212
romischen Tragikern der Republik geschaffene tragische Stil wird beibehalten, manche archaischen (zuweilen von deu Parodien der romischen Komiker bekannte) Ausdriicke werden sogar wórtlich ubernommen. Die Rhetorik ist zwar bei Seneca das wichtigste Stilinstrument, aber es ist falsch, die ganze selbstandige Arbeit Senecas ais »rhetorische Aufblasungen« aufzufassen. Im Gegen-teil, es wird an der Hand der Beispiele gezeigt, wie oft Seneca die in den Originalen rhetorisch aufgebauschten und, ohne die Handlung zu fórdern, in die Lange gezogenen Situationen eben kurz, schlicht und sachgemass fasst, ohne sich von der Rhetorik hinreissen zu lassen. Senecas Metrik wird unter Berucksichtigung der grundlegenden Arbeit von Karl Munscher (Senecas Werke, Untersuchungen zur Abfassungszeit und Echtheit, Philologus, Supplementband XVI. Heft 1, Leipzig 1922) behandelt und ein-gehender untersucht. Es stellt sich heraus, dass Seneca zwar im grossen Ganzen die griechischen Typen der beniitzten Versmasse, bzw. diese Typen, die fur die rómische Dichtkunst durcli die ró-mischen Tragiker (der Republik und der Kaiserzeit) oder durch Horaz festgesetzt wurden, beibehalt, aber von diesen Yorbildern sehr oft abweicht. Besonders interessant sind diese Merkmale, welche ausser bei Seneca, weder bei den griechischen noch bei den romischen Tragikern vorkommen, oder, vom griechischen G-ebrauch stark abweichend, nicht bei Horaz, sondern bei den ró-mischen Tragikern in genau derselben Form wiederzufinden sind. Auf die rómische Tragódie der Republik weist auch der ausgie-bige Gebrauch der Anapaste in den Cantica, obwohl ihr mono-metrischer Bau (L. Mueller, De re m.2 104—106, 124, 159; K. Munscher, a. a. 0. 91—92) vielmehr mit der alexandrinischen, wahrscheinlich schon den Tragikern der beginnenden Kaiserzeit bekannten, Manier zusammenhangt. Der Bau der Cantica zeigt in der Behandlung der s. g. logaódischen, hauptsachlich von Horaz elngefiihrten, Versmasse die Bekanntschaft mit dem Derivaten-system, das Seneca aber nicht unbedingt von Bassus heriiberge-nommen haben musste, sondern, vielleicht auf Grund einer alte-ren Quelle, aus Horazischen diesbeziiglichen Ansatzen selbst wei-ter entwickeln konnte. Zur Schatzung der metrischen Kunst Senecas (die besonders von O. Ribbeck und — ursprtinglich — von F. Leo sehr ungerecht beurteilt wurde) geniigt heutzutage nicht mehr die Feststellung der Zusammenhange mit Horaz und der alexandri-