er kam ein paar
Stufen weiter herab.

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»Madame, seit unserer Ankunft hat uns

ständig jemand beobachtet«, sagte er sch-
licht. »Ich, Milo Perrier, habe das bemerkt.
Sogar der Spiegel da oben hat zwei Seiten,
auf der einen reflektiert er, auf der anderen
ist er durchlässig wie ein Fenster für den –
wie sagt man gleich – Lauscher an der
Wand.«

Dora, die sich blitzhaft erinnerte an

gewisse Vorkommnisse direkt vor diesem
Spiegel, die man galant als Komplimente
umschreiben könnte, griff spontan… nach
ihrem Popo.

Inzwischen tauchte endlich, endlich aus

dem Nebel ein Londoner Taxi vor dem
herrschaftlichen Haus auf.

»Ah«, verkündete Miss Jessica Marbles

entschieden aus dem Fond. »Das muß es
sein.«

So war nun auch der letzte Gast eingetro-

ffen. Die Gesellschaft war vollständig. Alles

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war jetzt bereit für das Dinner. Und für einen
Mord.

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9

Lionel Twain rutschte nervös in seinem

Drehsessel hin und her. Er starrte Benson
an.

»Ist alles bereit?« fragte er angriffslustig

und streitsüchtig.

»Absolut, Sir«, antwortete Benson.
Seine Gedanken weilten noch bei dem,

was er bei der ersten Begegnung mit den
großen Detektiven erlebt und gehört hatte.
Kein Zweifel, sie alle hatten sich von ihren
besten Seiten gezeigt, jeder einzelne von
ihnen.

»Und was war das mit Wang und dem

blonden Haar auf Charlestons Schulter, eh?«

Es war wieder einmal die Stimme seines

Herrn, die ihn aus seinen so angenehmen
Gedankengängen herausriß.

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Benson nahm sich zusammen.
»Bei einem Mann mit dem Charme von

Mr. Charleston muß man doch wohl damit
rechnen, daß er… sich umtut… wie man
hierzulande zu sagen pflegt, Sir«, sagte er.

»Und von einem sogenannten großen

Detektiv muß man wohl auch erwarten, daß
er sofort seine Nase hineinsteckt«, konterte
Lionel Twain.

»Und was ist mit der Krankenzim-

mernummer, in dem Marcel Cassette gele-
gen hat – wie hat er das gemacht?« gab Ben-
son beleidigt zurück.

»Und wie verträgt sich das Gentlemange-

habe eines Dick Charleston mit seinem recht
ungenierten Umgang mit einem gewissen
Popo in aller Öffentlichkeit?« hakte Lionel
Twain ein. »Hübsch subtile detektivische
Arbeit, das.«

»Ich bin mir nicht recht der Bedeutung

des Wortes ›Popo‹ bewußt, Sir«, entgegnete
Benson mit hocherhobener Nase. »Ich kann

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mir allerdings vorstellen, was mit diesem re-
spektlosen amerikanischen Ausdruck ge-
meint sein könnte.«

Lionel Twain blitzte ihn an.
»Nun, es bedeutet -«
»Ich glaube, Sir, ich gehe lieber zurück in

die Küche. Und ich meine, Sir, daß Sie Ihre
Gäste lieber im Auge behalten sollten. Kön-
nte sein, daß Sie sonst von dem einen oder
anderen ausgetrickst werden, Sir, um einen
Ausdruck zu verwenden, der Ihnen geläufig
sein dürfte.«

Und im Nu war Benson verschwunden.

Lionel Twain blieb eine Weile sitzen und
starrte Löcher in die Luft. Aber auch sein
Gesichtsausdruck verriet eine leichte inner-
liche Beunruhigung.

Doch gleich darauf wandte er sich wieder

seinen Bildschirmen zu und schaltete Kanal
53 ein – den Salon.

Schreckliche Stille herrschte im Salon, wo

alsbald die Cocktails serviert werden sollten.

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Schreckensstille deshalb, weil dieser Raum
speziell darauf eingerichtet war, Schrecken
zu verbreiten. Er war das reinste Horror-Mu-
seum; das Arrangement der einzelnen Stücke
zeugte von Geschmack.

Fetische aus Amerika, die Rattengöttin

aus Indien, hübsche kleine Bildchen mit
Marterszenen, hie und da eine Hinrichtung
so realistisch dargestellt, daß das Blut aus
dem Bild heraus über den Rahmen und die
Wand herunterzufließen schien. Hübsch der
Größe nach geordnet fand sich eine kleine
Kollektion von Daumenschrauben, daneben
wie Reliquien der Finger eines zu Tode
strangulierten Säuglings, das Auge eines
Wassermolchs und der Zeh von einem
Frosch, alles fein säuberlich unter Glas mit
einem stilvollen Holzrahmen umgeben –
dies und vieles andere gaben dem Raum
seine besondere, elegante Atmosphäre.

Der Mittelpunkt von all dem war doch

wohl das große Relief über dem Kamin. Es

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stellte den Todeskampf eines Gemarterten
dar, sein Gesicht verzerrt in höchster Pein,
fast

lebendig

in

seiner

intensiven

Ausstrahlung.

Dick und Dora, die sich schweigend wie

die anderen alles angesehen hatten, kamen
schließlich auch vor diesem Relief an.

»Ach, der Arme. Und so ein netter

Mensch«,

brach

Dora

endlich

das

Schweigen.

»Afrikanische Totenmaske«, sagte Dick

wissend, »wohl während eines Opferrituals
ums Leben gekommen, sollte ich meinen.«

Milo Perrier trat zu den beiden.
»Nicht ganz«, unterbrach er und strahlte

über sein ganzes eiförmiges Gesicht. »Diesen
Ausdruck habe ich schon einmal gesehen.«

Er hob listig den Zeigefinger.
»Dieser Mann«, sagte er, »ist an einem

viereinhalb Pfund schweren Gallenstein
gestorben.«

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Die Wangs und Marcel traten jetzt auch

zu

ihnen

vor

das

böse

knisternde

Kaminfeuer.

»Wo nur die anderen bleiben«, fragte

Wang.

»Die anderen?« fragte Dora. »Was für

andere?«

Wang sah sie ernst an.
»Einladung zu Dinner und Mord wird

Wang jetzt klar«, sagte er. »Mit Erscheinen
von Monsieur Perrier –«

Aber hier sprang Milo Perrier selber ein,

um den Gedanken zu vollenden.

»Mit dem Erscheinen von Milo Perrier

persönlich«, sagte er, »wird offenbar, daß
nur die größten Detektive der Welt auf der
Gästeliste sind.«

Dick Charleston nickte zustimmend.
»Das wären fünf, Liebling«, sagte er zu

Dora. »Drei sind schon hier…«

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Perrier hielt zwei Finger seiner rechten

Hand hoch (auf höchst elegante Weise) und
zählte nach.

»Einmal Miss Jessie Marbles aus Sussex

in England. Und zum zweiten Mr. –«

Hier wurde er unterbrochen, weil mit

einem lauten Krach die Tür aufflog.

»Sam Diamond aus San Francisco«,

schnarrte eine Stimme zwischen schmalen
Lippen hervor.

Sam trug ein weißes Dinner-Jackett mit

doppelt gestärkter Hemdenbrust. Nur ein
Anzug solchen Zuschnitts verbarg mühelos
eine Fünfundvierziger im Achselhalfter. Bei
ihm, ein klein wenig hinter ihm stand Tess in
einem fließenden Abendkleid in leuchtenden
Farben.

Mit schmalen Lippen überschaute Sam

die Gäste.

»Ich weiß, wer Sie alle sind«, sagte er, um

mit der Vorstellerei weiterzukommen. »Und
diese Dame hier in dem geliehenen Kleid ist

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meine Sekretärin und Mätresse, Miss Tess
Skeffington.«

»Sam«, sagte Tess, »was soll das?«
Sam warf ihr einen gleichgültigen Blick

zu.

»Ach, tut mir leid Schätzchen«, sagte er,

als fiele ihm erst jetzt auf, daß ihr diese
Bezeichnung vielleicht nicht gefallen könnte.

Er wandte sich an seine Detektiv-Kolle-

gen. »Miss Skeffington schätzt es nicht,
wenn ich so brutal ehrlich bin«, erklärte er.
»Aber dafür sind wir alle schließlich in
einem

brutalen

Geschäft,

nicht

wahr,

Gentleman?«

Sidney Wang sah beleidigt aus, soweit ein

ausdrucksloser Chinese überhaupt nach et-
was aussehen konnte.

»Habe noch nie ›Mord‹ als Geschäft be-

trachtet, Mista Diamond«, sagte er steif.

»Tatsächlich?« gab Sam zurück. »Nun,

Sie vielleicht nicht, Mr. Wang. Sie haben ja

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auch Ende der dreißiger Jahre Ihr ganzes
Geld ins Gemüse gesteckt.«

Ein feindseliges Flackern in den chinesis-

chen Augen war sein schneller Lohn für
diese Bemerkung, und so wandte er sich
leicht triumphierend wieder den anderen zu.

»Vielleicht wußten unsere hier versam-

melten Freunde noch nicht, daß Sie mehr als
fünfzig Prozent des Bohnenanbaus und der
Bambussprossen drüben im chinesischen
Mutterland besitzen«, sagte er.

»Da

können

Sie

sich,

meine

Herrschaften, vielleicht vorstellen, wieviel
Peking-Enten so pro Jahr in Mr. Wangs Topf
flattern.«

Er wirbelte herum zu Tess.
»Hab’ ich nicht recht, Engelchen?« fragte

er rapid wie ein Thompson U-Boot-Torpedo.

»Hast recht, Sam«, kam es ebenso

schnell von Tess zurück.

Sam wandte sich wieder an Sidney Wang.

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»Gut gemacht, Wang«, geriet er ins Sch-

wätzen. »Sie haben einen Weg gefunden, auf
dem sich das Verbrechen auszahlt. Sie
können hier dekorativ in ihrem seidenen
Nachtgewand und mit Ihrem niedlichen
kleinen Pferdeschwänzchen herumstehen
und in aller Ruhe nach Fingerabdrücken
Ausschau halten, während meinesgleichen
all die Dreckarbeit zu leisten hat.«

Und wieder wirbelte er herum zu Tess.
»Stimmt’s nicht, Engelchen?«
»Stimmt, Sam«, kam es wie aus der Pis-

tole geschossen von Tess zurück.

»Ich versteh’ gar nicht, was das –«
Sam schnitt ihm das Wort ab, so schnell

wie ein hungriger Hai sich ein Scheibchen
von einem fetten Schwimmer abschneiden
würde.

»Oder Sie, zum Beispiel, Mr. Perrier«,

sagte er. »Sie haben schon auf beiden Seiten
des großen Teichs gearbeitet. Hübsche kleine
Aufträge da drüben, hab’ ich gehört, ein paar

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Mordfälle aufklären für den einen oder an-
deren Baron oder Grafen und ihre Traum-
honorare werden dann eilig auf einem Sch-
weizer Nummernkonto deponiert. Mit drei
solch kleiner Aufträge kann man sich eine
Menge heißer Schokolade leisten, stimmt’s,
Frenchie?«

Er trat einen Schritt zurück und

überblickte die ganze Gesellschaft mit
strengem Gesicht.

»Falls Sie nicht so schnell mitkommen,

meine Herrschaften«, sagte er, »brauchen
Sie’s nur zu sagen.«

»Na hören Sie mal, Diamond –«, fing

Dick Charleston an, völlig bereit, mit ihm auf
der

»Brauchen-Sie’s-nur-zu-sagen«-Ebene

weiterzureden.

Aber Sam war mit einem Satz vor ihm

wie ein gewichtiger Verkehrspolizist, der den
protzigen Charleston-Rolls-Royce zum Hal-
ten zwingt.

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»Nein, jetzt hören Sie mal her, Mr. Char-

leston aus New York, Palm Beach und
Beverly Hills«, schnarrte er. »Für Sie ist Ver-
brechen nur so ’ne Art Hobby, stimmt’s? Nur
so ein kleines Spielchen, mit dem Sie sich die
Zeit vertreiben, bis der Zimmerservice in ir-
gendeinem Luxushotel Ihnen Ihr Frühstück
ans Bett bringt, das Sie genauso wie Ihre
Gin-Martinis und ihre Dreihundert-Dollar-
Anzüge mit den Piepen der Familie Ihrer
Frau bezahlen.«

Er grinste triumphierend, als sich Dick

Charleston unwillkürlich an den eleganten
Schalkragen seines Smokings griff.

»Yeah«, fuhr er dann fort, und seine

Worte kamen noch immer so rasch wie aus
einem Maschinengewehr abgefeuert, »da ist
man natürlich recht fein raus, wenn alles,
was von einem verlangt wird, darin besteht,
seiner Frau gegenüber hie und da mal hand-
greiflich zu werden und zweimal am Tag den
Hund zum Pinkeln rauszuführen.«

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Auf Doras hübschem Gesicht machte sich

der Ausdruck der Empörung breit, gleicher-
maßen wie auf dem nicht so hübschen, aber
sexy wirkenden Gesicht von Tess Skeffing-
ton. Denn Tess, die zwar nicht von gestern
war, wußte, wieviel leichter man sich tat,
beleidigt zuzuschauen, wenn man sich in der
richtigen Gesellschaft befand.

»’tschuldigung, wenn ich Sie verletzt

habe, meine Damen«, fuhr Sam fort. »Aber
mit meiner Schul- und sonstigen gesell-
schaftlichen

Bildung

ist

es

nie

weit

hergewesen. Die Straßen waren meine
Schule, und der Anblick einer auf mich
gerichteten Revolvermündung war mein
Lehrer.«

Er wandte sich von den Damen ab und

redete wieder auf seine Kollegen ein.

»Ich bekomme fünfzig Dollar pro Tag

plus Spesen, wenn ich’s kriegen kann, Gen-
tleman. Und meiner Miss Skeffington hier

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schulde ich seit drei Jahren und vier Mon-
aten das Gehalt. Stimmt’s, Engelchen?«

Aber diesmal bekam er nicht sein »Stim-

mt, Sam« zurückgepfeffert, wie sonst bei
seinen knallharten Fragen. Statt dessen riß
Tess ihre großen Augen noch weiter auf und
antwortete sanft und hingerissen:

»Ich mach’ mir doch nichts aus dem

Geld, Sam.«

»Ich auch nicht«, kam es aus Sams sch-

malen Lippen schneller als eine zustoßende
Klapperschlange sein könnte. Er bedachte
die versammelten Gäste mit einem bedeu-
tungsvollen Blick.

»Ich mag Sie alle hier genauso wenig, wie

Sie mich mögen«, klärte er sie auf. »Viel-
leicht ist ein Dinner mit einer Leiche zum
Dessert eine Art Zeitvertreib für Typen wie
Sie, aber für einen Kerl wie mich ist es ein
aufzuklärendes

Verbrechen

mit

Krabbencocktail.«

Er zuckte die Schultern.

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»Ich meine nur, ich wollte das mal

klarstellen, bevor der Abend seinen Lauf
nimmt.«

Sein Publikum bedachte ihn keinesfalls

mit herzlichem Applaus und Begeisterung.
Statt dessen herrschte eisige, lange Stille, die
schließlich von Tess gebrochen wurde.

»Gut gesagt, Sam«, meinte sie loyal.
Sam wandte sich zu ihr um.
»Hat’s dir gefallen, Engelchen«, fragte er

stolz.

Dann sah er wieder zu den anderen.
»Und nun«, sagte er, »wenn einer der

hier anwesenden Gentleman so freundlich
sein würde und meiner Dame hier ein Glas
billigen Weißwein verschaffen könnte, werde
ich mich entfernen und draußen nachsehen,
wo man pinkeln kann. Wenn ich soviel rede,
vergesse ich’s manchmal fast.«

Und damit, um seinen Worten prompt

Taten folgen zu lassen, verließ er eilig den
Salon.

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Und klemmte dabei auch die Beine

zusammen.

Mr. Twains übrige Gäste sahen sich

reihum an. Hie und da wurden tiefe Seufzer
der Erleichterung ausgestoßen.

Tess meldete sich zu Wort.
»Bitte, entschuldigen Sie Sam«, sagte sie.

»Er erlitt letzte Woche einen Kopfschuß und
sollte noch längst nicht aus der Klinik sein.«

Dick zog eine Augenbraue hoch.
»Hm, wenn Sie mich fragen«, sagte er

und sah alle um ihn herum an, »ist dieser
Bursche verdammt ehrlich.«

»Dickie«, ermahnte Dora.
Auch Milo Perrier ließ seine Meinung zu

dem verschwundenen Wirbelwind hören.

»Er ist kein Dummkopf«, sagte er

bedächtig. »Soviel steht fest.«

»Diamond ist vielleicht ruppig«, fügte

Sidney Wang weise hinzu, »aber er ist großer
Detektiv und nicht ungefährlich. Ich würde

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nicht gern von falscher Seite aus mit ihm zu
tun kriegen.«

»Jawohl«, stimmte Dick Charleston ein.

»Er spuckt wirklich, wenn er spricht, nicht
wahr?«

»Dickie«, verwarnte ihn Dora wieder.

»Ausdrücke!«

Aber noch bevor man sich weiter über

Sam Diamond und seine brutale Ehrlichkeit
unterhalten konnte, wurde die Tür zum
Salon geöffnet, und steif und förmlich betrat
der blinde alte Benson den Raum.

»Miss Jessica Marbles«, verkündete er.

»Mit ihrer Amme.«

Er trat beiseite, um einem eigenartigen

Paar Platz zu machen. Das heißt, zuerst er-
schien eigentlich ein kostbarer, antiker Roll-
stuhl. Ein Rollstuhl aus Mahagoni mit Elfen-
beingriffen,

samtbezogenen

Armlehnen,

Speichenrädern und der ganzen besonderen
Atmosphäre eines Stückes aus den Kindert-
agen der Industrie-Revolution. Darin saß,

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eingewickelt in Schals und Decken, eine
sehr, sehr alte Dame. Geschoben wurde sie
von einer vielleicht fünfzehn Lenze jüngeren
Dame, resolut und gut zu Fuß, ganz in
Tweed, bis auf die guten soliden Wollstrüm-
pfe, die aus den robusten Schuhen hervor-
quollen. Auf den ersten Blick sah man ihrem
Gesicht an, daß sie weder für Leicht- noch
für Unsinn einen Sinn hatte.

Sidney Wang machte sich als erster

daran, die illustre Kollegin aus England zu
begrüßen.

Er verbeugte sich tief vor dem Rollstuhl.
»Miss Marbles«, begann er, »endlich

lerne ich Sie persönlich kennen. Bewundere
Sie schon seit Jahren, als ich noch winzig
kleiner Detektiv war.«

Er nahm die runzlige Hand aus all den

Schals und Tüchern und bedachte sie mit
einem ehrerbietigen Handkuß.

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»Danke, Mr. Wang«, sagte – nicht die

eingewickelte alte Dame, sondern die ener-
gische Person hinter ihr.

Wang sah völlig verwirrt auf.
»Ich bin Jessica Marbles«, sagte die

Dame, die selbstbewußt den Rollstuhl vor
sich her und weiter in den Raum schob.
»Das hier ist Miss Withers, meine Amme. Sie
ist nun schon zweiundfünfzig Jahre bei mir,
und jetzt kümmere ich mich um die liebe
Gute.«

Die alte, alte Amme nickte mit ihrem al-

ten, alten Kopf. Miss Marbles beugte sich vor
und brüllte ihr ins Ohr: »Ist alles in Ord-
nung, Miss Withers?«

Die alte Amme nickte wieder mit ihrem

alten Kopf wie um zu sagen: »So gut in Ord-
nung, wie man es in meinem Alter erwarten
kann, was, wie Sie wohl wissen, Ende achtzig
ist. Jawohl, Ende achtzig. Recht be-
merkenswert, nicht wahr?«

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Miss Marbles atmete tief ein und brüllte

ihr weiterhin ins Ohr:

»Möchten

Sie

jetzt

Ihre

Medizin

nehmen?«

Die alte Amme nickte wieder mit ihrem

alten Kopf, als ob sie sagen wollte: »Nein, ich
will meine Medizin nicht, verdammt. Ich
habe zu viel Medizin an zu viele ungezogene
Kinder ausgeteilt und deshalb weiß ich, daß
Medizin ein gräusliches Zeug ist, sonst wäre
es keine Medizin. Ist es da nicht verständ-
lich, daß ich meine Medizin nicht mag? Sich-
er ist das verständlich.«

»Machen Sie jetzt Ihr Schläfchen, meine

Liebe«, dröhnte Miss Marbles in ihr Ohr.
»Nicht

mehr

lange,

dann

gibt

es

Schmatzschmatz.«

Die alte Amme nickte wieder, wie um zu

sagen: »Warum reden Sie mit mir, als wäre
ich ein Kind? Ich bin eine Krankenschwester
und kein Kind. Das ist genau das Gegenteil.
Und, ja richtig, jetzt wo Sie davon sprechen,

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ich könnte wirklich eine Kleinigkeit zu mir
nehmen…«

Aber da war sie vor lauter Nicken schon

eingenickt. Und das war gut so.

Miss Marbles richtete sich wieder auf und

warf einen hoheitsvollen Blick in die Runde.
Dabei fiel ihr eines sogleich auf: daß die
meisten Anwesenden in ihrer rechten Hand
einen Drink hielten.

»Hah«, sagte sie. »Ich könnte auch einen

guten Schuß vertragen.«

Eine feine alte Dame noch vom alten Sch-

lag, das war Miss Marbles. Sie wußte, wo’s
langging. Alle diese Amerikaner bezeich-
neten einen Drink als Schuß. Sie war schließ-
lich im Kino gewesen, zu Haus in Brighton,
damals, kurz vor dem Krieg. Mit so was kan-
nte sie sich aus.

»Jawohl, Mr. Charleston«, sagte sie,

»einen ›Schuß‹. Ich glaube, der ›Stoff‹ fällt
in Ihren Zuständigkeitsbereich.« Dick Char-
leston zog die Augenbrauen hoch. Aber nur

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eine kleine Spur. Er hatte so eine Ahnung,
daß, wenn er sie weiter hochzog, er die spitze
Zunge der hervorragenden alten Dame zu
spüren bekommen würde.

»Mit Vergnügen, Madam«, sagte er und

schlenderte zu dem kleinen Beistelltischchen
hinüber, auf dem Flaschen zur Herstellung
aller denkbaren Drinks standen.

Sam Diamond kam zurück, seine Hände

hatten

gerade

den

Hosenreißverschluß

geschlossen. Jessie Marbles stand mit dem
Rücken zur Tür. Deshalb verlangte er von
den übrigen Anwesenden ohne Umschweife
zu wissen: »Wer issen die alte Schachtel?«

Miss Marbles wandte sich um.
Welch ein Anblick! Man stelle sich vor

(wenn möglich), wie ein Schlachtschiff auf
dem Absatz kehrtmacht. Oder, falls das zu
schwierig ist, lieber ein Schlachtschiff, das
auf seinem Kiel wendet. Genauso sah Miss
Marbles aus, als sie sich umwandte und den
Neuankömmling in Augenschein nahm.

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»Die ›alte Schachtel‹, Mr. Diamond«,

erklärte sie, »hat Sie vor siebzehn Jahren in
Panama City beim Strip-Poker vernichtend
geschlagen. Sie standen da in Unterhosen
und Socken.«

Da erkannte Sam sie.
»Jessie! Baby!«
Er war mit einem Satz bei ihr, nahm sie

in die Arme und, obwohl sie recht solide ge-
baut war, hob sie glatt in die Luft.

»Was machst du denn hier, altes Haus?«

fragte er. »Ich dachte, nichts auf der Welt
würde dich aus deinem kleinen Nest in Eng-
land herausholen.«

Miss Marbles ordnete ihre Kleider. Und

da hatte sie einiges zu tun.

»Nichts, außer Stolz, Sam«, antwortete

sie. »Die fünf größten Kriminologen der
Welt, alle in einem Raum versammelt. Einer
von ihnen wird dieses Haus als der Größte
verlassen. Indem er über eine Leiche geht,
und die eine oder andere werde ich sein.«

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Sam grinste.
»Selbstbewußt wie immer«, strahlte er.

»Eine Britin ist doch das Höchste.«

Und er klatschte ihr einen kräftigen Klaps

auf das breite Hinterteil.

»Welches Zimmer hast du?« fragte Miss

Marbles ihn.

»Ich bin nicht allein«, wehrte Sam

schnell ab.

Es lag nicht in Jessie Marbles Absicht, die

Vergangenheit aufzurühren, ob nun rührend
oder nicht, so ließ sie es dabei bewenden.

Plötzlich wurde die verhältnismäßige

Stille in dem großen Salon mit den Horror-
Ausstellungsstücken an den Wänden von
einem Todesstöhnen erfüllt.

»Ruhe bitte«, rief Sidney Wang mit chin-

esischer Überflüssigkeit. »Seltsames Ger-
äusch gehört.«

Aber diesmal war es Dora Charleston, die

den

Ausgangspunkt

des

entsetzlichen

Stöhnens entdeckte.

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»Mein Gott«, rief sie aus, »es ist das

Gesicht! Es kam von dem Gesicht dort.«

Mit zitternder Hand wies sie auf das

Hauptstück der Gegenstände, die Toten-
maske über dem Kamin.

Ihr Ehemann schlenderte hinüber und

begann mit einer gründlicheren Inspektion.

»Hm, ja«, sagte er gedankenvoll, »jetzt

geht es tatsächlich zu Ende mit ihm.«

Er wandte sich um zu den anderen.
»Was könnte das bedeuten?« fragte er.
Darauf hatte keiner eine Antwort.
Bis auf die Stimme, die von der Tür kam.
Alle wirbelten herum.
Es war Benson. Seine Augen versteckt

hinter der schwarzen Brille, der weiße Stock
baumelte von seinem Handgelenk herab, so
stand

er

da

in

seinem

makellosen

Butleranzug.

»Es bedeutet Dinner, Sir«, beantwortete

er Dicks Frage. »Wir besitzen keinen Gong.
Es ist angerichtet.«

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Dinner.
Es war angerichtet.
Und wann kam der Mord?

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10

Der Speisesaal des großen alten Hauses

war nicht so furchterregend ausgestattet wie
der Salon. Es gab kein einziges Marter-
werkzeug zu sehen, außer man wollte die ge-
waltigen Schaufeln eines Elchkopfes als sol-
che ansehen, der mitten an der Innenwand
hing. Aber außer ihm und einer altmodis-
chen Standuhr gab es hier keinen Zierrat.
Die Wände waren eichenholzgetäfelt, nur
unterbrochen von dem halben Dutzend ho-
her Fenster gegenüber dem Elchkopf. Sie
hatten keine Vorhänge, so daß man den Re-
gen gegen die Fenster tropfen sah, begleitet
vom wiederholten Zickzack der Blitze und
Donnergrollen, wie so vieles in diesem Haus
den Errungenschaften von Elektronik und
Technik zu danken. Mitten im Raum stand

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ein langer Eßtisch, an dem nun die fünf
Detektive und ihre fünf Begleiter Platz gen-
ommen hatten.

Unnötig zu erwähnen: sie waren natür-

lich unter Aufsicht. »Ja, Benson«, bemerkte
Lionel Twain und rieb sich voller Vorfreude
die Hände. »Ich glaube, man kann wohl be-
haupten, daß Dora Charleston gut angebis-
sen hat. Sie kann kaum noch den Mund
aufmachen, ohne einen entsetzten Schrei
auszustoßen.«

»Scheint so, Sir. Die Arme.«
»Die Arme, die Arme. Sie gilt doch als ein

kleines Feuerwerk an Scharfzüngigkeit, nicht
wahr? Nun, in echt entspricht sie jedenfalls
ihrem Dasein in den Büchern nicht im
geringsten.«

»Trotzdem, Sir, ist sie doch bezaubernd

verliebt in Mr. Charleston.«

»Außer, wenn sie an das blonde Haar

denkt, über das sich Ihr chinesischer Super-
Detektiv das Maul zerrissen hat.«

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»Eine kleine Ungeschicklichkeit, Sir,

weiter nichts.«

»Ungeschickt ja, Benson. Aber nicht

klein. Sondern nur typisch für deine Helden,
Benson. Nur ein weiterer Beweis für ihr
typisches Ungeschick.«

Benson sah gequält aus.
Aber laut sagte er nichts. Nur durch sein-

en Kopf schossen mehrere Gedankengänge.
Zum Beispiel, daß Miss Marbles gerade erst
angekommen war und doch in ausgezeich-
neter Verfassung zu sein schien. Und wie war
das mit Sam Diamond? Härtere Sätze und
Aussprüche konnte man sich doch kaum
wünschen, als er sie bisher geliefert hatte.

»Und was Sam Diamond betrifft«, sagte

sein Herr und Meister in diesem Moment,
»ein oder zwei passende Bemerkungen hat er
ja schon gemacht. Von ihm können wir wohl
noch einiges erwarten.«

»Das glaube ich auch, Sir«, sagte Benson

so nachdrücklich wie es einem botmäßigen

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Butler anstand. »Und wenn Sie mich jetzt
bitte entschuldigen wollen, Sir, ich habe
meine Pflichten.«

»Aber natürlich, Benson. Sie haben Ihre

Pflichten, und ich habe mein Vergnügen.
Und ich wette, in den nächsten paar Minuten
werde ich recht ausgiebig zu meinem
Vergnügen kommen. Aber du wirst, glaube
mir, wesentlich schwierigere Pflichten zu be-
wältigen haben, mein Lieber, als du dir vor-
stellen kannst.«

Aber Benson war schon vor den letzten

warnenden Worten verschwunden, und
Lionel Twain wandte sich glücklich seinem
Bildschirm zu, um den langen, mit zehn Per-
sonen besetzten Eßtisch zu beobachten. Die
Tafel war erlesen gedeckt mit Silber und
Gläsern und an ihrem Kopfende stand ein
leerer Stuhl. Bislang hatten die Gäste noch
nichts zwischen die Zähne bekommen,
wenigstens hatten sie von dem blinden But-
ler ein Glas Wein eingeschenkt bekommen.

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Dick Charleston erhob sich mit seinem

Glas in der Hand.

»Meine Damen und Herren«, sagte er.
Plötzliche Stille trat ein.
»Meine Damen und Herren, ich würde

gern einen Toast ausbringen.«

Neun Paar Augen waren voller Interesse

auf ihn gerichtet. Nein, zehn Paar. Das
zehnte Paar Augen gehörte dem Elch an der
Wand über dem steinernen Kaminsims.
Aber, obwohl sie sich genau da befanden, wo
ein Elch seine Augen haben sollte, nämlich
rechts und links des Nasenrückens, sahen sie
nicht aus wie Elchaugen, die normalerweise
sanft und braun und recht schön sind. Sie
sahen aus wie menschliche Augen, nämlich
scharf, gemischt aus den verschiedensten
Farben und recht böse.

»Unser Gastgeber«, fuhr Dick Charleston

fort, als jeder ihm zuhörte, »unser Gastge-
ber, Mr. Lionel Twain, ist in der Tat ein
höchst bemerkenswerter Mann.«

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Er machte eine kleine Pause, um seinen

Zuhörern Zeit zu geben, diese Worte richtig
einsinken zu lassen, samt Pathos.

»Zum ersten«, fuhr er fort, »ist es ihm

gelungen, die fünf größten Detektive der
Welt zu versammeln, um ein Verbrechen
aufzuklären, das bisher noch nicht begangen
wurde.«

Wieder eine bedeutungsvolle Pause.
»Zum zweiten: er hat uns Fallen gestellt.

Eine Brücke, die kurz vor dem Zusammen-
brechen

ist…

herabfallende

Statuen…

Bedeutet das, daß er uns umbringen will?«

Wieder leistete er sich eine Pause.

Niemand aus der Tischrunde wäre unhöflich
genug gewesen, darauf eine Antwort zu
geben und damit seine Rede zu stören.

Dick lieferte die Antwort.
»Will er uns umbringen? Auf jeden Fall

jetzt noch nicht. Das hätte er jederzeit tun
können. Er versucht lediglich, uns Appetit zu
machen auf das, was noch folgen soll.«

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Pause.
»Und zum dritten«, setzte er zum

Schlußsatz an, »warum fünf Detektive und
nicht einer? Weil er es mit uns allen aufneh-
men will, meine Damen und Herren, ein
Kunststück, an das sich noch kein kriminal-
istischer Kopf vor ihm herangewagt hat.«

Wieder schwieg er. Was er jetzt gesagt

hatte, brauchte etwas mehr Zeit, um richtig
einzusinken. Das Unerhörte, das schlicht
Unglaubliche.

»Also«, sagte er schließlich, »also schlage

ich vor, daß wir, bevor dieser höllische
Abend richtig losgeht, unser Glas erheben
auf den entweder höchst raffinierten und
charmanten Mann…«

Er

verhielt

noch

einmal

einen

Augenblick.

»… oder auf einen unberechenbaren, hin-

terhältigen Wahnsinnigen. Aufstehen!«

Sie erhoben sich und setzten die Gläser

an die Lippen.

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»Einen Moment, bitte!«
Diese Worte, die wie ein scharfes Kom-

mando durch den Raum schnitten, kamen
von Sidney Wang.

Sie ließen ihre Gläser wieder sinken und

sahen ihn an. »Zum vierten«, sagte er mit
orientalischer Unerschütterlichkeit, »Wein
ist vergiftet.«

Sie rissen wie ein Mann – respektive Frau

– den Mund auf.

»Gott im Himmel!« hauchte Dora mal

wieder (sehr zur Freude von Lionel Twain).

Sidney Wang schnüffelte in sein Glas

hinein.

»Ein altes, geruchloses, farbloses und

geschmackloses orientalisches Kräutlein«,
verkündete er, »eines, das augenblicklich
zum Tode führt.«

Er hielt das Glas so weit schräg, daß sein

Inhalt in dünnem Strahl auf das makellos
weiße Tischtuch floß. Ein klein wenig
schwärzlicher Rauch stieg auf, und in dem

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Tischtuch blieb ein kleines Brandloch
zurück.

»Allmächtiger, Mr. Wang!« stieß Dora

hervor, atemlos vor Schreck. »Sie haben uns
das Leben gerettet.«

Oben in seinem heimlichen Versteck

machte Lionel Twain sich mit einem langan-
haltenden Kichern Luft.

»Nicht eigentlich, Mrs. Charleston«, warf

Milo Perrier von seinem Ende des Tisches
ein.

Lionel Twains Gekicher brach abrupt ab.
Milo Perrier nahm sein Glas wieder in die

Hand, roch lange und genießerisch als echter
Weinkenner daran und nahm schließlich
einen kräftigen Schluck.

Die Tischrunde hielt den Atem an. Milo

Perrier lächelte mit kaum zu verbergendem
Triumph und trank sein Glas ruhig bis zur
Neige leer.

»Da unser lieber Mr. Wang hier«,

erklärte er, »der einzige von uns ist, mit der

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Fähigkeit ein orientalisches Gift dieser Art zu
entdecken, war er auch der einzige, der dam-
it auf die Probe gestellt wurde.«

In seinem breiten Lächeln blitzten unter

dem gezwirbelten Schnurrbart seine Zähne
die Tischrunde an.

»Zum fünften«, fügte er hinzu, »ist Mr.

Twain beides, sowohl raffiniert als auch
hinterhältig.«

Aber da plötzlich trat in sein eiförmiges

Gesicht der Ausdruck höchster Pein. Seine
Hände verkrampften sich über seinem Ma-
gen. Sein Gesicht wurde kreidebleich wie in
einem maßlosen Wutanfall.

Dora, die sich immer weiter vorgebeugt

hatte, um ihn zu beobachten, sprang auf die
Füße.

»Schnell«, schrie sie, »holt einen Arzt!«
»Nein, nein«, stöhnte Milo Perrier und

hielt sich noch immer den Magen. »Nein, ist
schon gut. Mein Wein ist nicht vergiftet. Es
war nur ein sehr schlechter Jahrgang.« Auf

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der anderen Seite des Tisches beugte Sam
Diamond sich herüber.

»Sie alle vergessen eines«, sagte er zwis-

chen schmalen Lippen. »Diese kleine Affäre
bringt den Butler in höchsten Verdacht,
denn

schließlich

hat

er

den

Wein

ausgeschenkt.«

Aber

Milo

Perrier

schien

nicht

beeindruckt.

»Der Butler, oui. Nur, Monsieur, da wäre

die Tatsache, daß er blind ist. Woher sollte er
wissen, wem das vergiftete Glas zu servieren
war?«

»Na, das ist doch ganz einfach«, warf

Sam aus zusammengepreßten Lippen ein.
»Blinde Menschen haben einen besonders
ausgeprägten Geruchssinn. Nachdem wir
alle angelsächsischer Abstammung sind und
Mr. Wangs Sohn Japaner ist, war es nicht
sehr

schwierig,

einen

Chinesen

herauszuriechen.«

Dick Charleston wirkte peinlich berührt.

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»Na, wissen Sie, Diamond«, sagte er steif

wie ein Brett. »So etwas kann man doch
nicht einfach so sagen, nicht wahr?«

»Warum nicht, wenn es so ist, Mr. Char-

leston«, gab der brutal-ehrliche Sam zurück.
»Hab’ ich nicht recht, Engelchen?«

Tess, auf der anderen Seite der Tafel,

kam sofort mit der schnellen Antwort:

»Sicher, Sam.«
»Ruhe bitte«, meldete sich Sidney Wang.

»Butler kommt.«

Alle Augenpaare wandten sich der großen

Speisesaaltür entgegengesetzt dem leeren
Platz am Kopfende der Tafel zu.

Benson erschien mit einer großen Sup-

penterrine, die er auf der ausgestreckten
linken Hand balancierte. Mit der rechten
Hand ertastete er sich mittels des weißen
Stockes seinen Weg.

»Ich bitte um Verzeihung für die leichte

Verzögerung, meine Damen und Herren«,
begann er. »Wie es scheint, habe ich einige

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Verständigungsschwierigkeiten mit unserer
neuen Köchin.«

Tap-tappend

näherte

er

sich

Miss

Marbles Stuhl. Mittels einer Gummischnur
ließ er den weißen Stock im Ärmel ver-
schwinden, hob den Deckel von der großen
Terrine und rührte den Inhalt mit dem
herausragenden großen Löffel um.

»Wer hat den Wein ausgeschenkt, Sch-

warzauge?« verlangte Sam Diamond zu
wissen.

»Sir?«
»Ich fragte, wer den Wein ausgeschenkt

hat?«

»Das war Mr. Twain, Sir«, antwortete

Benson aalglatt. »Die gefüllten Gläser
standen auf einem Tablett im Kühlschrank
für mich bereit. Ich hatte den Auftrag, Mr.
Wang das Glas mit dem klebrigen Stiel zu
reichen.«

Kurzes Schweigen. Dick Charleston brach

es.

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»Und Sie haben nicht einmal gefragt

warum?«

»Ich war schon froh, daß ich den Kühls-

chrank fand, Sir«, antwortete Benson.

Er hüstelte diskret.
»Wenn ich jetzt bitte die Suppe servieren

dürfte?«

Er ging weiter zu Doras Platz, und mit

gleichermaßen Grandezza und Großzügigkeit
landete er zwei Schöpflöffel von Nichts auf
ihrem Teller.

Perrier sah ihn mit höchstem Erstaunen

an.

»Einen Augenblick, mein lieber Freund«,

sagte er. »Wo ist die Suppe?«

»Im Schälchen der Dame, Sir.«
»In ihrem Schälchen ist nichts drin«,

sagte Perrier wahrheitsgemäß.

»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht, Sir.«
Perrier sprang auf und eilte um den Tisch

herum, ergriff den Schöpflöffel und hielt ihn

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dem Butler an die Lippen. »Hier. Probieren
Sie doch selbst.«

Benson probierte.
»Ich verstehe, was Sie meinen, Sir«, sagte

er, nachdem er geschmäcklerisch mit den
Lippen geschnalzt hatte. »Wenn Sie mich
bitte entschuldigen wollen, dann werde ich
mich einmal ernstlich mit der Köchin
unterhalten.«

Noch immer mit der Terrine auf der

linken Handfläche, tastete er sich wieder
zum Eßzimmer hinaus. Tap-tap, tap-tap.
Tap. Tap-tap-tap.

»Mord durch Verhungernlassen«, be-

merkte Miss Marbles gedankenvoll. »Viel-
leicht gehört das zu seinem Spielchen, eh?
Was meinst du, Sam?«

»Weiß auch nicht, Jess«, kam es von Sam

zwischen schmalen Lippen hervor. »Frag
doch mal den Elch da an der Wand. Der beo-
bachtet

uns

schon,

seit

wir

hier

hereingekommen sind.«

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Sofort starrten alle hinauf zum Elch. Der

schloß eilig die Augen.

Inzwischen war Benson wieder in der

Küche angekommen. Noch immer hatte er
kein vernünftiges Wort aus dem Mädchen
herausbringen können, das seinerseits noch
immer ruhig und geduldig auf dem Stuhl an
dem großen Küchentisch saß. Er dagegen
suchte wild durch alle Schränke, schließlich
tasteten seine Finger suchend über eine
Riesenkollektion von Konservendosen, so
daß es aussah wie der Tanz von zehn kleinen
weißen Würstchen.

»So viele Leute zum Essen eingeladen«,

murmelte er vor sich hin. »Und was haben
wir zu bieten? Heißes Nichts!« Wütend fuhr
er herum und starrte blind seine Küchenhilfe
an.

»Sie sind entlassen«, bellte er zornig.

»Gefeuert! So heißt das ja wohl hierzulande.
Sie sind gefeuert, haben Sie verstanden?«

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Still und geduldig saß die taubstumme

Yetta auf ihrem Stuhl und blickte mit mil-
dem Interesse auf diesen Fremden.

Er starrte sie mit verdoppelter Wut an –

oder jedenfalls mehr oder weniger in ihre
Richtung.

»Scheren Sie sich hier raus, hören Sie?«

wütete er.

Mit langen Schritten eilte Benson zum

Hintereingang, und nachdem er kurz her-
umgesucht hatte, fand er die Klinke und riß
die Tür weit auf.

»Raus!«schrie er.
Yetta blieb friedlich am Tisch sitzen.
Benson blieb an der weit geöffneten Tür

so lange stehen, bis er meinte, daß das Mäd-
chen längst hinausgegangen sein müßte.

»Und bleiben Sie bloß draußen«, schrie

er in die neblige Nacht hinaus.

Oben im Speisesaal entspann sich inzwis-

chen, so ganz ohne Suppe, gelassen eine höf-
liche Konversation. Auch dem Wein konnte

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man ja nicht trauen, vielleicht war er doch
vergiftet. Heiterkeit breitete sich mit Maßen
aus. Sam Diamond und Miss Marbles wech-
selten ein oder zwei spitze Bemerkungen.
Dick Charleston und seine Frau Dora ver-
suchten die Frage mit den Moores in
Schottland und deren Umzug nach Kent ein
für alle Male zu klären. Sidney Wang hatte
begonnen, Willie über den Zusammenhang
zwischen Pilzen und tückischen Straßen zu
erzählen, als eine Art Generalprobe, bevor er
mit der endgültigen Version vor Dick treten
konnte.

Milo

Perrier

machte

seinem

Secrétaire-Chauffeur Marcel den Vorschlag,
eine Expedition in Richtung Küche zu
starten, um festzustellen, ob man nicht
wenigstens eine Tasse heißer Schokolade
auftreiben könnte. Tess klärte Schwester
Withers über ein paar Lebenserfahrungen
auf. Schwester Withers schlief ganz glück-
lich. Als plötzlich…

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… das Licht ausging. Alle, auch das letzte.
Von einer Sekunde zur anderen breitete

sich in dem Raum totale Finsternis aus.

»Bitte keine Panik«, rief Sidney Wang auf

unüberhörbar chinesische und panikge-
ladene Art. »Keiner rührt sich vom Platz,
bitte.«

»Jemand hat eben den Saal betreten«,

kam Dicks Stimme aus der Dunkelheit. »Ich
höre Schritte.«

»Wartet!« kommandierte Milo Perrier.

»Ruhe bitte… ich rieche etwas.«

»Was?« fragte Miss Marbles in das un-

durchdringliche Dunkel.

Perrier

schnüffelte

hörbar.

Endlich

sprach er.

»Großer Gott!« rief er aus.
»Was… was ist denn?« hauchte Dora

entsetzt.

»Erbsensuppe mit Würstchen.«

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»Ich fürchte, Sir«, kam Bensons sanfte

Stimme, »das ist alles, was wir zu bieten
haben.«

Betretenes Schweigen. Und dann in der

Finsternis ein plötzlicher, schriller, nerven-
zerfetzender, jaulender, elektronischer Ton.

Die Nerven waren kurz vorm Zerfetzen.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Allmählich schien die Dunkelheit weniger

dunkel zu werden. In dem Bereich des leeren
Stuhls am Kopfende der Tafel schien sich
eine

Art

Lichtschein

zu

bilden.

Es

schimmerte.

Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Aus dem schimmernden Licht erscholl

eine Stimme.

»Guten Abend, meine Damen und Her-

ren«, sagte die Stimme, »ich bin Ihr
Gastgeber!«

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Jeder einzelne in dem stillen, dunklen

Speisesaal erkannte sofort, daß die Stimme
sehr nach Lionel Twain klang. Zwar nicht,
daß Schwester Withers je von dem berüh-
mten Autor der Großen Erzählungen (1963)
gehört hätte, aber dafür hatte sie ja andere
Qualitäten. Sie war schon wer, das würde
man wohl noch bemerken.

Und dann fing in dem schimmernden

Licht die Stimme erneut an zu sprechen.

»Jawohl, meine Damen und Herren, ich

bin Ihr Gastgeber, Lionel Twain.«

Das Schimmern des Lichtes brach sich in

allen nur möglichen Farbnuancen. Und nicht
genug damit, es zeichnete sich in all dem
Schimmern schließlich eine Silhouette ab.

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Dann hatte es sich verzehrt. Nach und

nach erglommen alle Lichter im Saal aufs
neue und strahlten immer heller, so daß das
Schimmern gänzlich verschwand. Und auch
die Silhouette war nicht mehr länger eine
solche, sondern klar erkennbar wurde nun
ein etwa vierzigjähriger kleiner Mann, der
einen rosa Smoking trug, eine Zigarette in
langer Spitze hielt und auf der Nase eine
getönte Brille hatte. Gekrönt wurde das Gan-
ze von einem weißen Panamahut. »Großer
Gott«, sagte Jessie Marbles, »welch ein
Auftritt!«

Lionel Twain lächelte mit vornehmer

Zurückhaltung. »Recht theatralisch, Miss
Marbles«, gab er zu, »aber ich liebe die Illu-
sion über alles.«

Er legte die Hand an die Krempe seines

Panamahutes.

»Bitte, entschuldigen Sie den Hut, aber

mir gehen die Haare so aus.«

Sam Diamond beäugte ihn mißtrauisch.

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»Ich dachte, Twain sei ein älterer Mann«,

sagte er. »So ungefähr zweiundsiebzig,
dreiundsiebzig.«

»Sechsundsiebzig, um korrekt zu sein,

Mr. Diamond«, kam es von der Figur im rosa
Smoking zurück. »Wie ich das mache, wollen
Sie wissen? Ganz einfach. Strikte vegetar-
ische Kost, zwölf Stunden Schlaf pro Nacht
und viel, viel Make-up.«

Er blickte von einem zum anderen in der

Tafelrunde. »Ich hoffe, daß Sie alle wohlver-
sorgt und gemütlich untergebracht wurden«,
sagte er mit einem leisen, hinterhältigen
Grinsen.

»Gemütlich?«

gab

Dick

Charleston

zurück. »Würden Sie vergifteten Wein oder
das Erschlagenwerden von herabstürzenden
Statuen ›gemütlich‹ nennen, Mr. Twain?«

»Nein«, gab Twain zu, »das nenne ich

›Inspiration‹. Die Inspiration ist nur in
einem hochsensiblen und umfassenden Ge-
hirn zu Hause. Ding chow soo ling tow, wie

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es im Mandarin-Chinesisch so treffend heißt.
Richtig, Mr. Wang?«

»Leider ich nicht sprechen Mandarin«,

antwortete

Wang.

»Nur

schlichtes

Chinesisch.«

»Ich verstehe Mandarin«, meldete sich

Miss Marbles sofort zu Wort und wandte
sich damit an die übrigen Gäste. »Er sagte:
›Ein

hochsensibles

und

umfassendes

Gehirn.‹«

»Er hat’s ja schon auf Englisch gesagt«,

knurrte Sam Diamond. »Weshalb vergeudet
der kleine Pimpf unsere Zeit, um es auf
Mandarin zu sagen?«

Er wandte sich an Benson.
»Hey, Schwarzauge, wie wär’s mit ’nem

Schuß Bourbon?«

»Bourbon, Sir«, antwortete Benson, ganz

britischer Butler. »Jawohl, Sir.«

Aber Dora ließ so etwas nicht so leicht

durchgehen.

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»Mr. Diamond, das zeugt von schlechtem

Geschmack.«

»Ach wirklich?« fragte Sam. »Ich mag

aber Bourbon.«

Aber jetzt konnte sich Milo Perrier nicht

länger zurückhalten. Er wies mit dem Finger
auf ihren Gastgeber, und sein gezwirbelter
Schnurrbart bebte vor unterdrücktem Zorn.

»Sie haben sich noch nicht zu den di-

versen mechanischen und kulinarischen An-
schlägen auf unser aller Leben geäußert,
Monsieur Twain«, klagte er an.

Twain lächelte.
»Nur Spielchen, Monsieur Perrier. Intel-

ligentes Vorgeplänkel, sozusagen als Vor-
spielchen zu dem großen, noch bevor-
stehenden Spiel.«

»Und das mir – Vorspielchen«, rief Sam

Diamond und sprang auf die Beine, »Sie
werden bald nichts mehr haben, womit Sie
spielen können, wenn Sie verstehen, was ich
meine!«

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Seine Stimme weckte Schwester Withers

auf. Sie hob ihre Hand und wischte sich das
Gesicht mit ihrer Serviette ab.

»Sam«, flüsterte Tess, so daß es jeder in

der Tischrunde hören konnte, »du spuckst
auf die Schwester.«

»’tschuldigung, meine Gute«, sagte Sam

zwischen schmalen Lippen.

Er wandte sich an Milo Perrier, der ihm

gegenübersaß.

»Die alte Schachtel sollte längst im Bett

sein«, sagte er.

»Mr. Twain«, fuhr Perrier entschlossen

fort, »wir sind jetzt seit fast vier Stunden
hier, und bisher war noch keine Spur von
einem warmen Dinner zu sehen. Genaus-
owenig wie von einer kalten Leiche.«

Er seufzte theatralisch.
»Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Mr.

Twain«, fuhr er fort. »Ich habe auch noch
anderswo – wie sagt man gleich – mein
Schäfchen ins Trockene zu bringen. Wenn

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Sie uns weiter nichts zu bieten haben als ein
paar hochgespielte Dilettantismen, muß ich
mich leider verabschieden.«

Er erhob sich und streckte seinen im-

posanten Bauch heraus. Und dann zog er en-
ergisch seinen Chauffeur-Secrétaire Marcel
auf die Füße.

Miss Marbles stand ebenfalls auf.
»Ich werde mich gleichfalls verab-

schieden«, sagte sie, sah aber klugerweise
davon ab, Schwester Withers auf die Beine
zu stellen. »Würde mir jemand vielleicht ein
Taxi rufen, ein englisches Taxi, wenn ich bit-
ten darf.«

Aber wenn Schwester Withers auch nicht

aus ihrem Rollstuhl gerissen worden war, so
war sie doch wenigstens aus ihrem erneuten
Nickerchen erwacht.

Kläglich sah sie zu den anderen auf.
»Kein Mörderchen?« fragte sie.

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»Nein, Liebes«, sagte Miss Marbles

beschwichtigend. »Vielleicht begegnet uns
etwas in der Art auf dem Dampfer.«

Sie griff nach ihrer Handtasche.
Aber bevor sie sich auch nur einen Schritt

weit vom Tisch entfernen konnte, hielten
Lionel Twains Worte sie zurück.

»Tut mir leid, wenn ich als ungalanter

Gastgeber erscheine«, sagte er. »Aber keiner
verläßt dieses Haus.«

Er bückte sich und drückte auf einen

kleinen Knopf unterhalb der Tischplatte. Im
selben Moment schlossen sich automatisch
vor den hohen Fenstern die Fensterläden.

Draußen in der großen Eingangshalle mit

ihrer Waffensammlung, den Rüstungen und
dem funktionsunfähigen Telefon legten sich
große Riegel vor die mächtige Eingangstür.
Sogar in der Küche, wo das Mädchen Yetta
noch immer geduldig saß, verriegelte sich die
Hintertür

automatisch.

Jedes

einzelne

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Fenster des ganzen Hauses hatte fest ver-
schlossene Fensterläden.

»Versuchen Sie Ihr Glück mit den Fen-

stern und Türen, wenn Sie wollen, meine Da-
men und Herren«, sagte Twain. »Aber ich
verspreche Ihnen, wir sind jetzt ein- und
ausbruchssicher. Ob Sie wollen oder nicht,
Sie sind und bleiben meine Gäste.«

»Also, mir gefällt das nicht, Sie kleines

rosa Barbie-Püppchen«, knurrte Sam Dia-
mond. »Öffnen Sie die Türen, bevor ich
Ihren Kopf als Rammbock benutze.«

Aber Twain zuckte nur höflich die

Schultern.

»Ich fürchte, dazu bin ich nicht in der

Lage, Mr. Diamond«, sagte er. »Es handelt
sich nämlich um ein Zeitschloß. Keine Macht
der Welt kann dieses Haus betreten oder es
verlassen vor dem nächsten Morgengrauen.
Wir sitzen hier wie in einer Falle.«

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»Gütiger Himmel, Dickie«, rief Dora

verzweifelt. »Wie sollen wir da bloß mit
Myron Gassi gehen?«

Sidney Wang hatte andere Sorgen.
»Was ist Bedeutung von all dem, Mista

Twain?«

»Das werde ich Ihnen sagen, Mr. Wang«,

antwortete Twain, und er wirkte etwas
nervös. »Ich werde es Ihnen sagen, wenn Sie
mir zuerst erklären wollen, warum ein Mann
wie Sie, ein Mann mit einem der brillan-
testen Köpfe dieses Jahrhunderts, keine
Artikel benützt. Die, Mr. Wang. Sie hätten
fragen müssen: Was ist die Bedeutung von
all dem?«

»Scharfsinnig bemerkt, Mista Twain«,

antwortete

der

chinesische

Detektiv.

»Aufklärung von Verbrechen ist oft Frage
von Zeit. Präpositionen kosten Zeit. Letztes
Jahr habe ich zweiunddreißigtausend Artikel
weggelassen, aber sechsundzwanzig Morde
aufgeklärt. Klar?«

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»Klar, Mr. Wang«, gab Twain wider-

strebend zu.

»Also«, wiederholte Wang frisch aufs

Neue, »was ist Bedeutung von all dem, Mr.
Twain?«

»Die Bedeutung von all dem, meine Da-

men und Herren«, antwortete Twain mit
einem Versuch, seine angeschlagene Autor-
ität wiederherzustellen, »ist, daß ich mir vor-
genommen habe, unter Ausschluß des
leisesten Zweifels zu beweisen, daß der
größte lebende Kriminologe dieser Welt an
diesem Tisch sitzt – und daß Sie alle ihn
sehen.«

Alle wandten die Köpfe und einer sah den

anderen an. Ein Zucken huschte über das
Gesicht ihres Gastgebers.

»Sie brauchen sich nicht gegenseitig an-

zusehen«, schrie er. »Sehen Sie mich an! Ich
bin der beste. Ich, ich, ich. Ich bin die abso-
lute Nummer Eins. Verstehen Sie? Ich – bin
– der -Größte!!!«

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»Was mich betrifft«, quetschte Sam Dia-

mond aus schmalen Lippen hervor, »für
mich sehen Sie eher aus wie die Nummer
Zwei. Kapiert, was ich meine?«

»Was meint er damit, Miss Skeffington?«

flüsterte Dora. »Erzähl’ ich Ihnen später«,
flüsterte Tess zurück. »Es ist abscheulich.«

»In all Ihren diversen Abenteuern, meine

Damen und Herren«, sagte Twain fest, trotz
des Geflüsters in seinem Publikum, »mußte
nicht einer von Ihnen einen ungeklärten
Mord hinnehmen. Darauf und nur darauf
basiert Ihr Ruf. Aber was würde die Welt
sagen, wenn die fünf größten Detektive, ge-
fangen in einem Landhaus, total abgeschnit-
ten von der Außenwelt, eine Leiche auf dem
Fußboden entdecken würden, mit zwölf
Messerstichen im Rücken, die auf ein Metz-
germesser schließen lassen…, und kein einzi-
ger von Ihnen wäre in der Lage, dieses Ver-
brechen aufzuklären?«

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»Sprechen Sie von ›Mord‹?« hauchte

Dora mit versagender Stimme.

»Bitte, Dora«, wies sie ihr Mann zurecht,

»davon verstehst du nichts.«

»Jawohl, Mrs. Charleston«, antwortete

Twain ihr nichtsdestotrotz. »Mord. Schlag
Mitternacht wird jemand in diesem Haus
heimtückisch ermordet werden, elfmal mit
einem

Metzgermesser

in

den

Rücken

gestochen.«

»Eben sagten Sie noch zwölfmal«,

monierte Miss Marbles mit zwingender
weiblicher Logik.

»Elf oder zwölf, darauf kommt es doch

nicht an«, gab Twain unwillig zurück. »Was
macht das schon aus, solange es ein Mord
ist?«

Damit hatten sie alle etwas zum Nach-

denken und um die lange Tafel breitete sich
tiefes Schweigen aus.

Gebrochen wurde es von Sidney Wang.

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»Sie haben nur kleines Detail unterschla-

gen«, meinte er. »Wer ist Opfer?«

Zornesröte stieg in dem hübschen rosa

Gesicht auf.

»Ist das«, schrie Twain bebend vor Zorn.

»Ist das. Ist das. Wer ist das Opfer? Sie
machen mich noch wahnsinnig mit Ihrer Art
zu sprechen.«

»Scheint nicht mehr lange zu dauern«,

meinte Sam Diamond mit schmalen Lippen.

»Wirklich, Mr. Diamond?« brüllte Twain

zurück, und seine Augen blitzten vor Wut.
»Nun, wir werden ja sehen, wer hier der
Wahnsinnige ist und wer normal. Das Opfer,
Mr. Wang, sitzt in diesem Augenblick genau
an diesem Tisch.«

Triumphierend schaute er in die Runde.
»Und gleichfalls«, brüllte er mit sich

überschlagender Stimme, »der Mörder.«

Sein Kreischen konnte nicht ohne Folgen

bleiben.

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Schwester Withers war wieder einmal aus

ihrem Schläfchen gerissen.

»Mörderchen?« fragte sie.
»Ja, meine Liebe«, antwortete Miss

Marbles ernst. »Uns steht ein hübscher
kleiner Mord bevor.«

Sam Diamond starrte die alte Dame im

Rollstuhl an.

»Warum geben Sie ihr nicht ’nen Schubs

und lassen sie die Auffahrt runterrollen«,
fragte er Miss Marbles. »Wir haben hier
Wichtigeres zu tun.«

Er wandte sich an Twain.
»Sagten Sie, daß Sie bereits wüßten,

wen’s erwischen wird?«

»In der Tat«, antwortete Twain mit

einem bösen kleinen Kichern.

Milo Perrier sprang ein.
»Und Sie wissen auch, wie das Ver-

brechen begangen werden wird?« fragte er.

»Genau«, sagte Twain und kicherte

erneut.

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»Und außerdem genau Zeit, zu der Mord

stattfinden wird?« fiel Sidney Wang ein.

»Der Mord«, korrigierte Twain ihn. »Der

Mord. Und die Zeit. Jawohl, ganz genau.«

»Nun«, warf Dora ein, »es geht mich ja

nichts an, aber bedeutet das nicht, daß Sie
der Mörder sind, Mr. Twain?«

Twain sah beleidigt in die entgegengeset-

zte Richtung.

»Ohne Ehefrauen«, sagte er. »Ich werde

diese Angelegenheit nicht mit Ehefrauen
erörtern.«

»Die Ehefrauen«, berichtigte Wang und

triumphierte orientalisch.

Twain wirbelte wütend zu ihm herum.
»In diesem Fall nicht!« schrie er. »Nicht

in diesem Fall. Ich sprach von Ehefrauen im
allgemeinen.«

»Verrückte Sprache«, meinte Wang.
Dick Charleston versuchte, die Wogen zu

glätten.

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»Aber Dora hat vollkommen recht, alter

Knabe«, meinte er lässig. »Alle Finger
scheinen auf Sie zu weisen. Keine große
Chance mehr, würde ich sagen.«

Twain lächelte.
»Soll ich es etwas interessanter machen,

Mr. Charleston?« schlug er vor. »Eine Mil-
lion Dollar demjenigen, der das Verbrechen
aufklärt. Eine Million Dollar gegen Ihren
Ruf. Eine Million steuerfreie Dollars, ausge-
händigt in einem Couvert, wenn der Mörder
gefunden ist.«

Noch schien er sie trotzdem nicht recht

überzeugt zu haben. Also ließ er noch einen
Lockvogel steigen.

»Und dazu«, sagte er mit teuflisch ver-

führerischer Stimme, »dazu noch alle
Taschenbuch- und Filmrechte.«

»In- und Ausland?« kam es schnell von

Miss Marbles, schnell und stellvertretend für
alle Anwesenden.

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»Und ich bekomme weiterhin meine fün-

fzig Piepen pro Tag?« wollte Sam Diamond
zusätzlich wissen.

Als Antwort zog Lionel Twain seine

Taschenuhr hervor und überprüfte die
Zeiger.

»Elf Uhr«, stellte er fest. »Sie haben noch

genau eine Stunde, meine Damen und Her-
ren. Eine Stunde, bevor sich der Tod einen
von Ihnen holen wird.«

Den Gesichtern ringsum war die schwere

Bedeutung dieses Satzes anzusehen. Miss
Marbles sah entschlossen und gedankenvoll
aus. Dick Charleston, wenn auch äußerlich
ruhig und gelassen, hatte doch ein kaltes Gl-
itzern in den Augen. Dora, die ihn ansah,
schien gleichermaßen erregt und ängstlich.
Sidney Wang neben ihr war natürlich orient-
alisch ausdruckslos, aber doch mit einer
kleinen, steilen Falte auf der Stirn, die das
angestrengte Denken dahinter verriet. Tess
Skeffington, die auf dem nächsten Stuhl saß,

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sah erwartungsvoll zu Sam hinüber. Neben
ihr, Marcel, sah mit hündischem Vertrauen
zu seinem Chef auf. Und Perrier war anzuse-
hen, wie er sich bei dem Gedanken an diesen
Wettbewerb freute, den er zweifelsohne
gewinnen würde. Sam Diamond dachte of-
fensichtlich – und seine Lippen wurden
schmal –, daß dies ein knallhartes Geschäft
war, welches einen knallharten Burschen er-
forderte, um es zum richtigen Abschluß zu
bringen. Neben ihm Willie Wang, sah ein-
fach nur gespannt aus. Und neben Willie war
Schwester Withers…

»Eine Stunde haben wir?« fragte Sam

und sah auf die schnarchende Alte hinunter.
»Wenn Sie mich fragen, hat diese eigenartige
Kreatur hier höchstens noch fünfzehn
Minuten.«

Lionel Twain am Kopf der Tafel grinste

nur böse.

»Ich würde vorschlagen, daß Sie alle sich

auf Ihr Zimmer zurückziehen«, sagte er,

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»und

dabei

Ihre

Türen

von

innen

verriegeln.«

Sein Grinsen wurde noch breiter.
»Nicht, daß das einer bestimmten Person

an diesem Tisch etwas nützen würde«, setzte
er mit einem Kichern hinzu.

Tess schluckte krampfhaft.
»Ich arbeite nur von neun bis fünf«, sagte

sie. »Darf ich jetzt bitte nach Hause gehen?«

Sam warf sich in ihre Verteidigung und

starrte Twain wütend an. Dann knurrte er
zwischen schmalen Lippen hervor:

»Sie hat recht, Sie rosa Schweinchen.

Ihre Auseinandersetzung betrifft nur uns
Detektive. Warum lassen Sie die anderen
nicht gehen und behalten nur die fünf Sch-
nüffler hier?«

Dora warf ihm einen zornigen Blick zu.
»Sehen Sie mich nicht so an«, fuhr er sie

an. »Die schmutzigen Gedanken haben ja
Sie!«

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Twain, am Kopfende der Tafel, antwor-

tete kühl:

»Zu spät, Mr. Diamond. Wir sind jetzt

alle im gleichen Boot. Und da bleiben wir
auch. Bis Mitternacht dann.«

Wieder kicherte er böse, beugte sich vor,

drückte auf einen weiteren Knopf unter der
Tischplatte und plötzlich war der ganze
große Saal wieder in Dunkelheit gehüllt.

Ein Schrei schrillte unaufhörlich durch

die undurchdringliche Finsternis.

»Aufhören zu schreien!« schrie Wang

diktatorisch.

»’tschuldigung,

Paps«,

sagte

der

eingeschüchterte Willie.

»Will’s auch nicht wieder tun.«
So plötzlich wie sie erlöschten, gingen jet-

zt alle Lichter wieder an.

»Hören Sie mal, Monsieur Twain«, sagte

Perrier zornig. Aber der Stuhl des Gastgebers
war leer.

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»Er ist weg«, sagte Miss Marbles. »Ein-

fach weg.«

»Nein, ist er nicht«, kam unerwartet Sam

Diamonds Stimme. »Hier ist er.«

Alle wandten sich um. Und tatsächlich,

am entgegengesetzten Ende der langen Tafel
saß grinsend wie ein rosarotes Schweinchen
– ihr Gastgeber.

»Sie sind aber ein schnelles kleines

Häschen«, sagte Sam.

»Ich habe mich nicht im geringsten be-

wegt, Mr. Diamond«, behauptete Lionel
Twain. »Ein hübsches Arrangement von klug
plazierten Spiegeln, das ist alles.«

Er grinste.
»Tatsächlich«, fuhr er fort, »sitze ich im

Augenblick überhaupt nicht hier.«

»So, tatsächlich?« forderte Sam ihn

heraus und zog seine Fünfundvierziger aus
dem Schulterhalfter. »Wollen Sie’s drauf
ankommen lassen?«

Aber Twain grinste immer noch.

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»Versuchen Sie’s doch, Mr. Diamond«,

frohlockte er.

»Ist ja Ihre Beerdigung, Sie komischer

Kauz«, sagte Sam. Er hob die Waffe und
zielte auf das linke Revers des rosa
Smokings. Aber plötzlich ließ er den Arm
sinken.

»Wollen doch mal sehen, ob Sie die Kugel

mit den Zähnen auffangen können«, meinte
er.

»Halt!« rief Twain in plötzlicher Panik.
Er lächelte schwach und erklärte:
»Manchmal… eh… manchmal klappt es

nicht.«

Sam konnte seinen Triumph nicht ver-

bergen, und langsam steckte er die Fünfund-
vierziger wieder zurück in ihr Halfter unter
dem weißen Jackett. Er drehte sich um und
zwinkerte den anderen zu.

»Na gut, diese Runde ging an Sie, Mr.

Diamond«, sagte Twain etwas ungehalten.

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»Aber

meine

Chance

kommt

um

Mitternacht.«

Er drückte einen Knopf an der Armlehne

seines Stuhls. Der ganze Stuhl mit ihm fuhr
augenblicklich

rückwärts.

Geräuschlos

öffneten sich unsichtbare Türen in der
Eichentäfelung hinter ihm. Sie verschluckten
ihn und schlossen sich ebenso geräuschlos
wieder (all der Ärger mit den Handwerkern
heutzutage), und es war, als wäre er nie
dagewesen.

»Nun«, sagte Sam Diamond langsam und

zwischen

zusammengepreßten

Lippen,

»wenn Sie mich fragen – wenn mir jemand
eine Million Dollar für die Aufklärung eines
Verbrechens bietet, das noch nicht einmal
begangen wurde, so hat er da oben mehr ver-
loren als nur seine Haare.« Er wandte sich
an Tess.

»Stimmt’s, Engelchen?«

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Aber Tess war so entsetzt über die jüng-

sten Geschehnisse, daß sie nicht reagierte
wie sonst.

»Oh, jetzt halt endlich den Mund«, gab

sie zurück.

Sam sah tief verletzt aus.
»Nun«, sagte Dora aufgeräumt, wie im-

mer diejenige, die eine peinliche Konversa-
tionspause überbrückte, »was sollen wir jetzt
machen, hier herumsitzen, bis wir abgesch-
lachtet werden?«

Das war das Stichwort für Schwester

Withers.

»Schlachterchen?« fragte sie.
»Noch nicht, Liebe«, brüllte ihr Miss

Marbles beruhigend ins Ohr. »Wir müssen
noch eine Stunde abwarten. Ich sage Ihnen
dann Bescheid.«

Schwester Withers verfiel glücklich in ihr

kleines Nickerchen zurück.

»Und was ist«, fragte Milo Perrier dram-

atisch,

»inzwischen

mit

dem

Butler

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geschehen? Warum ist er nicht endlich mit
unserem Dinner zurückgekommen?«

Er klopfte Marcel mit dem Knöchel auf

den Kopf.

»Geh und schau nach.«
»Oui, monsieur.«
»Nein!«
Das war Sidney Wang in seinem ge-

wohnten Kasernenhofton, wenn es darauf
ankam. Marcel blieb abrupt stehen. »Keiner
verläßt den Saal«, befahl Wang.

»Warum nicht, Paps«, fragte Willie un-

schuldig (was wäre ein Detektiv ohne einen
unschuldigen Fragensteller?).

»Mr. Twain sagte, jemand an diesem

Tisch ist Opfer«, antwortete Wang. »Wenn
wir alle zusammenbleiben, kann Verbrechen
nicht begangen werden ohne Zeugen.«

»Da hat er recht«, gab Sam Diamond zu.

»Sie sind schon ein ausgekochter Chinese,
Mr. Wang.«

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»Ich schlage vor«, sagte Jessie Marbles,

»daß wir uns alle an den Händen fassen. Die
Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied.«

Alle reichten sich die Hände.
»Wie lustig«, sagte Dora und quietschte

fröhlich.

Miss Marbles reckte ihre Schultern unter

ihrer soliden Tweedjacke und sah sie streng
an.

»Mord ist nicht lustig, Mrs. Charleston«,

erklärte sie. »Er mag vielleicht unterhaltsam
sein, aber lustig ist er niemals.«

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12

Die große Standuhr im Speisesaal des

verriegelten und verrammelten Hauses mit
ihrem bedrückenden Tick-tacken und den
strengen altmodischen römischen Ziffern
hatte

unbestechliche

zweiundzwanzig

Minuten heruntergetickt, seit Lionel Twain
seine unheilvolle Ankündigung gemacht
hatte und seit seinem dramatischen Abgang
um genau dreiundzwanzig Uhr.

In dem allgemeinen Durcheinander, das

dem Verschwinden von Lionel Twain gefolgt
war, hatten sich alle irgendwo wieder hinge-
setzt und dabei war Sam Diamond zufällig
genau neben die schnarchende Schwester
Withers geraten. Plötzlich unterbrach er die
gespannte Stille, die seither in dem Raum
herrschte.

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»Aufhören!«
Alle zuckten zusammen. Aber sie hielten

sich weiter bei den Händen und keiner
wagte, einen Ton zu sagen. Tick, kam es von
der alten Standuhr, die Zeit verrann. Tack.
Und wieder breitete sich Schweigen aus.

Nur um innerhalb der nächsten halben

Minute ein weiteres Mal von Sam gebrochen
zu werden, der zwischen schmalen Lippen
hervorstieß:

»Aufhören, habe ich gesagt!«
Diesmal überwog die Neugier über die

allgemeine Diskretion.

»Was ist denn, Diamond?« fragte Dick

Charleston.

»Die Schwester kitzelt mich mit dem

Finger in der Handfläche«, antwortete Sam.
»So eine dreckige alte Schlampe.«

»Aber Miss Withers, sowas tut man doch

nicht«, wies Jessie Marbles sie streng
zurecht.

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Miss Withers kicherte, ein winzig kleines

Kichern wie ein kleiner tropfender Wasser-
hahn. Aber dieses winzige Geräusch wurde
plötzlich

scharf

abgeschnitten

und

überlagert.

»Großer Gott!«
Es war wieder einmal Dora Charleston,

mit schriller, angstvoller Stimme.

»Was ist los?« fragte Milo Perrier

stellvertretend für alle. »Sehen Sie!« rief
Dora.

Sie machte ihre rechte Hand aus der

Kette frei und wies zur Tür.

Dort in der offenen Tür stand die taub-

stumme Köchin. Ihr Gesicht war aschfahl,
der Mund weit, weit aufgerissen, verzweifelt
versuchten ihre Lippen, Worte zu formen.
Ihr ganzer Körper war verkrampft vor
Anstrengung.

»Was –«,

hauchte

Tess

Skeffington

entsetzt. »Was macht sie da?«

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»Ich glaube«, antwortete Miss Marbles

mit ihrer ganzen Autorität, »daß sie sich
gerade die Seele aus dem Leib schreit.«

Milo Perrier riß seine beiden Hände los

und marschierte quer durch den Saal auf die
Köchin zu, die immer noch mit weit aufgeris-
senem Mund dastand.

»Was ist los?« fragte er sie. »Was ist

passiert?«

Das arme, taubstumme Geschöpf schaffte

es endlich, seinen schweigend schreienden
Mund zu schließen. Es wandte sich um und
wies energisch in Richtung Küche.

»Stimmt was nicht in Küche?« fragte Sid-

ney Wang, der gleichfalls aufgestanden war
und sich zu Milo Perrier gestellt hatte.

Plötzliche Angst durchzuckte Perriers

Gesicht.

»Was ist passiert?« fragte er eindringlich.

»Was ist mit unserem Dinner?«

Sam Diamond trat zu seinen Kollegen.

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»Ist da jemand drin, da in der Küche?«

fragte er.

Jetzt kam Dick Charleston auch noch

dazu.

»Jemand ist in der Küche bei dem Din-

ner?« versuchte er sein Glück.

Sidney Wang trat einen Schritt zurück.
»Köchin kann nicht hören und nicht

sprechen«, stellte er fest.

Sie sahen einander verblüfft an.
Aber noch war nicht alles verloren. Das

taubstumme Mädchen wühlte in seinen
Kleidertaschen herum. Schließlich zog es
eine Notiz heraus, die per Maschine auf eine
kleine Karte geschrieben worden war. Sie
händigte die Karte Wang aus.

Wang las sie gleich laut vor.
»Da steht folgendes: ›Ich glaube, der But-

ler ist tot. Mein Name ist Yetta. Ich arbeite
donnerstags nicht. Unterschrieben: Acme
Briefschreibdienst.‹«

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»Das müssen wir gleich untersuchen,

Wang«, sagte Milo Perrier. »Irgendeiner
muß leider den Raum verlassen und nachse-
hen, was da passiert ist.«

»Nicht irgendeiner«, antwortete der

chinesische Detektiv. »Sondern irgendzwei.
Besser vielleicht noch irgenddrei.«

Die anderen verstanden, worauf er hin-

auswollte. In dieser speziellen Nacht sollte
niemand allein sein.

»Mr. Diamond, Mr. Charleston«, sagte

Wang. »Sie bleiben hier bei anderen. Miss
Marbles, Monsieur Perrier und ich werden
untersuchen.«

Aber plötzlich, wie als Antwort auf seine

Ankündigung, erscholl hinter den verram-
melten

Fenstern

ein

gewaltiger

Donnerschlag.

»Mr. Diamond«, fiel Milo Perrier assozi-

ativ ein, »Sie haben eine Knarre dabei.
Machen Sie, wenn nötig, Gebrauch davon.«

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»Das macht noch mal zehn Piepen pro

Stunde zusätzlich, Frenchie«, sagte Sam.

Die drei warfen ihm einen mißbilligenden

Blick zu und gingen zu der offenen Tür.

Draußen in der Halle versuchten die un-

erschrockenen drei sich ihren Weg zur
Küche zu bahnen und sahen mit Fassung
dem entgegen, was immer sie dort auch er-
warten mochte und was das stumme
Schreien hervorgerufen hatte.

Jessie Marbles durchquerte die rüs-

tungsstrotzende und mit ihren gefährlichen
Waffen gespickte Halle resolut und rieb sich
frohlockend die Hände.

»Na, wenigstens«, rief sie fröhlich und

ihre Stimme echote unheilvoll von der hohen
Decke zurück, »wenigstens endlich eine
Leiche. Da haben wir doch schließlich was in
der Hand.«

Wang und Perrier schienen diese Be-

merkung nicht für besonders geschmackvoll
zu halten, aber die Pflicht rief, und so

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marschierten alle drei weiter auf die gebeizte
Holztür zu, die zu den Wirtschaftsräumen
führte. Schweigend gingen sie hindurch. Ein
langer, nackter Korridor lag vor ihnen. Gele-
gentlich ängstlich nach rechts und links
blickend, folgten die beiden männlichen
Detektive den resoluten Schritten ihrer
Kollegin.

Endlich erreichten sie die Küchentür.

Wang trat einen Schritt vor, um sie als Kava-
lier für Miss Marbles zu öffnen. Mit dem
Türknauf in der Hand hielt er inne.

»Halt«, befahl Perrier.
Wangs

Hand

verharrte

auf

dem

Türknauf.

»Fingerabdrücke«, erklärte Milo Perrier.
»Ihre«, fuhr er fort. »Hier nehmen Sie –

wie sagt man gleich? -Taschentuch.«

»Mouchoir«, murmelte Wang in sich

hinein, während er das sorgfältig gefaltete
Etwas entgegennahm, das ihm der Belgier
aufdrängte.

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Er benutzte es, als er den Türknauf dre-

hte. Langsam und knirschend gab die Tür
nach. Die drei Detektive schlichen einen Sch-
ritt nach vorn und spähten hinein.

Ein erstaunlicher Anblick bot sich ihren

Augen (hatten Sie etwas anderes erwartet?).

Auf einem Stuhl an dem großen Tisch

mitten in der großen, altmodischen Küche
saß Benson, der Butler; aber sein Kopf war
vor ihm auf die Tischplatte gesunken, wie
abgeknickt, und seitlich von ihm baumelten
seine Arme leblos herab.

Die drei Detektive näherten sich ihm mit

äußerster Vorsicht.

»Ist er…?« fragte Miss Marbles.
»Sieht aus…«, sagte Sidney Wang.
»Scheint so…«, setzte Milo Perrier hinzu.
Ihre drei angefangenen Sätze paßten fa-

belhaft zusammen. Sehr… tatsächlich, so
schien es um den Butler zu stehen. Sidney
Wang trat ein paar Schritte vor und berührte
die zusammengesunkene Gestalt.

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»Halt«, sagte Milo Perrier scharf.
Wang hielt inne.
»Nichts

berühren«,

befahl

Perrier.

»Fingerabdrücke.«

Wang machte ein kluges Gesicht.
»Genau«, sagte er, »Bleistift!«
»Bleistift!« sagte Perrier seinerseits.
Wie ein Mann griffen die beiden Detekt-

ive in ihre Brusttaschen. Wie ein Mann bra-
chte ihre jeweilige Hand einen Bleistift mit
Radiergummiende zum Vorschein. Wie ein
Mann hielten sie die Bleistifte mit dem Radi-
ergummiende voraus, und wie ein Mann
wiesen sie damit auf des Butlers Kopf.

Und wie ein Mann steckten sie die Radi-

ergummienden ihrer Bleistifte von jeder
Seite (rechts und links) dem Butler in die
Ohren.

»Eins. Zwei. Drei.«
Und hoben sie an. Der Kopf kam hoch

und fiel dann rückwärts über die Stuhllehne.

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Der Mund stand weit offen. Keiner hätte
toter sein können.

Sidney

Wang

nahm

das

leblose

Handgelenk.

»Kein Puls«, stellte er fest. »Kein Herz-

schlag. Wenn sich der Zustand nicht ändert,
ist dieser Mann tot.«

Er ließ das leblose Handgelenk wieder

fallen.

»Hatte schon immer etwas blutleere

Handgelenke, der gute Benson«, sagte Perri-
er als Abschied.

Er beugte sich vor und untersuchte den

Körper sorgfältig. »Keine Anzeichen von Ge-
walteinwirkung«, erklärte er schließlich.

»Moment«, sagte Miss Marbles. »Was ist

das?«

Sie beugte sich aus ihren gewaltigen

Hüften vor und schnüffelte ausgiebig an
einem Becher mit bräunlichem Inhalt, der
auf dem Küchentisch direkt vor dem Stuhl
des Butlers stand.

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»Was halten Sie davon, Perrier?« fragte

sie.

»Gift, n’est-ce pas?«
»Nein«, sagte Jessie Marbles. »Kein

n’est-ce pas. Kakao!«

»So«,

meinte

Perrier

gedankenvoll.

»Dann kennen wir wenigstens den Mörder.«

Aber der chinesische Detektiv schüttelte

seinen orientalischen Kopf, er war absolut
nicht einverstanden.

»Nein, nein«, sagte er. »Mr. Twain sagt,

Opfer sitzt an unserer Tafel. Butler war nicht
an Tafel. Butler nur umgebracht, um uns
vom eigentlichen Mord abzulenken, der noch
bevorsteht.«

Und, wie zur sofortigen Bestätigung sein-

er Worte, wies Miss Marbles, die sich eben
von ihrer Untersuchung des mysteriösen
Kakaobechers aufgerichtet hatte, auf die
Wand gegenüber, an der sie etwas entdeckt
hatte.

»Sehen Sie!« sagte sie.

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An der Wand, auf die sie zeigte, hing eine

ganze Messersammlung. Sie begann mit
einem

klitzekleinen

Messerchen

für

Tafelobst, dann war ein Messer größer als
das andere, und schließlich das letzte war
von einer Größe, mit der man Kürbisse
schneiden konnte. Die mittlere Messerfuge
jedoch war leer.

»Zwölf mal mit einem Metzgermesser«,

zitierte Jessie Marbles bedächtig.

»Elfmal mit einem Metzgermesser«, zit-

ierte

Milo

Perrier,

sie

ebenso

sanft

berichtigend.

»Elf oder zwölf, was Unterschied?« zit-

ierte Sidney Wang falsch. »Was Unterschied,
so lange tot?«

Milo Perrier sah schnell von einer Seite

zur anderen.

»Das bedeutet, daß die anderen noch im-

mer in Gefahr sind«, sagte er, »in tödlicher
Gefahr.«

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»Genaue Uhrzeit, bitte?« befahl Sidney

Wang.

Perrier zog seine Taschenuhr hervor und

studierte sie ernsthaft.

»Dreiundzwanzig Uhr einunddreißig und

sechsundfünfzig Sekunden.«

»Noch achtundzwanzig Minuten und

keine Sekunde länger bis zum Mord«, sagte
Wang.

»Wie die Zeit vergeht«, fügte Miss

Marbles hinzu. »Wenn man sie angenehm
verbringt.«

Aber da war Wang schon aus anderem

Holz.

»Schnell«, rief er mit fest entschlossener

Stimme. »Alle sofort zurück in Speisesaal.
Müssen

alle

zusammen

sein

um

Mitternacht.«

Jessie Marbles wollte gleich loslaufen,

aber sie wurde von Milo Perrier aufgehalten.

»Einen Augenblick«, sagte er mit noch

entschlossenerer Stimme (dieser Chinese

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hatte schließlich nicht alle harten Töne für
sich gepachtet).

Schnell ging er noch einmal zu der

zusammengesunkenen Gestalt von Benson,
dem Ex-Butler, hinüber. Aus der fest ver-
schlossenen Faust zog er ein kleines,
zerknülltes Stückchen Papier. Mit größter
Sorgfalt strich er es glatt.

»Was ist das?« fragte Jessie Marbles und

konnte

ihre

Spannung

kaum

mehr

verbergen.

»Das ist eine Rechnung«, sagte Perrier

und entzifferte mit zusammengekniffenen
Augen die Schrift auf dem Papierchen. »Ja-
wohl, alles hier ist gemietet worden – wie
sagt man gleich – für eine Nacht angeheuert.
Der Butler, die Köchin, das Essen, die
zusätzlichen Stühle an der Speisetafel, das
Service…, einfach alles.«

»Sie meinen…?« fragte Miss Marbles und

stubste ihn kollegial in den dicken Bauch.

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»Jawohl«, antwortete er und ließ diese

Behandlung kommentarlos durchgehen, »ja-
wohl, der ganze Mord samt Zubehör scheint
eingekauft worden zu sein.«

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13

Twains Gäste und gleichzeitige Konkur-

renten hatten zwar in etwa erfahren, was er
für sie als das Ergebnis künstlerischer
Vorausplanung in petto hielt. Trotzdem
fühlte sich der Gastgeber wieder ganz glück-
lich, als er aus einem seiner zahlreichen Mik-
rophone den Worten lauschen konnte,
welche die drei Detektive auf ihrem Rückweg
von der Küche durch die große Halle zum
Speisesaal wechselten, bevor sie den anderen
Gästen von ihrer schrecklichen Entdeckung
berichten konnten.

»Wenn Sie recht haben sollten, Wang,

daß nämlich der eigentliche Mord noch be-
vorsteht«, betonte Jessie Marbles, »so bleibt
doch die Tatsache bezüglich des toten
Butlers.«

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»Und das wäre?« fragte Milo Perrier.
»Daß es zweifellos Twain war, der ihn

umgebracht hat«, sagte Miss Marbles. »Der
Mann ist verrückt.«

Ein Schauder lief ihr über den breiten

Rücken.

»Verrückt, ja«, stimmte Milo Perrier zu.

»Aber kein Schwachkopf. Ich hoffe, daß wir
noch zeitig kommen.«

Alle drei eilten in Richtung auf den

Speisesaal. Wang, der als erster ankam,
packte die Knäufe der großen Doppeltüre
und zog. Nichts rührte sich. Er zog kräftiger.
Aber

die

Tür

widerstand

seinen

Bemühungen.

Wang wandte sich stirnrunzelnd an die

anderen beiden.

»Zugeschlossen«, sagte er.
»Sam Diamond hat wahrscheinlich den

Schlüssel von innen im Schloß umgedreht«,
antwortete Jessie Marbles. »So etwas würde
er schon aus Vorsicht tun.«

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Milo Perrier trat an die Tür und klopfte

energisch an.

»Schon gut, Diamond«, rief er. »Alles in

Ordnung. Ich bin’s und Milo Perrier. Bitte,
machen Sie auf.«

Nichts als Stille von drinnen.
Milo Perrier klopfte noch einmal, noch

lauter.

»Diamond!« rief er. »Charleston? Sind

Sie da drin?«

Hinter der Tür rührte sich nichts.
Die drei Detektive sahen einander beun-

ruhigt an. Milo Perrier hob zum dritten Mal
die Faust gegen die Tür und schlug sie so
laut er konnte dagegen.

Die nachfolgende Stille schien um so

intensiver.

»Diamond?« schrie er ganz verzweifelt.

»Charleston? Diamond? Charleston?«

»Versuchen Sie mal Charleston-Dia-

mond«, schlug Wang vor.

»Charleston? Diamond?«

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Und noch immer nicht das kleinste

Flüstern als Antwort.

»Schnell«, schlug Sidney Wang vor, »ein-

er geht zurück in Küche und holt Speisesaal-
Schlüssel aus Hosentasche von totem
Butler.«

Perriers Gesicht verfärbte sich zu einem

hübschen Grünton, irgendwo zwischen Nil-
wasser und olivfarben mit einem Hauch von
Smaragd vielleicht.

»Sie brauchen das nicht immer so

betonen ›toter Butler‹«, meinte er vorwurfs-
voll. »Schlimm genug, wenn ich meine Hand
in seine Hosentasche stecken soll.«

Aber trotzdem machte sich der tapfere

kleine Kerl auf den Weg in Richtung auf die
Wirtschaftsräume. Um Fingerabdrücke küm-
merte er sich jetzt nicht mehr, jetzt hielten
sich die Worte »Hosentasche« und »tot«
und »Butler« zu penetrant in seinem Kopf,
sooft

er

auch

versuchte,

sie

wieder

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loszuwerden. Er griff entschlossen nach dem
Knauf der Küchentür und warf sie zurück.

Über sein eierförmiges Gesicht breitete

sich der Ausdruck schieren Entsetzens aus.

Und das war, alles in allem, wohl auch

gerechtfertigt.

Denn auf dem gleichen Stuhl, wo vor

kaum zwei Minuten alle drei die leblose
Gestalt von Benson, dem Butler, gesehen
hatten, lagen jetzt nur seine Kleider. Die kor-
rekte schwarze Jacke, das fleckenlose, weiße
Hemd und die üblichen gestreiften Hosen.
Der komplette Butler-Anzug. Es standen
auch noch zwei Schuhe gleich neben dem
Stuhl auf dem Boden, tadellos geputzte
schwarze Schuhe. Darin lagen zwei Socken,
elegante schwarze Socken, wovon einer an
diesem Morgen verkehrtherum angezogen
worden zu sein schien (was ja, wie man weiß,
immer Unglück bringt).

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Milo Perrier starrte entgeistert auf den

leeren Anzug. Langsam formten seine Lip-
pen einige Silben.

»Heilige merde!«
Inzwischen hatte am Speisesaal Miss

Marbles das Kommando ergriffen. Ihre
solide, entschlossene, gerötete Faust don-
nerte unaufhörlich gegen das alte, kostbare
Mahagoni der Flügeltüren.

»Miss Withers?« rief sie mit befehlsge-

wohnter Stimme. »Miss Skeffington?«

Die Türen erzitterten unter dieser Kraft.

Die Faust von Miss Marbles hat schon so
manche wildgewordene Henne gebändigt, zu
Hause in ihrem kleinen Dorf in Sussex.

»Miss Skeffington? Miss Withers?«
Miss Marbles Stimme war in extremen

Notfällen schon oft von der Küstenwache in
Sussex ausgeliehen worden während einiger
besonders nebliger Nächte, und sie hatte
damit manch ein Schiff sicher fast bis
Frankreich geleitet. Aber hier erhielt sie

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nicht die geringste Antwort von der anderen
Seite der Tür.

Hinter ihr erschien plötzlich Milo Perrier.

Sein eiförmiges Gesicht hatte von grün zu rot
übergewechselt, mit eher einem leichten
Purpurhauch und hie und da ein Fleckchen
rubinrot.

Miss Marbles wandte sich zu ihm um, um

die Schlüssel zum Speisesaal in Empfang zu
nehmen. Aber er brachte nur stammelnd
zweieinhalb Worte heraus.

»Er ’s weg!«
»Wer ’s weg?« fragte Jessie.
»Der

Butler.

Seine

Leiche

ist

verschwunden.«

Er öffnete mühsam seine verkrampfte

Faust, mit der er den Speisesaalschlüssel
umklammert

hatte,

den

er

in

der

Hosentasche gefunden hatte. Die gestreiften
Butlerhosen lagen auf der Sitzfläche des
Stuhls, auf der vorher der Butler tot

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zusammengesunken war. Er überreichte den
Schlüssel Sidney Wang.

Wang sah auf den Schlüssel hinab und

runzelte die Stirn, soweit sich das ein eini-
germaßen abgebrühter Orientale leisten
konnte.

»Wenn Butler weg ist«, fragte er, »wo

haben Sie dann Schlüssel gefunden?«

»In seiner Hosentasche«, antwortete Per-

rier tapfer.

»Seiner Hosentasche?« bohrte Jessie

Marbles zweifelnd.

»Genau«, sagte Perrier und riß seine an-

geschlagenen Nerven zusammen, um es
ihnen zu erklären. »Jemand hat die Leiche
gestohlen, aber seine – wie sagt man doch –
seine Kleider dagelassen.«

»Seine – wie sagt man doch – Kleider

zurückgelassen?« fragte Jessie Marbles.
»Höchst merkwürdig. Wer kann an einem
nackten Toten Interesse haben?«

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Sidney Wang und Milo Perrier warfen

sich lange, bedeutungsvolle Blicke zu.

»Denken Sie auch«, sagte Perrier dann

langsam, »was ich…«

»Oooh la la! Verrückt, aber ooh la la!«
»Genau«, sagte Wang.
In

Jessie

Marbles

Augen

stand

Entschlossenheit.

»Schnell«, sagte sie zu Wang, der scharf

nachdenkend dastand und den Schlüssel in
der Hand hielt, den Perrier ihm ausge-
händigt hatte.

»Schnell, macht diese Türen auf. Da drin

scheint etwas oberfaul zu sein.«

Hastig schob Wang den Schlüssel ins

Schlüsselloch. Seine Hände waren feucht
und rutschig, aber er schaffte es, den Schlüs-
sel umzudrehen. Er riß am Türknauf, seine
schwitzenden Hände glitten ab. Wütend wis-
chte er sie an seiner kostbaren chinesischen
Abendrobe ab, und versuchte sich noch ein-
mal an dem Türknauf. Und dieses Mal hatte

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er Erfolg. Mit einer einzigen Bewegung stieß
er beide Flügeltüren weit auf.

Fassungslos standen alle drei da.
Ihre schlimmsten Befürchtungen, die in

ihnen aufgestiegen waren, als sie auf all ihr
Klopfen und Rufen nicht den geringsten Laut
gehört hatten, wurden wahr. Aber selbst
wenn sie die ganze Nacht vor den Türen
gestanden und darüber nachgedacht hätten,
wäre keiner von ihnen darauf gekommen,
was sie jetzt vor sich sahen.

Der Speisesaal war nicht in ein Schlacht-

feld verwandelt worden, mit Leichen über-
sät. Lionel Twains Gäste lagen nicht gefesselt
und geknebelt dort, wo sie sie zuletzt gese-
hen hatten.

Sie waren nur ganz einfach überhaupt

nicht da.

Alles in dem großen Speisesaal war

genauso wie zu dem Zeitpunkt, als die drei
sich auf die Expedition zur Küche gemacht
hatten,

um

festzustellen,

was

die

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taubstumme Yetta so aus der Fassung geb-
racht hatte. Nur war nicht mehr die leiseste
Spur von einem menschlichen Wesen zu
sehen.

Die alten, eichenholzgetäfelten Wände

umgaben nach wie vor die lange, lange
Speisetafel mit dem feinen weißen Tischtuch
genau wie noch vor fünfzehn Minuten. Die
Standuhr an der Wand tickte weiterhin un-
barmherzig die Minuten fort, die ihnen bis
Mitternacht noch blieben. Der mottige Elch-
kopf über dem Kamin betrachtete nach wie
vor die Szenerie unter sich. Die Sup-
penschüsselchen vor jedem Stuhl waren
noch genauso leer wie eh, seit Benson – in-
zwischen verschieden – vergebens versucht
hatte, ihnen den ersten Gang des ver-
sprochenen Dinners zu servieren. Sogar das
Loch im Tischtuch vor Wangs Platz war noch
immer da.

Jedoch von Dick Charleston und Dora

Charleston,

von

Sam

Diamond,

dem

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Knallharten, und von Tess, die nicht von
gestern

war,

von

dem

ergebenen

Secrétaire-ChauffeurMarcel, von der fried-
lich schnarchenden Miss Withers, von dem
hellwachen Adoptivsohn Nr. 3 Willie – nicht
die geringste Spur. Auch Yetta, die Köchin,
stumm

und

taub,

war

gänzlich

verschwunden.

Langsam machten die drei Detektive ein

paar Schritte in den leeren Raum.

»Hallo?« rief Jessie Marbles mit ihrer

von der Sussex-Küstenwache so geschätzten
Stimme. »Hallo? Wo seid ihr alle?«

Aber sie wußte gleich, daß es keinen Sinn

hatte.

»Saal ist voll von fehlenden Leuten«, be-

merkte Wang mit der ganzen Weisheit des
Ostens.

Aber auch die ganze Weisheit des Fernen

Ostens konnte nichts an der nackten Tat-
sache ändern, der sie sich gegenübersahen.

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»Ich versuche es mal an der anderen

Tür«, sagte Milo Perrier.

Und damit ging er los, aber etwas in der

gebeugten Haltung seiner Schultern schien
darauf hinzuweisen, daß er nicht wirklich er-
wartete, daß die sieben fehlenden Gäste
hinter der Tür Schlange stehen würden, um
wieder hereinzukommen.

Als er die Tür öffnen wollte, war sie ver-

schlossen. Sofort bückte er sich, um durch
das Schlüsselloch zu sehen. Und da steckte
von der anderen Seite der Schlüssel.

»Zugesperrt«, sagte er zu den anderen.

»Zugesperrt, und zwar von innen.«

Sidney Wang war tief in Gedanken ver-

sunken. Was sollte er auch sonst tun, denn
von Zeit zu Zeit war er der weisen orientalis-
chen Masche müde.

»Beide Türen von innen verschlossen«,

sagte er, »und kein Weg nach draußen…«

Milo Perrier gab die Untersuchung der

Tür und ihres Schlosses auf. »Gefällt mir

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nicht«, meinte er. »Gefällt mir überhaupt
nicht.«

Nun, so etwas mußte ja gesagt werden,

bevor der Fall erledigt war und Milo Perrier
achtete sehr darauf, die besten Passagen für
sich zu beanspruchen.

»Mir gefällt’s schon«, gab Sidney Wang

zurück. »Aber ich verstehe nicht.«

Ein Punkt für mich, dachte er bei sich.
»In all den Jahren«, verkündete Miss

Marbles, »ist dies das Zweitseltsamste, was
mir je begegnete.«

»Und was war an erster Stelle?« erkun-

digte sich Perrier teilnahmsvoll.

»Jemand, der einen toten, blinden, nack-

ten Butler klaute.«

Die drei sahen sich noch einmal in völli-

ger Ratlosigkeit in dem großen leeren Saal
um. Aber noch war Sidney Wang nicht
geschlagen. Ein gerissener Ausdruck trat in
seine Augen. Schnell ging er zu der ihm
nächstliegenden eichenholzgetäfelten Wand.

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Mit geschickten, wissenden Fingerspitzen
untersuchte er jeden Quadratzentimeter.

»Vielleicht hat Saal noch einen Aus-

gang«, sagte er. »Geheimgang irgendwo,
vielleicht.«

Ein Hoffnungsschimmer glomm plötzlich

in Miss Marbles und Milo Perriers Augen
auf. Ein Geheimgang, natürlich.

Hatten sie davon in früheren Fällen nicht

schon Dutzende gehabt? Vielleicht in den
fast vergessenen Tagen ihrer ersten Aben-
teuer, als die Kunst noch ein wenig primit-
iver war, aber damals gab’s so viele davon.
Und, zum Teufel, wenn ihnen jetzt wieder
einer begegnen sollte, sie wußten noch, wie
man damit umging. (Man tastet mit geübten
Fingern jeden Quadratzentimeter ab, bis
man in der Holztäfelung eine winzige
Unebenheit entdeckt. Dann drückt man da-
rauf; die scheinbar solide Wand gibt nach;
ein winziger Spalt zeigt sich, und ohne einen
weiteren Gedanken – und natürlich auch

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ohne den offiziellen Polizei-Kollegen eine
Silbe davon mitzuteilen – stürzt man sich in
den schmalen Gang. An dessen Ende wird
man von den Bösewichten in Empfang gen-
ommen; höchste Lebensgefahr besteht; eine
einzige Tollkühnheit und alles ist über-
standen. Ganz leicht.)

Aber im nächsten Augenblick war die

Hoffnung erloschen.

Irgendwo von oben dröhnte eine Stimme

auf sie herab. Man konnte sie gleich
erkennen. Es war die Stimme ihres freund-
lichen Gastgebers, Lionel Twain.

»Falsch«, sagte er platt. »Kein Ge-

heimgang, Mr. Wang.«

Sidney Wang wirbelte herum.
»Da!« rief er. »Stimme kam aus Kuh an

Wand.«

»Elch!« schrie die Stimme aus dem mot-

tigen

Kopf.

»Elch!

Elch!

Elch!

Sie

Schwachkopf!«

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Aber wenn Lionel Twain wütend werden

konnte – jemand anders konnte das auch.

Milo Perrier pflanzte sich vor dem Kopf

auf und bot seine Breitseite. (Seine Breitseite
war seine Vorderfront. Er war halt ein feister
kleiner Gourmet.)

»Wo sind Sie?« verlangte er zu wissen.

»Was haben Sie mit den anderen gemacht,
Sie… Sie Wahnsinniger?«

»Aha«, kam es von dem Elch triumphier-

end

zurück.

»Schon

steckengeblieben?

Brauchen Sie jetzt schon ein paar clous,
Monsieur
Perrier?«

»Clous?« schrie er. »Ich finde meine

Clous alleine. Von Ihnen brauche ich keine
Hilfestellung, Sie Schurke!«

Sidney Wang legte seinem Kollegen

beschwichtigend die Hand auf die zorn-
bebende Schulter.

»Regen Sie ab«, empfahl er. »Mensch in

Diskussion mit Elchkopf ist wie Zug ohne
Räder. So sind Sie sehr schnell nirgendwo.«

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Aber Perrier fuhr zornig herum und sein

Gesicht drückte den ganzen inneren Aufruhr
aus.

»Ach, seien Sie doch bloß still!« fuhr er

den Chinesen an.

»Ich hab’ schon längst genug von Ihren –

wie sagt man gleich? – weisen Sprüchen.«

»Wenn jemand genug hat von – wie sagt

man gleich? – weisen Sprüchen«, fing Wang
wieder an, aber Perrier schnitt ihm zornig
das Wort ab.

»Was?« schrie er. »Haben Sie schon

wieder einen auf Lager?«

»Pscht, meine Herren, bitte«, versuchte

Jessie Marbles zu vermitteln.

Aber wo er nun schon mal bei weisen

Sprüchen war, konnte man Sidney Wang
kaum mehr Einhalt gebieten. Und nachdem
er am heutigen Abend schon eine so glän-
zende Gelegenheit versäumt hatte, die Sache
mit den tückischen Straßen und frischen

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Pilzen,

konnte

er

sich

nur

schwer

zurückhalten.

Er holte tief Luft.
»Wenn jemand genug hat von weisen

Sprüchen«, wiederholte er mit aller ihm zu
Gebote stehenden Bedeutsamkeit.

»Wenn jemand anfängt, verrückt zu wer-

den und immer weiter und weiter macht…«,
sprang Milo Perrier dazwischen.

»Besonders jemand mit Eierkopf«, gab

Wang zurück, »ist genau wie bei Dame mit
Riesenhintern –«

»Um Dame mit – wie sagt man gleich? –

Riesenhintern geht’s ja hier gar nicht«,
schnauzte Perrier ihn an. »Noch nie, sage ich
Ihnen, in all den Jahren, habe ich –«

»Mann mit vielen Jahren ist wie In-

genieur mit vier Daumen. Er -«

»Und mir ist auch noch niemals ein In-

genieur mit vier, vier – wie sagt man gleich?
– Daumen begegnet. Und selbst wenn –«

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»Ha, Ha-ha, ha«, ertönte es aus dem

Elchkopf über ihnen. Sofort hörten sie auf
und starrten zu dem mottigen Kopf empor.

»Ha, ha«, kam es von da, »Unstimmig-

keiten in der Rangordnung, eh?«

Es hielt inne und räusperte sich, wie um

ein längeres Gedicht aufzusagen.

Und gleich darauf wurde auch klar,

warum.

»Hust, hust«, machte es.
»Nie hab ich mich so amüsiert, noch ist

der Mord gar nicht passiert.«

Mit dem mißbilligenden Ausdruck einer

Schulmeisterin sah Jessie Marbles zu dem
Elch hinauf.

»Und wir können auf fadenscheinige

Zweizeiler verzichten«, sagte sie streng.
»Also, jetzt spucken Sie’s schon aus, wie man
hierzulande sagt. Was haben Sie mit den an-
deren gemacht?«

»Sie brauchen einen kleinen Fingerzeig,

Miss Marbles?« kam die enervierende

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Stimme aus dem Elchkopf. »Tsst, tsst,
welche Überraschung. Wenn Sie jedoch da-
rauf bestehen…«

Wieder räusperte sich der mottige Elch-

kopf, als wolle er schon wieder ein Gedicht
aufsagen. Und dem war auch so.

»Hust, hust

Sie alle irren sich fatal,
keiner verließ je den Saal.
Zählen Sie von eins bis zehn,
um dann nochmal den Knauf zu drehn.«

Höchst entzückt von seinen poetischen

Talenten,

leistete

sich

der

Elch

ein

vergnügtes, langanhaltendes Kichern.

Aber schließlich hatte selbst er genug von

diesem Eigenapplaus. Abrupt verschwanden
die viel-zu-menschlichen Augen in dem mot-
tigen Tierkopf, um von gläsernen, viel-zu-
elchischen ersetzt zu werden.

»Was zum Teufel soll das heißen?« fragte

Jessie Marbels. »Der Kerl kann nicht einmal

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reimen. ›Keiner verließ je den Saal‹, na, hier
sind sie doch nicht!«

»Augenschein ist nicht immer Wirklich-

keit, Miss Marbles«, wandte Sidney Wang
weise ein. »Schnell, zurück in die Halle.«

»Wozu?« fragte Perrier, etwas sauer, daß

dieser Befehl nicht von ihm kam.

»Wir dürfen wohl kaum annehmen, daß

andere Gäste hier nicht sind«, antwortete
Wang, »aber Elch hat gesagt, sie sind im
Speisesaal. Sehen wir noch einmal nach.«

Milo Perrier zuckte die Achseln. Schließ-

lich mußte man einiges in Kauf nehmen,
wenn man es mit diesen verrückten
Ausländern zu tun hatte.

Auch Miss Marbles zuckte die Achseln,

obwohl das nicht die feine englische Art war,
einen Fall zu klären…

Also

gingen

sie

zurück

in

die

Eingangshalle.

»Bitte schließen Sie Türen, Monsieur

Perrier«, sagte Wang.

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Sorgfältig schloß Milo Perrier die Türen

wieder, die er kurz zuvor unter soviel Schwi-
erigkeiten geöffnet hatte, und das nur, um
vor einem leeren Speisesaal zu stehen.
Wieder zuckte er die Achseln, diesmal so
richtig schön gallisch, von der Schuhsohle
aufwärts.

»Ich verstehe überhaupt nicht, wozu

das…«, sagte er dabei.

»Bitte Ruhe«, sagte Wang.
Unhörbar hatte er konzentriert vor sich

hingezählt. Aber jetzt, großzügig wie er war,
ließ er die anderen zuhören. »… sechs,
sieben, acht, neun, zehn.«

Dann holte er tief Luft.
»Miss Marbles«, sagte er, »würden Sie

freundlicherweise Türen wieder öffnen,
bitte.«

Jessie Marbles warf ihm einen Blick zu,

wie nur englische Ladies ihn für Ausländer
bereithalten (am Nasenrücken herunter).
Aber da ihr keine bessere Idee kam, ergriff

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sie den Türknauf und warf mit einem einzi-
gen Ruck beide Flügel weit zurück. Und
dann riß sie den Mund weit, weit auf vor
Staunen.

Um den langen Tisch in dem alten

Speisesaal saßen Sam Diamond, Privatde-
tektiv aus San Francisco, und Tess Skeffing-
ton, seine Sekretärin, die nicht von – na, Sie
wissen schon.

Auch dabei war Dick Charleston, New

York, Palm Springs und Beverly Hills, mit
Dora, seiner entzückenden (und – Gott sei
Dank – reichen) Frau. Außerdem Willie
Wang, Adoptivsohn Nr. 3 des Superdetekt-
ives Sidney Wang. Ebenso Miss Withers
(schlief immer noch) und Marcel Cassette,
sowohl Sekretär als auch Chauffeur. Und
nicht weit von ihnen saß auch Yetta, das
taubstumme

Küchenmädchen

mit

den

gutgefüllten Kleidertaschen, in denen sie
Karten für alle Gelegenheiten von dem Acme
Briefschreibservice bereit hatte.

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Sie saßen genauso da wie zu dem Zeit-

punkt, als das Kollegentrio sie verlassen
hatte.

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14

Als die drei Detektive benommen in den

so plötzlich wieder voll besetzten Speisesaal
traten, sah als erster Sam Diamond auf.

»Wo sind Sie gewesen, Wang?« fragte er

vorwurfsvoll. »Wir haben uns Sorgen um Sie
gemacht.«

»Was soll das heißen, wo wir gewesen

sind?« gab Miss Marbles sofort zurück. »Wo
sind Sie gewesen???«

Dick Charleston sah sie einigermaßen

überrascht an. »Wir waren hier«, antwortete
er milde. »Hatten Sie nicht gesagt, keiner
verläßt den Saal?«

Jetzt trat Milo Perrier vor und sein eiför-

miges Gesicht strahlte eitle Intelligenz aus.
Er war der Mann, der den Fall des dop-
pelköpfigen Kapitalisten gelöst hatte, die

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seltsame Affäre des Südsee-Ungeheuers, die
Sache mit dem Kronprinzen von Südbosnien
und seinen Handschellen sowie das Aben-
teuer der Vorderzähne der Herzogin.

»Und Sie haben diesen Raum nicht ver-

lassen, solange wir fort waren?« fragte er mit
einiger Schärfe.

»Absolut nicht«, antwortete Dick Charle-

ston, der immer noch nicht recht die son-
derbare Haltung seiner zurückgekehrten
Kollegen verstand.

»Leicht zu beantworten«, sagte Sidney

Wang. »Aber Frage ist schwer zu stellen.«

Sam Diamond fiel plötzlich der eigent-

liche Grund ihres Fortgehens wieder ein.

»Wo ist der Butler?« verlangte er zu

wissen.

»Der Butler?« wiederholte Milo Perrier

todernst. »Il est mort.«

»Mort?« fragte Sam verwirrt. »Wer zum

Teufel ist Mort?«

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Aber für Dora Charleston, eine Dame von

Welt, bedeuteten die Feinheiten der französ-
ischen Sprache keine oder nur wenig
Schwierigkeiten.

»Der Butler ist tot?« fragte sie.
»Butler völlig ermordet«, bestätigte Sid-

ney Wang.

»Vergiftet«, setzte Milo Perrier hinzu.

»Und

trotzdem

fehlte

dort

ein

Metzgermesser.«

»Dann kamen wir hierher zurück, um

Ihnen zu berichten«, erklärte Jessie Marbles.
»Aber die Türen waren abgeschlossen.«

»Ich bin zurückgegangen, um den

Schlüssel aus der Hosentasche des Butlers zu
holen«, fuhr Milo Perrier fort, nachdem er
sich entschlossen hatte, all die unwahr-
scheinlichen Ereignisse auf einmal zu unter-
breiten. »Aber als ich dort in der Küche
ankam, war die Leiche des Butlers ver-
schwunden. Er muß nackt verschwunden

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sein, denn seine Kleider wurden fein säuber-
lich an seiner Stelle zurückgelassen.«

Dora Charleston schüttelte benommen

ihren hübschen Kopf. »Das verstehe ich
nicht«, sagte sie. »Warum sollte jemand ein-
en toten, nackten Körper stehlen?«

Dick Charleston beugte sich zu ihr

hinüber:.

»Nun, mein Liebes, es gibt manchmal

Leute…«

Was dann kam, flüsterte er. Es war ein

recht langes Geflüster. Derweil wurden Dor-
as Augen größer. Und größer. Und immer
größer und größer.

»Uh, ist das eklig«, brachte sie schließ-

lich hervor. »Das ist aber wirklich eklig!«

Aber Jessie Marbles gehörte nicht zu den

Menschen, die sich von Einzelheiten ablen-
ken lassen und mögen sie noch so eklig sein.
Zielstrebig kam sie wieder zur Sache.

»Dann, als Monsieur Perrier die Kleider

ohne Körper gefunden hat«, sagte sie, »und

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mit dem Schlüssel für die abgesperrten
Türen zurückkam, öffneten wir sie. Sie alle
waren weg, kein Mensch war mehr da.«

Jeder sah den anderen an. Sie schienen

alle da zu sein und völlig in Ordnung.

»Der Elchkopf da oben«, fuhr Jessie

Marbles fort, da einige zu wagen schienen,
ihr nicht zu glauben, »sagte uns, keiner hätte
verlassen den Saal,
also zählten wir bis zehn
und versuchten’s noch einmal. Und da waren
Sie alle hier.« Sie warf einen Blick in die
Runde, der keinen Widerspruch duldete.

»Ich gehöre gewiß nicht zu den Leuten,

die zu Übertreibungen neigen«, fügte sie
hinzu. »Aber ich sage Ihnen, zum ersten Mal
in meinem Leben war ich zu Tode
erschrocken.«

»Ich mag sie«, wandte sich Dora vertrau-

lich an Tess Skeffington. »Ich mag sie
wirklich.«

Aber…

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Plötzlich zerrissen zwei Schüsse die relat-

iv friedliche Stille. Sie schienen aus Richtung
der Wirtschaftsräume zu kommen.

»Schüsse,

Paps«,

informierte

Willie

Wang unverzüglich seinen respektablen
Vater.

»Schüsse, Monsieur«, kam es wie aus

einem Munde auch von Marcel, gerichtet an
seinen respektablen Chef.

»Schüsse,

Sam«,

sagte

Tess

keine

Sekunde später ihrem respektablen – na, Sie
wissen schon, was.

»Schüsse, Dickie«, ließ Dora ihren re-

spektablen Ehemann wissen. (Nun, heiratet
man genug Geld, wird man von selbst re-
spektabel und wohl angesehen.)

Withers schnarchte gleichzeitig ihre re-

spektable Chefin an. Die Detektive akzeptier-
ten und goutierten die Information, wobei
Milo Perrier einfiel, daß das bisher das ein-
zige an diesem verflixten Abend war, was er
zu goutieren bekommen hatte.

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Sam Diamond war der erste, der Reflex-

ion in Aktion umsetzte. Vielleicht lag das
daran, daß er nur amerikanisches in amerik-
anisches umzusetzen brauchte und daß ihm
dabei die unschätzbare Eigenschaft zugute
kam, nur diese beiden Sprachen zu sprechen.

»Dieses Mal«, sagte er, »werden Charle-

ston und ich losgehen, um den Fall zu unter-
suchen. Alle anderen warten hier in diesem
Saal.«

Dick Charleston gesellte sich an der Tür

zu Sam. Sidney Wang warf einen schnellen
Blick auf die tick-tackende Wanduhr.

»Vorsichtig, Diamond«, warnte er. »Nur

noch zehn Minuten bis nächster Mord.«

»Ich kenne den Zeitplan«, knurrte Sam

und drehte ihm brüsk den Rücken zu.

Dann gab er seinem Kollegen einen

aufmunternden Klaps auf die Schulter und
sagte: »Na los, Junge, gehn wir.«

Die beiden hatten es eilig und schlugen

die Türen hinter sich zu.

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»Was halten Sie von all dem, Wang?«

erkundigte sich Milo Perrier vertraulich.

Sidney Wang nahm sich Zeit, um zu über-

legen. Aber nicht zu lang und schon hatte er
die Antwort.

»Ist verwirrend.«
»ES. ES. ES ES ES!«
Die Stimme aus dem Elchkopf hallte

durch den Raum. Eine höchst irritierte und
enervierte Stimme.

»ES ist verwirrend«, fuhr der Elch fort.

»Es. Es. Es. Sagen Sie doch endlich Ihre ver-
dammten Pronomen!«

In der Zwischenzeit waren Sam Diamond

und Dick Charleston in dem langen, langen
Korridor, der zur Küche führte. Rasch, aber
doch vorsichtig näherten sie sich der
geschlossenen Küchentür. Als sie schon ganz
nahe waren, zog Sam seinen Revolver.

Die letzten paar Meter schlichen sie

lautlos. Dick streckte die Hand aus und
packte den Türknauf. Er sah Sam an. Sam

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starrte auf die Tür. Er packte den Revolver
fester. Dann nickte er Dick zu.

Dick riß den Türknauf herum und warf

die Tür zurück. Geduckt, mit der Waffe im
Anschlag, sprang Sam vor.

»Großer Gott!« sagte Dick.
»Was is’ denn?« fragte Sam, der zu sehr

mit seinem geduckten Sprung befaßt war, als
daß er sich nebenher noch über das Innere
der Küche hätte Gedanken machen können.

»Er ist wieder da!« kam Dicks Antwort.
Und tatsächlich, jetzt saß der Butler

wieder in genau der Haltung und an gleicher
Stelle, wo Miss Marbles, Sidney Wang und
Milo Perrier ihn zuerst entdeckt hatten.
Zusammengesunken saß er auf dem Stuhl an
dem großen Tisch, sein Kopf lag seitlich auf
der Tischplatte, während seine Arme rechts
und links schlaff herunterhingen.

Nur in einem unterschied er sich von

seinem ersten Auftritt als Toter.

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Das

war

allerdings

ein

großer

Unterschied.

Er war splitterfasernackt. Nackt wie eine

Stripteasetänzerin am Ende ihres Auftritts.
Mit anderen Worten, er war schlicht im
Adamskostüm. Blank und bloß, ohne einen
Faden am Leib – um die Sache kristallklar zu
machen: puris naturalibus. Unbekleidet.

Sam Diamond ging hin.
»Versteh’ ich nicht«, sagte er, »versteh’

ich einfach nicht. Erst wird die Leiche
geklaut und die Kleider dagelassen…

Dann werden die Klamotten geklaut und

die Leiche dagelassen. Wer zum Teufel kön-
nte so etwas machen?«

»Vielleicht«,

meinte

Dick

und

strapazierte sein detektivisches Gehirn, »vi-
elleicht

ein

verrückt

gewordener

Reinigungsmann?«

»Und was ist mit den Schüssen?« fragte

Sam. »Warum auf eine arme kalte Leiche

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schießen, die bereits an Gift eingegangen
ist?«

»Das

ist

wahr«,

antwortete

Dick.

»Schüsse haben wir alle gehört, aber ich sehe
keine Einschüsse.«

Aus allen Winkeln inspizierte er den

nackten Butler, beugte sich über ihn, kroch
so weit es ging unter ihn, fand nichts.

»Weder in den Kopf noch in den Nacken,

weder in den Rücken noch in die Brust ist
geschossen worden«, stellte er fest.

»Sehen Sie ihn sich ganz genau an«,

sagte Sam knapp und zwischen schmalen
Lippen.

»Noch genauer?« fragte Dick und warf

Sam einen argwöhnischen Blick zu. »Einer
von uns muß es machen«, gab Sam zurück.
»Ich bin beschäftigt.«

»Beschäftigt?« fragte Dick mit hochgezo-

gener Augenbraue.

Sam

wirbelte

die

Fünfundvierziger

herum.

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»Jemand muß aufpassen und für den

Notfall bereit sein, oder?« sagte er.

Dick runzelte die Stirn.
»Aber warum stehe ich nicht Wache und

Sie untersuchen alles genau?« schlug er
schließlich vor.

Sam dachte scharf nach mit zusam-

mengepreßten Lippen. »Na gut«, meinte er
endlich. »Wir wechseln uns ab. Sie inspizier-
en die erste nackte Leiche, die wir gefunden
haben, und ich nehme dann die nächste.
Aber beeilen Sie sich. Wir haben nur noch
acht Minuten.«

Dick starrte ihn wütend an. Fair play ist

schön und gut, aber wenn das bedeutete,
daß…

Sam sah ihn genauso unfreundlich an.

Fair play ist Fair play. Und einer mußte
aufpassen.

Solcherlei Gedanken gingen ihm durch

den Kopf, während er angespannt Wache
hielt.

Wenn

jemand

versuchen

sollte,

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hereinzukommen und sie zu stören, dann,
Junge, Junge, denen würde er’s schon zei-
gen. Sollten sie nur kommen, dann… Na
warte…

»Fertig?« fragte er. »Was gefunden?«
»Nicht ein einziges Einschußloch in

diesem Ma-«

Mitten im Wort brach Dick ab.
»Ich sehe etwas«, kam seine gedämpfte

Stimme.

Sam spitzte die Ohren.
»Was?«
Schweigen.
Gedämpftes Schweigen.
»Vergessen Sie’s«, sagte Dick schließlich.
Er richtete sich auf.
»Mein Fehler«, entschuldigte er sich. »Es

– es war kein Einschußloch.«

Sams Stirn runzelte sich verständnislos.
»Wenn er nicht erschossen wurde«,

fragte er laut, »wozu dann die Schüsse?«

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»Trennen und besiegen«, antwortete

Dick.

Sam runzelte doppelt verwirrt die Stirn.
»Was is’?«
»Ablenkungsmanöver«, erklärte Dick so

geduldig er konnte. »Um uns zu trennen.
Twain kann es unmöglich mit uns allen fünf
auf einmal aufnehmen, also plant er, uns so
viel wie möglich zu trennen.«

Langsam dämmerte Verstehen in Sams

Gesicht herauf.

Dick fuhr fort.
»Er gibt uns bedeutungslose Fingerzeige,

um uns in die Irre zu führen, streut uns Sand
in die Augen, verwirrt uns mit bizarren Ban-
alitäten, während all die kostbaren Sekunden
zerrinnen bis zu dem wirklich furchtbaren
Mord, der uns noch bevorsteht.«

Voller Bewunderung hatte Sam die Augen

weit aufgerissen.

»Mann, Sie sind gut, Charleston«, sagte

er. »Sie sind zwar nicht gerade meine

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Kragenweite, aber gerissen sind Sie.« Er
hielt inne.

»Und Sie riechen gut«, fügte er hinzu.

»Sie sind kein Geck, das weiß ich, aber was
zum Teufel sind Sie?«

Dick zuckte müde die Achseln.
»Klasse, denke ich«, schlug er vor.
»So was wie Sie, darauf fliegen die Da-

men, nicht wahr?« fragte Sam lauernd.

»Ich wüßte nicht, was das jetzt…«, gab

Dick mehr kalt als kühl zurück.

»Schon mal ’ne Kellnerin umgelegt?«

fragte Sam.

»Ich bitte Sie.«
»Eine Kellnerin? So ’ne dicke, fette Kell-

nerin? Ich weiß ja nicht, wie diese Gesell-
schaftsziegen so sind, aber das kommt alles
nicht heran an so ’ne schöne große, dicke
Kellnerin. Wenn Sie mal in Verlegenheit
sind, rufen Sie mich an.«

Er wandte sich ab und schämte sich der

Intimgeheimnisse,

die

er

seinem

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neugewonnenen Freund so plötzlich anver-
traut hatte. Mit dem Revolver im Anschlag
machte er sich auf den Rückweg zum
Speisesaal.

»Komischer Knabe«, murmelte Dick

Charleston vor sich hin, als er sich ihm
anschloß.

Wieder erreichten sie die große Empfang-

shalle. Plötzlich blieb Dick Charleston, der
vorausgegangen war, abrupt stehen. Lang-
sam streckte er die Hand nach dem Türknauf
einer kleinen Tür gerade neben ihm aus.

»Was…, was machen Sie da?« flüsterte

Sam Diamond und packte seine Waffe fester.

Dick lächelte ihn entschuldigend an.
»Ich geh’ mal schnell hier rein, um mir

die Hände zu waschen«, sagte er. »Wissen
Sie, nachdem –«

Sam nickte verständnisvoll.
»Ich gehe schon voraus und erzähle den

anderen, was da drin geschehen ist.«

Dick betrat den Waschraum.

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Sam Diamond ging weiter in Richtung

Speisesaal, wobei er sich alle paar Zenti-
meter vorsichtig umsah. Aber nichts schien
die Stille des alten Hauses zu stören.

Schließlich war er am Speisesaal und trat

rasch ein.

»Nun«, sagte er, »Sie werden es nie

glauben, aber –«

Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen

und sah völlig verwirrt und ungläubig um
sich.

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15

Der Speisesaal, den Sam Diamond in der

Überzeugung betreten hatte, daß er seinen
Mitgästen nichts weiter als eine Schilderung
der

bizarren

Vorgänge

um

den

ver-

schwundenen Butler, seine verschwundene
Leiche, seine verschwundenen Kleider, sowie
über das Wiedererscheinen der Leiche zu
geben brauchte, war absolut und total leer.
Der Tisch stand genauso da wie vorher, die
Stühle um ihn herum standen in genau der
Anordnung, wie Lionel Twains Gäste auf
ihnen gesessen hatten in Erwartung des
lange, lange versprochenen Essens. Aber der
Saal war genauso leer und ohne die geringste
Spur eines Menschen wie vorher, als Miss
Marbles, Sidney Wang und Monsieur Perrier
vor circa zwanzig Minuten zurückgekommen

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waren. Vorsichtig ging Sam weiter hinein in
den leeren, hohlklingenden Saal.

»Schon gut«, knurrte er zwischen sch-

malen Lippen hervor, »wo seid Ihr alle?«

Er

kniete

sich

nieder

und

äugte

mißtrauisch unter den langen Tisch mit
seinem schweren, weißen Damasttischtuch.
Nichts.

»Was zum Teufel geht hier vor?« fragte

er sich, indem er sich aufrichtete.

Mit langen Schritten ging er zurück zu

der hohen Tür, und seine Stimme hallte un-
heimlich wider von den hohen Wänden.

»Hey, Charleston! Waschen sie sich

später

weiter.

Wir

haben

neue

Schwierigkeiten.«

Aber auch aus der Halle kam keine Ant-

wort, wo er sich nur vor wenigen Augen-
blicken von Dick Charleston getrennt hatte,
weil dieser sich die Hände waschen wollte,
nachdem er – die nackte Leiche des Butlers

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nach möglichen Einschüssen untersucht
hatte.

Nach wenigen Schritten hatte Sam die

kleine Seitentür erreicht und packte den
Knauf. Sie war verschlossen.

»Von innen zugesperrt«, knurrte er zwis-

chen schmalen Lippen in sich hinein. »Das
kann nur eins bedeuten – leider weiß ich
nicht, was.«

Noch einmal rief er laut:
»Charleston!«
Aber Dick Charleston kam ihm noch im-

mer nicht zu Hilfe. Er machte auf dem Ab-
satz kehrt und ging zurück, den ganzen
Speisesaal hinunter, und trat in die Halle
hinaus. Fast im Laufschritt kam er an der
Badezimmertür an. Er riß sie auf.

»Sie können sich nicht vorstellen, was

ich –«

Mitten im Satz brach er ab.

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Das Badezimmer vor ihm war absolut

und total leer, genau wie der Speisesaal
hinter ihm.

Er durchsuchte jede Ecke. Und er sah

gleich, daß dieser kleine Raum nur eine Tür
hatte. Es gab zwar ein Fenster, aber durch
das konnte kein Mensch entkommen, denn
es war mit dicken, rostigen Eisenstäben ver-
gittert. Ansonsten gab es nur eine Toilette
und

ein

Waschbecken.

Und

in

dem

Waschbecken war nicht einmal Wasser.

Gedankenvoll schloß Sam Diamond die

Tür. Aber er wußte nicht, zu welchen Aktion-
en er als nächstes schreiten sollte, nachdem
er seinen eigenen Augen nicht mehr trauen
konnte.

Als nächstes öffnete er die Tür zum Sch-

lafzimmer der Charlestons, ein Zimmer, das
sich eigentlich im ersten Stock oben irgend-
wo befinden sollte. Auf einem Sessel, von
dem

die

dicke

Staubschicht,

oder

Mehlschicht, flüchtig abgeklopft worden war,

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lag Dick Charlestons Mantel. Überall ver-
streut, hie und da, lagen die süßen kleinen
Dessous von Dora Charleston herum. Auf
dem Bett lag Myron und leckte an
Zuckerwatte-Spinnweben.

Beim Anblick des Eindringlings erhob

Myron sich und stieß ein drohendes Knurren
aus. Schnell schloß Sam wieder die Tür.

»Interessanter Fall«, sagte er zwischen

schmalen Lippen.

Tief in Gedanken versunken machte er

sich auf den Rückweg zum Speisesaal. Die
Türen waren geschlossen.

»Eigenartig«, murmelte er. »Kann mich

gar nicht erinnern, die Tür geschlossen zu
haben…«

Aus dem Halfter unter der Achsel zog er

seine verläßliche Fünfundvierziger. Ganz
vorsichtig legte er seine linke Hand auf den
Türknauf. Ganz, ganz vorsichtig drehte er
ihn um. Kein noch so aufmerksamer Beo-
bachter

auf

der

anderen

Seite

hätte

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bemerken können, daß der Knauf sich be-
wegte. Endlich war er ganz herum. Sam hielt
inne und atmete tief ein. Er warf einen Blick
auf den kurzen Lauf der Fünfundvierziger in
seiner Rechten. Alles bereit.

Dann warf er die Tür auf.
An der langen Tafel im Speisesaal saßen

ganz friedlich alle Gäste Lionel Twains,
außer Dick Charleston.

Sam stand blinzelnd in der aufgerissenen

Tür, die Waffe schußbereit.

»Was ist geschehen?« fragte Milo Perrier.
»Ja«, sagte auch Miss Marbles, »was

waren das für Schüsse?«

»Ich hab’ Hunger, Sam«, beschwerte sich

Tess Skeffington. »Können wir nicht von ir-
gendwo ein paar Hamburger besorgen?«

Sam stand nur da und blinzelte.
Sidney

Wang

lächelte

sein

breites

Orientalenlächeln.

»Dann ist es Ihnen also auch so ergan-

gen?« sagte er zu Sam eingedenk seiner

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eigenen orientalischen Verwirrung, als er vor
dem leeren Speisesaal gestanden hatte, der
dann, nachdem er bis zehn gezählt hatte,
wieder voll war.

Aber Dora Charleston hatte noch eine

wichtigere Frage auf dem Herzen.

»Wo ist mein Dickie?«
Jeder starrte sie an. Ihr Gesicht färbte

sich tiefrot.

»Verzeihung«, schluckte sie. »Ich wollte

sagen, wo ist mein Mann?«

Langsam bewegte Sam den Kopf von ein-

er Seite zur anderen.

»Moment«, sagte er. »Einen Moment

bitte. Irgend etwas ist hier nicht koscher. Ich
werde das ganze noch einmal probieren und
keiner bewegt sich von seinem Platz.«

Er trat ein paar Schritte zurück und war

wieder draußen. Sorgfältig verschloß er die
Türen. Das Ganze wurde in der Halle aus
den Augenhöhlen von über einem Dutzend
Rüstungen

mit

teuflischem

Vergnügen

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beobachtet, denn in den meisten Rüstungen
waren Fernsehkameras verborgen. Ernst und
gesammelt fing er an zu zählen.

»Eins – zwei – drei – komm’ mir vor wie

ein Analphabet – fünf – sechs – sieben – so
zu zählen und auch noch zwischen schmalen
Lippen – acht – neun – zehn!«

Er packte den Türknauf, riß ihn herum

und warf die Türen weit auf.

Da hatte er plötzlich das Badezimmer vor

sich, in das Dick Charleston gegangen war,
um sich nach den mißlichen Vorfällen die
Hände zu waschen. Dick, der mit Seife in den
Händen über das Waschbecken gebeugt
stand, wandte sich um und warf ihm einen
bitterbösen Blick zu.

»Ich hab’ doch gesagt, bin gleich wieder

da«, bellte er wütend.

Erstaunt betrachtete ihn Sam. Zwischen

schmalen Lippen atmete er hörbar ein.
Dann, mit er plötzlichen Wut eines Frustrier-
ten, warf er die Tür krachend wieder zu und

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zog aus seiner Gesäßtasche eine flache
Flasche, setzte sie an die Lippen, warf den
Kopf zurück und trank glucksend. Plötzlich
wurde hinter ihm vorsichtig die Tür geöffnet.
Milo Perrier stand hinter ihm, zusammen
mit allen übrigen Gästen Lionel Twains,
außer dem einen, den Sam im Waschraum
vermutete, aber eben nur vermutete – näm-
lich Dick Charleston.

»Nun?« fragte Milo Perrier. »Wollen Sie

nun wieder hereinkommen oder nicht?«

Benommen ging Sam zurück in den

Speisesaal. Er sah den langen Tisch, die
Stühle, den Elchkopf über dem Kamin, die
große alte Wanduhr mit ihrem Ticktack, die
immer noch dasitzende taubstumme Yetta,
und er sah aus, als könne er das alles nicht
glauben.

»Es ist also wieder geschehen«, sagte er

nach langem, langem Schweigen.

»Was

ist

geschehen?«

fragte

Tess

pflichtgemäß.

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»Noch vor zehn Sekunden«, antwortete

Sam und spuckte jedes Wort förmlich zwis-
chen seinen schmalen Lippen aus, »bin ich
hier hereingekommen und da war dieser
Raum eine Toilette.«

»Wen haben Sie auf Toilette gesehen?«

fragte Sidney Wang.

»Dick Charleston«, antwortete Sam.
»Sie

hätten

wenigstens

anklopfen

können«, wies ihn Dora zurecht.

Aber jemand anders in ihrer Runde hatte

einen weit schwerwiegenderen Einwand zu
machen. Jessie Marbles räusperte sich
energisch.

»Noch zwei Minuten bis Mitternacht«,

sagte sie mit frostiger Stimme, daß es einem
kalt den Rücken runterlaufen konnte. »Falls
es jemanden interessiert.«

Aber Sam war noch viel zu schockiert von

dem, was er gerade durchgemacht hatte, als
daß er auch nur die Stimme seiner alten Fre-
undin gehört hätte.

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»Das gibt’s doch gar nicht«, insistierte er.

»Ich sage euch: acht Leute in einem
Speisesaal können sich doch nicht in ein Klo
verwandeln, wenn nicht…«

Er verstummte.
»Wenn nicht – was, Sam?« fragte die gut

eingespielte Tess. Aber nicht von Sam bekam
sie diesmal eine Antwort. Sondern Sidney
Wang hatte etwas anzubieten.

»Wenn«, meinte er, »das Ganze nie ges-

chehen ist.«

Schnell mischte Milo Perrier sich ein.

Wenn erstaunliche Erklärungen zum besten
gegeben wurden, konnte er nicht beiseite
stehen.

»Ich verstehe, was Sie meinen, Dia-

mond«, sagte er selbstsicher. »Wann ist ein
mit Leuten besetzter Speisesaal kein mit
Leuten besetzter Speisesaal?«

»Wenn«, kam es triumphierend von Miss

Marbles, »wenn es zwei Speisesäle gibt.«

»Genau«, bestätigte Sam.

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»Zwei Speisesäle?« fragte Dora, wie im-

mer auf ihre zauberhafte Art voll höchster
Verwunderung.

»Zwei Speisesäle«, erklärte Wang. »Zwei

Toiletten. Zwei von allem. Mr. Twain ist
elektronisches Genie.«

»Er hat etwas ausgetüftelt«, fügte Perrier

hinzu, »womit er diesen Saal leise und
schnell, praktisch in einem Augenblick, mit
einem genauesten Duplikat dieses gleichen
Raumes austauschen kann.«

Klein-Willie grinste breit.
»Hab’ ich schon die ganze Zeit gewußt«,

behauptete er selbstbewußt.

Milo Perrier schenkte dem keine Beach-

tung. Das hier war Männersache, strikt für
Fachleute.

»Ich werde es vorführen«, kündigte er

an. »Ich gehe jetzt durch diese – wie sagt
man gleich – Tür dort, schließe sie hinter
mir, klopfe dreimal und dann sind Sie alle
verschwunden. Aufgepaßt!«

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Er ging entschlossen hinüber zur Tür,

ging hinaus und schloß sie auffallend
sorgfältig hinter sich.

Drinnen saßen die anderen und lauschten

gebannt.

Gleich darauf wurde dreimal laut an die

Tür geklopft. Sie öffnete sich, und herein
kam Dick Charleston.

»Jetzt

bin

ich

dahintergekommen«,

verkündete er strahlend. »Es gibt von allem
zwei Ausgaben.«

»Oh, Dickie«, sagte Dora enttäuscht.

»Das ist nun nichts Neues mehr.«

Dick sah verletzt aus.
»Sind alle hier?« fragte er, mit Recht

besorgt.

»Alle außer Perrier«, antwortete Jessie

Marbles. »Ich schätze, er steckt in dem, was
ihr Amerikaner unbedingt mit Badezimmer
zu bezeichnen wünscht.«

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Sidney Wang warf einen langen Blick

hinüber auf die Wanduhr, die unaufhaltsam
die Sekunden zertickte.

»Noch eine Minute bis Mitternacht«,

sagte er warnend. »Wenn Perrier nicht
zurückkommt,

dann

vielleicht

er

Mordopfer.«

Plötzlich kam Leben in den Rollstuhl.

Schwester Withers hörte auf zu schnarchen
und erhob ihre brüchige Stimme.

»Mörderchen?«
Jessie Marbles ging zu ihr und streichelte

sie beruhigend. »Nicht mehr lang, meine
Liebe«, sagte sie.

Schwester

Withers

kicherte

voller

Vorfreude.

Sam Diamond begab sich in das Zentrum

der Versammlung.

»Also schön, jeder setzt sich auf seinen

Stuhl«, kommandierte er zwischen schmalen
Lippen.

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»Ich hab’ Angst, Sam«, sagte Tess. »Bleib

bei mir.«

»Bleib selbst bei dir«, antwortete er mit

beachtlicher Schnelligkeit.

»Jeder setzt sich auf denselben Stuhl,

den er bisher hatte«, befahl er.

Alle gehorchten seinen Aufforderungen.

Jeder ging zu seinem Stuhl. Jessie Marbles
warf der Uhr an der Wand einen höchst be-
sorgten Blick zu.

»Noch dreißig Sekunden«, bemerkte sie

mit einem leichten Schauder. »Ich mache
mir wirklich Sorgen um Monsieur Perrier.«

Und das tat sie nicht allein. Der

treuergebene Marcel war vielleicht nicht sehr
gesprächig in dieser illustren Runde, aber er
fühlte sich wie ein verlassener Cockerspaniel,
seit sein Herr und Meister aus dem Saal
gegangen war.

Und jetzt brach er zusammen.
Kurz bevor er bei seinem Stuhl ankam,

wirbelte er herum.

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»Ich gehe hinaus, um – wie sagt man

gleich – nach Monsieur Perrier zu suchen«,
kündigte er an.

»Setzen, bitte«, schrie Sidney Wang mit

schneidender Stimme. »Keiner verläßt den
Saal!«

Aber, während Marcel unentschlossen

stehengeblieben war, beseelt von dem
Gedanken, selber nach seinem geliebten
Herrn zu sehen und andererseits zurückge-
halten von seinem Instinkt, das zu tun, was
ihm laut und deutlich gesagt wurde, ertönten
plötzlich drei dumpfe Schläge von der Tür
durch den langen Saal.

Allerdings kam das Klopfen nicht von der

Tür, auf die Marcel gerade zugehen wollte.
Sondern es kam von der Tür am anderen
Ende des Saals.

Alle wirbelten herum und starrten auf die

andere Tür. Marcel trampelte – bums, bums,
bums in seinen Chauffeurstiefeln – den lan-
gen Saal hinunter und packte den Türknauf.

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Und von der großen alten Uhr konnte

jeder, der zu ihr aufgesehen hätte, sehen, daß
der fatale Augenblick näher und näher
rückte. Tick. Tack. Tick. Tack.

Marcel wollte die Tür aufreißen. Aber sie

gab nicht nach. »Zugesperrt«, rief er. »Ich
kann sie nicht öffnen.«

»Los,

Mann,

schnell«,

kam

Jessie

Marbles’ gebieterische Stimme. »Wir haben
noch genau zwölf Sekunden.«

Tick, tack. Tick, tack.
»Weg da«, sagte eine Stimme zwischen

schmalen Lippen. »Lassen Sie mich mal.«

Sam Diamond holte mal wieder seine

Fünfundvierziger aus dem Schulterhalfter.
Er trat einen Schritt näher und hielt den
Lauf nahe an das Türschloß. Sein Finger
spannte sich. Ein dumpfes Klicken war zu
hören. Er fluchte und entsicherte. Wieder
spannte sich sein Finger. Dann der unbes-
chreibliche Krach eines Schusses. Das Schloß
flog auseinander in tausend Splittern.

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Mit äußerster Entschlossenheit riß Mar-

cel die Tür auf. Vor ihm stand Milo Perrier.

Er war als Butler verkleidet.
Die Uniform paßte ihm nicht recht. Milo

Perrier war um einiges runder als Benson.
Zu viele Tassen mit heißer Schokolade und
zu viele sorgfältig zusammengestellte Menüs
hatten dafür gesorgt. Aber wenn auch mehr
schlecht als recht, so steckte doch Perrier in
der korrekten Ausstattung des Butlers:
schwarzes Jackett, gestreifte Hosen, weißes
Hemd, schwarze Socken. Und selbst die
schwarze Brille hielt sich irgendwie auf Per-
riers feistem Nasenrücken. Ja, sogar der
weiße Blindenstock von Benson baumelte am
Gummiband an seinem Handgelenk.

»Fragt mich nichts«, bat er schlicht.
»Was tun Sie in der Uniform des But-

lers?« fragte Dick Charleston prompt im
gleichen Moment.

»Ich sagte, fragt mich nichts.«

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Ein erbarmungswürdiger Ausdruck trat

in sein eiförmiges Gesicht.

»Ich weiß wirklich nicht wie«, sagte er.

»Es ging einfach alles – wie sagt man gleich
– zu schnell.«

Aber diese Verwandlung vom Detektiv in

einen Butler sollte nicht das einzige Überras-
chungsmoment dieser wenigen Sekunden
bleiben. Sam Diamond war der erste, der
sich vom erstaunlichen Anblick von Milo
Perrier trennen konnte und dabei entdeckte
er, daß noch etwas geschehen war.

Seine Stimme war kurz vorm Über-

schnappen, als er – wenn auch durch sch-
male Lippen – schrie:

»Die Köchin! Wo ist die Köchin?«
Alle fuhren herum und starrten auf den

Stuhl, auf dem bis zu diesem Augenblick
Yetta mit der ganzen Geduld ihrer stummen
Taubheit gesessen hatte.

Sie war nicht mehr da.

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»Sie ’s weg«, sagte Tess und gab damit

dem Ausdruck, was alle dachten.

»Kein Wort hat sie gesagt«, setzte Dora

traurig hinzu.

Aber jetzt war nicht der Augenblick, alten

Freunden nachzuweinen oder sonstige Senti-
ments zu pflegen.

»Noch

fünf

Sekunden«,

verkündete

Jessie Marbles mit ihrer nebelhornerset-
zenden Stimme. »Noch fünf Sekunden,
schnell! Alles hinsetzen und bei den Händen
fassen!«

Wildes Getrappel und Geschubse rings

um den Tisch hub an. Man hätte meinen
können, das alte Weihnachtsspiel der
Musikstühle würde gespielt. Aber Stühle gab
es genug, genug für alle. Wenn jemand aus-
scheiden mußte, dann nicht, weil er keinen
Stuhl finden konnte, um sich drauffallen zu
lassen, wenn die Musik abbrach.

»Mord kann jetzt unmöglich stattfinden

ohne

Zeugen«,

erklärte

Sidney

Wang

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triumphierend, während er als letzter seinen
Platz einnahm.

Alle Augenpaare waren auf die alte Uhr

gerichtet.

»Drei«, zählte Jessie Marbles für den

Fall, es wäre jemand unter ihnen, er sich mit
der Zeit nicht so auskannte. »Zwei. Eins.«

Bedächtig begann das Läutwerk der Uhr

zu schlagen – Mitternacht.

Eins. Zwei. Drei. Vier.
Die Gesichter um den Tisch drückten die

ganze ängstliche Spannung aus in Erwartung
dessen, was wohl beim letzten Ton ges-
chehen würde.

Fünf. Sechs. Sieben. Neun. (Nein, lang-

sam, langsam.) Acht.

Die Spannung wuchs. Eine verschwitzte

Hand umklammerte die andere.

Acht. (Nein, verdammt noch mal.) Neun.

Zehn. Elf. Zwölf.

Der letzte Ton erstarb langsam in der

Stille.

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»Es ist vorbei«, verkündete Jessie

Marbles und seufzte tief. Beim Ausatmen
pustete sie so kräftig, daß das Tischtuch vor
ihr ins Flattern geriet.

»Es ist vorbei. Wir sind in Sicherheit und

haben’s überstanden.«

Aber…
Aber plötzlich erklang von den großen

Flügeltüren des Speisesaals, tief und dumpf,
dreimaliges deutliches Klopfen.

Dora lächelte bläßlich. Sie schluckte.
»Wahrscheinlich die Köchin«, brachte sie

hervor.

Sie wandte sich zur Tür und rief:
»Herein!«
»Liebling«, wandte Dick ein, »die Arme

ist doch stocktaub.«

»Ach, verzeih’. Das hatte ich beinahe

ganz vergessen«, sagte Dora.

Sie holte tief Luft, so tief sie konnte.
Dann brüllte sie: »Herein!!!«

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Aber die Türen blieben geschlossen. Nur

war die Taubheit der Köchin nicht die ein-
zige mögliche Erklärung dafür. Sidney Wang
war

inzwischen

auf

etwas

anderes

gekommen.

»Glaube nicht, daß das Köchin ist«, sagte

er.

Er erhob sich von seinem Platz.
»Entschuldigen, bitte.«
Er ging hinüber zur Flügeltür. Jedes Au-

genpaar folgte ihm. Dann war er an der Tür.
Mit jeder Hand packte er einen der beiden
Türknäufe. Er zog. Die Türen flogen auf. Vor
ihm stand Lionel Twain, komplett im rosa
Smoking. Über seinem Gesicht lag ein
breites, breites Grinsen.

»Ah, Mr. Twain«, sagte Wang mit orient-

alischer Unerschütterlichkeit.

Höflich trat er einen halben Schritt

zurück.

»-Es scheint«, sagte er zu seinem immer

noch breit grinsenden Gastgeber, »daß Sie

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geirrt haben in Punkt, daß einer von unserer
Tafelrunde ermordet würde. Wollen nicht
hereinkommen?«

Er trat einen weiteren halben Schritt

zurück, um dem grinsenden Herrn im rosa
Smoking Eintritt zu gewähren.

Ohne daß das breite Grinsen sich je ver-

lor, schwankte Lionel Twain ein wenig und
fiel dann mit dem Gesicht nach unten –
platsch – auf den Fußboden.

Aus seinem Rücken ragte steilauf ein

Metzgermesser.

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Durch den ehrwürdigen Speisesaal gell-

ten entsetzte Schreie. Frauenschreie.

Tess Skeffington schrie gellend. Dora

Charleston schrie gellend. Schwester Withers
schnarchte auf eine beunruhigende Art.

Lionel Twain war tot – von hinten er-

stochen mit einem zweischneidigen, langen
spitzen Metzgermesser und das reichte
natürlich für jede Frau, derartige Schreie
auszustoßen nach dem qualvollen Warten
auf den verheißenen Mord um Mitternacht.
Noch dazu schien es sich um einen Mord
ohne Mörder zu handeln.

Also schrien die Frauen, außer Jessie

Marbles natürlich, die während ihres langen
Lebens bei weitem zu viele Leichen gesehen
hatte, seit den Tages des Schwarz-Weiß-

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Fernsehens, wenn nicht bereits schon zur
Stummfilmzeit. Aber kein Mensch kann ewig
schreien.

Also

hörte

Dora

Charleston

schließlich als erste auf.

»Ist… ist er tot?« fragte sie, sowie sie

wieder zu Atem gekommen war.

»Mit so ’nem Ding im Rücken«, antwor-

tete Sam Diamond ironisch, »wäre es auf
lange Sicht gesehen besser für ihn.«

Aber jetzt, nachdem die Schreierei

erledigt war, begaben sich die fünf Detektive
zu ihrem bedauernswerten Gastgeber zur
näheren Untersuchung, um sich neben ihn
zu knien. Dabei blieb es gleichgültig, ob man,
wie in manchen Fällen von »eingehender
Untersuchung« sprach oder von »Augen,
denen nichts entgeht«.

»Bitte nichts berühren«, warnte Milo

Perrier streng.

Miss Marbles wandte sich an ihn. Sie

hatte einige Schwierigkeiten gehabt, auf die

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Knie zu kommen, und das trug nicht zur
Verbesserung ihrer Laune bei.

»Werden Sie endlich aufhören mit Ihrem

ewigen ›bitte nichts berühren‹«, fauchte sie.
»Wir sind alle erfahrene Kriminologen, oder
nicht? Und ich persönlich empfinde es als
verletzend, unwürdig und überflüssig, wenn
Sie

uns

dauernd

ermahnen,

nichts

anzufassen.«

»Ruhe, meine Dame«, gab Perrier barsch

zurück.

Nichts mehr von kontinentaler Höflich-

keit. Keine Spur eines »Je m’excuse, ma-
dame
«, oder »Wenn Sie bitte verzeihen
wollen, aber…« Jetzt war nichts mehr übrig
als ungeschminktes Jagdfieber.

Nicht nur bejahrte weibliche Detektive

finden es beschwerlich, neben einer Leiche
auf den Knien zu liegen. Bejahrte männliche
Detektive empfinden es gleichermaßen un-
bequem und hart für ihre alten Knochen.
Und abgesehen davon, hatte er nicht seit

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Jahrzehnten gesagt: »Bitte nichts anfassen«,
wenn er sich neben einer Leiche auf die Knie
niederließ? Also warum in – wie sagt man
gleich? – drei Teufels Namen sollte er jetzt
damit aufhören?

Aber mit dem, was er dann als Antwort

erhielt, hatte er nicht gerechnet.

»Schnauze, Sie Scheißkerl«, sagte Jessie

Marbles aus Sussex, England, Jungfrau.

»Sehr komisch«, murmelte Sidney Wang.
Auch er hatte Schwierigkeiten, sein chin-

esisches Knie neben der Leiche zu beugen.
Und auch er hatte schon neben mehr
Leichen gekniet als ein Computer Finger hat,
seit er in dieser Branche bekannt war, und
daher war auch seine orientalische Geduld
mehr als nur ein wenig angeknackst. »Sehr
komisch, Stardetektive streiten wie Schul-
buben. Viele Köche verderben den Brei.«

Wie ein Mann starrten ihn daraufhin die

übrigen vier wütend an.

»Stopft ihm das Maul.«

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»Von Ihnen haben wir schon lange

genug.«

»Wie sagt man doch gleich? – taisez-

vous.«

»Jetzt hört doch auf!«
»Sie Schwachkopf, Sie chinesischer. Bei

Ihnen hört man ja den Kalk rieseln.«

Aber plötzlich wurde dem ganzen Streit

ein jähes Ende gesetzt. Durch einen Schuß.

Sam Diamond hatte seine Fünfundvierzi-

ger aus dem Schulterhalfter gezogen (schon
wieder) und senkrecht in die hohe Decke ge-
feuert.

Eine

bewährte

Methode,

die

Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

In die plötzliche Stille hinein sprach Sam,

zwischen schmalen Lippen.

»Aufhören, alle miteinander. Keiner

rührt sich. Jeder bleibt wo er ist. Jeder, sagte
ich.«

Die Detektive hielten den Atem an. Sch-

ließlich spricht eine Fünfundvierziger eine
laute, deutliche Sprache und Sam Diamonds

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Gesichtsausdruck

hatte

etwas

wild

entschlossenes.

»Was ist los?« fragte Dick Charleston

gespannt.

»Ich muß nochmal pinkeln gehen«, sagte

Sam. »Und ich will auf keinen Fall etwas
verpassen.«

Er erhob sich und eilte zur Tür, fast im

Laufschritt.

»Ich gehe mit, Sam«, hauchte Tess

verführerisch.

»Ich geh’ lieber alleine, Tess«, sagte Sam,

indem er einen Moment innehielt und ihr
einen gerührten, verständnisvollen Blick
zuwarf. »Aber trotzdem vielen Dank.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und ran-

nte zur Tür. Schnell.

»Die Köchin«, sagte Dora.
Dick Charleston, ganz aufmerksamer

Ehemann (wer war die Universalerbin in der
Familie?), sah aus seiner knienden Haltung
zu ihr auf. Er wußte schon vorher, daß er

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über kurz oder lang wieder auf die Füße
würde kommen müssen, deshalb hoffte er,
diesen Moment so lang wie möglich hinaus-
zögern zu können, vielleicht würden seine
Knie dann etwas weicher oder elastischer
werden.

»Was meinst du, Liebling?« fragte er.
»Die Köchin«, antwortete Dora. »Ist es

nicht offensichtlich, daß die Köchin ihn erm-
ordet haben muß? Der Butler ist tot; wir an-
deren waren alle in diesem Raum, außer ihr.
Keiner konnte in dies Haus herein oder
heraus. Also bleibt nur die Köchin.«

Dick schien recht beeindruckt von dieser

eiskalten weiblichen Logik. Aber jemand an-
ders zeigte sich nicht beeindruckt.

Sidney Wang sprang auf die Füße. Knack.

Knack. Schmerz verzerrte sein sonst so aus-
drucksloses chinesisches Gesicht, besonders,
als das linke Knie knackte. Aber er ging tap-
fer darüber hinweg.

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»Klinge ist fast fünfundzwanzig Zenti-

meter lang«, sagte er zu Dora. »Und wie Sie
sehen können, steckt Messer bis zum Heft.
Braucht viel Kraft für solchen Stoß. Soviel
Kraft haben Frauen nicht.«

Jetzt erhob sich Jessie Marbles, wobei sie

an einen aufstehenden Elefanten erinnerte,
der sich demütig vor seinem Maharadscha
auf die Knie gelegt hatte. Oder vielleicht
auch vor Queen Victoria. Und wieder knack-
ten weithin hörbar zwei Kniegelenke, fast
schon wie zwei Salutschüsse.

Sie stand nun Aug’ in Aug’ mit Wang.
»Eine Frau hat nicht die Kraft für einen

solchen Stoß, aber Männer wohl, eh?« sagte
sie lauernd. »Hab’ ich Sie da richtig
verstanden?«

»Genau«, sagte Sidney Wang.
Jessie Marbles holte tief Luft.
»Sie sind ein Chauvinist, Mr. Wang?«
»Sicher nicht, Sie alberne Frau«, gab Sid-

ney Wang zurück.

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Es sah ganz so aus, als würde ein neuer

Kleinkrieg ausbrechen zwischen den hier
versammelten Detektiven. Jessie Marbles
hätte sich sicher zu einer vernichtenden Ant-
wort aufgerafft, nur hatte sie sich ja gerade
eben erst aufgerafft. Eilig wollte sie sich
wieder niederlassen, damit sie sich neuerd-
ings aufraffen könnte.

Aber dann, dachte sie, wie sollte die ver-

nichtende Antwort lauten? Es mußte irgend
etwas sein wie eine weithin bekannte Un-
fähigkeit der chinesischen Rasse, etwa zu…
zu… zu… Zum Teufel, es mußte doch eine
weithin bekannte Unfähigkeit der chinesis-
chen Rasse auf wenigstens einem Gebiet
geben. Etwas, womit sie diesen Orientalen
Kapaun vernichtend treffen konnte. Ja, das
war’s Kapaun! Ihn da treffen, wo’s am
meisten wehtat. In dieser Art. Schaun wir
mal. »Vielleicht bin ich eine alberne Frau,
Mr. Wang, aber…« Aber… aber… verdammt
noch mal, es mußte doch irgendwie gehen.

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Gnädig wurde ihr Dilemma von anderer

Seite gelöst.

Die Tür hinter der am Boden liegenden

Leiche von Lionel Twain wurde plötzlich
aufgestoßen und eine Stimme erhob sich.
Eine Stimme, die zwischen zusammenge-
preßten Lippen sprach.

»Die Köchin war’s nicht, soviel steht mal

fest.«

Alle wandten sich um und sahen Sam

Diamond entgegen, der in der offenen Tür
stand. Hinter seinem Rücken verbarg er
etwas.

»Weshalb sind Sie dessen so sicher, Dia-

mond?« fragte Milo Perrier.

Sam warf ihm einen kühlen Blick zu.
»Um einem Mann ein langes Messer so

tief in den Rücken zu rammen«, antwortete
er, »würde man schon einen sehr starken
rechten Arm brauchen. Stimmt’s?«

»Stimmt«, gab Milo Perrier zu.

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Sams

Gesicht

blieb

kühl

und

zuversichtlich.

»Nun«, sagte er langsam, »so stark er-

scheint mir dieser Arm nicht.«

Und damit zog er blitzschnell hinter

seinem Rücken einen rechten Frauenarm
hervor, der bis zum Ellbogen reichte.

Dora und Tess schrien.
Schon wieder. Aber sind Frauen nicht

schließlich dazu da? Um in Augenblicken
plötzlichen Entsetzens gellend zu schreien?

»Ist…«, fragte Dora mit schwankender

Stimme. »Ist das der Arm der Köchin?«

»Na, der Schwanz des Katers ist es sicher

nicht, meine Dame«, antwortete Sam lakon-
isch zwischen schmalen Lippen.

Er grinste breit.
»Oh, Sie brauchen sich keine Sorgen zu

machen«, fuhr er fort. »Er ist nicht echt. Um
ehrlich zu sein, die Köchin ist auch nicht
echt.«

»Die Köchin?« sagte Milo Perrier.

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»Nicht echt?« sagte Sidney Wang.
»Die Köchin nicht echt?« echote Dick

Charleston.

»Nicht echt? Die Köchin?« variierte

Jessie Marbles.

»Nein«, sagte Sam, »nicht echt.«
Er wandte sich um und trat einen Schritt

zurück in die Halle. Dort packte er etwas und
zog.

Es

machte

ein

knirschendes,

rutschendes Geräusch. Vor aller Augen
schob er jetzt einen großen, schweren Koffer
herein, so einen, in dem man Musikinstru-
mente, ein großes Instrument, zu transpor-
tieren pflegt.

Sam schob den Koffer noch ein bißchen

weiter, bis er neben der Leiche von Lionel
Twain einen günstigeren Platz gefunden
hatte.

Während er den Koffer schob und zog,

machte er ein paar Erklärungen.

»Den Arm fand ich auf dem Fußboden.

Der Zeigefinger wies auf eine der Türen da

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draußen. Also ging ich und öffnete die Tür,
und da fand ich dies.«

Schnell und gekonnt ließ er das Schloß

des großen Koffers aufschnappen. Der Deck-
el sprang hoch. Die Detektive eilten herbei,
schubsten und stießen. Jeder wollte sehen,
was in dem Koffer war. Da lagen höchst or-
dentlich und sorgfältig arrangiert die Ein-
zelteile der Köchin.

Sie sahen wirklich aus, als wären sie die

auseinandergenommenen Teile eines echten
menschlichen Wesens, nur daß da, wo sie
zusammengehörten,

weder

Knochen,

Muskeln noch Sehnen, Venen oder Arterien
noch sonstiges innermenschliches Zubehör
zu sehen war. Statt dessen waren die jeweili-
gen Enden glatt, fleischfarben und aus
Plastik. Aber es war alles da, jedes Teil hüb-
sch säuberlich in seiner vorgeformten
Styropor-Vertiefung eingebettet. Zwei Füße,
klein und feminin. Zwei Hüften, hübsch und
wohlgerundet.

Zwei

Oberschenkel,

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desgleichen. Ein Mittelteil. Ein Rumpf, kom-
plett mit zwei hübschen Halbkugeln. Ein
linker Unterarm und ein leeres Fach. Zwei
Oberarme, wohl geformt. Ein Kopf, leeres
Gesicht.

»Eine Schaufensterpuppe!« rief Milo Per-

rier schnell wie der Blitz aus.

»Eine Schaufensterpuppe, ein Roboter

oder wie immer Sie das nennen wollen«,
sagte Sam. »Perfekt bis ins letzte Detail, bis
auf die Fähigkeit, zu hören oder zu
sprechen.«

Er wandte sich ab und sah’ auf die län-

gelang am Boden liegende Leiche des verb-
lichenen Lionel Twain.

»Ich ziehe meinen Hut (im Staub der

Landstraße) vor diesem Herrn mit dem Loch
im Rücken«, sagte er. »Jetzt ist er zwar tot,
aber ein Dummkopf war er nicht.«

»Hübsch gesagt, Sam«, sagte Tess

prompt und aufgeräumt, wie ein automat-
ischer Anrufbeantworter.

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Sam lächelte ihr zu.
»Das Klo ist jetzt frei, Süße«, sagte er.

»Aber ich würde noch ein paar Minuten
warten.«

Dick Charleston konnte sich noch immer

nicht von dem großen Koffer losreißen.

»Eine entzückende Frau«, bemerkte er.

»Eine Frau in Einzelteilen zum Aussuchen.«

Sam war zufrieden mit seinem automat-

ischen Anrufbeantworter, den er in Tess
hatte, aber Dick war doch ein Mann mit –
wie soll man sagen – etwas mehr Schliff und
also auch höheren Ambitionen.

Einigermaßen stolz atmete er hörbar aus.
Seine Frau unterbrach ihn.
Frauen.
Schließlich hatte sie die Hand auf dem

Portemonnaie, eben.

Sie hüstelte.
»Ich hoffe doch, daß Ihnen allen eines

klar ist«, sagte sie, »nämlich, daß jemand in
diesem Raum der Mörder ist?«

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Keiner wollte so recht mit der Antwort

heraus: »Aber ja, natürlich, so muß es wohl
sein.«

Aber offenbar dachte es jeder. Wenn

Lionel Twain ermordet worden war und
beide Dienstboten seines Hauses aus-
schieden, der eine dadurch, daß er gleichfalls
als Leiche gesehen wurde und die andere,
daß sie derzeit in Einzelteilen vor aller Augen
lag, sowie durch die Tatsache, daß das Haus
mit Zeitschlössern verriegelt und verram-
melt war, mußte notgedrungen einer der An-
wesenden in diesem Speisesaal derjenige
sein, der das lange, scharfe Metzgermesser
Lionel Twain in den Rücken gestoßen hatte.
Bis zum Heft.

Logisch. Selbst, da es eine Frau war, die

den Tatbestand erfaßt hatte.

Also wer könnte es sein, dieser Mörder?
Einer der fünf Detektive gar? Vielleicht

Sidney Wang? Oder Milo Perrier? Oder Sam
Diamond? Oder, wenn sie auch schon älter

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ist, doch kein Zweifel an der Zähigkeit der al-
ten Jungfer aus der Mead St. Mary in Sussex,
England, bestehen dürfte, oder also, könnte
es Miss Jessica Marbles gewesen sein? Oder
gar – aber dieser Gedanke wäre zu weiblich-
logisch gewesen, als daß er Dora Charleston
auch nur in ihren hübschen Kopf gekommen
wäre – könnte es Dick Charleston sein?

Andererseits war vielleicht doch keiner

der fünf Detektive zum Mörder geworden.
Dann mußte der Schuldige unter den fünf
Personen sein, die sie mitgebracht hatten.
Fünf Begleitpersonen, die vollstes Vertrauen
genossen.

War es Sidney Wangs dritter Ad-

optivsohn

Willie?

Oder

Milo

Perriers

unzertrennlicher

Chauffeur-Freun-

d-Secrétaire, Marcel Cassette? Oder Tess
Skeffington (sie war schließlich nicht von
gestern), Sekretärin und Mätresse von Sam
Diamond? Oder wie wär’s mit – nachdem es
ein altbewährtes Gesetz in solchen Fällen ist,

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sich mit dem Unwahrscheinlichsten aller
Verdächtigen zu befassen – wie wär’s mit
Nurse Withers? Und schließlich – wenn auch
dank weiblicher Logik dieser Gedanke
niemals in Dora Charlestons hübsches Köp-
fchen gekommen wäre – aber hätte es nicht
auch Dora Charleston sein können? Nun, lo-
gisch betrachtet, schon.

Aber keiner schien Wert darauf zu legen,

diese kleinen logischen Gedankengänge laut
zu denken.

Also wandte sich Jessie Marbles lieber

wieder mit nachdenklich gerunzelter Stirn
der am Boden liegenden Leiche zu.

»Interessant«, meinte sie bedächtig.

»Twain sprach davon, daß das Opfer elf-
oder zwölfmal in den Rücken gestochen
würde. Und siehe da – er hat elf oder zwölf
Wunden.«

»Bin froh, daß ich kein Dinner gehabt

habe«, hauchte Dora schwach. »Es würde
mir wieder hochkommen.«

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Sidney Wang warf einen Blick in die

Runde.

»In Anbetracht anwesender Damen«,

sagte er, »würde ich vorschlagen, daß wir
alle zurück in den Salon gehen. Mein Sohn
wird sich um den Rest von Mr. Twain
kümmern.«

»Warum ich, Paps?« verlangte Willie in-

digniert zu wissen.

»Weil du sowieso nicht bist mein echter

Sohn«, gab Sidney Wang mit unschlagbarer
chinesischer Logik zurück.

Dann sprach er wieder zu den anderen.
»Kommen, bitte.«
Einer nach dem anderen verließen sie

den

Speisesaal

und

ließen

den

be-

dauernswerten

Willie

zurück,

seinen

schaurigen Auftrag auszuführen, nämlich die
elf- oder zwölfmal punktierte Leiche des
Mannes zu beseitigen, der sie alle zum Din-
ner und zu einem Mord eingeladen hatte,

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Lionel Twain, den ja, solange Logik etwas
gilt, einer von ihnen ermordet haben mußte.

Aber wer?

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Im Salon des großen alten Hauses mit

seiner

seltsamen

Dekoration

eines

Gruselkabinetts an den Wänden, den unver-
gänglichen Zeugen der häßlichen Dinge, die
sich die Menschen in der guten alten Zeit ge-
genseitig antaten, und der Totenmaske über
dem Kaminsims, deren Todesschreie man zu
hören glaubte, standen jetzt alle neun und
sahen sich mißtrauisch an.

Jeder Kopf schien von dem gleichen

Gedanken besetzt zu sein: »Wer von uns ist
der Mörder?« In jedem Kopf, mit Ausnahme
von einem. Des einen, der es wußte.

Aber die Stille dauerte nicht lange. Willie

Wang brach sie. Er kam mit einem breiten
Grinsen herein, einem so breiten Grinsen,
daß es unmöglich einer übersehen konnte.

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Sorgfältig schloß er die Tür hinter sich, aber
gleichzeitig so eilig, als könnte er es kaum er-
warten,

mit

seiner

großen

Neuigkeit

herauszuplatzen, die ihn für diesen einen
Augenblick allen überlegen machte.

»Ich hab’ ihn beseitigt, Paps«, verkün-

dete er unüberhörbar.

Und dann kam das, was ihn offensichtlich

viel Mühe gekostet hatte, so lange für sich zu
behalten.

»Ich frage mich, wie dir das entgehen

konnte, Paps«, sagte er.

»Was?« stieß Sidney Wang hervor, und

in dieser einen Silbe lag viel Beunruhigung.

Willie grinste möglicherweise noch breit-

er und genoß jede Sekunde.

»Die fünf größten Detektive der Welt«,

begann er weitschweifig, »und nicht einer
hat gemerkt, daß der verblichene Lionel
Twain etwas in seiner Faust hielt… das hier.«

Und genüßlich zog er aus seiner eigenen

Faust

ein

kleines,

sorgfältig

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zusammengefaltetes weißes Zettelchen. Eine
Notiz. Eine Nachricht von der Leiche
persönlich.

»Gib das her«, donnerte Sidney Wang

mit einer Stimme, mit der er schon dreihun-
dertsechsundachtzig Mörder zu Tode ers-
chreckt hatte, nach letzter Zählung.

»Gib das her.«
»Nein«,

jaulte

Willie.

»Ich

hab’s

gefunden.«

»Gib’s her.«
»Nein, es gehört mir.«
»Gib es mir, sagte ich.«
»Wer’s findet, dem gehört’s auch.«
»Gib’s her!«
Das hätte ewig so weitergehen können.

Aber jetzt hatte Milo Perrier beschlossen,
sich einzuschalten, und zwar kraft seiner
ganzen Autorität.

»Gib es deinem Vater«, sagte er im Be-

fehlston. »Du kleiner Idiot.«

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»Idiot? Werden ja sehe», wer der Idiot

ist, Monsieur Perrier.«

Milo Perriers Autorität schien ein wenig

angeknackst. Willie fühlte sich sicherer denn
je.

»Eine Million Dollar hat Twain demjeni-

gen geboten, der das Verbrechen aufklärt«,
sagte er. »Und das kann ich genausogut sein
wie einer von euch Detektiven. Ich hab’ mehr
im Kopf, als mein Vater immer denkt. Ad-
optivsohn Nummer Drei! Ich hab’s satt bis
obenhin!«

Er holte tief Luft und reckte seine sch-

male Brust.

»Ich bin Willie Wang«, sagte er. »Willie

Wang, der junge Detektiv, und das hier –«

Triumphierend hielt er den zusammenge-

falteten Zettel hoch.

»- das hier gehört mir und keiner darf es

mir wegnehmen. Verstanden?«

Klick.
Er wirbelte herum.

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Sam Diamond stand hinter ihm. Der

kleine, kurze Ton stammte aus der Waffe.
Ihre Mündung war ganz nahe an Willies Ohr.

Sam wartete, bis er sah, daß Willie die

Situation voll erfaßt hatte. Und dann sagte
er, nicht zu dem Jungen, sondern zu Tess:

»Geh da weg, Schätzchen. Ich will nicht,

daß du verletzt wirst, wenn die Kugel aus
seinem anderen Ohr wieder rauskommt.«

Willie schluckte und hielt Sam den Zettel

hin. Da gab’s nichts mehr zu sagen.

Sam steckte die Waffe wieder in sein

Schulterhalfter und entfaltete den Zettel.
Dann las er laut vor.

»Bitte Milchfrau anrufen und Milch ab-

bestellen – Lionel Twain verstorben.«

Er warf Willie einen geringschätzigen

Blick zu.

»Das war’s, Kleiner. Und damit wolltest

du den Fall aufklären.«

Mit einem unsicheren Lächeln wandte

sich Willie an seinen Vater.

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»Entschuldige,

Dad«,

meinte

er

zerknirscht. »Vielleicht können wir morgen
miteinander zu Abend essen und über alles
in Ruhe reden, ja, Paps?«

»Hoffentlich gefällt dir Rückreise nach

Yokohama«, gab Sidney Wang ungerührt
und stocksauer zurück.

Aber Milo Perrier hatte reichlich genug

von diesen familiären Kabbeleien.

»Meine Damen und Herren«, sagte er,

»ich schlage vor, daß wir jetzt mal – wie sagt
man gleich? – zur Sache kommen und die
Tatsachen – wie sagt man gleich? – zusam-
menfassen. Jetzt haben wir…«

Er zog seine Taschenuhr heraus.
»Jetzt haben wir Null Uhr dreißig. Son-

ntag Morgen. Die Türen und Fenster dieses
Hauses werden sich automatisch mit der
Morgendämmerung öffnen. Und bis dahin
wird einer von uns – wie sagt man gleich? –
um eine Million Dollar reicher sein.«

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Er hielt inne und sah einem nach dem

anderen eindringlich in die Augen.

»Und einer von uns«, setzte er ernst hin-

zu, »wird Bekanntschaft mit dem Henker
machen und zum Teufel gehen.«

»Einer, Monsieur Perrier?« fragte Jessie

Marbles rasch. Sie schnaufte verächtlich.

»Einer?« wiederholte sie. »Warum nicht

zwei? Hat nicht jeder von uns einen
Partner?«

»Warum nicht vier oder sechs oder

acht?« warf Sam Diamond schnell in das
Zahlenspiel ein. »Ich trau’ hier keinem
über’n Weg. Vielleicht soll gerade ich hier re-
infallen. Aber ich falle auf niemanden rein,
kapiert?«

»Nicht mal auf mich, Sam?« fragte Tess

und klimperte heftig mit den Wimpern.

Sam wandte sich ihr zu.
»Warum verknallst du dich nicht in den

kleinen Japsen da und rutschst mir den

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Buckel runter?« knurrte er zwischen sch-
malen Lippen.

Wütend wandte er sich ab und zündete

sich eine Zigarette an.

Aber jetzt hatte Sidney Wang genug von

den Ehe- und sonstigen Kabbeleien.

»Können wir zurück zu Fall kommen,

bitte?« forderte er. »Ist spät geworden und
meine Augen fallen zu.«

»Ach, und ich dachte, die sähen immer so

aus«, sagte eine Stimme zwischen schmalen
Lippen.

»Hör doch auf, Sam«, legte sich Jessie

Marbles ins Zeug. Sam wandte sich zu ihr
um.

»’tschuldigung«, knurrte er. »Aber dieser

Fall fängt an, mir auf die Nerven zu gehen.«

Er grinste verbindlich zu Wang hinüber.
»Verzeihung bitte, Schlitzi.«
»Gewährt«, gab Sidney Wang mit orient-

alischer Erhabenheit zurück.

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»Alsdann«, fügte er, diesmal mit orient-

alischer Aufgeräumtheit, hinzu: »Tatsachen,
bitte. Mr. Twain sagt Mord voraus und sagt
voraus, Opfer sitzt an Speisetafel. Richtig?«

»Richtig«, sagte Dora Charleston.
»Verzeih, Liebling«, wies sie ihr Mann

zurecht in Anbetracht der qualifizierten Kol-
legen, »aber das hier ist äußerst offiziell.«

Er wandte sich an Wang.
»Richtig«, sagte er.
Wang fuhr mit seiner Analyse fort:
»Twain sagt ebenfalls Zeitpunkt von

Mord voraus, nämlich Mitternacht, sowie
Anzahl von Stichwunden. Richtig?«

»Rich-«, sagte Dora.
»Richtig«, sagte Dick.
Wang fuhr fort:
»Wie wären Voraussagen möglich, wenn

Twain

nicht

tatsächlich

mit

Mörder

zusammenarbeitet?«

Milo Perrier trat einen Schritt vor. Sch-

ließlich ging es hier um den Teil der

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logischen Analyse, und er hatte bereits lo-
gisch analysiert seit dem Jahre x.

»Wenn Sie damit sagen wollen«, sagte er

nicht ohne eine leise Spur von Mißbilligung,
»daß Twain einen von uns zu diesem Zweck
angeheuert haben sollte, so befinden Sie sich
– wie sagt man gleich? – im Irrtum, Mr.
Wang.«

Er blickte sich um, um sicherzugehen,

daß er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller
genoß. Einer Perrier-Analyse hörte man
nicht nur mit halbem Ohr zu.

»Mal angenommen«, resümierte er, »nur

mal angenommen, daß ich derjenige wäre,
ich, Milo Perrier, den Twain als seinen Part-
ner angeheuert hätte. Um Mitternacht hätte
ich dann eröffnen müssen, daß ich der – wie
sagt man gleich? – der Mörder wäre,
wodurch das Verbrechen aufgeklärt und ich
gleichzeitig berechtigt wäre zur Entgegen-
nahme – wie sagt man gleich? – von einer
Million Dollar. Und noch dazu hätte ich

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damit bewiesen, daß ich der Meisterdetektiv
Nummer eins wäre, ich, und nicht Twain.«

Mit einem raschen Blick vergewisserte er

sich wieder, ob jeder diesem seinem bril-
lanten Gedankengang hatte folgen können;
dann fuhr er fort:

»Also hätte Twain von all dem nicht das

Geringste profitiert. Ich meinerseits hätte
natürlich einen genialen Weg gefunden,
mich zu einem friedlichen Strand in der
Nähe von Rio abzusetzen, wo ich mich ganz
gewiß auf die ausreichende Versorgung mit
heißer Schokolade hätte verlassen können.«

Traurig schüttelte er den Kopf.
»Nein«, schloß er, »ich glaube, Ihre

Komplizen-Theorie ist – wie sagt man
gleich? – für die Katz’, Monsieur Wang.«

»Pussi-Katz. Da fällt mir was ein«, sagte

Sam Diamond dringlich. »Würden Sie mich
bitte nochmals entschuldigen?«

»Nur noch ein paar Minuten, Mr. Dia-

mond«, hielt Wang ihn zurück. »Und dann

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sollten wir uns alle in unsere Zimmer
zurückziehen.«

Sams narbiges Gesicht trug den Ausdruck

tapferen Erduldens.

»Also los«, sagte er und schlug die Beine

übereinander. Aber Dick Charleston ergriff
das Wort.

»Wär’s nicht möglich, daß Twain es

selbst war?« warf er in die Diskussion.

»Selbst?« wiederholte Jessie Marbles.

»Sich selbst umgebracht? Himmel, aus wel-
chem Grund? Und, ganz nebenbei, wie?«

»Das Motiv ist simpel«, antwortete Dick.

»Ego.«

Ego. Seine Zuhörer dachten darüber

nach. Und da sie alle recht kapitale Egoisten
waren, mußten sie ausgiebiger darüber
nachdenken.

Dick wartete ein wenig, dann fuhr er fort:
»Wenn wir dieses Verbrechen nicht

aufklären«, gab er zu bedenken, »könnte
sich Twain tatsächlich als der größte

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derzeitige Detektiv betrachten. Zieht man
sein ausgeprägtes Ego in Betracht, ist die
Tatsache, daß er dafür sterben mußte, ein
geringer Preis.«

Er sah sich um. Anscheinend hatte er sein

Publikum gepackt, ja, sogar überzeugt.

Also redete er noch eifriger weiter:
»Damit will ich sagen, ein Mann, der in

der Lage ist, dieses Wunderwerk von
elektronischen Finessen zu konzipieren,
dürfte sehr wohl auch in der Lage sein, eine
Maschine zu entwickeln, mit der er sich
selbst elf- oder zwölfmal ein Messer in den
Rücken jagen kann. N’est-ce pas?«

»Nein danke«, lehnte Perrier höflich ab,

zum ersten Mal hatte er kein Verlangen nach
heißer Schokolade, sei es nun Nestlé’s oder
Cadburys oder sonst irgendeine Marke.

Dora sah mit großen Augen zu ihrem

Mann auf.

»Das war fabelhaft, Liebling«, sagte sie.

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Soweit sie das Ganze beurteilen konnte,

war der Fall abgeschlossen, der Mord
aufgeklärt.

»Gehen wir ins Bett«, sagte sie.
Wieder sah sie bewundernd ihren Mann

an und fügte nur ein einziges Wort hinzu.

»Schnell.«
»Einen Moment, bitte«, sagte Sidney

Wang, blind für diese Art von zärtlicher, ehe-
licher Harmonie.

»Einen Moment, bitte. Sehr interessante

Theorie, Mr. Charleston, aber Sie übersehen
einen sehr wichtigen Punkt.«

»Und das wäre?« fragte Dick, sichtlich

pikiert (und zwar nicht nur, weil jemand
seine Theorie überhaupt in Frage zu stellen
wagte).

Wang sah ihn tiefernst und ungerührt

orientalisch an:

»Es ist die dümmste Theorie, die ich je

gehört habe.«

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»Haben Sie eine bessere?« legte sich Dick

mit ihm an, wobei er den Gedanken an das
Bett jedoch nicht loswerden konnte.

»Ja«, sagte Wang, »viel besser.«
Er sah sich um, um sicherzugehen, daß

jetzt er die volle Aufmerksamkeit jedes ein-
zelnen der Anwesenden hatte, wobei Nurse
Withers, die noch immer sanft schnarchte,
nicht als anwesende Person zählte.

Vergewissert, daß er die ungeteilte

Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen hatte,
beantwortete er Dicks Frage.

»Jawohl, ich habe eine bessere Theorie,

Mr. Charleston. Ich habe meine Informa-
tionen. Zum Beispiel…«

Er hob den Blick zur Zimmerdecke und

tat so, als müßte er unter all diesen Informa-
tionen erst die Prioritäten erforschen – der
schlitzohrige alte Orientale – und dann,
gerade, als die Aufmerksamkeit seiner
Zuhörer nachzulassen drohte, sprach er
weiter:

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»Zum Beispiel bin ich im Besitz von In-

formationen, Mr. Charleston, wonach das
Aktienpaket Ihrer Frau im Zuge der letzten
Finanzkrise auf Null sank. Um es kurz zu
sagen, Mr. Charleston, Sie sind pleite. Seit
über zwei Jahren pumpen Sie sich Geld…«

Er hielt einen Augenblick inne, bevor er

zum Tiefschlag ausholte:

»Seit über zwei Jahren pumpen Sie sich

Geld – zu einem Zinssatz von siebzehn
Prozent –, und zwar von Mr. Lionel Twain.«

Kein schlechter Tiefschlag. Beachtliche

Beachtung seitens der Zuhörer. Aufgerissene
Münder.

Aufgerissene

Augen.

Scheue

Blickwechsel.

Aber von Dora Charleston kam noch et-

was mehr.

»Pleite?« schrie sie aus.
»Dickie?« rief sie aus. »Ist das wahr?«
Dick schluckte. Er versuchte ein Lächeln.

Kein

sehr

gelungener

Versuch.

Also

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schluckte er noch mal. Das schien besser zu
gehen.

»Ich wollte es dir nicht sagen, Liebling«,

brachte er schließlich heraus. »Ich wollte es
dir erst an deinem Geburtstag sagen.«

»Eine Million Dollar«, sagte Sidney

Wang gnadenlos, »damit kann man sich eine
Menge gutsitzender Anzüge kaufen, nicht
wahr, Mr. Charleston?«

»Also, Wang, jetzt hören Sie mal –«,

machte Dick einen schwachen Versuch.

Aber er wurde unterbrochen.
Und zwar von Dora.
»Gänzlich pleite, Dickie?« rief sie aus.
»Fast, Liebling«, antwortete er und ver-

suchte es noch mal mit dem Lächeln.

»Ich hab’ noch einen Dollar siebzehn.«
Dora schien nicht beruhigt.
»Und ein paar Briefmarken«, fügte Dick

hastig hinzu.

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Briefmarken schienen Dora auch nicht zu

beruhigen. Dick schluckte. Lächeln ging ein-
fach nicht mehr.

»Aber«, versicherte er ihr eindringlich,

»ich habe Lionel Twain nicht umgebracht.«

Sie sah nicht im geringsten beruhigt aus.
»Du glaubst mir doch Dora?« fragte er.

»Nicht wahr, du glaubst mir das?«

»Dora?«
»Wir sprechen uns noch«, sagte Dora.

»Wir werden sehen.«

Sie wandte sich ab. Anscheinend mußte

da noch entsetzlich viel gesprochen werden,
bevor Dick und Dora Charleston in dieser
Nacht ins staubige Ehebett steigen würden.
Armer Dickie.

Dick wandte sich an die anderen. Auf

seiner wohlgeformten Stirn zeigten sich
kleine Schweißperlchen.

»Jeder von uns hätte es sein können«,

sagte er erregt. »Seit der Entdeckung der
Leiche des Butlers hat jeder einzelne von uns

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Detektiven

irgendwann

einmal

den

Speisesaal verlassen. Jeder von uns hatte da-
her ausreichende Gelegenheit, das Ver-
brechen zu begehen. Nicht nur ich. Nicht
ausgerechnet ich.«

Eisige Gesichter, wohin er auch in die

Runde sah. Er hatte den Schwarzen Peter,
und keiner schien bereit zu sein, ihn davon
zu befreien.

Er fuhr sich mit der Zungenspitze über

die Lippen und redete verzweifelt weiter:

»Und was die Motive angeht, da gibt es

noch ganz andere als Ego und Geld. Da gäbe
es zum Beispiel Rache.«

Er warf einen kurzen Blick in das Rund

der Augenpaare, die auf ihn fixiert waren.
War einer zusammengezuckt, so ganz un-
willkürlich, bei der Erwähnung des Wortes
»Rache«? Gab es einen unter ihnen, dem
durch Lionel Twains Hand Unrecht ges-
chehen war und der sich nun gerächt hatte?
Einer oder eine?

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Aber nichts rührte sich in den Gesichtern

ringsum. Sollte dieses Wort irgendwo getrof-
fen haben, so hatte das verletzte Innere sich
durch nichts verraten.

»Rache?« sagte Sidney Wang. »Womit

Sie bitte was meinen, Mr. Charleston?«

»Womit ich meine«, antwortete Dick,

und nach und nach gewann seine Stimme
wieder mehr Sicherheit, »daß ich hier nicht
der einzige bin, der schon früher mal mit Mr.
Twain zu tun hatte. Wußten Sie zum Beis-
piel, daß er zu seiner Zeit ein rechter Frauen-
held war?«

Wieder sah er von einem zum anderen.

Gab es jemanden unter ihnen, der aus eigen-
er bitterer Erfahrung wußte, daß Lionel
Twain, der kleine Dandy im rosa Smoking,
seinerzeit ein rechter Frauenheld war?

Keiner zeigte ein verräterisches An-

zeichen. Die Runde schwieg. Und Milo Perri-
er trat einen kleinen Schritt vor. »Wollen Sie

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damit andeuten«, sagte er, »daß es hier je-
manden gibt –«

Dick schnitt ihm seine Frage ab und

beendete sie für ihn. »- der zu seiner Zeit in
Mr. Lionel Twain verliebt war. Jawohl,
genau das will ich damit andeuten. Und zwar
mehr als andeuten. Das sagte ich Ihnen als
Tatsache.«

Er hielt inne, um zum Angriff aus-

zuholen. Verriet sich denn noch immer kein-
er, der etwas zu befürchten hatte? Keiner.

Jetzt landete Dick Charleston seinen

Schlag.

»Ich gebe hiermit als Tatsache bekannt«,

sagte er, »daß Lionel Twain damals verlobt
und versprochen war – einer gewissen Miss
Jessica Marbles.«

Jetzt allerdings verriet Jessica Marbles

Gesicht alles. Wo auch immer Dick diese
Tatsachen ausgegraben haben mochte, er
schien damit die Wahrheit getroffen zu
haben, zumindest war er ihr nahe genug

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gekommen,

um

Jessie

Marbles

tweedgekleidete Fassung erbeben zu lassen.

»Mon – wie sagt man gleich? – dieu!«rief

Milo Perrier aus. Sein Ausruf war so erschüt-
ternd, daß er damit tatsächlich Schwester
Withers geweckt hatte.

»Heiliger Jesus Christus!« rief sie aus.
Und schlief wieder ein.
Dick

Charlestons

Augen

strahlten

triumphierend.

»Jawohl«, sagte er, »vor vierundfünfzig

Jahren wurde sie vor dem Altar sitzen-
gelassen. Sitzengelassen in dem gleichen
ausgebeulten Tweedkostüm, in dem wir sie
hier vor uns sehen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Sidney

Wang.

»Ich abonniere«, antwortete Dick mit

siegesgewisser Stimme, »alte Ausgaben der
Londoner Times. Jede Information wird ir-
gendwann wichtig.«

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»Ist das wahr, Jess?« fragte sie ihr alter

Kumpel Sam Diamond.

Jessie Marbles schniefte. Hörbar.
»Ich

wurde

nicht

sitzengelassen«,

erklärte sie. »Ich habe ihn verlassen. Er woll-
te schon vor der Hochzeit mehr, als ich ihm
erlauben durfte.«

Milo Perrier, galant bis in die Finger-

spitzen, eilte ihr zu Hilfe.

»Und da Sie eine Dame sind, wie wir alle

wissen«, schlug er vor, »haben Sie das
abgelehnt?«

»Nicht

direkt«,

antwortete

Jessica

Marbles. »Ich verlor gewissermaßen die
Oberhand. Er verlangte von mir, daß ich
schlimme Worte sagte. Der Mann war ekel-
haft. Ich hätte ihn damals umbringen
können.«

Blicke wurden schweigend ausgetauscht.
»Aber«, betonte Jessie Marbles, »ich bin

darüber hinweggekommen – vor ungefähr
zwei Wochen.«

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»Das genügt mir«, sagte ihr alter Kumpel

Sam zwischen schmalen Lippen.

Er wandte sich an Milo Perrier.
»Wie isses denn mit Ihnen, Frenchie?«
»Ich bin kein Frenchie«, gab Milo Perrier

zurück und lief vor Wut rot an wie ein klein-
er Truthahn. »Ich bin ein Belgy!«

Dann beruhigte er sich wieder ein wenig.
»Und was die übrigen Motive für dieses

scheußliche Verbrechen betrifft«, setzte er
dann gelassen hinzu, »wie wär’s mit einem
Ödipus-Komplex?«

»Er meint Vatermord«, erklärte Dick

Charleston schnell für die anderen, die viel-
leicht nicht alle mit diesem Begriff vertraut
waren.

Mit erwartungsvollem Interesse musterte

er den kleinen belgischen Detektiv.

»Wollen Sie damit sagen«, fragte er, »daß

jemand in diesem Raum ein Nachkomme
Lionel Twains ist?«

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Mißtrauische Blicke huschten von einem

zum anderen. Wieder stieg die Spannung ins
Unerträgliche – einer belauerte den anderen.

Würde sich einer verraten? Von wessen

Lippen

war

ein

Schuldbekenntnis

zu

erwarten?

Nicht so eilig!
Tess Skeffington erhob ihre Stimme.
»Er –«, stammelte sie. »Er –«
Sie riß sich sichtlich zusammen.
»Lionel Twain war nicht mein Vater«,

brachte sie endlich heraus. »Er war mein
Onkel.«

»Er… er… er war immer so gut zu mir. Er

ging mit mir in den Zirkus. Und er kaufte
mir Bonbons.«

Sie schluchzte schmerzlich auf bei der

Erinnerung an die Bonbons.

»Wir –«, stammelte sie weiter. »Wir – als

ich sechsundzwanzig war, gingen wir nicht
mehr hin.«

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Sie wandte ihr tränennasses Gesicht Sam

Diamond zu.

»Entschuldige, Sam«, heulte sie.
»Sechsundzwanzig!« wandte Sam ein.

»Sechsundzwanzig? Was zum Teufel war
denn das für’n Zirkus?«

Aber er bekam keine Antwort.
Milo Perrier war noch einen weiteren

Schritt vorgetreten. »Ich bitte um Verzei-
hung«, unterbrach er, »aber ich sprach von
Vatermord, nicht von Onkelmord.«

Er schien verärgert und verletzt. Aber wer

wäre das nicht, der eine Diskussion über
Vatermord angeregt hatte und sich dann auf
so banalen Seitenstrecken wie Onkelmord
abgeschoben wiederfand.

Er schnaubte wütend durch die Nase.
»Lionel Twain«, sagte er zu Tess, »mag

vielleicht Ihr Onkel gewesen sein. Aber er
war nicht Ihr Vater. Tatsächlich war er je-
doch der illegitime – wie sagt man gleich? –
Vater von Monsieur Sidney Wang.«

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Alle Augenpaare richteten sich auf Sidney

Wang.

Sidney Wang verlor nicht seine oriental-

ische Fassung.

»Stimmt nicht«, gab er zurück. »Stimmt

nicht, daß Lionel Twain mein illegitimer
Vater war. Ich wurde adoptiert. Ich habe
Papiere darüber. Deshalb habe ich auch alle
meine Kinder adoptiert.«

»Ach so«, murmelte Willie Wang. »Ich

hatte mich schon gewundert…«

Sein adoptierter Vater fuhr fort:
»Lionel Twain hat mich sehr geliebt.

Aber als ich neunzehn wurde, rief er mich
eines Tages in sein Arbeitszimmer…«

Seine Stimme erstarb, als ihn die lang

verdrängte Szene in der Erinnerung wieder
überwältigte. Das ehrwürdige Arbeitszim-
mer. Der Ruf seines Vaters.

»Er rief mich in sein Arbeitszimmer und

dabei merkte er, daß ich Orientale war. Er
warf mich aus seinem Haus. Ich hätte ihn –«

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Er riß sich zusammen.
Zu spät.
Milo Perrier vervollständigte seinen Satz

und damit seine Geschichte.

» – umbringen können, eh, Monsieur

Wang? Sie hätten ihn – wie sagt man gleich?
– ermorden können, nicht wahr? Ja? Ja?
Oui? Oui?«

»Stop!« schrie Sam Diamond plötzlich.
Alle Augenpaare wandten sich ihm zu.
Der Ausdruck namenlosen Schmerzes

verzog sein narbiges Gesicht.

»Hab’ ich nicht vorhin schon darum geb-

eten, hinausgehen zu dürfen?« brach es aus
ihm heraus. »Oh, nein! Wie konnten Sie mir
das antun?«

Sidney Wang ignorierte diesen Ausbruch.
»Jawohl, Monsieur Perrier«, sagte er.

»Ich hätte Lionel Twain umbringen können
– genauso leicht wie Sie. Denn Lionel Twain
brachte das Einzige auf der Welt um, das Sie
je geliebt haben: Marie-Louise Cartier!«

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»Ihre Geliebte?« fragte Dick mit plötz-

licher Anteilnahme, die ihn unvermutet für
den dicken kleinen Mann ergriff, der viel-
leicht doch einmal richtig verliebt gewesen
war und dann sehr gelitten hatte.

Milo Perrier schüttelte den Kopf und ant-

wortete: »Mein Pudel.«

Namenlose Trauer breitete sich auf

seinem eiförmigen Gesicht aus.

»Lionel

Twain

war

ein

grausamer

Mensch«, erzählte er den anderen. »Jedes
Jahr im – wie sagt man gleich? –
Spätsommer…«

»Sagen Sie doch gleich ›Herbst‹, Mann«,

unterbrach ihn Jessie Marbles mit gerunzel-
ter

Stirn.

»Schließlich

sind

Sie

kein

Amerikaner.«

Dann erinnerte sie sich.
»Auch, wenn Sie Belgier sind.«
Schüchtern fuhr Milo Perrier fort mit

seiner

Geschichte.

»Jedes

Jahr

im

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September kam Lionel Twain damals nach –
wie sagt man gleich? – Belgien zur
Pudeljagd.«

Er schluchzte auf.
»An dem Tag, an dem sie mir ihr kleines

blutverschmiertes

Halsband

brachten«,

murmelte er, »an dem Tag schwor ich, daß
ich ihn eines Tages –«

»- ins Jenseits schicken würden?« schlug

Sam Diamond vor.

»Ja«, gab Milo Perrier zur. »Ja, sowie ich

dazu eine Gelegenheit haben würde, mit
Freuden. Aber leider hatte ich diese – wie
sagt man gleich? – Gelegenheit nie. Jemand
hier ist mir zuvorgekommen.«

»Also«, überlegte Sam laut, »gab es mehr

als einen Grund, uns hierher einzuladen.
Twain wollte nicht nur unser Können als
Detektive testen, sondern wir alle hatten
auch berechtigte Gründe, den alten Herrn
ins Jenseits zu befördern.«

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»Von Ihrem Motiv haben wir noch keine

Kenntnis, Mr. Diamond«, wandte Sidney
Wang ein.

Sam lächelte traurig.
»Das Motiv ist nicht so wichtig«, sagte er.

»Lassen wir es einfach dabei, daß ich ihn
genug haßte, um ihn umzubringen.«

»Sie sind ein verschlossener Mensch, Mr.

Diamond«, sagte Wang. »Sie verbergen
vieles. Könnte es sein, daß Mr. Twain eines
Ihrer

wichtigsten

Geheimnisse

heraus-

bekommen hat?«

Sam zuckte kaum sichtbar zusammen.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, ant-

wortete er zwischen schmalen Lippen.

Sidney Wang wandte sich halb um und

sah Tess in die Augen.

»Weiß er’s wirklich nicht, Miss Skeffing-

ton?« fragte er hinterhältig.

Alle schauten jetzt Tess an. Sie senkte die

Augen.

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»Twain hat Sam in der Bar eines Bordells

aufgelesen«, murmelte sie.

»Ich hatte einen Fall zu bearbeiten«, fiel

ihr Sam ins Wort. »Ich war im Dienst.«

»Jeden Abend?« fragte Tess. »Sechs

Monate lang?«

»Ich bekam einen Tagessatz von fünfzig

Piepen«, verteidigte er sich. »Ich hasse diese
Schlampen.«

»Twain hat verfängliche Polaroid-Fotos

von ihm gemacht«, erzählte Tess traurig.

»Ich mußte doch so tun als ob«, brüllte

Sam. »Nur so tun, verdammt. Da gibt’s
genug in so ’nem Puff. Ich habe nie eine auch
nur geküßt und würde ich je etwas mit ’nem
Mann machen, was ich nicht auch mit ’ner
Frau machte? Und… und… und ich habe
Twain nicht umgebracht.« Seine Stimme war
immer schriller geworden. Aber dann plötz-
lich hörte er wieder auf. Ganz sanft, fast
liebevoll wandte er sich an Tess.

»Scheißschlampe.«

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»Interessant«, bemerkte Sidney Wang.

»Jeder von uns hat ein perfektes Motiv, um
Mr.

Twain

zu

ermorden.

Höchst

interessant.«

Jessie Marbles stieß einen Schnaufer aus

wie ein sterbender Wal.

»Wir haben immer noch die Nacht vor

uns«, sagte sie. »Wenn jemand diesen Fall
aufklären soll, finde ich, sollten wir vorher
wenigstens etwas schlafen.«

»Ein bewundernswerter Vorschlag«, fand

Milo Perrier. »Und in diesem Zusammen-
hang möchte ich allen raten, die Türen gut
zu verschließen. Denn einer von uns ist – wie
sagt man gleich? – skrupellos.«

Und mit solcherlei fröhlichen Gedanken

verabschiedeten sich die fünf Detektive und
ihre fünf Begleiter voneinander und begaben
sich zu Bett.

Aber würden sie auch Schlaf finden?

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18

Das große alte Haus in der Lola Lane lag

still und scheinbar friedlich in der Dunkel-
heit. In der kalten, menschenleeren Küche
rührte sich nicht mal eine Maus. Die einzige
Maus des Hauses war diejenige im Schlafzi-
mmer der Charlestons, wohin sie sorgfältig
placiert worden war in der Hoffnung, daß sie
von einem der beiden kurz nach der Ent-
deckung, daß der Staub Mehl und die Spinn-
weben Zuckerwatte waren, aufgestöbert wer-
den würde.

Auf der langen Tafel im leeren Speisesaal

standen noch immer die Suppenteller samt
Bestecken, einzige Zeugen eines Essens, das
nie stattgefunden hatte. Auch in dem
schaurigen Salon war jetzt alles still. In

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einem Aschenbecher lagen die Kippen von
Sam Diamonds Zigaretten.

Auch die hohe Halle mit ihren Ritterrüs-

tungen und Tierkopf-Trophäen lag still da.
Kein Flüstern war zu hören. Die Hausbiblio-
thek mit ihren deckenhohen, schier endlosen
Regalen voll kostbar gebundener Kriminal-
romane war jetzt ebenso verlassen und
gleichermaßen still. Selbst das schwelende
Kaminfeuer schien sich ganz leise selbst
gelöscht zu haben.

Auf dem langen Korridor im darüberlie-

genden Stockwerk, wo die fünf Zimmer la-
gen, in denen die Detektive mit ihren Beg-
leitern untergebracht worden waren, schien
auch alles ruhig. Durch den zugigen Flur
flüsterte nur die Zugluft.

Und noch darüber? Was war mit dem

versteckten Raum unter dem Dach des
Hauses, in dem sich eine ganze Batterie
Fernsehschirme befand? War da jetzt noch

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jemand, der sich die Szenen auf den Bild-
schirmen ansah?

Die Bildschirme waren jedenfalls alle

eingeschaltet. So viel war mal sicher. In einer
Reihe standen die fünf Apparate, jeder ver-
bunden mit einer versteckten Kamera, die
mit hinterhältiger Aufmerksamkeit jedes der
fünf bewohnten Schlafzimmer im mittleren
Geschoß im Auge behielt. Und, obwohl es
auch in diesen Zimmern ruhig zu sein schi-
en, war doch auf jedem Bildschirm etwas zu
sehen. Aus jedem Lautsprecher, der mit ge-
heimem Mikrophon mit dem jeweiligen Bild
gekoppelt war, war etwas zu hören.

In dem Schlafzimmer, das den Wangs

zugewiesen worden war, konnte man die
ungefähren Umrisse der beiden Gestalten in
dem großen Bett erkennen, das noch immer
deutliche Spuren des verheerenden Feuers
aufwies, welches Benson darin angezündet
hatte. Die beiden Wangs, Vater und Sohn,
schienen zu schlafen, jeder mit seinem

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Käppchen. Der schwere Türriegel war of-
fensichtlich fest vorgeschoben. Alles schien
ganz friedlich.

Aber plötzlich erhob sich im Halbdunkel

Willie Wangs nimmermüde optimistische
Stimme.

»Woran denkst du, Paps?«
»Ich frage mich…«, antwortete Sidney

Wang.

»Ja?« fiel Willie ein, ganz voller

Erwartung.

»… warum du mit Schuhen schläfst.«
»Für den Fall, daß wir mitten in der

Nacht angegriffen werden, Paps«, antwortete
Willie.

Daraufhin Schweigen. Falls jemand den

Monitor ansah, hätte dieser jemand fast se-
hen können, wie sehr Willie mit sich käm-
pfte, nicht noch eine Frage zu stellen. Aber
das Schweigen dauerte nicht allzulange.

»Paps, wen hältst du für den Mörder?«

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»Muß ich überschlafen«, antwortete Sid-

ney Wang. »Morgen, wenn ich aufwach’,
werde ich wissen.«

»Und wenn du nicht mehr aufwachst,

Paps?«

»Dann warst du’s«, antwortete Wang

ohne den leisesten Zweifel.

Aber, um nicht den Teufel an die Wand

zu malen, fügte er noch einen väterlichen Be-
fehl hinzu:

»Schlaf jetzt.«
»Ja, Paps. Gute Nacht, Paps.«
Willie gab seinem Vater einen Vater-

Sohn-Gute-Nacht-Kuß auf die Wange.

»Hätte besser Hund adoptieren sollen«,

meinte Sidney Wang traurig.

Er drehte sich auf die andere Seite und

zog sich die Decke bis über die Ohren hinauf.

Dann wieder Schweigen.
Auch diesmal nicht für lange.
Plötzlich klang ein durchdringendes

»Ssssssss« durch das Zimmer.

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»Soll ich die Dampfheizung abdrehen,

Paps?« fragte der besorgte Willie.

Sidney Wang gab keine Antwort.
Statt dessen wurde das »Ssssss« immer

durchdringender.

»Paps?«
»Sssssssss.«
»Paps?«
Willies Stimme wurde schrill.
»Paps?«
»Ist kein Dampf«, kam Sidney Wangs

Stimme aus dem Halbschlaf. »Jemand hat
Schlange ins Zimmer gelassen. Biß tödlich.
Vater wecken, wenn kommt näher ans Bett.«

Oben im Fernsehraum wurde es plötzlich

auf einem weiteren Bildschirm lebendig. Es
war der Monitor, dessen Geheimkamera sich
im Schlafzimmer der Charlestons befand.

»Ich muß dir etwas sagen, Dickie-

Liebling«, hörte man Doras Stimme durch
das versteckte Mikrophon.

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Erwartungsvolles Schweigen folgte, da

Dickie gespannt war, was sie ihm sagen
mußte.

Dann hörte man wieder Doras Stimme.
»Ich möchte, daß du weißt, auch wenn du

der Mörder bist, daß ich dich trotzdem
liebe.«

Pause. Dickie ließ sich Zeit, um die Kon-

sequenzen dieser Eröffnung abzuschätzen.

Wieder erklang Doras Stimme.
»Ich würde es jetzt nicht für richtig hal-

ten, daß wir miteinander schlafen, aber ich
liebe dich wirklich trotzdem.«

Wieder entstand eine lange Pause,

während der Dick sich das überlegte.

Jeder

etwaige

Zuschauer

im

Fernsehraum

hätte

sich

einigermaßen

enttäuscht gefühlt.

»Nun, fassen wir mal zusammen, was wir

bis hierher aufzuweisen haben«, sagte Dick
schließlich.

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»Wir haben einen toten, nackten Butler,

der verschwunden ist.«

Er streckte den Daumen in die Luft, der

für den toten, nackten, verschwundenen But-
ler stand.

»Dann haben wir einen Gastgeber mit

einem Metzgermesser im Rücken.«

Der Daumen bekam Gesellschaft vom

Zeigefinger für den Gastgeber.

»Außerdem haben wir eine in Einzelteile

zerlegte,

elektronisch

gesteuerte,

taub-

stumme Köchin.«

Der nächste Finger streckte sich hoch,

um der zerlegten, elektronisch gesteuerten,
taubstummen Köchin Rechnung zu tragen.

»Und dann«, sagte er, »haben wir noch

einen tödlich giftigen Skorpion, der gerade
über unsere Bettücher kriecht.« Der nächste
Finger war für den tödlich giftigen Skorpion.
»Ach, ein Skorpion ist das?« fragte Dora.
»Ich hatte mich schon gefragt…«

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»O ja«, versicherte Dick ihr. »Sein Stich

wirkt augenblicklich tödlich. Keiner von uns
beiden sollte sich bewegen, Darling.«

»Wie lange?«
»Möglicherweise für den Rest unserer

Tage.«

Dann war wieder alles still im Schlafzim-

mer der Charlestons. Eine tödliche Stille.

Der Bildschirm, der mit dem Zimmer von

Miss Jessie Marbles und ihrer treuen alten
Pflegerin, Miss Withers, verbunden war,
zeigte die beiden lieben Alten mit ihren
schiefen Nachthäubchen zusammen in dem
großen Bett. Plötzlich dröhnte die Stimme
von Miss Marbles durch das Halbdunkel wie
ein Nebelhorn durch die tückische Nacht auf
See.

»Schlafen Sie, Schwester?«
Stille.
Nicht mal das Zischen einer todbring-

enden Schlange oder das kaum hörbare

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Krabbeln winziger Skorpionfüßchen störte
die Ruhe.

»Ich fragte, ob Sie schlafen?«
Aber die Stille war womöglich noch

vollkommener als in dem Zimmer, wo der
schreckensstarre Willie Wang hilflos der
züngelnden Giftschlange zusah, wie sie Zen-
timeter für Zentimeter über den Fußboden in
Richtung auf das Bett zuschlängelte, in dem
er Seite an Seite neben seinem verehrung-
swürdigen und -verdammt noch mal – sch-
lafenden Vater lag. Genauso wie die Stille,
die Dick und Dora Charleston in ihrem Sch-
lafzimmer umgab, während der kleine Skor-
pion – tappi, tippi, tappi – sich seinen Weg
über die Bettlaken bahnte, voller Vorfreude
auf einen kleinen Mitternachts-Imbiß.

»Schwester, sind Sie tot?« dröhnte die

Nebelhornstimme.

»Nein.«

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»Dann sagen Sie’s doch gleich«, zürnte

Jessie Marbles. »Es ist wirklich höchst unan-
genehm, nicht Bescheid zu wissen.«

Diese Bemerkung wurde wiederum mit

glattem Schweigen quittiert.

»Und jetzt Ruhe«, fuhr Jessie Marbles

erzürnt fort, »damit ich nachdenken kann.«

Schwester Withers war ruhig, abgesehen

von einem leisen Schnörcheln. Miss Marbles
begann nachzudenken, nicht ganz so hörbar.

»Hmm«, sagte sie nach ungefähr zehn

Minuten.

Und wieder senkte sich Stille herab. Kein

Schlangenzischen, kein Skorpiontappen.

Weitere zehn Minuten vergingen.
»Ja…«, sagte Miss Marbles dann mit ein-

iger Befriedigung.

Schweigen. Nachdenken. Schnörcheln.
»Ja…«
Diesmal eine Spur selbstsicherer.
Dann wieder Stille.
»Absolut möglich.«

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Klang vielversprechend.
Wieder Stille.
»… aber andererseits…«
Auch das klang vielversprechend. Aber

dann war wieder nur Stille. Nur diesmal
wurde sie von etwas unterbrochen, das wie
eine mittlere Explosion klang. Miss Marbles
hatte sich in ihrem Bett aufgesetzt.

»Großer Gott!« sagte sie. »Ich weiß, wer

der Mörder ist.«

»Mörderchen gefunden?« fragte eine

krächzende Stimme in dem Moment, wo das
Schnarchen aufhörte.

»Ja, Miss Withers«, antwortete Jessie

Marbles triumphierend, »gefunden und ent-
deckt. Der Mörder ist –«

Aber plötzlich hielt sie inne.
»Mein Gott!« rief sie aus. »Gas!«
»Tut mir leid«, murmelte Schwester

Withers. »Ich kann nichts dafür. Ich bin halt
alt.«

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»Nein, nein«, gab Jessie Marbles brüsk

zurück. »Das andere Gas. Es stinkt nach
Gas, das tödlich ist.«

»Manchmal stinke ich…«, murmelte Sch-

wester Withers entschuldigend.

Aber Miss Marbles hatte das Bett schon

verlassen. Das sah in etwa so aus, als ob ein
Elefant in höchster Eile aus dem Dschungel
flüchtet bei dem unerwarteten Auftauchen
des Elefantenboys, ob nun von Mr. Rudyard
Kipling oder von Mr. Walt Disney los-
gelassen. Sie eilte schnüffelnd durch das
Zimmer, japsend wie ein Wal auf dem
Trockenen.

»Es kommt durch den Ventilator«, dröh-

nte schließlich ihre Stimme.

Sie eilte hinüber zur Tür und packte die

Klinke. Die Tür widerstand, absolut.

»Von draußen zugeschlossen«, verkün-

dete Miss Marbles. Ein Hustenanfall schüt-
telte sie, schüttelte sie so heftig, wie ein

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Erdbeben das Empire State Building schüt-
teln würde.

»Die Fenster«, schrie sie.
Sie lief so schnell sie konnte durch den

Raum und warf die schweren Samtvorhänge
an den Fenstern zurück. Sie sah sich blanken
Stahlgittern gegenüber.

»Eingesperrt!« schrie sie. Eine rasche

Auffassungsgabe hatte sie, unsere Miss
Marbles.

»Hilfe!« schrie sie.
Ein weibliches Wesen in Not, Miss Jes-

sica Marbles.

Vom Bett herüber kam ein schwaches,

mißtrauisches Schnaufen.

»Riecht doch gar nicht so schlecht, finde

ich«, murmelte Schwester Withers.

Nicht nur in Miss Marbles Zimmer war

jetzt einiges los, sondern auch auf einem der
anderen Monitoren weiter oben rührte sich
etwas. Tess lag im Bett, während Sam
rauchend im Zimmer auf und ab lief.

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»Hab’ ich’s richtig gemacht, Sam?« fragte

Tess ohne Zusammenhang. »Daß ich ihnen
von der seltsamen Bar erzählt habe?«

»Absolut perfekt, Süße«, antwortete Sam

zwischen schmalen Lippen. »Sie haben den
Köder geschluckt wie dumme Schellfische.«

Er lächelte böse.
»Sollen sie nur glauben, daß ich ein Sch-

wuler bin«, sagte er. »Das wird sie so lange
beschäftigen, bis einer von ihnen die Hosen
herunterlassen muß.«

Tess stellte sich das eine Weile schwei-

gend vor. Dann hatte sie noch eine Frage.

»Sam, warum hast du all diese Männer-

magazine mit nackten Muskelmännern in
deinem Büro?«

»Verdächtige«, kam es wie aus der Pis-

tole geschossen von Sam. »Ich lasse nie ein-
en Verdächtigen aus dem Auge.« Plötzlich
hielt er mit einem dramatischen Ruck inne
bei seinem Auf- und Abgehen. Er wirbelte

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herum und warf einen strengen Blick auf die
verschlossene Tür.

»Hallo«, sagte er, »da hat gerade jemand

einen Zettel unter der Tür durchgeschoben.«

Mit zwei, drei schnellen Schritten war er

an der Tür. Er hob den Zettel auf, faltete ihn
auseinander und las:

»Da Sie nun von beiden Seiten fest

eingesperrt sind, Mr. Diamond, wird es Sie
vielleicht interessieren zu wissen, daß in Ihr-
er Uhr eine Bombe tickt. Sie wird losgehen,
sowie Sie nur einen Blick darauf werfen. Un-
terschrift: ein Mörder.«

Er wandte sich um und sah Tess ernst an.
»Tut mir leid«, sagte er. »Wo ich dir noch

so viel Geld schulde.«

Tess sah ihn wimpernklimpernd an.
»Das macht doch nichts, Sam«, sagte sie.

»Aber was sollen wir machen?«

Wilde Entschlossenheit machte sich auf

Sams schartigem Gesicht breit.

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»Ich hab’ ’ne Idee«, sagte er zwischen

schmalen Lippen. »Ich weiß zwar nicht, ob’s
funktioniert, aber…«

Blitzschnell sah er sich in dem Raum um.
»Schnell«, sagte er dann zwischen sch-

malen Lippen. »Dreh mir den Rücken zu.«

Gehorsam warf sich Tess im Bett herum

auf die andere Seite.

»Du darfst dich auf keinen Fall umdre-

hen«, warnte er sie.

»Kannst dich auf mich verlassen.«
»Gut so. Weil, ich glaube, ich muß gleich

weinen.«

Oben im Fernsehraum konnte man durch

die Lautsprecher hören, wie Sam Diamond
schluchzte, schluchzte wie ein kleines Kind.
Aber auch der Lautsprecher, der mit dem
Monitor gekoppelt war, der das Zimmer
überwachte, das Benson, der Butler, Milo
Perrier und seinem ergebenen Chauffeur-
Freund-Secrétaire angewiesen hatte, wurde

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lebendig. In dem großen Himmelbett sah
man Milo und Marcel Seite an Seite liegen.

Zaghaft erhob sich die Stimme von

Marcel.

»Ich wollte mich noch bedanken, daß ich

mit Ihnen, Monsieur, in einem Bett schlafen
darf. So fühle ich mich doch sehr viel
sicherer.«

Dann kam die Stimme Milo Perriers aus

dem

Halbdunkel.

Die

Stimme

klang

verstimmt.

»Du bleibst zwar in meinem Bett, aber

schlafen wirst du nicht. Du bist nämlich jetzt
mein Leibwächter. Das heißt mit anderen
Worten, du sollst meinen – wie sagt man
gleich? – Leib bewachen.«

Aber da kam wieder Marcels Stimme aus

dem Halbdunkel. Sie klang wenig begeistert.

»Ist ja Ihr Leib, also bewachen Sie ihn

selbst! Sie bezahlen mich nur dafür, daß ich
Chauffeur bin!«

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»Aber

ein

Chauffeur-Freun-

d-Secrétaire!!!«

»Nein, zahlen tun Sie mich nur für mein

Dasein als Chauffeur.«

»Also gut«, antwortete Milo Perrier eisig.

»Dann geh und schlaf im Wagen.«

»Das ist unfair«, beklagte sich Marcel

weinerlich. »Dann erzähl’ ich jedem, daß Sie
ein Toupée tragen.«

»Das weiß doch jeder.«
Was war da zu machen?
»Warum tragen Sie es dann?«
Irritierende Frage so im Halbdunkel.
»Ich wußte nicht«, erklärte Milo Perrier,

»daß du es wußtest.«

»Natürlich weiß ich es. Es ist ein schreck-

liches Toupée.«

Diese Diskussion hätte ewig weitergehen

können. Aber genau an diesem Punkt er-
reichte ein winzig kleines Kratzgeräusch das
aufmerksame Ohr des kleinen belgischen
Detektivs.

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»Ruhig«, zischte er.
Marcel war ruhig. Noch hatte er sich

seine nächste Erwiderung nicht gründlich
genug überlegt, also war er ganz froh
darüber, noch ein wenig Zeit zum Nachden-
ken zu haben.

Aber die sollte er nicht bekommen.
»Jemand ist – wie sagt man gleich? –

draußen vor der Tür«, zischte Milo Perrier.

Marcel fühlte sich verunsichert.
»Schnell, raus aus dem Bett und schau

nach, wer da ist.« Das gefiel Marcel noch
weniger. Aber schließlich war er Milo
Perriers Chauffeur-Freund-Secrétaire (auch
wenn er nur für den Chauffeur-Part bezahlt
wurde), und er kannte seine Pflichten.
Außerdem wußte er nicht, wie er sich hätte
drücken können.

»Schnell«, flüsterte Milo Perrier. »Nun

mach schon. Wie sagt man gleich? Depêchez-
vous.
«

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Marcel schlich auf bloßen Füßen hinüber

zur Tür. Er packte die Klinke und versuchte,
sie herunterzudrücken. Es ging. Er ver-
suchte, die Tür zu öffnen. Das ging nicht.
»Zugesperrt«, zischte er.

»Selbstverständlich zugesperrt, Schwach-

kopf«, zischte Milo Perrier zurück. »Hatten
wir nicht verabredet, daß wir alle – wie sagt
man gleich? – unsere Türen zusperren?«

»Oui, Monsieur.«
»Also schließ auf, imbécile!«
Marcel zog den schweren Riegel zurück

und versuchte noch einmal, die Klinke her-
unterzudrücken. Wieder zog er an der Tür.
Sie öffnete sich nicht.

»Monsieur, sie ist zugesperrt.«
»Imbéc–«
»Von draußen, Monsieur.«
Milo Perrier seufzte schmerzlich auf. Und

dann bemerkte er etwas. Etwas affreusement
Eigenartiges.

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»Marcel«, sagte er, »du kommst mir

plötzlich größer vor.«

»Monsieur?«
»Warum kommst du mir plötzlich größer

vor?« fragte sein irritierter Brötchengeber.

»Ich verstehe Sie nicht, Monsieur«, ant-

wortete Marcel. »Ich wachse schon seit
langem nicht mehr.«

Milo Perrier dachte angestrengt nach.
»Wenn du nicht mehr wächst«, sagte er,

»dann gibt es für mich nur eine Alternative
dafür, daß ich dich wachsen sehe. Und das
ist folgendes.«

»Monsieur?«
»Dann wird das Zimmer kleiner.«
Marcel sah sich in dem Zimmer um. Milo

Perrier sah sich im Zimmer um. Und daran
gab es keinerlei Zweifel. Das Zimmer wurde
kleiner.

»Mon dieu«, bemerkte Marcel, bis ins

Mark getroffen, »die Decke kommt ’runter.«

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Damit hatte er vollkommen recht. Lang-

sam, langsam senkte sich die Zimmerdecke
herunter. Im nächsten Augenblick erreichte
sie die Pfostenspitzen des großen Himmel-
bettes. Einen oder zwei Atemzüge lang
geschah nichts. Würde das Bett unsere
Helden vor der Katastrophe bewahren?
Natürlich nicht. Knirsch, knirsch, knirsch,
knirsch.
Ein Pfosten nach dem anderen gab
seinen Widerstand auf.

»Was sollen wir tun?« heulte Marcel.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Milo Per-

rier ernst. »Aber so viel weiß ich. Genauso
machen sie – wie sagt man gleich? -
Gänseleberpastete.«

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19

Gegen die hohen Fenster der Bibliothek

des alten Hauses trommelte der Regen
(elektronisch). Die Stille des hohen, ehrwür-
digen Raumes wurde von Zeit zu Zeit durch
polterndes, rollendes Donnern (elektronisch)
gestört. Durch die Fenster, die noch nicht
von den schweren Vorhängen verhängt war-
en, sah man das grün-violette Flackern und
Zucken der Blitze (elektronisch).

In dem Lichtkegel, der auf den Schreibt-

isch fiel, sah man zwei Hände, die über
einem einzelnen, dicken Blatt Papier zögernd
schwebten. Auf dem Papier stand in satter,
schwarzer Tinte in einer höchst individuellen
Handschrift eine Liste von fünf Namen ges-
chrieben. Jeder dieser Namen war von einem
zweiten begleitet.

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In der einen Hand befand sich ein Feder-

halter. Der Federhalter wurde in das Tinten-
faß getaucht und mit einem breiten, geraden,
schwarzen Strich wurde der erste Name
ausgestrichen.

Monsieur Milo Perrier (und Marcel

Cassette).

Ein leises Kichern klang durch den

Raum. Wieder wurde der Federhalter ge-
hoben, eingetaucht und strich aus.

Sam Diamond (und Tess Skeffington).
Und wieder das leise Kichern, kaum laut-

er als das Knistern des Feuers im Kamin
(elektronisch).

Zum dritten Mal tauchte die Feder in das

Tintenfaß und ein breiter Strich zog sich
durch den nächsten Namen.

Miss Jessica Marbles (und Schwester

Withers).

Leise und boshaft war das winzige Kich-

ern, das darauf folgte. Leise und boshaft

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knackten und knisterten die Holzkohlen in
dem großen Kamin.

Dann hing der Federhalter wieder in der

Luft und senkte sich zu einem weiteren
Strich auf der Namensliste.

Mr. Dick Charleston (und Mrs. Dora

Charleston).

Leise, hinterhältig und voller Bosheit war

das Kichern, das dieser Tat folgte.

Und dann hob sich der Federhalter für

den letzten vernichtenden Strich.

Einen Moment lang schien er über dem

letzten Namen auf der Liste zu schweben.

Mr. Sidney Wang (und Willie Wang).
Er schwebte.
Und zögerte.
Eine Stimme hatte sich aus dem Dunkel

erhoben,

eine

muntere,

unüberhörbare

Stimme, die die samtige Stille durchschnitt.

»Nicht so schnell, bitte.«
Es war die Stimme von Sidney Wang,

Meisterdetektiv. Sidney Wang, der erst vor

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wenigen Minuten friedlich schlafend in dem
großen (und teilweise von Feuer ruinierten)
Bett gelegen hatte, während neben ihm, wie
gebannt und mit weit aufgerissenen Augen,
sein Adoptivsohn Nummer Drei, Willie, gele-
gen hatte und auf sie beide mit tödlicher
Sicherheit eine der giftigsten Giftschlangen
züngelnd zuschlängelte.

»Nicht ausstreichen meinen Namen«,

fuhr Sidney Wang fort und blieb unter der
Tür

stehen.

»Statt

dessen

›Schlange‹

durchstreichen.«

Hinter seinem Vater tauchte Willie Wang

auf. Um seinen Hals baumelte eine Schlange,
mausetot. Aber sie war so fest um seinen
Hals geschlungen, daß Klein-Willie sichtbar
die Augen aus dem Kopf quollen.

»Gut gemacht, Paps«, krächzte er. »Aber

ich wäre froh, wenn du nicht so einen festen
Schlaf hättest.«

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Er verschaffte sich mit beiden Händen

mehr Luft und der Zustand seiner Augen
normalisierte sich.

Aber als sein Vater weitersprach, fielen

sie ihm wieder fast aus dem Kopf.

»Und nun«, sagte Sidney Wang im

gleichen gleichmütigen Tonfall wie eben,
»wenn Sie mir nun bitte eine Million Dollar
aushändigen würden, Mr. Bensonmum!«

Der Mann am Schreibtisch wirbelte mit-

samt

seinem

hochlehnigen

Drehsessel

wütend herum. Und im Lichtkegel der
Schreibtischlampe erkannte man als Mr.
Bensonmum eigentlich schlicht den alten
Butler Benson. Aber jetzt war er nicht mehr
ein nackter, toter Butler. Ganz und gar nicht.
Er trug einen sehr gut geschnittenen
Smoking.

»Alle Achtung, Mr. Wang, ziemlich klug«,

sagte er.

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»Aber –«, sagte Willie, der einen Blick

von den jetzt unbebrillten Augen Bensons er-
hascht hatte, die ihn ganz direkt ansahen.

»O ja«, sagte Bensonmum. »Wie Sie se-

hen können, kann ich sehen.«

»Das sehe ich«, sagte Wang.
Bensonmum entspannte sich ein wenig

und lehnte sich in seinem Drehsessel zurück.

»Sagen Sie mir«, sagte er, »Sie, als der

einzig Überlebende meines kleinen Tests,
Mr. Wang, wie sind Sie darauf gekommen,
daß ich es war?«

Sidney Wang lächelte, lächelte nur ein

ganz kleines bißchen.

»Bin zurückgekommen auf die uralte

Theorie, die heutzutage kaum mehr ange-
wandt wird und sehr selten geworden ist«,
erklärte er. »Der Mörder ist immer der
Butler!«

Bittere Enttäuschung und Zorn breiteten

sich auf Bensonmums Gesicht aus.

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»Darauf wäre ich nicht gekommen«,

knurrte er.

Aber dann fing er sich wieder ein wenig

und warf dem chinesischen Detektiv einen
hinterhältigen Blick zu.

»Aber wie erklären Sie sich dann, daß Sie

doch meine Leiche in der Küche fanden?«
fragte er scharf.

»Der Körper war kunstvoll aus feinem

Plastik gemacht«, antwortete Wang schlicht.
»Genau wie der von Köchin. Während wir
Plastikleichen untersuchten, haben Sie Mr.
Twain ermordet.«

Schlichte Verblüffung zeigte sich auf Ben-

sonmums Gesicht.

»Sie sind wirklich ein ganz schlauer

kleiner Gemüsebauer, Mr. Wang«, gab er zu,
wenn auch nicht so ohne Hintergedanken,
wie ein echter, ehrlicher britischer Butler
eine sportliche Niederlage zugegeben hätte.

Aber noch bevor Sidney Wang den Tri-

umph genießen konnte, daß er immerhin

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nicht »zu schlecht abgeschnitten« hatte, er-
hob sich eine andere Stimme in der Stille der
Bibliothek.

Eine Stimme, die weder Wang selbst

noch der mysteriöse Mr. Bensonmum zu
hören erwartet hätte.

»Sehr klug«, sagte die Stimme. »Aber

nicht klug genug.«

Wang wirbelte herum.
Willie wirbelte herum.
Bensonmum brauchte nicht herumzuwir-

beln. Aber er mußte seinen Hals recken, um
an Wang und Willie vorbeisehen zu können
und damit festzustellen, wer da hinter ihnen
in der offenen Tür stand.

Es war Jessica Marbles.
»Sehr klug«, sagte sie noch einmal, »aber

nicht klug genug. Mir sind die eine Million
Dollar zu überreichen, Bensonmum, alias
Irving Goldman.«

»Irving Goldman?« fragte Sidney Wang,

gleichermaßen höflich und perplex.

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Jessica Marbles wirbelte zu ihm herum

wie ein Schlachtschiff und griff gleichzeitig
hinter sich. Sie packte Schwester Withers
Rollstuhl und darin saß niemand anderer als
Schwester Withers, und schon schob sie das
Ganze mitten ins Zimmer.

»Irving Goldman«, erklärte sie, »war der

Vermögensverwalter

des

verstorbenen

Lionel Twain. Twain ist vor fünf Jahren
gestorben. Seine Leiche wurde vor ungefähr
zwei Wochen in Goldmans Ablageschrank
entdeckt. Goldman hatte hunderttausend
Dollar Schulden, die er nicht zurückbezahlen
konnte und die er für die kleine Hure seines
Sohnes gemacht hatte. Andererseits war er
natürlich – wie es selbst jeder noch so un-
fähige Beobachter merken mußte – seinem
kleinen Söhnchen ein guter jüdischer Vater,
der sich nicht lumpen ließ, wenn sein Söh-
nchen in das Alter kam, wo er eine Hure
brauchte.«

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Sie hielt inne, um zu Atem zu kommen,

aber dann fuhr sie gleich fort.

»Also

hat

Goldman

sich

Twain

geschnappt und dann seinen Buchhalter,
Marvin Metzner, der folgendes herausfand:
wenn es ihm gelingen sollte, uns alle an
diesem Wochenende an der Nase her-
umzuführen, er dadurch eine Million Dollar
gewinnen würde, die er – durch ein Schlupf-
loch im Steuergesetz – mit nur fünfun-
dzwanzig

Prozent

Kapitalertragssteuer

würde versteuern müssen. Ist es nicht so,
Mr. Goldman?«

Verwirrt, ärgerlich und verständnislos

schaute Mr. Irving Goldman, alias Benson-
mum, alias Benson, alias toter, nackter But-
ler drein.

»Es ist so, Miss Marbles«, gab er zu.

»Aber

wie

sind

Sie

dem

Giftgas

entkommen?«

»Ganz einfach«, sagte Jessie Marbles und

zuckte lässig-massiv mit ihren gewaltigen,

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tweedgekleideten Schultern. »Ich habe mir
den Mund zugehalten und Miss Withers das
ganze Gas einatmen lassen.«

»Mir ist schlecht«, murmelte Miss

Withers.

»Ja, Liebes, ich weiß«, antwortete Jessie

Marbles tröstend.

Dann wandte sie sich wieder an Benson-

mum, alias Goldman, und streckte ihm ihre
große breite Hand hin.

»Eine Million Dollar, bitte«, sagte sie.
Goldman,

alias

Bensonmum,

schob

zögernd seine Hand in die Tasche.

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun,

Goldman«, sagte eine muntere, gepflegte
Stimme in diesem Augenblick.

Miss Marbles wirbelte herum wie ein

Schlachtschiff.

Schwester Withers wirbelte herum, in-

dem sie die Räder ihres Rollstuhls betätigte.

Sidney Wang wirbelte herum, er hatte ja

jetzt schon Übung.

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Willie Wang wirbelte herum – der Apfel

fällt nicht weit vom Stamm.

Irving Goldman brauchte nicht her-

umzuwirbeln, weil sein hochlehniger Sessel
noch immer in der richtigen Position stand,
um unerwartete Neuankömmlinge in der Tür
sehen zu können. Nur standen inzwischen
immer mehr Leute zwischen ihm und diesen
Neuankömmlingen. Also mußte er seinen
Hals noch mehr als vorher recken, aber auch
darin bekam er schließlich Übung. Und als er
den Hals gereckt hatte, wen sah er da?

Dick Charleston.
Und neben ihm, wenn auch ein kleines

Stückchen hinter ihm nach guter Ehefrauen-
Sitte, wen sah er da?

Dora Charleston.
»Oder«, fuhr Dick selbstsicher und über-

legen fort, »oder sollte ich besser nicht sagen
Mr.

Goldman,

sondern

Mr.

Marvin

Metzner?«

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Marvin Metzner, alias Irving Goldman,

alias Bensonmum, alias Benson, alias nack-
ter, toter Butler, lächelte und nickte
zustimmend.

»Sehr gut, Mr. Charleston«, sagte er,

»aber woher wissen Sie?«

»Das Zettelchen in der Faust des toten

Butlers«, erklärte Dick mit der ihm so gut
stehenden Überlegenheit. »Darauf war zu
erkennen, daß dieses ganze Wochenende
eingekauft war, wissen Sie noch? Nun, nur
ein Buchhalter würde einen solchen Zettel
auch noch im Tode umklammern.«

»Dickie«, kam die drängende Stimme

von Dora dicht hinter ihm, »laß dir das Geld
geben und komm, bitte!«

Die ganze Atmosphäre in der Bibliothek

war schon gespenstisch, und Dora, die ja
sehr sensibel war, schien keine Minute
länger hier verbringen zu wollen als un-
bedingt notwendig.

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Aber dabei hatte sie die Tatsache außer

acht gelassen, daß ihr Mann ein großer
Detektiv war. Und ein großer Detektiv nim-
mt nicht einfach sein Geld und geht. Ein
großer Detektiv gibt Erklärungen ab. Große
Erklärungen. Miss Dorothy L. Sayer’s Lord
Peter Wimsey brauchte bei derlei Gelegen-
heiten an die dreißig enggedruckte Seiten für
seine Erklärungen, und Dick wird sich daher
nicht damit abspeisen lassen, seine paar Dol-
lar zu nehmen und abzuhauen, auch nicht
bei einer Million Dollar.

»Nur noch einen Moment, Liebling«,

sagte er.

»Goldman«, fing er dann an in dem et-

was überheblichen, erklärenden Ton, mit
dem er schon das Ende von einer Million
Kriminalromane für Lionel Twain verdorben
hatte, »Goldman kam letzten Monat beim
Skilaufen ums Leben. Er sprang zweihundert
Fuß tief auf ein niedrigfliegendes Flugzeug.«

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Er trat einen Schritt vorwärts und baute

sich triumphierend vor Marvin Metzner, ali-
as Goldman, alias Bensonmum, alias Benson
auf.

»Bevor ich die Einladung für den vergan-

genen Abend angenommen habe«, fuhr er
fort, »habe ich mir die Mühe gemacht
herauszufinden, woher das Briefpapier stam-
mt, auf dem die Einladungen geschrieben
worden waren. So erfuhr ich den Namen von
Carlotta Penelope Aspromonte.«

»Dickie«, drängte Dora wieder.
Aber eher hätte man eine losgerissene

Lawine auf halber Höhe des Hanges stoppen
können, als einen großen Detektiv mitten in
seinen Erklärungen.

Ein böses Glitzern leuchtete in Dicks Au-

gen auf.

»Carlotta Penelope Aspromonte«, jubelte

er. »Aus San Jose.«

»Dickie, bitte.«
Siegesbewußt warf Dick den Kopf zurück.

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»Und dabei gibt es gar keine Carlotta

Penelope Aspromonte in San Jose«, sagte er.

Halb im Scherz hob er einen drohenden

Zeigefinger und sah alle an.

»Aber mit wessen Initialen, meine Da-

men und Herren, sind die Anfangsbuch-
staben

dieser

nichtexistenten

Dame

identisch?«

Keiner

begann,

das

herauszubuchstabieren.

»Die

Anfangsbuchstaben

lauten:

C. P. A.«, klärte Dick Charleston sie auf.
»Certified Public Accountant.«

»Dickie, sehr viel Zeit habe ich nicht

mehr.«

Aber Doras Ehemann war zu sehr damit

beschäftigt, zu beobachten, wie seine große
Erklärung ankam, um auch nur ein Wort von
ihr zu hören. Und die Reaktion von Marvin
Metzner, alias Irving Goldman, alias Benson-
mum, alias Benson, schien ganz beträchtlich
zu sein.

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»Sie haben doch noch immer das gewisse

Etwas, Mr. Charleston«, gab er reuig zu.
»Aber jetzt sagen Sie mir doch, wie sind Sie
dem

tödlichen

Stich

des

Skorpions

entgangen?«

»Sind wir gar nicht«, antwortete Dick

kurz. »Er hat Dora gestochen. Wir haben
insgesamt fünfzehn Minuten, um einen Arzt
aufzusuchen.«

»Erklär das doch später, Dickie«, jam-

merte Dora. »Gehen wir.«

»Wir schaffen’s schon noch, Darling«,

sagte Dick lässig. »Keine Angst.«

Jetzt schien er auch wirklich gehen zu

wollen. Er streckte seine Hand nach der ver-
sprochenen Million Dollar aus. »Meinen
Gewinn bitte, Metzner –«

»- mein Gewinn«, fiel ihm eine Stimme

aus der offenen Tür ins Wort.

Welche Überraschung!
Während Dick herumwirbelte und Dora

herumwirbelte, Willie Wang, Sidney Wang

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und Jessica Marbles herumwirbelten und
Schwester Withers das eine Auge halb
öffnete und Marvin Metzner, staatlich diplo-
mierter Buchhalter, seinen Hals reckte,
standen Milo Perrier und Marcel hinter
ihnen allen. Sie sahen ein wenig mitgenom-
men aus. Ihre Hüte schienen von einer gi-
gantischen Kraft zusammengedrückt worden
zu sein. Auch ihre Schultern waren gebeugt,
als hätten sie lange Zeit einer übermensch-
lichen Kraft standgehalten. Ihre Knie krumm
und gebeugt, als wären sie samt und sonders
einem fürchterlichen Druck von oben ausge-
setzt gewesen.

Milo Perrier trat einen Schritt vor, und

mit einer umfassenden Geste seiner linken
Hand begann er unaufgefordert seine
Erklärung.

»Marcel«, sagte er, »der einer der stärk-

sten Männer der Welt ist, hat uns davor be-
wahrt, daß Ihre Zimmerdecke uns auf Brief-
markenbreite zusammendrückte.«

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Er ächzte und rieb sich den Rücken.
»Vielleicht dauert es Monate, bis wir uns

wieder richtig aufrichten können«, sagte er.
»Aber mit einer Million Dollar kann man
sich viele Rückenstärker leisten, nicht wahr,
Miss Irene Twain, Tochter von Lionel?«

Er wurde mit einer prima Reaktion

belohnt.

»Was?« rief Dora Charleston aus.
»Was?« rief Dick Charleston aus.
»Was?« rief Jessica Marbles aus.
»Znnnn«, äußerte Schwester Withers.
»Was?« rief Sidney Wang aus.
»Was?« rief Willie Wang aus.
Aber die Gestalt in dem Drehsessel sagte

gar nichts. Was jedoch vielleicht die beste al-
ler Reaktionen war.

Milo Perrier trat weiter vor, stolz gebläht,

trotz des ramponierten Rückens und der
krummen Knie.

»Oder«, sagte er, »möchten Sie lieber

Rita genannt werden, Miss Twain?«

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»Lieber Rita, wenn es Ihnen nichts aus-

macht«, antwortete mit angenehmer Fistel-
stimme Rita Twain, alias Marvin Metzner,
alias Irving Goldman, alias Bensonmum, ali-
as Benson, alias nackter, toter Butler.

»Aber«, sagte sie, »wie sind Sie darauf

gekommen?«

Nicht, daß Milo Perrier es ihr nicht sagen

wollte, ihr und der ganzen Welt.

Er holte tief Luft.
»Unterschätzen Sie niemals die Nase

eines Franzosen, Miss Twain«, sagte er.
»Und ganz besonders sollten Sie nie
diejenige eines – wie sagt man gleich? –
Belgy unterschätzen. Beim Dinner heute
abend roch ich Ihr Chanel Nummer Fünf. Sie
waren es, die alle um die Ecke gebracht hat -
Metzner, Goldman und Ihren Vater. Eigent-
lich, wenn Sie könnten wie Sie wollten,
würden Sie alle Männer um die Ecke bring-
en, nicht wahr? Männer, die Sie gedemütigt
haben und die Sie leiden ließen, weil Sie mit

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Intelligenz, Talent, Geld und all dem auf
diese Welt kamen, bis auf das, was Sie sich
am meisten wünschten, mit – wie sagt man
gleich? – Schönheit. Es ist eine Tatsache,
Miss Twain, daß Sie als Mann recht passabel
wären, aber als Frau sind Sie schlicht –
unmöglich!«

»Das ist vielleicht Ihre Meinung, mein

Lieber«, antwortete Rita Twain, alias Metzn-
er, alias Goldman, alias Bensonmum, alias
Benson.

»Dickie«, kam eine schwache, aber dring-

liche Stimme aus dem Hintergrund der
Zuhörer, »können wir jetzt gehen? Ich fühle
mich immer schlechter.«

»Augenblick noch, Darling, bis wir das

hier geklärt haben.«

Aber Perrier wollte sich auch nicht un-

nötig aufhalten.

»Wenn Sie also so freundlich wären«,

sagte er, »werde ich mein Geld jetzt gleich
mitnehmen und gehen. Mit etwas Glück

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schaffe ich’s dann noch zum Dinner heute
abend im Maxim’s.«

»An Ihrer Stelle würde ich lieber nur ein

Thunfischbrot bestellen.«

Wem konnte diese unerwartete Stimme

gehören? Das Haus war nach wie vor
elektronisch verriegelt und verrammelt,
zugesperrt von einem Zeitschloß, bis die
Dämmerung über die Hügel kommen würde.
Alle Menschen dieses Hauses waren hier in
diesem Raum versammelt, mit Ausnahme
von Sam Diamond und Tess. Und Sam und
Tess sind auf die übelste Weise durch eine
Bombe in ihrem Wecker vom Leben zum
Tode befördert worden, eine Bombe, die los-
ging, wenn man nur den Wecker ansah. Wer
also konnte das sein, der jetzt in der Tür
stand und Milo Perrier den Rat gab, sich
zum Dinner lieber nur ein Thunfischbrot zu
bestellen?

Es war Sam Diamond, in Begleitung der

schönen Tess, und sie waren der Bombe

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beide entkommen, auf unvorstellbare Weise
natürlich.

»Yeah«, sagte Sam, »die Sache mit dem

Maxim’s können Sie sich ruhig aus dem Kopf
schlagen, Perrier, denn die Million Dollar ge-
hört mir.«

Er trat ein paar Schritte weiter in den

Raum und wandte sich an die Gestalt in dem
hochlehnigen Drehsessel.

»Stimmt’s nicht, Sam?«schnarrte er

zwischen schmalen Lippen.

Die Gestalt im Sessel atmete hörbar aus

zwischen schmalen Lippen.

»Es stimmt, Leute«, erklärte der letzte

der fünf, die jeder auf seine Art einem
schrecklichen Tod entronnen waren. »Sam
Diamond hat uns alle ausgetrickst. Der
Mensch da in dem hohen Drehsessel ist
niemand anderer als er selbst, Sam Dia-
mond. Ich heiße Loomis, J. J. Loomis. Ich
bin Schauspieler. Jeder kann mich engagier-
en. Letztes Jahr habe ich gleich sechsmal die

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Carson Show gemacht…« Er machte sich
wirklich gut. Und anscheinend ohne Luft zu
holen, redete er ohne Pause weiter zwischen
schmalen Lippen.

»Diamond hat mich für das Wochenende

engagiert. Ach, übrigens, Miss Skeffington
ist in Wirklichkeit Wanda Norman. Sie ist
Haushaltswarenverkäuferin in einem Kauf-
haus. Wir wollten in dieser Nacht jeder hun-
dert Piepen verdienen, aber nachdem ich die
Teile des Puzzles hier alle so schön zusam-
mengefügt habe, denke ich doch, daß mir die
hübsche runde Million gehört. Stimmt’s
nicht, Wanda?«

»Stimmt, J. J.«
»Diamond hat euch alle gehaßt«, fuhr J.

J. Loomis zwischen schmalen Lippen fort.
»Jeder von euch wurde mit der Zeit reicher
und immer reicher, nur er selbst hatte ein
schäbiges kleines Büro unten an der Frisco
Bucht. Er wollte euch allen endlich einmal

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zeigen, wer die Nummer eins ist. Stimmt’s
Mr. Diamond?«

Alle Augen wandten sich zu Sam Dia-

mond, alias Rita Twain, alias Marvin Metzn-
er, alias Irving Goldman, alias Bensonmum,
alias Benson, alias toter, nackter Butler.

»Falsch«, sagte er. »Das wäre so of-

fensichtlich gewesen, daß selbst ein Kind da-
rauf

gekommen

wäre.

Falsch.

Falsch.

Falsch.«

Die fünf Detektive und ihre fünf Begleiter

starrten wütend den Mann an, von dem sie
gerade erfahren hatten, daß er Sam Diamond
sei und der noch vor wenigen Augenblicken
für Rita Twain, Tochter des Lionel, gehalten
wurde. Auch Marvin Metzner, Staatlich Ge-
prüfter Buchhalter, oder Irving Goldman,
Vermögensverwalter,

oder

Bensonmum,

mysteriöse Gestalt, oder Benson, englischer
Butler, oder der arme tote und nackte But-
ler… alles war vorstellbar gewesen.

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Falsch? Wie konnte er es wagen, ihnen zu

sagen, sie lägen falsch? Und was in aller Welt
hatten sie falsch gemacht? Ein paar Sekun-
den lang sah sie die Person in dem hoch-
lehnigen Drehsessel ruhig an und vielleicht
auch ein wenig bedauernd. Aber dann end-
lich kam die Erklärung.

»Nein, meine lieben Kollegen, Sie alle

haben sich geirrt. Sie alle scheinen die ein-
fachste

und

direkteste

Lösung

zu

übersehen.«

Die Detektive sahen einander an. Was

war die einfachste und direkteste Lösung?
Wie konnten sie irgend etwas übersehen?
Hatten sie nicht alle, jeder auf seinem Ge-
biet, sein Bestes geleistet an Kombinationen
von Mordverdächtigen und Opfern?

Aber da legte die Gestalt in dem hoch-

lehnigen Sessel eine Hand ins Genick und
fing an, dort an etwas herumzunesteln.
Dann, mit einem plötzlichen, überras-
chenden Ruck, riß dieser Mensch, er oder

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sie, eine eng sitzende Gummimaske von un-
ten nach oben vom Gesicht.

Und zum Vorschein kam das amüsierte

Gesicht von Lionel Twain.

Ihr genialer Gastgeber sah sie alle an. Er

seufzte.

»Sie alle sind nun schon so lange in der

Branche und immer gescheiter geworden,
daß Sie vergessen haben, demütig zu sein«,
sagte er.

»Sie hatten vergessen, das Offensicht-

liche dafür zu nehmen, was es ist.«

Er schüttelte den Kopf.
»Ja«, fuhr er fort, »Sie haben so viele

Jahre lang Ihre Anhänger ausgetrickst und
an der Nase herumgeführt, daß Sie sich
schließlich selber austricksten. Sie haben
alle, meine Damen und Herren, alle geirrt.«

Er streckte seine Hand aus und ergriff die

kleine kupferne Glocke, die neben ihm auf
dem Schreibtisch stand.

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Eigentlich überraschte es keinen der

stillgewordenen Detektive, als jetzt auf das
Läuten hin Benson erschien, korrekt von
oben

bis

unten

in

seiner

schwarzen

Butleruniform.

Lionel Twain sah sich seine kleinlauten

Gäste an. Und als er dann zu Benson sprach,
hatte sich ein ganz anderer, wärmerer Ton in
seine Stimme geschlichen.

»Ja, sie haben sich geirrt«, sagte er.

»Aber zum Teufel noch mal, sie haben sich
großartig geirrt, nicht wahr, Benson?«

»Das haben sie wirklich, Sir«, fiel Benson

ein.

Noch einmal sah Lionel Twain die

Detektive einen nach dem anderen an und
schüttelte reuig seinen Kopf.

»Zum Teufel mit euch«, sagte er, »Sie

haben’s geschafft, daß ich euch alle aufs neue
liebe. Die großen Detektive.«

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