Rilkes Stundenbuch int


Rilkes Stundenbuch

Kapitel I: Biographischer Hintergrund / Schaffensumfeld

1

Kapitel II: Rilkes Gottesbild
Kapitel II.1.i.: "Das Buch vom mönchischen Leben"


3

Kapitel II.2.: "Das Buch von der Pilgerschaft"

6

Kapitel II.3.: "Das Buch von der Armut und vom Tode"

8

Kapitel III.: Erläuterung der lyrischen Machart
Kapitel III.1.: Anhand eines Gedichts aus dem ersten Buch

9

Kapitel III.2: Gottesprädikationen und -bilder in "Das Buch vom mönchischem Leben

10

Fazit

12


"Die Religion ist die Kunst der Nichtschaffenden. Im Gebete werden sie produktiv...Der Nichtkünstler muss eine Religion - im tiefinneren Sinn - besitzen, und sei es auch nur eine, die auf gemeinsamem und historischem Vereinbaren beruht. Atheist sein in seinem Sinne ist Barbar sein."1

Einleitung

"Das Stunden-Buch" von Rainer Maria Rilke (1875 - 1926) ist im Frühwerk des Lyrikers viel beachtet. Durch die bewusst gewählte sprachliche Nähe zum Gebet kommt es in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung dieser Lyriksammlung häufig zu Arbeitsergebnissen, die E. Heller als "Seelenschmöcken" bezeichnet.2 Diese entstehen dadurch, dass das Hauptaugenmerk auf den Erlebnishintergrund und die Leseerfahrungen des jungen Rilke gerichtet wird, ohne die lyrische Stil-Verfahren zu beachten. Vor allem ist "Das Stunden-Buch" der Versuch, sich von der reinen "Stimmungslyrik" zu lösen und eine neue Art der Lyrik zu erschaffen, die später von der Wissenschaft als "Dinggedicht" bezeichnet wird und in der Sammlung "Neue Gedichte" (1907/1908 entstanden) ihren Höhepunkt findet.3 Durch die schon angesprochene Nähe zum Gebet knüpft der Autor an die romantische "Kunstreligion" an, die ihren Niederschlag zum Beispiel in Wackenroders "Herzensergießungen" zeigt. Auf dieser Folie kann Rilke den romantischen Dichtern folgend mit einem sprachlich neuen Typus von Gedichten experimentieren.
Inhalt der Arbeit soll es nicht sein, die verschiedenen von Rilke virtuos verwendeten Stilmittel, zu untersuchen. Vielmehr werde ich anhand der Gottesbilder und -prädikationen im "Stundenbuch" die Beziehung des lyrischen Ichs zu Gott und deren Veränderung durch die drei Bücher beleuchten.


Biographischer Hintergrund, Schaffensumfeld

Rainer Maria Rilke beginnt sein dreiteiliges Werk "Das Stunden-Buch" am 20.09.1899. Zu diesem Zeitpunkt ist er gerade von der ersten Rußlandreise mit Lou Andreas-Salomé zurückgekehrt und nach Berlin gezogen.

Die erste Schaffensperiode an diesem Zyklus, in der "Das Buch vom mönchischen Leben" entsteht, endet am 14.10.1899. Zwei weitere kurze, zeitlich weit auseinander liegende, Arbeitsabschnitte folgen. Vom 18.09.1901 bis zum 25.09.1901 entsteht in Worpswede der zweite Teil: "Das Buch von der Pilgerschaft". Kurz nach seinem ersten Parisaufenthalt schreibt Rilke vom 13.04.1903 bis zum 20.04.1903 in Viareggio "Das Buch von der Armut und vom Tode".
Jeder Teil des Stundenbuchs zeigt eine individuelle Ausprägung, die unter anderem auf die zeitlich naheliegenden Erfahrungen zurückzuführen ist. So ist der Protagonist des ersten Teils ein russischer Mönch.4 Der zweite Teil beschäftigt sich ausgiebig mit Landschaftsbeschreibungen und Gedanken über die "bürgerliche" Existenz, die Rilke durch seine Heirat mit Clara Westhoff in Westerwede zu gründen versuchte. Anfang des Jahres 1901 befand sich Rilke, durch die Lebensbedingungen in Worpswede und seine neugewonnen Ansichten über das Arbeitsethos, in der "Zwischenland-Krise"5, deren Nachwirkungen im zweiten Buch noch spürbar sind. Der letzte Teil verarbeitet mit einer weitausholenden Huldigung der Armen die Erfahrung des Elends in der Großstadt Paris.6
Im Titel der Lyriksammlung bezieht Rilke sich auf die mittelalterliche Tradition der "Livre d′heures",7 Laienbetbücher, die nicht von der Kirche autorisiert, aber geduldet wurden. Vor allem im franko-flämischen Raum kam es zu einer hohen Blüte der Stundenbücher, die zum Teil prächtig ausgemalt waren.
Durch seine Mutter erhielt Rilke eine streng katholische Erziehung und besuchte eine von Piaristen geführte Schule. Als Erwachsener bezeichnet er die Bibel als eines von zwei Büchern, die er immer mit sich führt.8 So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich Rilke christlicher Symbolik und Bilder bedient, nur die Art und Weise ist erstaunlich.
Um die Jahrhundertwende ist Rilke sehr produktiv. Er arbeitet an dem Beginn des "Stundenbuchs", stellt die erste Ausgabe der Sammlung "Das Buch der Bilder" fertig, schreibt die später in der "Inselbibliothek" als Nr. 1 veröffentlichte Erzählung "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke", mehrere Prosawerke und seinen letzten dramatischen Versuch, "Das tägliche Leben". Allerdings erscheinen nur wenige Werke zu dieser Zeit im Druck.9
Erstmals veröffentlicht wird "Das Stunden-Buch" 1905, zwei Jahre nach der Fertigstellung des letzten Teils. Sowohl die langjährige Beschäftigung mit diesem Werk, als auch die Veröffentlichung zu einem späteren Zeitpunkt zeugen davon, daß Rilke diesem Zyklus eine große Bedeutung beigemessen hat.10

Rilkes Gottesbild
"Das Buch vom mönchischem Leben"

Zur Entstehungszeit des "Stundenbuchs" ist Rilke auf der Suche nach dem einzigen Prinzip, auf dem die Welt gegründet ist. Dieses Streben ist um die Jahrhundertwende sowohl in der darstellenden Kunst, als auch in der Literatur weitverbreitet.11 Er bezeichnet dieses Prinzip als Gott und richtet Gebete an ihn,12 die in der jüdisch-christlichen Tradition zu stehen scheinen. Jedoch greift er jenseits des Sprachhabitus nicht auf diese Tradition zurück. Vielmehr erschafft er ein monistisches Weltbild, in dem er die göttliche Sphäre sehr eng mit der menschlichen, durch Verwendung identischer Prädikationen und Metaphern für beide Ebenen, verbindet. Bewusst verschleiert er die Bezüge durch unklare Verwendung von Pronomen. Beispielhaft sei dies am Gedicht Nr. 59 erläutert:13


"Gott spricht zu jedem nur eh er ihn macht
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,

diese wolkigen Worte sind:"

Scheinen die Pronomen zunächst logisch verteilt und aufschlüsselbar, ist den "Worten" nicht eindeutig ein Sprecher zugeordnet. Wenn man auch im Nachhinein den Sprecher als Gott identifizieren kann, ist keine interpretatorische Sicherheit gegeben. Gott und Mensch/lyrisches Ich werden so dicht aneinandergeführt, dass deutlich wird, dass zwischen dem lyrischen Ich und Gott ein enges, fast symbiotisches Verhältnis besteht. Dies wird bestärkt, in dem der Malermönch Gott selten in der dritten Person, sondern fast ausschließlich mit dem vertraulichen "Du" anredet. Erscheint Gott traditionskonform als übermächtig, stellt sich der Betende als nicht mehr beachtenswert da.14
Häufig verlässt Rilke jedoch dieses Schema. Er geht soweit, dass sich der Betende fragt (Gedicht Nr. 36):


"Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe
Mit mir verlierst du deinen Sinn."

Gott und Mensch treten hier in eine Wechselbeziehung, in der der eine ohne den anderen nicht sein kann.
Im ersten Buch weist Rilke seinem Gott verschiedene Prädikationen und Metaphern zu. Der positiv belegte Gott ist dunkel und still.15 Das im Allgemeinen negativ konnotierte Wesen - Luzifer - verbindet Rilke mit Helligkeit und Lärm.16 In dieser Gegenüberstellung wird ein Stilmittel deutlich, das Rilke häufig verwendet. Er arbeitet mit den Erwartungen des Rezipienten, die er dann in das Gegenteil verkehrt. Mit Luzifer ist in der christlichen Tradition die Dunkelheit verbunden,17 mit Gott die Helligkeit.
Beachtet man, dass Rilke einen Künstler sprechen lässt, so drängt sich ein Zitat von Novalis auf:


"Dichter und Priester waren im Anfang eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der echte Dichter ist aber immer Priester, sowie der echte Priester immer Dichter geblieben. Und sollte nicht die Zukunft den alten Zustand wieder herbeiführen?[...]".18

Diese Maxime scheint Rilke mit seinem dichtenden Malermönch erfüllt zu haben. Jedoch ist sein Mönch nicht Priester einer universalen, sondern seiner individuellen Religion.
Im ersten Teil seines Werkes entwirft Rilke einen Gott, der die grenzenlose Gegenwart verkörpert.19 Gleichzeitig stellt er diesen Gott als einen "reifenden" dar, der durch die Arbeit des Menschen an ihm vollendet werden soll. Durch diesen Griff schafft er ein großes Paradoxon, das nicht zu lösen ist, da die Arbeit des zeitlich determinierten Menschen an einem zeitlosen Gott nicht fruchten kann. Wahrscheinlich findet, auch um diesen Widerspruch zu lösen, eine Metamorphose Gottes im zweiten Buch statt.

Licht und Dunkelheit, Luzifer und Gott

Das Gottesbild des ersten Buches erklärt sich unter anderem aus der schon angesprochenen Gegenüberstellung von Gott und Luzifer. Rilke verwendet Luzifer im ursprünglichen Sinne, als Fürst des Lichts (siehe Fußnote 17), spielt aber mit dem Rezipientenbewußtsein von der Verbindung mit dem biblischen Satan. Zusätzlich ordnet Rilke ihm die Zeit zu.20
Wie in der christlichen Tradition, in der das Gegensatzpaar Gott / Satan näher durch die Adjektive gut / böse bestimmt wird, schafft Rilke auf dieser Basis eigene Prädikationen für Gott und Luzifer, die wiederum Gegensätze bilden. Diese Paare sind: Licht / Dunkel und Zeit / Gegenwart. Es fällt auf, daß eine moralische Wertung im Sinne von gut / böse nicht erwähnt ist und höchstens durch die traditionellen Assoziationen des Lesers evoziert wird.
In der jüdisch / christlichen Überlieferung erschuf Gott als erstes das Licht. Diesen Prozess setzt Rilke im "Stundenbuch" in Verbindung mit der Zeit,21 wodurch eine Beziehung zu Luzifer entsteht. Gott selber ist aber nicht abhängig von der Zeit. Damit entzieht er sich dem Zugriff durch das menschliche Fassungsvermögen.
Luzifer ist im "Buch vom mönchischen Leben" Licht und wird im Licht sichtbar, das heißt, dass er auch erkennbar wird. Gott dagegen steht im Dunkel. Der Malermönch gelangt - genau wie Luzifer - höchstens an die äußersten Ränder Gottes, kann ihn aber nie sehen oder erreichen.22 Dadurch bleibt Gott unsagbar,23 Luzifer hingegen kann in klarer Form ausgedrückt werden, da er gesehen werden kann.24 Daher versucht der "helle Gott der Zeit", um gottgleich zu werden, in die Dunkelheit zu fliehen.25
Im ersten Buch steht der unsagbare, nicht fassbare Gott, der erst aus dem engen Dialog mit dem lyrischen Ich eine Daseinsberechtigung erlangt, im Mittelpunkt. Ihm ist Luzifer als menschlich fassbare Figur gegenübergestellt. Im Gegensatz zu Gott ist dieser eigenständig und nicht von menschlichen Handlungen abhängig.

"Das Buch von der Pilgerschaft"

Auch wenn Rilke im zweiten Teil des "Stundenbuchs" mit den Worten: "ich bete wieder, du Erlauchter"26 an den Ton und den Duktus des ersten Buches anschließt, hat sich seine Einstellung zu diesem, seinem Gott geändert. Er begründet das damit, dass er sich selbst fremd geworden ist.27 Obwohl er diese Phase in den weiteren Gedichten für überstanden erklärt, sind die weiteren Annäherungen an Gott immer durch die vorausgegangenen Fremdheitserfahrungen des lyrischen Ichs zu sehen.

Im ersten Teil steht die Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit seinem Dialog-partner im Vordergrund. Nun wendet sich Rilke, weiterhin vor dem Prospekt der Gottsuche, einem ganz neuen Themenkomplex zu: dem der Radikalisierung des individuellen Gottes, wodurch dieser nicht mehr das vertraute Gegenüber bleiben kann. Die "monistische Naivität"28 weicht einer zunehmenden Distanz zu Gott, der nicht mehr die ewige Gegenwart verkörpert.29

Rilke hat bemerkt, dass auch der Prozess des "Sagens" der Zeit unterworfen ist und damit nicht dem göttlichen, sondern dem luziferischen Bereich zugehört. Daher wird aus der ewigen Gegenwart eine ferne Zukunft, die für den Menschen unerreichbar ist. So entsteht eine Distanz zwischen Gott und Mensch, die sich im Werk Rilkes immer weiter verstärkt.30

Er grenzt in Gedicht Nr. 68 den ersten Teil vom zweiten dadurch ab, dass er letzteren mit Herbstmetaphorik einleitet und ihn gegenüber dem vergangenen Sommer absetzt, der das erste Buch charakterisiert.

Die beiden biblischen Topoi, die er häufig bedient, sind die Apokalypse,31 und das "Gleichnis vom verlorenen Sohn".32 Aber auch hier, wie schon oben angesprochen, werden diese nur in Anspielungen übernommen, nicht in ihrem eigentlichen Gehalt. Das "Gleichnis vom verlorenen Sohn" bringt Rilke zu der blasphemisch anmutenden Frage, ob Gott Vater oder Sohn der Menschen sei.33
Durch die apokalyptischen Vorstellungen, die Rilke im zweiten Teil aufbaut, wird eine Furcht vor Gott deutlich, die das lyrische Ich zu einer Katharsis zwingt.34 Aber vor allem entwickelt sich eine Flucht vor Gott und sich selbst, eine Distanz, die nicht mehr überbrückbar ist. Auch wenn in Gedicht Nr. 70 wiederholt betont wird, daß sich nichts verändert hat: "Ich bin derselbe noch,[...] du bist immer noch die Welle,[...] Es ist nichts andres". Gerade dieser Versuch, verstärkt Nähe zu erzwingen, führt in die Dis-tanz und zu der großen Frage des zweiten Buches - nach der "Verwandtschaft" zu Gott.

Der Themenkomplex zum verlorenen Sohn wird im Stundenbuch durch das Gedicht Nr. 70 eingeleitet: "Ich liebe dich wie einen lieben Sohn,/ der mich verlassen hat als Kind"35. Schon hier sind die Rollen vertauscht, aus "Gottvater" ist "Gottsohn" geworden. Anschließend stellt sich im zweiten Buch das lyrische Ich vornehmlich die Frage, warum Gott als Vater bezeichnet wird. Diese Bezeichnung gerät in Konflikt mit der in diesem Teil ausgearbeiteten Zukünftigkeit Gottes. Eine Vaterfigur kann nur Vergangenes repräsentieren.36

Daher wird auch deutlich, warum das Prinzip des zeitlosen Gottes aus dem ersten Buch keine Gültigkeit mehr haben kann. Aus dem naiv angenommenen, existierenden ist ein "kommender" Gott geworden.
Der von Rilke entworfene Gott entspricht nicht dem von Rilke verwendeten Vaterbild: "[...]solange der Vater lebt, sind wir eine Art Relief von ihm; sein Verlust macht uns [...] frei, ach freistehend auf allen Seiten".37 Dadurch, daß in diesem Teil des "Stundenbuchs" ein "Gottsohn" entsteht, rückt der Mensch in die Vaterrolle, wodurch Gott zu einem Relief desselben wird.
Nach der Entwicklung dieser These geht Rilke noch einen Schritt weiter und stellt die Künstler auf eine Stufe mit Gott.38 Jedoch gelangt die Figur Gottes dadurch nicht wieder in erreichbare Nähe des lyrischen Ichs, sondern wird in mystischer Weise verklärt und in die Ferne gerückt.39
Durch die Pilgerschaft wird dem Mönch klar, daß Gott ein Hergereister ist, der nur Gast bleiben kann.40 Das wird im letzten Teil des zweiten Buches deutlich, in dem Gott erneut mit zahlreichen Metaphern41 umschrieben wird und das lyrische Ich sich Gedanken über Besitz und Individualität macht.42
Im zweiten Buch wendet sich Rilke vom "Gott des Jugendstils" ab, behält aber den lyrischen Umgang des Jugendstils bei (siehe dazu Kapitel III). Er hat sich Gott einverleibt und in einem weiteren Schritt den Künstler mit ihm gleichgestellt. So scheint eine Abwendung von Gott, die sich simultan zu einer Hinwendung zu dem alles überstrahlendem Bild eines Franz von Assisi vollzieht, im dritten Buch nur konsequent.

Das Buch von der Armut und vom Tode"

Im letzten Teil wird die Loslösung von dem Gott der ersten beiden Büchern vollständig vollzogen. Das "Du", welches in den beiden vorangegangenen Büchern die Anrede dominierte, ist zu Beginn des dritten Buches der dritten Person gewichen. Umfangreiche Umschreibungen haben bis auf einige Ausnahmen43 der klaren Anrede "Herr" Platz gemacht. Die Auseinandersetzung mit dem Gottesprinzip hat ein Ende gefunden. Es wird nicht weiter versucht Gott zu beschreiben, sondern ihm wird über die Erfahrung des lyrischen Ichs berichtet. Aus den Dialogen der ersten beiden Büchern ist im dritten Teil ein Monolog geworden.
Die Tendenz des "Sohngottes" aus dem zweiten Buch wird verstärkt. Dazu kommt eine messianische Vision, die im Gegensatz zu dem christlichen Messias der Auferstehung ein "Tod-Gebärer" ist,44 den Rilke zusätzlich in Opposition zu der "Gottgebärerin" Maria setzt. Dieses Motiv entwarf er schon in dem Gedicht "Das jüngste Gericht, aus den Papieren eines Mönchs", das 1899 entstand. In diesem Epos bittet der Gottessohn seinen Vater, das fatale Mißverständnis des ewigen Lebens durch einen neuen Messias rückgängig zu machen.45
Im dritten Buch wird die Gottessuche durch eine Suche nach einem greifbaren, faßbaren Ideal ersetzt. Über die Gleichsetzung Gottes mit den Armen und die superlativische Beschreibung als den "tiefsten Mittellosen"46 gelangt er zu der Apotheose Franziskus von Assisi, der die Rolle eines sagbaren Gottes übernimmt.

Lyrisches Stil-Verfahren

Anhand eines Gedichts aus dem ersten Buch

In diesem Kapitel möchte ich mich, ausgehend vom ersten Buch, mit den vielfältigen Gottesbildern und den verschiedenen Gottesprädikationen beschäftigen und daran die lyrische Stil-Verfahren des Stundenbuchs zeigen.
Aus der darstellenden Kunst des Jugendstils hat Rilke verschiedene Motive und Effekte übernommen, die er in Sprache umzusetzen versucht. In seinen Werken, die um die Jahrhundertwende entstanden, finden sich bekannte Motive aus der bildenden Kunst dieser Zeit wieder: Parklandschaften, Seerosen, Schwäne und das idealisierte Mädchentum. Auch der virtuose Umgang mit der Linie als dekoratives Mittel stammen aus der bildenden Kunst. Dies sei an einem Beispiel deutlich gemacht:

"Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,
an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,
du Wald aus dem wir nie hinausgegangen,

du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen,
du dunkles Netz,
darin sich flüchtend die Gefühle fangen."47

Der eigentliche Hauptsatz mit Subjekt, Objekt und Prädikat ist im ersten Vers vollständig abgeschlossen. Die weiteren sechs Verse sind bloße Ergänzungen, die die Wichtigkeit der Aussage des Hauptsatzes übertönen. Dieser wird zu einem bloßen grammatikalischen Moment. Durch die vielfältigen bildhaften Erklärungen in mehreren Nebensätzen soll eine besondere Stimmung, ein Gefühl, hervorgerufen werden. Sie sind ein starkes dekoratives Element in der "preziösen" Art des Jugendstils.
Zusätzlich erscheint das, in anderen Gedichten auch direkt angesprochene, Motiv der Welle in Reimschema und Versbau.48 Das Gedicht hat das Reimschema abgab. Nach der vollständigen Aussage des ersten Verses, beginnt Rilke durch immer gleiche Versanfänge und gleiches Reimwort eine rhythmische Steigerung, die er im sechsten Vers, der sich mit dem ersten reimt, zu dem Kamm der Welle und im letzten Vers sich überschlagend zu einem Ende führt.
Die Gott zugeordneten Metaphern enthalten häufig ungewohnte Superlative ("Du sanftestes Gesetz").

Gottesprädikationen und -bilder in "Das Buch vom mönchischen Leben"

Verwendete Gottesmetaphern und -prädikationen im Verlauf des ersten Buches:49

uralter Turm
dunkel (III) tief (I), wie Gewebe von Wurzeln (II )
Wärme
Nachbar
bedürftig ["und wenn etwas brauchst", S. 13]
werdend
tief
Dom
reifend
Gast I
zögernd
Ängstlicher
Träumer
grenzenlose Gegenwart
Ding der Dinge
ein aus dem Nest gefallenes Küken (· bedürftig)
Samen
groß III
sanftestes Gesetz
großes Heimweh
Wald I ,der Widersprüche
Lied
dunkles Netz (· Wurzelassoziation)
hohes Mittelschiff
König der Komete
Baum II
Welle
abhängig ["was wirst Du tun, Gott, wenn ich sterbe?" S.31]
raunend Verrußte
dunkel Unbewußte
Bittende und Bange
Silbe im Gesange (·>Lied)
Schlichte
Bauer I
wachsend
Alltagssegen
großes dunkelndes Gewicht
Leiseste von Allen
du gehst wie lauter lichte Rehe
Rad
der Tiefste
der Taucher
Türme Neid
Sanfte
Rätselhafte
der Reim (·Lied) Tiefe I
sanfte Abendstunde
dunkles Sein
Wind
Weinberg
Weide
alter Apfelgarten
Acker
Land
Boden
dunkelnder Grund
geduldig
tiefe Kraft
Williger

Die in dieser Liste aufgeführten Bilder und Prädikationen veranschaulichen, dass Rilke aus zahlreichen Bereichen schöpft, um seinen Gott zu beschreiben und zu charakterisieren. Im vorherigen Kapitel wies ich auf die Stilmittel des Jugendstils hin, unter anderem auf die Verwendung von Bildern als Formelement. Dies kann eine Erklärung für die vielen unterschiedlichen Bereiche sein. Eine andere ist die schon in Kapitel I erläuterte "Unsagbarkeit" Gottes, die sich auch in den Prädikationen niederschlägt. So verdeutlicht Rilke auch auf der Sprachebene das "Kreisen um Gott"50, das schon auf der metasprachlichen Ebene erläutert wurde.
Ein weiterer Aspekt, der schon erläutert wurde, die symbiotische Austauschbarkeit der Dialogpartner der ersten beiden Bücher (Gott und Mensch), sei anhand der Baummetaphorik auch auf der Sprachebene belegt. Den 16 Stellen, an denen Rilke im ersten Buch Gott als Baum, Wurzel oder Zweig bezeichnet, stehen fünf gegenüber, die dem lyrischen Ich gelten.51 In Gedicht Nr. 3 geht Rilke sogar so weit, daß beide Dialogpartner Teil ein und desselben Baumes sind,52 wobei Gott als ernährender Teil (Wurzel) des menschlichen Baumes dargestellt wird. Dadurch wird der symbiotische Charakter dieser Beziehung betont.

Fazit

Sowohl auf der Sprachebene als auch auf metasprachlichen Ebene erschafft sich Rilke seinen Gott aus der Kunst. Dadurch ist der Künstler symbiotisch mit seinem "Produkt" Gott verwachsen. Der Mönch des "Stundenbuches" bedarf keiner Religion außer seiner Kunst. Dadurch steht er in direkter Beziehung zum Anfangszitat: "Die Religion ist die Kunst der Nichtschaffenden. Im Gebete werden sie produktiv...Der Nichtkünstler muß eine Religion - im tiefinneren Sinn - besitzen, und sei es auch nur eine, die auf gemeinsamem und historischem Vereinbaren beruht. Atheist sein in seinem Sinne ist Barbar sein." Rilkes Gott bleibt für ihn unsagbar, im Laufe der Bücher immer radikaler nur erschaffbar in der Tat.

Die mannigfaltige, kühne Metaphorik und Sprache dient dazu, die für Rilke existentielle Frage nach dem Wesen Gottes zu verschleiern, respektive an den Leser weiterzugeben. Die Frage kann als Aufforderung verstanden werden, sich im Sinne des Künstlertums einen individuellen Gott oder eine eigene Religion zu erschaffen.

Eine emanzipatorische Entwicklung oder eine psychologische Interpretation, die "Das Stundenbuch" als Loslösung von der familiären Basis sieht,53 halte ich, auch wenn Rilke durch den Einfluss Lou Andreas-Salomés die Werke Freuds rezipiert hat,54 aufgrund der Aussage des Anfangszitats, in Zusammenhang mit dem herausgearbeiteten Prinzip - Kunst als Religion - für schwierig.

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