Sprache


Kapitel 1: Sprache
1 Sprache
Sprachwissenschaft ist die wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung von Sprache. Diese Defi-
nition können Sie in vielen Darstellungen der Sprachwissenschaft finden, und sie scheint auf den
ersten Blick auch recht einleuchtend zu sein. Aber sie setzt voraus, dass die Leserin oder der Leser
weiß, was wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung und was Sprache ist. In diesem Kapitel
erläutern wir den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft, die Sprache. In Kap. 2 zeigen wir,
was mit  Beschreiben und  Erklären in den Wissenschaften, speziell in der Sprachwissenschaft,
gemeint ist.
1. Definitionsversuche zum Begriff  Sprache
Zu Beginn wollen wir einige Definitionsversuche des Begriffs Sprache vorstellen. Wolfgang von
Kempelen schrieb 1791 in seinem Buch  Mechanismus der menschlichen Sprache nebst Beschrei-
bung einer sprechenden Maschine 1:
 Die Sprache im weitesten Verstand ist das Vermögen seine Empfindungen oder Gedanken an-
dern durch Zeichen bekannt zu machen.
Ganz ähnlich der Sprachwissenschaftler E. Sapir 1921 in seinem Buch  Language 2:
 Sprache ist eine ausschließlich dem Menschen eigene, nicht im Instinkt wurzelnde Methode
zur Übermittlung von Gedanken, Gefühlen und Wünschen mittels eines Systems von frei ge-
schaffenen Symbolen.
Diese beiden Definitionen verwenden Begriffe, deren Definition ebenso schwierig ist wie die Defi-
nition von Sprache selbst: Gedanke, Empfindung, Gefühl, Wunsch, aber auch Zeichen, Symbol und
System. In vielen Definitionen wird betont, dass die Sprache den Menschen vom Tier unterscheide
und national geprägt sei. So steht in Trübners  Deutsche[m] Wörterbuch :
 Sprache ist zunächst die mit Hilfe der Sprechwerkzeuge bewirkte Tätigkeit des Menschen. [...]
Sie unterscheidet den Menschen vom Tier, dem man nur mit Vorbehalt ein Sprechen zubilligen
kann [...]. Durch Krankheit, Schreck oder sonstige Erregung kann ein Mensch die Sprache ver-
lieren [....]. Ferner ist Sprache, und zwar schon seit althochdeutscher Zeit, die Gesamtheit der
Ausdrucksmittel, die einem größeren Menschenkreis zur Verfügung stehen, wobei man zu-
nächst an ein Volk denkt: Die deutsche, französische, lateinische Sprache.  3
Die meisten zeitgenössischen Definitionen behaupten, dass die Sprache ein System von Zeichen sei.
Man spricht dann von der  semiotischen 4 Definition des Begriffs Sprache. Im  Handbuch wissen-
schaftstheoretischer Begriffe 5 von 1980 heißt es:
 Sprache: ein System von Zeichen, die der Vermittlung von Information dienen. 
1 (1970), Faksimile-Neudruck der Ausgabe Wien 1791 mit einer Einleitung von H. E. Brekle und W. Wildgen, Stutt-
gart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag.
2 (1921), New York: Harcourt Brace. [Deutsche Übersetzung und Bearbeitung: Homberger, C. P. (11961) (1972), Die
Sprache, München: Hueber.]
3 (1955), 6.Band. Hrsg. von W. Mitzka. Berlin: de Gruyter.
4 Semiotik: Lehre von den Zeichen.
5 (1980), Hrsg. von J. Speck, Bd.1-3. Göttingen: Vandenhoeck.
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Kapitel 1: Sprache
2. Zum Begriff  Zeichen
Diese Definition wollen wir vorerst benutzen.6 In ihr wird behauptet: Sprache bedarf Zeichen, setzt
Sprechende und Hörende (bzw. Schreibende und Lesende) voraus und etwas, was in ihr ausge-
drückt wird (Gedanken, Empfindungen, allgemein: Informationen). Zeichen fassen wir als bilatera-
le Zeichen auf, d. h. als Einheit zweier Komponenten: des Bezeichnenden und des Bezeichneten.7
Zeichen sind materiell gegeben (Sprachzeichen: akustisch bzw. graphisch) und haben immer Form
und Inhalt. Ein Wort z.B. ist demnach ein sprachliches Zeichen, denn es hat Form und Inhalt. Ein
Buchstabe hingegen ist kein sprachliches Zeichen, denn ihm fehlt der Inhalt. Zeichen werden nach
verschiedenen Klassen geordnet:  Symbole (z.B. kultische Zeichen),  ikonische Zeichen (z.B.
Zeichnungen),  Signale (z.B. Verkehrszeichen),  lautsprachliche Zeichen der menschlichen
Kommunikation und ihre schriftsprachlichen Entsprechungen. Aus diesen Zeichenklassen können
jeweils Zeichensysteme (= Sprachen) aufgebaut werden. Man unterscheidet in solchen Zeichensys-
temen (Sprachen) bestimmte Funktionen der Zeichen:
Die syntaktische Funktion: Relation der Zeichen zueinander
Die semantische Funktion: Relation der Zeichen zum Bezeichneten
Die pragmatische Funktion: Relation zwischen Zeichen, Bezeichnetem und den
Bezeichnenden (Sprechenden)
Diese Relationen werden von den Sprechern und Sprecherinnen einer Sprache hergestellt. Die all-
gemeine Handlungstheorie8 beschreibt und erklärt menschliche Handlungen. Der Gebrauch von
Zeichen ist ein Fall solch menschlichen Handelns. Die Verwendung lautsprachlicher oder schrift-
sprachlicher Zeichen nennen wir  Sprachhandlungen : Sie sind der Gegenstandsbereich der
Sprachwissenschaft.
3. Handlungen und Sprachhandlungen
Sprechen ist eine Möglichkeit kommunikativen menschlichen Handelns, gebunden an bestimmte
Personen, Zeiten und Orte. Der sprachliche Ausdruck ist das konkrete Produkt einer Äußerungs-
handlung. Wir gehen davon aus, dass der Sprecher oder die Sprecherin einer konkreten sprachlichen
Äußerung etwas meint und dass die Äußerung nach den Regeln der benutzten Sprache etwas bedeu-
tet. Was eine Äußerung in der benutzten Sprache bedeutet, ist an den Rahmen dessen gebunden,
was Sprecher und Sprecherinnen dieser Sprache  im allgemeinen mit ihr meinen (Sprachkonventi-
on). Was sie aber mit einer sprachlichen Äußerung meinen, also inhaltlich mitteilen können, lernen
sie wiederum über die Erfahrung dessen, was die Äußerung in der betreffenden Sprache bedeutet
(bedeuten kann). Bedeutung (Semantik) und Meinung (Pragmatik), gebunden an bestimmte mate-
rielle Realisationen (akustisch und/oder graphisch) und Formen hängen demnach wechselseitig zu-
sammen. Sprechen ist im Regelfall kommunikatives Handeln in Kommunikationssituationen mit
6 Vgl. die Definition von Sprache3 auf S. 4.
7 Bei Ferdinand de Saussure, einem Begründer der strukturalistischen Sprachwissenschaft:  signifiant und  signifié .
(11916)(1973), Cours de linguistique générale. Paris: Payot. [dt.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft.
Hrsg. v. Charles Bally, Albert Sechehaye u.a. Nachw. v. Peter Ernst. Berlin 32001: de Gruyter].
8 Barwise, J., Perry, J., (1983)(19864), Situations and Attitudes. Cambridge, Mass.: MIT Press.  Bennett, Jonathan,
(1976), Linguistic Behaviour. Cambridge: Cambridge University Press. [dt.: (1982), Sprachverhalten. Frankfurt/M.:
Suhrkamp]  Johnson-Laird, P. N., (1983), Mental Models. Towards a cognitive Science of Language, Inference,
and Consciousness. Cambridge: Cambridge University Press.  Lenk, Hans (Hrsg.), (1977-80), Handlungstheorien
interdisziplinär. Bd. I-IV. München: Fink.  Meggle, Georg, (1981), Grundbegriffe der Kommunikation. Berlin/New
York: de Gruyter. (1993), Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt/M: Suhrkamp.
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Kapitel 1: Sprache
mindestens zwei Personen. Handlungen sind an Handlungsmuster wie  Information ,  Aufforde-
rung oder  Begrüßung gebunden. Ein Beispiel:
Urmel trifft Wutz und begrüßt sie mit dem Ruf  Hallo!
Die Lautkette  [|haloØ] ist das Produkt einer konkreten Sprachhandlung. Als Handlungsmuster
liegt  Begrüßung vor,  rufen ist Typ dieser Sprachhandlung. Die Sprachhandlung  Hallo rufen
steht im Kontext auch nichtsprachlicher, besser: nonverbaler Handlungen:
Handlungstypen:
Handlungsmuster:
zulächeln
Abschied
etwas sagen
Typen von Sprachhand-
Begrüßung die Hand geben
lungsformen
zunicken
Zustimmung
etwas rufen
Ablehnung
Frage winken
realisiert durch einzelne
Abwehr den Hut lüpfen
Sprachhandlungsprodukte
...
....
Im Beispiel war  Hallo! das konkrete Sprachhandlungsprodukt des Typs  rufen  andere Typen
wären flüstern, brüllen, hauchen, prusten usw., andere Produkte wären  Grüß Dich! ,  Guten
Tag! ,  Moin! ,  Wie gehts? usw. Handlungsmuster sind demnach Mengen von Handlungstypen.
Typen von Sprachhandlungsformen sind Teilmengen von Handlungstypen. Sie sind durch Konven-
tionen und Normen vorgegeben. Individuelle Abweichungen davon sind möglich. Voraussetzung ist
jedoch, dass sie im Handlungsmuster (auf der Basis der konventionell bekannten Handlungstypen
bzw. Typen von Sprachhandlungsformen) verstehbar sind. Voraussetzung für eine Gesamtanalyse
einer Sprachhandlung ist die sprachwissenschaftliche Analyse des Sprachhandlungsprodukts und
besonders der Sprachhandlungsproduktform. Das Sprachhandlungsprodukt wird auch einfach
 sprachlicher Ausdruck genannt. Diese Bezeichnung ist weiter gefasst als  sprachliches Zeichen .
Sprachliche Ausdrücke sind auch diejenigen Elemente einer Sprache, die selbst keine Bedeutung
und keinen Inhalt haben (z.B. Laute, Buchstaben), aber zum Aufbau von Elementen mit Bedeutung
und Inhalt (z.B. Wörter, Sätze) gebraucht werden.
4. Sprachhandlung und Sprachsystem
Wir können unserer Definition von Sprache jetzt zwei weitere hinzufügen:
Sprache1: Summe der konkreten sprachlichen Ausdrücke
Sprache2: Form der sprachlichen Ausdrücke
Die Sprachwissenschaft beschreibt die Summe der sprachlichen Ausdrücke (ihren Gegenstandsbe-
reich) durch die Feststellung der Formen (in Abhängigkeit von unterschiedlichen sprachwissen-
schaftlichen Methoden). Beide Definitionen hängen somit eng zusammen. Definition 1 meint die
Sprache als Material, Definition 2 das, was eine Sprache charakterisiert, was sie von anderen Spra-
chen unterscheidet. Beide Definitionen erwähnen nicht explizit, dass Sprache auch etwas mit Be-
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Kapitel 1: Sprache
deutungen und Inhalten zu tun hat.9 Man hat in der Sprachwissenschaft häufig geglaubt, man könne
eine rein formale Beschreibung von Sprachen geben.10 Diese Position, für die durchaus einiges
spricht, übernehmen wir für diese Einführung nicht, sondern bleiben bei unserer (etwas modifizier-
ten11) Definition:
Sprache3: System von Zeichen, die der Vermittlung von Aufforderung und
Information dienen
In den natürlichen Sprachen werden die elementaren Zeichen  Morpheme genannt. Morpheme
haben genau eine Bedeutung und eine Form. Wörter bestehen aus mindestens einem Morphem,
meistens aber aus mehreren ( lachst lexikalisches (Basis-) Morphem { lach } und die gramma-
tischen Morpheme Tempus, Modus, Person/Numerus im Flexionsformativ {Å‚-Å‚-st}). Sie sind also
komplexe sprachliche Zeichen, genau wie Wortgruppen, Sätze und Texte. Morpheme bestehen aus
Elementen, die zwar bedeutungsunterscheidend sind, aber keine eigenständige Bedeutung haben,
also keine Zeichen sind. Bei akustischer Repräsentation nennen wir diese Elemente  Phoneme , bei
graphischer  Grapheme . Phoneme können als Laute ausgesprochen, Grapheme als Buchstaben,
Ziffern geschrieben werden.
Phonologie/ Phoneme/Grapheme bilden in natürlichen Sprachen bestimmte Folgen, die als
Graphemik Laute gesprochen und als Buchstaben geschrieben werden können.
Morphologie Bestimmte Phonemfolgen bilden Morpheme, Morpheme bilden Wörter.
Syntax Wörter bilden komplexe Strukturen: Wortgruppen, Sätze, komplexe Sätze und
Texte.
Semantik Morpheme, Wörter, Wortgruppen, Sätze und Texte haben Bedeutung.
Pragmatik Ausdrücke mit Bedeutung werden in bestimmten Handlungssituationen von Men-
schen zur Kommunikation benutzt.
Eine Sprache beschreiben heißt demnach, ihre phonologischen, morphologischen, syntaktischen,
semantischen und pragmatischen Eigenschaften zu beschreiben. Eine solche Beschreibung ist die
Grammatik12 einer Sprache.
9 Von Bedeutung sprechen wir mit Bezug auf das durch die Sprache Bezeichnete, von Inhalt dann, wenn auch die
Sprecher/Hörer und die Sprechsituation in der Analyse berücksichtigt werden. Bedeutung: Ebene Semantik. Inhalt:
Ebene Pragmatik.
10 So Linguisten als Anhänger der bedeutsamen erkenntnis- u. wissenschaftstheoretischen Richtung des  logischen
Positivismus im ersten Drittel unseres Jahrhunderts. Wir kommen auf Grundfragen der Linguistik in Kap. 2 sowie
in den Kap. zur Semantik und Pragmatik zurück.
11 Wir berücksichtigen jetzt die handlungstheoretische Unterscheidung von Aufforderungs- und Informationshandlun-
gen.
12 Es gibt auch eine  engere Definition: Danach gehören zur Grammatik nur die Bereiche Phonologie, Morphologie
und Syntax.
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