Dell, T J Der Bruder ihrer besten Freundin

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Das Buch

Libby ist seit ihrem siebten Lebensjahr in Tony Marchetti verliebt.
Das Problem? Tony ist der ältere Bruder ihrer besten Freundin. In
letzter Zeit bemerkt sie jedoch, dass Tony sie auf eine neue Art und
Weise ansieht. Außerdem schickt er ihr ständig E-Mails. Könnte es
sein, dass er mehr in ihr sieht als nur die Freundin seiner kleinen
Schwester?

Tony weiß, dass Libby McKay für ihn tabu ist. Verdammt, sie

ist doch die beste Freundin seiner Schwester! Sie ist aber auch klug
und humorvoll und sieht unglaublich scharf aus. Es macht ihr auch
nichts aus, etwas ins Schwitzen zu kommen – zumindest auf der
Leichtathletikbahn. Tony kann sich irgendwie nicht bremsen.
Davon abgesehen, was machen schon ein paar E-Mails aus? Hin
und wieder ein Telefongespräch? Er kann locker und freundschaft-
lich mit der Situation umgehen – oder etwa nicht?

Die Autorin

T. J. Dell liebt Bücher aller Art, ob kurz oder lang: von unterhalt-
samen Lektüren, über Liebesgeschichten bis hin zu Kriminal-
romanen. Was zunächst mit ihrer Liebe zum Lesen begann, führte
sie schließlich selbst zum Schreiben. Die Autorin lebt in einer Klein-
stadt im US-Bundesstaat Maryland und lässt dort in ihren Büchern
ihrer Fantasie freien Lauf.

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Her Best

Friend’s Brother«.

Deutsche Erstveröffentlichung bei AmazonCrossing, Luxemburg,

September 2014

Copyright © der Originalausgabe 2011 by T. J. Dell

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Christiane

Handrick-Bauer

Umschlaggestaltung: bürosüd

o

München,

www.buerosued.de

Lektorat: Kay D. Szantyr

Satz: Monika Daimer,

www.buch-macher.de

ISBN 978-1-477-82048-3

www.amazon.com/crossing

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Inhaltsverzeichnis

Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Epilog

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Prolog

»Die sind lecker.« Tony Marchetti stopfte sich einen Keks mit
Schokoladensplittern in den Mund und steckte sich die letzten
beiden Kekse auf dem Teller in die Brusttasche seines Hemdes.
»’anke, ’ibby«, murmelte er undeutlich, als er durch die Glasschieb-
etür hinausschlenderte und dabei eine Krümelspur hinterließ.

Selbst lange nachdem sie ihn nicht mehr sehen konnte, grinste

Libby McKay ihm noch nach wie ein Honigkuchenpferd. Libby
wusste, dass die Kekse gut waren. Tony mochte Schokoladensplitter
am liebsten. Libbys Mutter, eine Bäckereibesitzerin, hatte Libby in
das

Geheimnis

eingeweiht,

wie

man

die

besten

Schokoladensplitter-Kekse macht. Libby war seit zwei Jahren in
Tony verliebt und zwei Jahre sind eine lange Zeit, wenn man neun
Jahre alt ist.

Libby und Melanie Marchetti hatten sich am ersten Schultag

der zweiten Klasse kennengelernt. Vier Tage später, an einem Freit-
agabend, saßen Libby und Melanie vor dem Fernseher, teilten sich
eine große Schüssel Popcorn und flochten sich gegenseitig die
Haare, wie es sich für eine richtige Pyjamaparty gehört. Die Hinter-
tür schlug zu und als Libby sich umdrehte, sah sie einen Jungen
hereinkommen, der von Kopf bis Fuß in Schlamm gekleidet war. Er
begann sofort, sich aus seinem schmutzigen Fußballtrikot
herauszuschälen und wischte sich mit der relativ sauberen Innen-
seite des T-Shirts den Schmutz und Schlamm vom Gesicht. Unter
der Schmutzschicht kamen sanfte braune Augen zum Vorschein.

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Dunkles struppiges Haar fiel ihm in die Stirn. Er streifte sich die
Schuhe von den Füßen und verschwand mit ihnen in der Wasch-
küche. Als er wiederkam, trug er saubere Jeans und ein weißes T-
Shirt. Sein Gesicht und seine Haare waren feucht und noch immer
verschmiert, als habe er sich nicht mehr Mühe mit dem Waschen
gemacht, als sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu spritzen.

All das passierte innerhalb von ungefähr 45 Sekunden. Und 45

Sekunden lang hatte Libby mit offenem Mund dagesessen – ohne
Luft zu holen. »Wer ist das, Rattenschwanz?« Der Junge ging um
das Sofa herum, zupfte an den Enden von Melanies gewissenhaft
geflochtenen Haaren und ließ sich in einen gegenüberstehenden
Fernsehsessel fallen.

Mel hatte genau die Haarfarbe, die Libby auch gerne gehabt

hätte: ein helles silbriges Blond. Libby hatte das Haar für ihre Fre-
undin vorsichtig zu einem hübschen französischen Zopf geflochten.
Libbys eigene dunkle Locken waren etwas nachlässiger zu zwei
Zöpfen zusammengebunden. Eigentlich keine Rattenschwänze,
doch sie öffnete sie trotzdem unauffällig, weil sie plötzlich ihre
kindische Frisur hasste.

»Nenn mich nicht so!« Mel schmiss eine Handvoll Popcorn

nach ihm. Er warf sich nach vorne und versuchte erfolglos, die
Körner mit dem Mund aufzufangen. »Für Rattenschwänze bräuchte
ich zwei! Libby, das hier ist Tony – mein Bruder. Er nennt mich im-
mer so, obwohl ich keine Rattenschwänze mehr hatte, seit ich im
KINDERGARTEN war!« Das vorletzte Wort rief sie in Richtung
ihres Bruders.

»Jeden Tag im Kindergarten!« Tony kicherte in sich hinein,

während er sich das Popcorn von seinem T-Shirt wischte und aus
dem Zimmer schlenderte.

Und das hatte ausgereicht. Libby hatte sich verliebt. Natürlich

hatte sie Mel nichts davon erzählt, schließlich wollte sie sich nicht
komplett lächerlich machen. Abgesehen davon war Tony elf Jahre
alt – und in der fünften Klasse!

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Nach der ersten Schulwoche waren Mel und Libby fast unzer-

trennlich. In der Schule gingen sie gemeinsam zum Mittagessen
und nach Schulschluss erledigten sie bei Mel zuhause zusammen
ihre Hausaufgaben. Samstags spielten sie entweder im großen
Garten hinter Mels Haus oder im Park gegenüber dem Mehrfamili-
enhaus, in dem Libby wohnte.

In der ersten Januarwoche feierten Mel und Libby in der Eis-

laufhalle gemeinsam ihre Geburtstage. Der Geburtstag von Mel war
eigentlich im Dezember, es machte ihr jedoch nichts aus, mit der
Party zu warten, weil kurz vor Weihnachten sowieso niemand Ge-
burtstag feiern wollte. Als die Marchettis im Juni eine Woche am
Meer verbrachten, war Libby ebenfalls eingeladen und Libby und
ihre Mutter nahmen Mel für ein langes Wochenende mit nach Wil-
liamsburg. Natürlich hatte die Woche am Meer den zusätzlichen
Vorteil, dass sie sich in der Gesellschaft von Tony befand.

In der dritten Klasse änderte sich nicht viel, außer dass Mel

und Libby nun die Schultage in unterschiedlichen Klassen durch-
stehen mussten. In der Mittagspause tauschten sie noch immer ihre
Pausenbrote, sie sahen sich noch immer jedes Wochenende ›Die
kleine Meerjungfrau‹ an und Libby war noch immer in Tony ver-
liebt. So vergingen die Jahre: Libby und Melanie waren allerbeste
Freundinnen und standen sich näher als Schwestern.

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1. Kapitel

»Es ist rot.«

Libby

starrte

in

den

dreiteiligen

Spiegel

in

ihrer

Umkleidekabine. Mit sechzehn Jahren begann sie zu mögen, was
sie dort im Spiegel sah. Ihre Haarfarbe war immer noch schlicht
dunkelbraun, aber Mel hatte im letzten Sommer mit Haarfärbemit-
teln für zuhause experimentiert und davon profitierte Libby bis
heute in Form fast professionell aussehender dunkler Strähnchen.
Im Verlauf des vergangenen Jahres hatte sich definitiv auch ihre
Figur entwickelt. Die gertenschlanke Mel war eleganter, Libby be-
vorzugte jedoch insgeheim ihre eigenen Kurven. Das rote Kleid, das
sich an ihre vollen Brüste schmiegte und einfach perfekt über die
Rundungen ihrer Hüften fiel, wäre an ihrer Freundin unvorteilhaft
heruntergehangen.

»Rot ist für eine Hochzeit nicht geeignet.«
Libby drehte sich ein bisschen und bewunderte, wie sich der

lange Schlitz leicht öffnete und ein langes Bein zum Vorschein kam.

»Das ist eine Weihnachtshochzeit, Lib. Ich glaube nicht, dass

da die gleichen Regeln gelten. Abgesehen davon ist es nicht wirklich
rot – eher die Farbe von Wein.« Mel seufzte dramatisch und warf
sich in einen Sessel. »Das kann doch nicht dein Ernst sein, dass du
das Kleid zurückhängen willst. Dieses Kleid ist wie für dich
gemacht. Du solltest alle anderen verklagen, die dieses Kleid tragen
möchten!«

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»Es ist nicht gerade ein Einzelstück; dort gibt es einen ganzen

Ständer voll mit gleichen Kleidern, die nur darauf warten, anderen
Mädchen das Geld aus der Tasche zu ziehen.« Libby hatte sich an
Mels Hang zum Dramatischen gewöhnt, fühlte sich aber dennoch
verpflichtet, die Gedanken ihrer Freundin hin und wieder aus der
Welt der Modezeitschriften heraus und zurück auf den Boden der
Tatsachen zu holen. »Und auch wenn es nicht Haute Couture ist, ist
es nicht gerade preisgünstig.« Sie verzog beim Blick auf das Preis-
schild das Gesicht und rechnete in Gedanken aus, wie viele Bleche
mit Plätzchenteig sie backen musste, um das Kleid bezahlen zu
können.

Das sollte nicht heißen, dass sie während der Arbeit in der

Bäckerei und im »Eat Your Heart Out«-Café ihrer Mutter jemals
wirklich schuften musste. Sie liebte es zu backen, und es war auf
jeden Fall besser als der Verkäuferinnenjob, den Mel am Hals hatte.
Sie erinnerte sich daran, dass Mels Mittagspause fast vorbei war
und dass sie sich jetzt entscheiden musste, ob sie den Personalra-
batt ihrer Freundin schamlos ausnutzen wollte. »Vielleicht sollte
ich das pinkfarbene noch mal anprobieren?« Sie griff nach dem
knielangen Kleid, das sie vom Sonderangebotsständer ausgewählt
hatte.

»Auf gar keinen Fall. Wir gehen auf eine Veranstaltung für Er-

wachsene und das da ist ein Partykleid für kleine Mädchen!« Mel
holte tief Luft und begann in einem Tonfall zu reden, den sie of-
fensichtlich als beiläufig empfand. »Tony landet heute Abend.
Hatte ich das bereits erwähnt? Er hat nun doch beschlossen, dass er
nach seinen Abschlussprüfungen eine Pause verdient hat. Und er
wollte Olivias Hochzeit ohnehin nicht wirklich verpassen.«

Libbys Magen krampfte sich zusammen. »Ich dachte, er hat

für die Winterferien einen Job gefunden.«

»Hat er auch. Irgendeine Zeitung – Gazette oder Herald oder

so was in der Art. Er fängt erst am Montag an. Mom und Dad haben
seinen Flug bezahlt. Er kommt also heute Abend an, geht morgen
auf die Hochzeit und fliegt am Sonntagnachmittag wieder zurück.«

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In Wirklichkeit war es der Examiner in Trenton. Tony hatte

sich für die nächsten zwei Monate in New Jersey eine billige
Wohnung gemietet; mit seinem Gehalt konnte er gerade so die Mi-
ete bezahlen. Er freute sich aber so sehr über den Job, dass es ihm
nichts ausmachte, dass er dabei Geld verlor. Deshalb hatte er
ursprünglich auch nicht geplant gehabt, zur Hochzeit seiner
Cousine zu kommen. Er befürchtete, dass ihm das Geld ausgehen
würde, und hatte gezögert, das Flugticket nach Hause zu kaufen.
Natürlich konnte Libby Mels Aussage in diesem Moment nicht kor-
rigieren. Denn Melanie wusste gar nicht, dass Libby mit ihrem
Bruder redete. Nun ja, man konnte es vielleicht nicht wirklich »re-
den« nennen – sie hatten sich kurze E-Mails geschickt und es hatte
einige Internet-Chats zu später Stunde gegeben.

Es waren hauptsächlich nur alberne Dinge. Libby vermutete,

dass Tony etwas Heimweh hatte. Da es aber nicht sehr männlich
gewesen wäre, die ganze Zeit mit der eigenen kleinen Schwester zu
reden, war dies eine Möglichkeit für ihn, auf dem Laufenden zu
bleiben, was die Geschehnisse in Taylorsville anging. Der Ort war
so klein, dass sie noch nicht einmal ihren eigenen Examiner hatten.
Tony konnte sein Heimweh-Dilemma also auf keine andere Art und
Weise befriedigen.

Es gab sowieso nicht viel mehr darüber zu sagen. Ein paarmal

wöchentlich begannen Libbys Nervenenden zu kribbeln, wenn sie
tmarchetti124@gmail.com in ihrer Eingangsbox sah. Es waren nie
mehr als drei oder vier Zeilen. Normalerweise war es etwas Lust-
iges, das ihm tagsüber passiert war, oder in letzter Zeit etwas
darüber, dass die Prüfungen im zweiten Studienjahr weitaus
stressiger waren als im Jahr zuvor. Manchmal fragte er sie Dinge
über ihre Schule und über die Bäckerei. Einmal hatte er ihr eine
SMS mit dem Bild eines Typen geschickt, der sich in der U-Bahn
rasierte. Die Überschrift hatte gelautet ›Nur in NY. Einfach super.‹
Das war die einzige SMS, die er ihr bisher geschickt hatte, und sie
schaute sich das alberne Foto ungeniert ungefähr zwölf Mal am Tag
an. Sie musste dann immer so hemmungslos grinsen, dass sie nur

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vorsichtig einen Blick darauf riskieren konnte, wenn Mel in der
Nähe war. Zweimal, als sie später als üblich online gewesen war, er-
schien plötzlich im Chat-Fenster über ihrem E-Mail-Konto: TMar-
chetti. Beide Male hatten sie mehr als eine Stunde gechattet. Es war
so unkompliziert, mit ihm zu reden, besonders online – weil sie
nicht jedes Mal dagegen ankämpfen musste, ohnmächtig zu wer-
den, wenn er lächelte, und deshalb keine peinlichen Pausen
entstanden.

Tony war im zweiten Studienjahr an der Columbia University

in New York City. Libby wusste, dass er vor Kurzem Journalismus
als Hauptfach gewählt hatte. Ihr leuchtete das ein; Tony konnte gut
mit Worten umgehen. Als sie noch Kinder gewesen waren, hatte er
immer die schreckenerregendsten Geschichten erzählt.

»Er geht also … mit uns … zur Hochzeit?« Libby fühlte, wie ihr

Gesicht wärmer wurde, und konzentrierte sich auf den Saum des
fraglichen Abendkleides. Es war ihr so peinlich, dass sie es nicht
schaffte, genauso scheinbar beiläufig zu klingen wie Mel.

»Er hat keine Begleiterin, falls du das meinst.« Mel grinste

hinter Libby über das ganze Gesicht und der Spiegel warf ihr drei
erschreckende Ansichten davon zurück. »Langsam wird es Zeit,
dass er sieht, dass du kein kleines Mädchen mehr bist. Und dieses
Kleid bringt diese Nachricht klar und deutlich rüber.«

»Sei nicht albern, Mel.« Libby widersprach Mels Aussage

vehement, obwohl sie innerlich gerade die Entscheidung traf, das
rote Abendkleid zu kaufen. Ein Mädchen ist nur einmal jung, oder
etwa nicht? Und in den Weihnachtsferien konnte sie etwas öfter in
der Bäckerei arbeiten.

»Ich bitte dich. Du bist seit Jahren scharf auf ihn. Ich weiß

zwar nicht, warum – du hast sein Zimmer gesehen, oder? Das ges-
amte Zimmer sollte für unbewohnbar erklärt werden!«

»Ich hänge normalerweise nicht im Zimmer deines Bruders

herum«, rief Libby aus der Umkleidekabine heraus, während sie
schnell ihre eigenen Sachen wieder anzog. Dies war nicht die hun-
dertprozentige Wahrheit, denn es gab Dinge, die ein Mädchen noch

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nicht einmal mit ihrer besten Freundin besprechen konnte – be-
sonders wenn das Mädchen sich in den Bruder der besten Freundin
verliebt hatte. »Das rote Kleid. Du hast recht, es ist perfekt, und mit
deinem Rabatt kann ich es mir leisten.«

»Gut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Mittagspause vor

vier Minuten oder so zu Ende war.« Als Libby aus der
Umkleidekabine kam, stand Mel mit ausgestreckten Armen da, um
das Kleid entgegenzunehmen, und die beiden Mädchen gingen zur
Kasse. »Ich bin nicht gerade glücklich darüber, dass es mit Cory
nicht geklappt hat, aber in Bezug auf meine Begleitung hätte ich
auch Schlimmeres als dich erwischen können.« Mel hakte sich bei
ihrer besten Freundin unter. Der einzige Grund, warum Libby
überhaupt das Geld für das blöde, herrliche Wie-erwachsen-ich-
aussehe-Kleid springen lassen musste, war, dass Mel und ihr Fre-
und Cory Schluss gemacht hatten, nachdem Mel bereits ihr Er-
scheinen mit Begleitung auf der Hochzeit zugesagt hatte. »Ich freue
mich, dass du mitkommst. Ich weiß zwar nicht, was du in dem
Chaoten, den ich als Bruder habe, siehst, aber du wärst eine enorme
Verbesserung

gegenüber

Fräulein

Katzenaugenbrille

und

Rollkragenpullover.«

»Wie bitte?« Nach jahrelanger Erfahrung konnte Libby nor-

malerweise gut mit Mels Gedankensprüngen mithalten, jetzt war
sie jedoch wirklich verblüfft.

»Thanksgiving, als ich Tony in New York besucht habe, hab’

ich den tollsten Weihnachts-Einkaufsbummel gemacht. Ich habe
mehr für mich selbst gekauft als für alle anderen auf meiner Liste,
aber es hat sich absolut gelohnt. Ich bereue nur, dass ich nicht in
den einen Laden zurückgegangen bin, um diese Stiefel zu kaufen
…«

»Mel!«
»Ach ja, tut mir leid. Als ich ihn besucht habe, ist dort immer

diese Stephanie rumgehangen. Ich glaube, die beiden haben die
gleichen Englischkurse. Sie hatte immer einen Rollkragenpullover
an. In New York ist es aber nicht so kalt, und sie trägt eine

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Katzenaugenbrille. Ich rede hier nicht über eine Retro-Hallo-ich-
bin-so-niedlich-Sonnenbrille. Nein, das war eine richtige Katzenau-
genbrille aus den Fünfzigerjahren. Das Einzige, was noch gefehlt
hat, war eine Brillenkette!«

Okay, also die Sache mit der Brille war ganz und gar Mel. Per-

sönlich war es ihr ziemlich egal, welchen Brillengeschmack eine
Person hatte, aber ein Mädchen, das mit Tony herumhing? Und er
hatte sie nicht erwähnt … sie hätte sich an so etwas auf jeden Fall
erinnert.

»Sie sind also zusammen, aber nicht so zusammen, dass sie

zusammen auf eine Hochzeit gehen würden oder zusammen übers
Wochenende nach North Carolina fliegen würden oder …« Libby
konnte den Faden nicht weiterspinnen. Es war zu schrecklich.
Tony. Mädchen. Katzenaugenbrille. Plötzlich stimmte sie Mel hun-
dertprozentig zu: Brillengestelle aus den Fünfzigerjahren waren
total geschmacklos.

»Ich weiß nicht. Ich hatte den Eindruck, dass sie vielleicht ein

paarmal zusammen ausgegangen sind, aber ich habe nicht gesehen,
dass ihre Namen nebeneinander in seinen Schulbüchern gestanden
hätten oder so was in der Art. Ihm wird das Kleid gefallen. Olivia
und er standen sich eigentlich nie sehr nahe, weißt du. Ich glaube,
es hätte ihm nicht viel ausgemacht, wenn er die Hochzeit verpasst
hätte, aber neulich habe ich ihm von Cory erzählt und dass du
meine neue Begleitung bist – und voilà! – er kommt übers Wochen-
ende nach Hause. Da kommt man schon ins Grübeln.«

Als Libby mit ihren Tüten zum Auto ging, konnte sie an nichts

anderes denken als an das kleine Fräulein Rollkragenpullover und
ihre Katzenaugenbrille. Stephanie. Sie hatte sogar einen ziemlich
blöden Namen. Eigentlich hatte Libby eine Tante, die Stephanie
hieß, und der Name hatte sie bisher noch nie gestört. Aber bisher
hatte sie auch nicht objektiv darüber nachgedacht, im Gegensatz zu
jetzt, wo es selbstverständlich ganz und gar um Sachlichkeit ging –
klar. Es sollte wirklich keinen Unterschied machen. Sie wusste, dass
Tony Verabredungen hatte; sie wusste, dass er früher bereits

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Freundinnen gehabt hatte. Einige dieser Freundinnen waren bei
den Marchettis zum Abendessen eingeladen gewesen, als Libby
auch dort gewesen war. Aber jetzt – hatte sie sich nur eingebildet,
dass Tony und sie sich in letzter Zeit etwas nähergekommen waren?
Natürlich hatte er ihr letztes Jahr, als er an der Uni war, noch keine
E-Mails geschickt. Und dann hatte es da noch diese langen Nächte
in seinem Zimmer gegeben.

Als Libbys Mutter im vergangenen Sommer von einer Konditor-
enschule in Pennsylvania eingeladen worden war, einen zweiwöchi-
gen Workshop abzuhalten, verbrachte Libby vierzehn perfekte Tage
im Haus der Marchettis. Nicht dass sie sich gefreut hätte, als sich
Mel in den letzten fünf Tagen ihres Aufenthalts eine schreckliche
Magengrippe einfing, aber als Tony ihr anbot, dass er auf dem Sofa
schlafen würde und sie sein Bett haben könnte, damit sie sich nicht
ansteckte, hatte sie nicht gerade ein dringendes Bedürfnis verspürt,
das abzulehnen.

Tony hatte ein bisschen aufgeräumt, und natürlich hatte Mrs

Marchetti die Bettwäsche gewechselt, aber es war immer noch sein
Zimmer gewesen. Sein Bett. Sein Bereich. Allein von der Erinner-
ung bekam sie eine Gänsehaut. An dem Dienstag, an dem Mel anf-
ing, sich krank zu fühlen, wurde die neue Schlafregelung
entschieden. Um 19:00 Uhr waren ihre Sachen in Tonys Zimmer.
Es war zu früh, um ins Bett zu gehen, aber zum ersten Mal in acht
Jahren fühlte sie sich im Haus der Marchettis unbehaglich und fehl
am Platz. Da das Wohnzimmer vorübergehend zu Tonys Schlafzim-
mer umfunktioniert worden war, gab es nicht viele Möglichkeiten.
Sie hatte sich deshalb ihren Schlafanzug angezogen, ein Buch aus
dem Bücherschrank genommen und sich nervös auf Tonys Bett
niedergelassen, um darauf zu warten, dass sie müde wurde.

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Zuerst hatte sie das Klopfen an der Tür fast nicht gehört. Dann

wurde das Klopfen lauter.

»Libby? Schläfst du schon?« Tonys Stimme bescherte ihr im-

mer Herzrasen, aber Libby zwang sich, ruhig zu klingen.

»Nein. Du kannst reinkommen. – Ist das okay?« Libby

gestikulierte und zeigte auf die Stelle auf seinem Bett, auf der sie
saß.

»Natürlich.« Tony verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Wir haben dir doch tausend Mal gesagt, dass es in Ordnung ist.
Mir macht das Sofa nichts aus, wirklich – Mom hat mir nie erlaubt,
einen Fernseher hier drinnen zu haben, und im Studenten-
wohnheim habe ich mir angewöhnt, mit den Top Ten von Letter-
man einzuschlafen. Ich dachte mir nur, dass es noch so früh ist. In
all den Jahren, die ich dich jetzt kenne, bist du meines Wissens
nach nie vor Mitternacht in die Falle gegangen.«

»Normalerweise habe ich auch sehr wichtige und geheime

Pyjamaparty-Rituale durchzuführen.« Libby fühlte sich etwas
entspannter und beschloss, dass eine Unterhaltung mit Tony in ihr-
em Schlafanzug in seinem Schlafzimmer nicht anders war als eine
Unterhaltung mit Tony irgendwo anders. Außer, dass sie jetzt kein-
en BH anhatte, was ihr in letzter Zeit unangenehm war. Libby
fröstelte nervös und suchte nach etwas, das sie sich diskret
überziehen konnte.

Tony musste gesehen haben, dass sie zitterte, denn er griff

nach dem blauen Kapuzenpullover, der hinter der Tür hing, und
warf ihn zu ihr hinüber. »Hier … es kann hier drinnen kühl wer-
den.« Er beschäftigte sich einige Sekunden damit, sein gerahmtes
Schulabschlussdiplom, das an der Wand hing, geradezurücken.

»Danke.« Libby schlüpfte in den Pullover und atmete dabei

seinen unverwechselbaren Duft tief ein, eine Mischung aus seinem
Rasierwasser und Waschmittel.

Tony sah sie etwas merkwürdig an, als sie wieder aufschaute.

»Er ist sauber. Ich habe ihn gestern nur für ein paar Minuten zum
Briefkasten und zurück angehabt. Er ist wirklich sauber.«

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»Natürlich ist er sauber.« Jetzt kam es Libby fast so vor, als sei

Tony nervöser als sie, aber das war sicher nur ihre überhitzte
Fantasie.

Tony erlöste sie aus der bizarren Situation und zog ein ziem-

lich abgenutztes Monopolyspiel unter seinem Arm hervor. »Ich
dachte, wir könnten eine Runde spielen. Vielleicht sollten wir un-
sere eigenen Pyjamaparty-Rituale einführen.« Ein neckisches
Grinsen huschte beim letzten Teil des Satzes über sein Gesicht, und
obwohl Libbys Herz verzweifelt versuchte, aus ihrem Brustkorb zu
springen, wurde die Atmosphäre wieder unbeschwerter.

Tony setzte sich im Schneidersitz ans Fußende des Bettes und

baute das Spielbrett zwischen ihnen auf.

Sie spielten stundenlang und unterhielten sich dabei die ganze

Zeit. Zum ersten Mal hatte Libby eine längere Unterhaltung mit
Tony, ohne dass ein anderes Familienmitglied der Marchettis an-
wesend war. Sie redeten über alles Mögliche. Zuerst diskutierten sie
über die Strategien erfolgreicher Monopolyspieler: grüne versus
blaue Grundstücke (definitiv grün!) und Versorgungswerke versus
Bahnhöfe (Bahnhöfe, wenn man alle vier hatte, waren auf jeden
Fall besser). Nach und nach gelangten sie zu Gesprächsthemen wie
Leben, Kurse und Universitäten. Als Libby zugab, dass sie am Ende
des Schuljahres am Auswahlverfahren für Cheerleader teilgenom-
men hatte, lachte Tony.

»Du wärst keine gute Cheerleaderin.«
»Ich war nicht so übel«, flüsterte Libby mehr zu sich selbst. Sie

konnte genauso gut springen und kichern wie alle anderen. Abgese-
hen davon wusste sie ganz genau, dass Tony in seinem letzten
Schuljahr monatelang mit Ellen Kirkpatrick ausgegangen war, die
temperamentvollste aller Cheerleader.

»Sei nicht gleich beleidigt, Libby.« Tony lachte leise, während

er seinen Kopf schüttelte. »Du kommst jedes Jahr zu uns, um das
Superbowl-Spiel anzuschauen, und jedes Jahr muss ich dir die Re-
geln für American Football wieder erklären, und jedes Jahr schläfst
du ein, bevor das Spiel zu Ende ist! Das ist das spannendste Spiel

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im ganzen Jahr. Ausgeschlossen, dass du eine ganze Saison lang,
jeden

Freitagabend,

ein

komplettes

Footballmatch

einer

Highschool-Mannschaft durchstehen könntest. Bestimmt nicht.«

»Vielleicht hast du recht.« Libby kaute an ihrer Lippe,

während sie den Preis für die Hafenstraße abzählte. »Ich glaube,
ich versuche es mit Leichtathletik. Ich liebe es, zu laufen.«

Tony hielt einen Moment inne und betrachtete sie von oben

bis unten. »Ja.« Seine Stimme klang etwas rauer als normal. »Das
kann ich mir vorstellen. Du hast auf jeden Fall die passenden Beine
dafür.«

Allein die Erinnerung an seinen taxierenden Blick, mit dem er

ihre entlang der Bettkante ausgestreckten Beine betrachtet hatte,
reichte aus, um sie rot werden zu lassen.

Hin und wieder lächelte Tony sie an. Zum Beispiel, als sie ihm

von ihren Erinnerungen daran berichtete, wie gut er als Kind
Geschichten erzählt hatte, und dass Journalismus für sie nach einer
guten Idee klang. Es war nicht das unbekümmerte Ich-liebe-mein-
Leben-Lächeln, das sie von Tony gewöhnt war, sondern eher ein
neues Nur-für-Libby-Lächeln.

Als Libby ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte und auf

die Uhr schaute, war es tatsächlich bereits früher Morgen und Tony
hatte schon längst die Top Ten verpasst.

»Bist du mit Unentschieden einverstanden oder möchtest du

nachzählen, wer das meiste Geld hat?« Tony lächelte verschmitzt
und Libby wusste ganz genau, was er vorhatte.

»Kommt gar nicht in Frage, Marchetti! Ich habe drei Mono-

pole! Du hast vielleicht mehr Geld, aber in ein paar Runden wird
alles mir gehören! Ausgeschlossen – wir können morgen zu Ende
spielen.«

»Woher soll ich wissen, dass du in der Nacht nicht schum-

melst?« Tony spielte mit und täuschte Empörung vor.

Sie schrieben deshalb ganz genau die jeweiligen Besitztümer

sowie ihr gesamtes Vermögen auf und gingen sogar so weit, das
Brett in die Garage zu tragen und es dort einzuschließen. Als die

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Tür verschlossen war und die beiden den Schlüssel feierlich unter
der Schlafzimmertür seiner Eltern hindurchgeschoben hatten (zur
Sicherheit), wurden sie von der Komik der ganzen Situation ge-
packt (in Verbindung mit der Tatsache, das es inzwischen fast zwei
Uhr morgens war) und kicherten hysterisch. Kichern! Anthony
Marchetti hatte tatsächlich gekichert!

Libby musste lächeln, als sie daran dachte.
Als sie wieder normal atmen konnten, begleitete Tony sie

zurück zu ihrem Zimmer – eigentlich seinem Zimmer – und für
einen viel zu langen Moment wurde die Situation wieder merkwür-
dig. Aufregend merkwürdig. An der Zimmertür angelangt, drehte
sie sich zum Gutenachtsagen um und bemerkte, dass er nur wenige
Zentimeter entfernt von ihr stand. Mit einem Arm gegen den Tür-
rahmen über ihrer Schulter gelehnt, kam er ihr so nahe, dass sie
fast seinen Atem schmecken konnte. Es kam ihr in den Sinn, dass
sie sich ihm nur ein klein wenig entgegenstrecken musste, um sein-
en harten Brustkorb an ihrem Körper zu spüren, und nach acht
Jahren Sommerurlaub am Strand mit ihm wusste sie seinen
Oberkörper zu würdigen.

»Das hat Spaß gemacht, Libby. Ich kann mich nicht erinnern,

dass wir vorher schon einmal zusammen ein Spiel gespielt haben.
Wir sollten das auf jeden Fall wieder tun.« Seine Stimme wurde rau
und etwas tiefer. Flirtete er mit ihr? Nein, wohl kaum – aber das
war trotzdem neu für sie.

»Morgen können wir das Spiel zu Ende spielen. Und am

Strand spielen wir die ganze Zeit Scrabble.« Scrabble war das Feri-
enspiel der Marchettis schlechthin. Tony sah für einen Moment fast
etwas verwirrt aus, aber dann kam sein Lächeln zurück. Nicht das
Nur-für-Libby-Lächeln, sondern das altvertraute freundliche
Lächeln.

»Gute Nacht, Lib.« Tony streckte sich und öffnete hinter ihr

die Tür, dann drehte er sich um und ging durch den Gang davon.
Einen fantastischen Moment lang hatte sie geglaubt, dass Tony sie
küssen würde. Obwohl sie erschöpft war, brauchte sie in dieser

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Nacht lange, um einzuschlafen, und am nächsten Morgen verschlief
sie fast die Huevos Rancheros von Mrs Marchetti.

Am nächsten Abend setzte sich Tony nicht auf das Bett, son-

dern rollte den Bürostuhl seines Vaters ins Zimmer. Der kleine
Raum wurde dadurch noch schmaler und Libby fühlte einen gewis-
sen Verlust, da sie nun ganz alleine auf dem Bett saß. »Ich glaube,
ich werde zu alt, um die ganze Nacht ohne Rückenlehne zu sitzen«,
scherzte er, als er sich auf dem Stuhl niederließ. Für eine flüchtige
Sekunde glaubte sie zu sehen, wie er sehnsüchtig auf den leeren
Platz neben ihr auf dem Bett schaute.

Das Monopoly-Spiel dauerte noch drei Abende, wobei sich

Tony durch dumme Tauschgeschäfte und verzweifelte Handel über
Wasser hielt. Ehrlich gesagt ließ Libby ihn absichtlich diese
nutzlosen Tauschgeschäfte machen, nur um das Spielende hinaus-
zuzögern. Sie hatte jedoch das Gefühl, dass er wusste, was sie im
Schilde führte, und es ihm schlicht nichts ausmachte. Hin und
wieder fiel seine Stimme eine Oktave und er neckte sie auf diese
neue Art und Weise, die ihr Herz höherschlagen ließ; aber es gab
keine Augenblicke mehr, wo sie seinen Atem schmecken konnte. Es
gab keine Möglichkeiten mehr für Gutenachtküsse. Jeden Abend
wurde das Spielbrett sicher hinter Schloss und Riegel gebracht, als
wäre es das wichtigste Monopoly-Spiel in der Geschichte von
Monopoly, und jeden Abend lag Libby danach viel zu lange
wachund ließ jedes Wort und jedes Lächeln noch einmal in ihrer
Erinnerung aufleben.

Freitagabend gab Tony schließlich, wenn auch widerwillig,

seine völlige Niederlage im Monopoly zu. Dies schien ganz gelegen
zu kommen, denn am nächsten Tag würde sie nach Hause gehen.

»Libby?« Tony holte tief Atem. »Libby, haben dir die

Geschichten, die ich erzählt habe, damals, als wir noch Kinder war-
en, wirklich gefallen?«

»Ich weiß nicht, ob gefallen das richtige Wort ist. Deine Sch-

wester und ich lagen danach noch nächtelang wach, weil wir Angst
hatten, die Augen zuzumachen, aber … ja … sie waren gut.«

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»Weißt du, dass ich sie aufgeschrieben habe? Nicht nur, als wir

noch klein waren, sondern ich habe in meinen letzten Jahren an der
Highschool viel geschrieben. Ich glaube, es würde mir gefallen, et-
was zu schreiben, was die Leute tatsächlich lesen. Nicht nur Zei-
tungsartikel, die dann in der Recyclingtonne landen, sondern etwas
für ein Bücherregal, das man vielleicht hin und wieder noch mal
liest.«

»Ein Buch. Tony, du redest davon, ein Buch zu schreiben, und

ich finde das fantastisch.« Libby strahlte ihn an, denn sie wusste,
dass er ihr etwas Persönliches anvertraute – und auch, weil sie
wusste, dass er ein fabelhaftes Buch schreiben konnte.

Tony lächelte zurück. Sein besonderes Nur-für-Libby-Lächeln.

»Ja. Ein Buch. Ich möchte ein Buch schreiben.« Er stieß einen
tiefen Seufzer aus. »Ich glaube, ich traue mir das zu. Eine
Sammlung von Kurzgeschichten – oder ich setze alles auf eine
Karte und mach daraus einen richtigen Roman. Einen Kriminalro-
man. Weißt du, mir gefällt ein guter Krimi!« Es sprudelte alles nur
so aus ihm heraus und Libby war von seiner Euphorie so mitgeris-
sen, dass sie ihn umarmte und einen Jauchzer ausstieß.

»Du packst das, Tony. Setz alles auf eine Karte – das wird

große Klasse!« Nur eine Sekunde später wurde Libby bewusst, was
sie getan hatte. Jede Faser ihres Körpers war zum Leben erwacht.
Tony umfasste langsam, fast zögernd ihre Taille. Zuerst berührte er
sie kaum, aber plötzlich zog er sie an sich und umarmte sie fest.
Seine Hände spreizten sich über ihren Rücken, während er ihren
Oberkörper an sich presste. Sie wollte ihre Hände öffnen und die
Muskeln fühlen, die sie so ausführlich betrachtet hatte und von
denen sie wusste, dass sie da waren. Einen Augenblick später legte
er jedoch seine Hände auf ihre Hüften und schob sie vorsichtig von
sich weg.

»Danke, Lib.« Ohne sie aus den Augen zu lassen, reichte er

rüber zu seinem Tisch und zog einen ziemlich ramponierten Spiral-
ordner hervor. »Vielleicht kannst du ein paar davon lesen. Nur so-
viel, dass du mir sagen kannst, ob sie auch gut genug sind.

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Wirklich. Ich möchte, dass du ehrlich mit mir bist.« Tony schob ihr
das Buch entgegen. »Das Material hinten ist am Neuesten. Ich
weiß, dass die Grammatik nicht perfekt ist, aber …« Er fing tatsäch-
lich an zu stammeln. Sie hatte Tony Marchetti aus der Fassung geb-
racht! Das war auf jeden Fall ein Höhepunkt in ihrem bisherigen
Leben.

»Nicht heute Abend, weil ich sonst nicht schlafen kann, aber

sobald die Sonne aufgegangen ist, würde ich mich freuen, die
Geschichten zu lesen.«

»Aber … das sollte nicht jeder wissen, in Ordnung? Mel

braucht davon nichts zu erfahren.«

»Natürlich! Ich werde es niemandem erzählen.« Es tat ihr

weh, dass er es überhaupt für nötig hielt, ihr das zu sagen. Dies war
für ihn eine persönliche Angelegenheit und sie würde es nicht an
die große Glocke hängen.

»Ich weiß, Lib. Du bist eine gute Freundin.« Er lehnte sich

sachte zu ihr hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Ihre Stirn! Wie bei einem Kind! Es war aber dennoch ein Kuss und
Hoffnung machte sich in ihrem Herzen breit.

Die Geschichten waren wirklich großartig – jetzt, wo Libby alt

genug war, nachts keine Albträume mehr davon zu haben. So hatte
die ganze Geschichte mit der E-Mail-Freundschaft begonnen. Als
Mel wieder auf den Beinen war, gab es für Libby eigentlich nicht
mehr viele Anlässe für Gespräche mit Mels Bruder. Deshalb begann
sie, ihm nach jeder gelesenen Geschichte eine E-Mail zu schicken,
und er schickte ihre eine zurück. Als sie die letzte Geschichte ge-
lesen hatte, sah sie eigentlich nicht recht ein, warum sie ihm nicht
weiterhin E-Mails schicken sollte. Er würde es ihr schon sagen, falls
sie ihm auf die Nerven ging – oder etwa nicht?

Das war dumm. Es gab keinen Grund, warum sie jetzt an sich

selbst zweifeln sollte. Sie waren sich nun näher als früher. Früher
war sie die beste Freundin seiner kleinen Schwester gewesen und
jetzt war sie eine Freundin von ihm. So sehr es sie auch schmerzte,
dass sie sich in der Kategorie für gute Freunde befand, so war sie

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doch wenigstens in einer Kategorie. Sie würde jetzt nicht damit an-
fangen, an sich zu zweifeln.

Und das Kleid war … perfekt.

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2. Kapitel

Es war höchstwahrscheinlich zu viel. Nein. Sie sah super aus. Libby,
die in Mels Zimmer stand und in deren Standspiegel schaute, war
hin- und hergerissen. Libby hatte am Morgen mehr Zeit damit ver-
bracht sich zurechtzumachen als Mel, und Mel war eine Brautjung-
fer! Natürlich war Mel im Grunde eigentlich nur in ihr elegantes
goldenes Etui-Kleid gestiegen, hatte einige Locken strategisch
zurückgesteckt und mit geübter Gelassenheit etwas Make-up auf-
getragen. Mel konnte in etwa zwei Minuten so aussehen, als wäre
sie gerade einer ihrer Modezeitschriften entstiegen. Libby wieder-
um hatte sich über eine Stunde lang der Fummelei von Mel un-
terzogen, die ihre Locken gesteckt und befestigt und gezogen hatte,
bis sie aussahen, als wären sie mühelos nach hinten zusammengen-
ommen worden und einige Strähnchen wären rein zufällig heraus-
gerutscht. Mel hatte sich ebenfalls um ihr Make-up gekümmert.
Das vollendete Produkt, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte,
war viel spektakulärer als Libby sich das vorgestellt hatte – aber sie
sah wirklich großartig aus. Libby, die einen Meter siebzig groß war,
mied normalerweise hohe Schuhe. Jetzt war sie aber froh darüber,
dass Mel auf den Schuhen mit den kleinen niedlichen spitzen Ab-
sätzen bestanden hatte. Und Tony war sowieso ziemlich groß –
mindestens einen Meter achtzig.

»Es ist nicht zu viel. Tony wird ausflippen.« Mels Spiegelbild

erschien hinter ihr, als sie sich betrachtete. Sie hatte Libbys Mimik
schon immer etwas zu gut lesen können.

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»Nein. Ich wollte nur ganz sicher sein, dass alles richtig sitzt«,

leugnete Libby vergeblich, als sie vom Spiegel zurücktrat.

Da es an der Tür klopfte, waren weitere Diskussionen glück-

licherweise nicht mehr möglich.

»Seid ihr beiden jetzt fertig? Verflixt, wenn wir nicht endlich

losfahren, kommen wir zu spät!«, hörten sie Tonys verärgerte
Stimme von der anderen Seite der Tür. Mel sollte wegen der Fotos
mit der Brautgesellschaft früher zur Kirche kommen und Tony fuhr
sie dorthin, damit Mel nach der Trauung zusammen mit den ander-
en Brautjungfern in der Limousine fahren konnte. Sie waren noch
nicht unbedingt zu spät dran, aber es war an der Zeit aufzubrechen.

»Mach dich auf was gefasst, Bruder!«, rief Mel zurück, als sie

Libby die perlenbestickte Handtasche reichte und sich ihre eigene
kleine Handtasche unter den Arm schob. »Wir haben jede Menge
Zeit, aber wir können jetzt los.«

Mel öffnete die Tür und ging lässig die Treppen hinunter zur

Haustür. Libby blieb ruckartig vor dem Türbogen stehen. Sie hatte
Tony noch nie in Anzug und Krawatte gesehen. Sein üblicherweise
unordentliches Haar war kurz geschnitten, und obwohl sie ihn
gerne dabei beobachtete, wie er sich gewohnheitsmäßig das Haar
aus den Augen strich, so sah er doch mit diesem neuen Look aus
wie … ja, wie ein Erwachsener. Wie ein unglaublich scharfer Er-
wachsener. Libby musste sich einen Moment lang konzentrieren,
damit ihr die Zunge nicht aus dem Mund hing.

Tony warf ihr einen Blick zu und stieß einen kleinen Pfeifton

aus. »Libby McKay … den Kinderschuhen entwachsen.« Hatte er
wirklich gerade anerkennend gepfiffen? Was sollte sie sagen? War-
um sah er sie plötzlich so an? »Bist du bereit, Lib?« Tony reichte
ihr seinen Ellenbogen und Libby merkte plötzlich, dass er natürlich
darauf wartete, dass sie weiterging. Ohne ein Wort zu sagen – denn
sie traute im Moment ihrer eigenen Stimme nicht –, hakte sie sich
bei ihm unter und ließ sich zum Auto führen.

Bei der Kirche angekommen, wurde Mel für Fotos in Beschlag

genommen und Libby und Tony hatten bis zum Beginn der

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eigentlichen Zeremonie noch eine drei viertel Stunde Zeit. Er
schaute fragend auf ihre Füße. »Kann man in den Schuhen gut
laufen? Die Hauptstraße ist nur einen Häuserblock entfernt. Ich
dachte, wir könnten einen Spaziergang machen und uns die Weih-
nachtsschaufenster ansehen.«

Libby, die unglaublich glücklich darüber war, dass Tony über-

haupt daran gedacht hatte, Zeit mit ihr zu verbringen – selbst wenn
es sich nur um einen Spaziergang der Hauptstraße entlang handelte
–, erwiderte: »Die Schuhe sind kein Problem, aber dieser Schal ist
nicht gerade perfekt für das Dezemberwetter.« Libby hüllte den
dünnen Umhang etwas fester um ihren Körper, um zu verdeut-
lichen, dass trotz des milden Abends eine ziemlich kühle Brise
wehte.

Tony nickte nachdenklich, zog dann wortlos seinen wollenen

Kurzmantel aus und hängte ihn ihr über die Schultern. »Lass uns
gehen.« Er berührte mit seiner Hand ihren Rücken und schob sie
leicht in Richtung Hauptstraße.

Zuerst liefen sie wortlos nebeneinanderher. Sie berührten sich

nicht, denn Libby versank geradezu in Tonys Mantel. Es war jedoch
nah genug, dass Libby sein Rasierwasser riechen konnte. Nachdem
das angenehme Schweigen einige Minuten angedauert hatte, sagte
Tony: »Hast du immer noch vor, im Frühling mit Leichtathletik
anzufangen?«

»Das Probetraining fängt gleich nach den Winterferien an. Ich

habe fast jeden Tag auf der Bahn im Fitnessclub trainiert. Lang-
streckenlauf gefällt mir am Besten. Ich bin dabei, meine
Laufgeschwindigkeit pro Kilometer zu verbessern, aber ich übe
auch Sprints.«

»Begleitet dich Mel oder jemand anders? Es wäre wahrschein-

lich gut, jemanden zum Trainieren mit Stoppuhr dabeizuhaben. Ich
weiß, dass Sam Tucker gut in Leichtathletik war, als ich noch dort
zur Schule ging.«

Sam Tucker war in der Abschlussklasse und im Leichtath-

letikteam. Libby war überrascht, dass Tony sich an ihn erinnerte,

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da Sam auf der Highschool zwei Jahrgänge unter Tony gewesen
war. Sam und Libby hatten ein paar Dates gehabt, einschließlich
des Besuchs eines Schulballs vor einigen Wochen. Es hatte Spaß
gemacht, aber sie hatten beide festgestellt, dass sie nicht ernsthaft
aneinander interessiert waren.

»Normalerweise bin ich ziemlich früh dort, und Mel steht nur

dann früh auf, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt … wie
Schlussverkäufe. Ich habe aber eine alte Stoppuhr und kann meine
Zeit selbst messen. Soweit klappt es ganz gut.«

»Du gehst also nicht mit Sam zum Laufen?«
»Ähhh … nein.« Warum redeten sie über Sam Tucker? Über

Sam zu sprechen zerstörte irgendwie das schöne Gefühl der
Pseudoverabredung, das Libby noch vor einigen Sekunden gehabt
hatte.

Tony nickte und sah auf seine Uhr. »Wenn wir gute Plätze

möchten, sollten wir wahrscheinlich zurückgehen.«

Tonys Arm glitt um ihre Hüfte und er drehte sie herum, wieder

Richtung Kirche.

»Hey, Kleine! Schau mal nach oben!« Ein Mann, der gerade

aus einer Ladentür gekommen war, grinste und zeigte nach oben.
Unglaublich, dort an der Markise des Antiquitätenladens, genau
über ihren Köpfen, hing ein Mistelzweig.

Der Arm, den Tony einige Augenblicke zuvor so unschuldig um

ihre Hüfte gelegt hatte, wurde nun schwer und warm, während er
Libby an seine Brust zog. Tony neigte sein Gesicht zu ihr nach un-
ten und flüsterte gegen ihre Lippen: »Fröhliche Weihnachten, Lib.«
Sanft berührte sein Mund ihren, dann begann er, seine Lippen
langsam und zart auf ihren zu bewegen.

Was den Kuss anbetraf, war das alles vergleichsweise un-

schuldig. Libby hatte zwar nicht viel Erfahrung, aber es gab weder
Nachdruck noch Zunge. Dennoch fühlte Libby, wie ihr Magen
Purzelbäume schlug und ihr die Knie weich wurden. Lange bevor
sie bereit war, das hier zu beenden, stieß jemand einen an-
erkennenden Pfiff aus und Tony schob sie von sich weg.

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»Beeilen wir uns lieber.« Tony steckte die Hände in seine

Taschen und ging schnell, immer einen halben Schritt vor Libby,
zurück zur Kirche. Libby fragte sich, ob irgendetwas schiefgelaufen
war. Aus ihrer Sicht war dieser Kuss perfekt gewesen, aber sie hatte
ja auch wenig Vergleichsmöglichkeiten.

Tony wusste, dass er unhöflich war. Er ging trotzdem

schneller. Je eher sie von Verwandten umgeben waren, desto ein-
facher würde es für ihn sein, seine Hände bei sich zu behalten. In
der Zwischenzeit ballte er sie in seinen Taschen zu Fäusten – nur
zur Sicherheit. Das hier war problematisch. Libby war die beste
Freundin seiner kleinen Schwester und er hatte im Moment
Gedanken, für die er wahrscheinlich verhaftet werden könnte. Aber
so wie sie heute Abend aussah, hatte er große Schwierigkeiten, sein-
en Körper davon zu überzeugen, dass sie erst 16 war. Klar – er hatte
in letzter Zeit daran gedacht, dass sie beide vielleicht gut zusam-
menpassen könnten –, aber erst in einigen Jahren. Vier Jahre
würden keinen großen Unterschied mehr machen, wenn sie beide
ein wenig älter waren. Verdammt, jetzt war sie noch ein Kind. Sich-
er, er war noch jünger gewesen als sie und hatte sich schon ganz an-
dere Sachen erlaubt als nur einen kleinen Kuss unter dem Mistelz-
weig, aber darum ging es jetzt nicht. Wusste sie überhaupt, wie sie
in diesem Kleid aussah? Sie war im Prinzip eine wandelnde Sünde.
Das Kleid verbarg viel mehr als die Badeanzüge, in denen er sie
Jahr für Jahr gesehen hatte, und auch mehr als die kurzen Schla-
fanzughosen, mit denen sie ihn im letzten Sommer malträtiert
hatte. Und doch war das Kleid so viel … wirkungsvoller.

An den Kirchentreppen angekommen, verlangsamte Tony

seine Schritte wieder und ging neben Libby her. »Sieht so aus, als
hätten wir es rechtzeitig geschafft.«

»Und wir haben noch jede Menge Zeit.«
Libby schien ein bisschen verstimmt zu sein. Er war auf dem

Weg zurück nicht gerade nett gewesen, deshalb hatte er das wahr-
scheinlich verdient. Als Libby die Treppen hochging, hob sie den
Saum ihres Kleides ein wenig an. Der Schlitz des skandalösen

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Rocks öffnete sich und zeigte ein langes perfektes Bein bis hoch zu
ihrem schlanken muskulösen Schenkel. Tony unterdrückte ein
Stöhnen.

Wer immer ihr dieses Kleid verkauft hatte, hätte einen Ausweis

verlangen sollen. Es war überhaupt erstaunlich, dass sie die Zeit ge-
habt hatte, ein Kleid zu kaufen, noch dazu ein Kleid, das so … Ein
schrecklicher Gedanke überkam ihn. Die Einladung zur Hochzeit
war wirklich in letzter Minute gekommen. Vielleicht hatte sie gar
keine mehr Zeit gehabt, ein neues Kleid zu kaufen. Der Schulball
war ja erst ungefähr acht Wochen her. Vielleicht hatte sie das Kleid
dafür gekauft. Mel hatte ärgerlicherweise sehr lautstark betont, wie
attraktiv Libby und Sam beim Ball ausgesehen hatten. Es war mög-
lich, dass Libby das verführerische Kleid für Sam Tucker gekauft
hatte. Dieser Gedanke fühlte sich an wie Schlag in die Magengrube.
Sam Tucker mit seinem glänzenden schwarzen Wagen und den
getönten Scheiben. Es gab nur einen Grund, warum ein Teenager
getönte Fensterscheiben brauchte. Der bloße Gedanke daran, dass
Sam Tucker Libby, seine Libby, in diesem Kleid gesehen hatte,
machte Tony so wütend, dass er zu keinem klaren Gedanken mehr
fähig war.

Während sie in einer Kirchenbank saßen und auf den Beginn

der Hochzeit warteten, lehnte sich Tony zu Libby hinüber und
flüsterte in ihr Ohr: »Habe ich dir schon gesagt, wie sehr mir dein
Kleid gefällt?«

»Bevor wir aufgebrochen sind, hast du bewundernd gepfiffen.«

Libby konnte sich ein neckisches Lächeln nicht verkneifen. »Ich
würde mal sagen, dass man das mit ›mögen‹ übersetzen kann. Das
war das erste Mal, dass jemand meinetwegen gepfiffen hat.«

Tony entschied sich, nicht zu erwähnen, dass vor fünfzehn

Minuten ein Fremder ihretwegen gepfiffen hatte, als sich die beiden
unter dem Mistelzweig geküsst hatten. Er atmete tief ein und ver-
suchte es noch einmal. Plötzlich war es sehr wichtig für ihn zu wis-
sen, ob Libby dieses wundervolle Kleid für Sam Tucker getragen
hatte. »Ich glaube, Mel kann sich glücklich schätzen, dass du so

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kurzfristig ein Kleid gefunden hast. Oder hattest du es vielleicht
schon – möglicherweise vom Schulball?«

»Schulball? Das wäre für einen Tanz in der Schule etwas über-

trieben gewesen. Mel hat es eigentlich erst gestern für mich ausge-
sucht und mir ihren Ladenrabatt dafür gegeben.«

»Das ist gut.« Tony hörte sich aufrichtig erfreut an. Seine Hal-

tung entspannte sich und er legte einen Arm über den Bankrücken.

Die Hochzeitszeremonie war wunderschön. Wenn jemand sie

später nach Einzelheiten der Feier gefragt hätte, hätte Libby den-
noch nichts dazu sagen können. Es war ihr praktisch nicht möglich
gewesen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf Tonys
Arm auf ihrer Rückenlehne und wie seine Fingerspitzen, wenn sie
zuweilen ihre freie Schulter leicht berührten, Stromstöße durch ihr
Nervensystem sendeten.

Taylorsville bot nicht viele Möglichkeiten, um elegant auszuge-

hen, aber es gab ein sehr schönes Hotel im Stadtkern mit einem
großen Ballsaal. Dort fand die Feier statt. Mel fuhr natürlich
zusammen mit der Brautgesellschaft in der Limousine, deshalb
nahm Tony Libby in seinem Auto mit. Das Gefühl des Beinahe-
Dates breitete sich wieder in Libbys Kopf aus. Libby hatte einige
Verabredungen gehabt, aber die typischen Gesprächsthemen für
ein Date waren für sie und Tony witzlos, weil sie sich bereits in- und
auswendig kannten. Das bedeutete aber nicht, dass im Auto eine
peinliche Stille geherrscht hätte. Sie gingen immer unbeschwert
miteinander um. Auch wenn sie nicht redeten, war es nie wirklich
unangenehm.

»Ich

habe

mich

entschlossen,

eine

Sammlung

von

Kurzgeschichten zusammenzustellen. Ich habe ein paar neue Ideen,
und wenn ich mich ein bisschen reinhänge, könnten einige meiner
älteren Geschichten richtig gut werden.« Sie redeten über das
Schreiben. Er sprach mit Leidenschaft von seinem Professor für
kreatives Schreiben und über eine Arbeitsgruppe, der er beigetreten
war – mit gleichgesinnten Kritikern, die offenbar ungeheuer hil-
freich waren. Libby lächelte und hörte zu. Sie mochte Tony, wenn

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er aufgeregt und voller Pläne war und ein starkes Selbstvertrauen
ausstrahlte. Das war ihr Tony. »Ich habe den Gedanken, einen
richtigen Roman zu schreiben, aber trotzdem nicht aufgegeben. Ich
habe so viele Ideen. Ich tendiere zu einer Detektivserie. Krimis.
Richtige Bestseller. Aber ich denke, für einen Grünschnabel wie
mich sind Kurzgeschichten ein guter Anfang.«

Tony parkte sein Auto auf dem Hotelparkplatz. »Ich langweile

dich, stimmt’s?« Er sagte dies mit Humor in der Stimme, aber es
steckte auch ein wenig Ernsthaftigkeit dahinter. Er wollte nicht
vom Hundertsten ins Tausendste kommen und er hatte nicht viele
private Augenblicke mit Libby. Jetzt war die fünfzehnminütige
Autofahrt vorbei und sie war nicht ein Mal zu Wort gekommen.

»Du langweilst mich nie.« Sie musste leise kichern – der

Gedanke, es könnte ihr in Tonys Gesellschaft jemals langweilig wer-
den, war unvorstellbar. »Darf ich es dann lesen?«

Da war es, das Nur-für-Libby-Lächeln. Tony legte seine Hand

über ihre. »Du wirst die Erste sein. Das verspreche ich.«

Der Abend war perfekt. Wohin sie auch schaute – Libby war

verzaubert von den silbernen und goldenen Weihnachtsdekoration-
en. Sie saß natürlich am Tisch der Marchetti-Familie, aber sie be-
merkte, dass man sie neben Tony gesetzt hatte und nicht neben ihre
eigentliche Begleitung, Mel. Es gab ein herrliches extravagantes
Abendessen mit mehr Gabeln als ihr lieb war, aber sie konnte sich
in Gesellschaft der Marchettis einfach nicht unbehaglich fühlen,
ganz gleich in welcher Situation.

Als die Band zu spielen begann, kam Großtante So-und-so

vorbei und nahm die Familie für Fotos in Beschlag. Selbst als sie al-
leine am Tisch saß und etwas dümmlich ihr Wasserglas anlächelte,
hatte sie keine Zeit, sich unbehaglich zu fühlen. Denn sobald Tony
seinen Arm von ihrer Stuhllehne genommen hatte, wurde ihr reich-
lich Aufmerksamkeit zuteil. Sie tanzte einmal mit einem Freund des
Bräutigams; er trat ihr jedoch auf die Füße und platzierte seine
Hand etwas zu tief auf ihrem Rücken. Deshalb nahm sie gerne die
Tanzaufforderung

von

Mels

Cousin

Nick

an.

Nick

war

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schätzungsweise zwei Jahre jünger als sie, aber er begrapschte sie
nicht und war ein guter Tänzer. Er vertraute ihr außerdem an, dass
er am Kindertisch festsaß, und wenn Libby eines nachempfinden
konnte, dann war es das Gefühl, als ›Kind‹ abgestempelt zu wer-
den. Nachdem die beiden lachend den Electric Slide getanzt hatten,
landete Libby bei Frankie.

Frankie Marchetti war einer der vielen, vielen Cousins in der

Familie Marchetti. Libby hatte ihn das eine oder andere Mal auf
Familienfesten getroffen, zu denen sie mitgegangen war. Sie
schätzte ihn ein oder zwei Jahre älter als Tony und er sah sehr gut
aus. Er war groß, wie Tony, hatte jedoch einen dunkleren Hautton
und etwas zu ausgeprägte Muskeln. Frankie kam aus dem Zweig
der Familie, der mehr italienisches Blut in sich hatte. Und er war
ein guter Tänzer, obwohl er sie etwas zu eng an sich zog.

»Ja, die kleine Libby … ganz erwachsen.« Er neigte seinen

Kopf in ihre Richtung, woraufhin Libby Panik bekam und einen
Schritt zurücktrat. Frankies Worte ähnelten denen von Tony sehr,
aber das Gefühl in ihrer Magengrube war ganz anders.

»Entschuldige, hier drinnen ist es so warm. Ich glaube, ich

hole mir etwas zu trinken.« Libby ging schnell davon.

An der Bar angekommen, bestellte sich jeder vor ihr in der

Reihe Sekt. Libby hatte sich gerade entschlossen, ebenfalls ein Glas
zu nehmen, als sich Tonys Hand um ihren Ellbogen legte.

»Kirsch-Cola … mit extra Kirschen. Und Sekt für mich.« Tony

hatte ruhig mit dem Barkellner gesprochen, aber seine Augen wur-
den schmaler, als er sie zurück zum Tisch führte. »Trinkst du in-
zwischen?«, fragte er beschuldigend.

»Woher weißt du, dass ich nicht Kirsch-Cola bestellen woll-

te?«, empörte sich Libby, die sich in den Status einer kleinen Sch-
wester zurückversetzt fühlte.

»Ich kann dir die Gedanken vom Gesicht ablesen. Wenn du ein

bisschen älter wärst, würde ich liebend gerne Poker mit dir
spielen.«

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Libby riss ihren Ellenbogen aus seinem Griff. »Vielen Dank,

aber ich bin alt genug.« Wobei nicht ganz klar war, wofür sie alt
genug war. »Du bist auf jeden Fall kein gutes Vorbild. Was hättest
du getan, wenn sie dich nach deinem Ausweis gefragt hätten, als du
den Sekt bestellt hast?«

Tony schaute sie überrascht an. »Ich hätte den Ausweis

gezeigt«, antwortete er trocken.

»Sei nicht albern. Du bist erst 20.«
»Ich habe einen Ausweis, der etwas anderes behauptet«, mur-

melte Tony, als sie sich zurück an den noch immer leeren Tisch
setzten.

»Na, du musst gerade reden«, murmelte Libby mehr zu sich

als zu Tony.

»Ich bitte dich, Lib. Da gibt es einen kleinen Unterschied. Du

bist sechzehn und ich werde in diesem Sommer einundzwanzig.«

»Ich werde in zwei Wochen siebzehn.« Nun führte sie wirklich

Selbstgespräche, denn sie bemerkte, wie die letzte Spur der
Begeisterung über ihr Beinahe-Date verflog.

»Und siebzehn ist alt genug, mit meinem etwas schmierigen

Cousin Frank rumzumachen?« Tony flüsterte jetzt, aber aus jedem
seiner Worte klang eine Spur von Ärger und Missbilligung. Das war
es also. Tony fühlte sich verantwortlich dafür, die kleine Libby
McKay vor dem großen bösen Wolf, der sein Cousin war, zu retten.
»Er hat eine Freundin. Was würde Sam Tucker darüber denken,
wenn er wüsste, wie du dich Frank an den Hals geworfen hast?«

Wieder Sam Tucker. Menschenskind, sie waren auf drei miser-

ablen Verabredungen gewesen und hatten sich einmal miserabel
geküsst. Große Betonung auf MISERABEL. »Ich habe mit Frankie
nicht herumgemacht. Wir haben zwei Lieder lang miteinander get-
anzt. Dann wurde mir warm und ich entschloss mich, etwas zu
trinken und mich hinzusetzen.« Sie fügte nicht hinzu, dass es ei-
gentlich Tonys Idee gewesen war, sich hinzusetzen. Es machte kein-
en Sinn, ihn daran zu erinnern. »Außerdem wäre es Sam Tucker

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komplett egal, selbst wenn ich mit Frankie die Hochzeit verlassen
hätte.«

»Was du NICHT tun wirst!« Tony war so erstaunt über ihre

Worte, dass er sein Glas Sekt umwarf. Aber er hatte ihn eigentlich
sowieso nicht gewollt – er hatte den Sekt nur aus Prinzip bestellt.

»Was ich nicht tun werde.« Libby stimmte ungezwungen zu.

»Ganz genauso wie ich nicht mit ihm rumgemacht habe.«

»Er hat dich geküsst«, fauchte Tony, allerdings schon etwas

ruhiger, da die Vernunft in seinem Gehirn langsam wieder die
Oberhand gewann. »Aber warum würde es Sam nichts
ausmachen?«

»Wir sind nicht zusammen, Tony. Wir sind ein paar Mal

miteinander ausgegangen, aber es ist nichts passiert – und Frank
hat mich fast geküsst. Ich bin weggelaufen, aber du hast wahr-
scheinlich diesen Teil verpasst, weil du so beschäftigt damit
gewesen bist, mich vor mir selbst zu retten. Nicht dass dich das
alles etwas anginge. Ich bin schon geküsst worden. Ich bin kein
kleines Kind.«

Sam und sie waren nicht zusammen. Libby hatte keinen Fre-

und. Moment, wen hatte sie geküsst? »Wen hast du geküsst?«

»Noch mal, das geht dich nichts an. Ich glaube aber, dass ich

dich vor ein paar Stunden geküsst habe.«

»Und ich hatte bisher geglaubt, dass ich derjenige gewesen

bin, der dich geküsst hat.« Plötzlich war ihre Unstimmigkeit wie
weggeblasen. Tony hatte rot gesehen, als er Libby gesucht hatte und
sie dann so eng an Frank gedrängt sah, dass zweifelhaft war, ob
noch ein Blatt Papier zwischen die beiden gepasst hätte. Er hatte
geglaubt zu sehen, wie die beiden sich küssten. Er konnte sich aber
auch irren. Und Libby war jetzt hier. Und sie war nicht Sam Tuck-
ers Freundin. »Es tut mir leid, Lib. Ich war … ja, ich habe mich et-
was sonderbar benommen, aber jetzt geht es mir besser.«

Da war es wieder – das Nur-für-Libby-Lächeln. Sie war ihm

nicht mehr böse. »Hat mit den Fotos alles geklappt?«, versuchte
sie, das Thema zu wechseln.

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Tony grinste. »Es hat ewig gedauert! All diese Mütter und

Tanten und Großmütter und Großtanten, und keiner wusste, was
passieren würde und wo jeder stehen sollte. Es war ein Durchein-
ander. Wenn es bei mir so weit ist, erinnere mich bitte daran, ein-
fach durchzubrennen!« Für einen kurzen Moment hingen die
Worte zwischen ihnen und nahmen einen etwas anderen Sinn an,
als er beabsichtigt hatte. Unglaublich, wie die Luft knisterte! Tony
lehnte sich nach vorne und berührte ihren Arm. »Tanz mit mir,
Libby.«

Während sie tanzten, hielt er sie eng, aber er drückte sich nicht

an sie wie Frankie. Er schmiegte sich an sie, mit ihrem Kopf unter
seinem Kinn. »Du riechst nach Lavendel.«

»Das ist eine Körperlotion. Ich habe trockene Haut.«
Tony lachte leise. Nur Libby konnte trockene Haut so sexy

klingen lassen. »Du riechst so gut. Ich liebe den Geruch.« Einige
Augenblicke lang herrschte Schweigen, bis Tony wieder redete.
»Habe ich dir erzählt, dass Tara, die Zimmernachbarin von Olivia
an der Uni, mich während der Fotos in den Hintern gezwickt hat?«

»Nein!« Libby lachte über den plötzlichen Themenwechsel

und löste sich etwas von ihm, um ihm in die Augen schauen zu
können.

»Doch! Ich habe mich gefühlt wie ein Stück Fleisch. Es war

widerlich.« Ein Lächeln umspielte Tonys Lippen. »Und sie kommt
direkt auf uns zu.« Tony beugte sich zu ihr herab und flüsterte ihr
zu: »Lass uns so tun, als ob wir zusammen hier wären – ein
richtiges Rendezvous.«

»Was?« Libby hauchte das Wort aus, während ihr Herz einen

Sprung machte.

»Bitte … Das würde Tara vertreiben.« Sie fühlte seinen Atem

warm und feucht an ihrem Ohr.

»Na gut.« Sie drehte sich, um ihn anzusehen. Sein Gesicht war

nur Zentimeter von ihrem entfernt. Er verlor keine Zeit, die Lücke
zu schließen. Das war kein zarter Mistelzweig-Kuss.

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Seine Lippen pressten sich fest auf ihre. Seine Zunge strich

über ihre Lippen und sie öffnete ihren Mund, bereit, den Kuss zu
vertiefen.

»Tony!« Eine sehr hohe, zuckersüße Singsang-Stimme zer-

störte ihren Moment. »Ich hoffe, dass du einen Tanz für mich auf-
hebst.« Die Frau war einige Jahre älter als Tony und eine blonde
Sexbombe, die ihr Brautjungfernkleid ausfüllte, als sei es mit Ab-
sicht eine Nummer zu klein.

»Tara.« Tony drehte sich um, ließ aber seinen Arm um Libby

gelegt. »Ich glaube, ich habe dir noch nicht meine Freundin vorges-
tellt – Libby McKay.« Seine Stimme klang ungezwungen, aber kühl.
Tara bekam den Wink mit dem Zaunpfahl nicht mit.

»Deine Freundin?« Tara sah einen Moment lang etwas verwir-

rt aus, erholte sich jedoch schnell wieder. »Libby. Ja, stimmt,
Libby. Bist du nicht die Begleitung der kleinen Melanie?«

»Sieht es so aus, als wäre ich die Begleitung von Mel?« Libby

schob ihren freien Arm über Tonys Brust in seine Anzugjacke
hinein. Libby würde sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und sie
würde todsicher nicht ihr Rendezvous mit Tony Marchetti aufgeben
– selbst wenn es sich nur um ein Pseudo-Rendezvous handelte.

»Also gut, man sieht sich dann.« Tara wirkte etwas verblüfft,

als sie sich umdrehte und in Richtung Bar ging.

»Du warst fantastisch!« Tony drehte Libby zurück in seine

Arme und lachte. »Beobachtet sie uns noch?«

Libby hatte keine Ahnung, wo Tara war. »Ja«, antwortete sie

schnell.

»Gut.« Tony schloss sie in seine Arme und gab ihr einen weit-

eren leidenschaftlichen Kuss. Er positionierte seinen Mund perfekt
auf ihrem und sie spürte den Kuss durch und durch bis in die Ze-
henspitzen. Als er sich sanft von ihr löste, flüsterte er leise: »Wow.«

Jede Minute dieser Nacht prägte sich für immer in Libbys

Gedächtnis ein. Sie tanzte meist mit Tony, und er reichte ihr sogar
ein Glas Sekt, als die Zeit für Trinksprüche gekommen war. Viel zu
früh war der Abend vorüber und Tony fuhr sie zurück nach Hause.

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Sie hoffte, dass er sie zur Haustür begleiten und vielleicht auch
noch mal küssen würde.

»Es hat mir großen Spaß gemacht, Lib.« Tony legte den Kopf

schief und grinste, als er vor ihrem Apartmentgebäude anhielt.

»Mir auch.«
»Na dann, schöne Weihnachten. Ich werde eine Weile lang

nicht nach Hause kommen. Morgen früh fliege ich gleich und über-
morgen fange ich schon beim Examiner an. Ich melde mich aber.«
All das sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen. Libby konnte es
nicht fassen. Die beste Nacht ihres Lebens und ein Kleid, das so
teuer gewesen war, dass sie während der gesamten Winterferien in
der Bäckerei ihrer Mutter Sklavenarbeit leisten musste – und er
›meldet sich dann mal‹.

»Super. Danke fürs Heimfahren. Schöne Weihnachten.«
Sie stieg aus dem Auto. Ihre Wohnung war im vierten Stock.

Auf den Stufen der ersten beiden Stockwerke war sie fest
entschlossen, böse auf ihn zu sein. Nachdem sie jedoch die letzten
beiden Stockwerke hinaufgestiegen war, hatte sie sich entschieden,
positiv zu denken. Der Abend war wirklich schön gewesen. Er hatte
gesagt, dass es ihm Spaß gemacht hatte. Als sie an diesem Abend
einschlief, war sie sicher, dass Tony Marchetti der Erkenntnis, er
könne ohne sie nicht leben, einen Schritt näher gekommen war.

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3. Kapitel

Fröhliche Weihnachten! Es war so komisch, Weih-
nachten ohne die Familie zu feiern, aber die
Flugtickets nach Hause hätten viel mehr gekostet,
als ich armer Schlucker im Monat verdiene. Mir ge-
fällt es aber sehr gut. Ich darf zwar nie etwas wirk-
lich Wichtiges machen, aber wenigstens bin ich bei
einer richtigen Zeitung. Vorhin habe ich mit Mom
und Dad und Mel gesprochen. Hört sich an, als hät-
ten sie schöne Feiertage gehabt. Mein Nachbar im
Zimmer gegenüber und ich waren chinesisch essen.
Hört sich langweilig an, war aber irgendwie cool.
Ich habe dran gedacht, dich anzurufen, aber ich
wusste nicht, wann du Zeit hast. Also, fröhliche
Weihnachten, Libby. Ich hoffe, es war schön.
-t-

Chinesisch hört sich gut an. Du kennst mich und
meine Mutter ja – wir haben so viele Weihnachts-
plätzchen gegessen, dass wir abends beide keinen
Appetit mehr auf unseren Truthahn hatten. Deshalb
gab es heute zum Mittagessen Truthahnauflauf. Ich

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habe gestern kurz deine Familie besucht. Sie vermis-
sen dich – sogar Mel.
Ich vermisse dich auch.
-L-

Einige Tage später kam mit der Post ein Päckchen. Es enthielt

eine digitale Stoppuhr für Läufer. Ein kleines Gerät, das ihre
Bestzeiten abspeichern und ihre Fortschritte nachverfolgen konnte
und vieles andere, von dem sie noch nicht einmal gewusst hatte,
dass sie darauf achten musste. Was für ein wohlüberlegtes Ges-
chenk! Libby gefiel es fast genauso wie die Karte, die er beigelegt
hatte. Es war eine einfache Weihnachtskarte mit der Zeichnung
eines Mistelzweiges, in die Tony in seiner fast unleserlichen Hands-
chrift eine Nachricht gekritzelt hatte.

Ich dachte, dass du die Uhr gut gebrauchen kannst. Viel

Glück. Alles Liebe, Tony

›Alles Liebe‹. Nicht ›Herzlichst‹. Nicht ›Mit freundlichen

Grüßen‹. Tony hatte ›Alles Liebe‹ geschrieben. Jungs dachten
höchstwahrscheinlich nicht sehr viel über diese Dinge nach, de-
shalb versuchte Libby nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Das
bedeutete jedoch nicht, dass sie in ihrem Zimmer keine Lufts-
prünge gemacht hätte, nachdem sie die Karte in den Rahmen ihres
Kommodenspiegels gesteckt hatte.

Ich habe gerade dein Päckchen bekommen. Ich finde
es toll. Einfach perfekt! Probetraining ist in zwei
Wochen. Drück mir die Daumen!
-L-

Wie ist es gelaufen?
-t-

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Ich bin jetzt schon süchtig! Die offiziellen Ergebnisse
werden morgen bekannt gegeben, aber ich war am
schnellsten. Nicht nur bei den Mädchen, sondern
INSGESAMT am schnellsten! Da kann man mal se-
hen, wie wichtig eine gute Stoppuhr fürs Training ist.
-L-

Keine fünf Minuten, nachdem sie auf ›Senden‹ geklickt hatte,
zuckte sie vom Ping der Nachrichtenbox zusammen.

TMarchetti: Das ist super! Gratuliere!
Libbylibbylibby: Danke. Ich bin so begeistert. Ich habe noch
nie an irgendwelchen Sportwettbewerben teilgenommen.
Zuerst wollte ich ja nur irgendeine außerschulische Aktivität
finden, die ich in meinen Unibewerbungen diesen Sommer
aufführen kann, aber jetzt will ich wirklich gewinnen.
TMarchetti: Das ist toll, Lib. Du hörst dich glücklich an. Ich
bin mir sicher, dass deine gute Leistung ganz und gar dein
Verdienst war. Ich freu mich aber, dass dir die Stoppuhr
gefällt.

Sie chatteten noch fast 45 Minuten lang über alles Mögliche. Libby
schwebte an diesem Abend in ihr Bett. Alle paar Tage konnte sie
mit einer E-Mail oder einer SMS von Tony rechnen. Der Inhalt war
nie etwas Außergewöhnliches oder sehr persönlich, aber sie musste
jedes Mal lächeln und manchmal hatte sie vor Lachen sogar Tränen
in den Augen.

Etwa eine Woche später kam eine Geburtstagskarte mit der

Post, die sie auf einen Ehrenplatz auf der Kommode stellte, neben
ihre Weihnachtskarte. Das war die Routine der beiden. Sie waren
lockere Brieffreunde, die manchmal ein bisschen flirteten. Libby

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war dieser Kontakt unendlich wichtig, aber manchmal fragte sie
sich, wie wichtig, wenn überhaupt, er ihm war.

Alles Gute zum Geburtstag, Lib. Mel hat mir erzählt,
ihr geht ins Kino? Das hört sich ziemlich zahm für
eine deiner Partys an. Erinnerst du dich noch an das
Jahr, als ihr beiden uns zu ›Die Kleine Meerjungfrau
auf Eis‹ geschleppt habt? Du warst so enttäuscht von
Prinz Wie-heißt-er-nochmal. Ich hoffe, dass ihr Spaß
habt!
-t-

Es war Prinz Eric! Der Schauspieler war völlig falsch
für die Rolle. Der Film war lustig. Ich glaube, wir
sind einfach zu alt für Prinzessinnen und Eis-Shows.
-L-

Super. du bist in der Auswahlmannschaft! Mel hat
sich so für dich gefreut, sie hat kaum über ihre
Abschlussballkleid-Shoppingtour gesprochen. Aber
mich haben die Neuigkeiten von dir ohnehin mehr
interessiert. Warum hast du mir das letzte Woche
nicht erzählt, als wir telefoniert haben?
-t-

Ja, ich bin ganz begeistert, aber ich dachte, dass ich
lieber auf die genaue Platzierung warte, bevor ich zu
sehr damit angebe. Dir zu sagen, dass ich als Letzte
ins Ziel gekommen bin, wäre zu schrecklich gewesen.
-L-

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Du Dummkopf. Das ist hoffentlich das letzte Mal,
dass du dir Sorgen machst, ob du mir etwas erzählen
solltest oder nicht. Abgesehen davon, du wirst auf
gar keinen Fall auf dem letzten Platz sein. Ich wün-
schte, ich könnte für den Auswahlwettkampf nach
Hause kommen, aber ich muss jede freie Minute
lernen.
-t-

»Sam Tucker hat dich zum Abschlussball eingeladen?« Mel war
außer Atem, als sie in die Bäckerei gerannt kam. »Und du hast
NEIN gesagt!«

»Wirklich Mel, wer ist dein Informand? Das Ganze ist keine

Stunde her.« Sam hatte sie gleich nach Schulschluss gefragt und
jetzt, 45 Minuten später, wusste Mel bereits über alles Bescheid.
»Er war mir nicht böse; es war mehr so eine Ich-hab-keinen-
Tanzpartner-und-du-hast-keinen-Tanzpartner-Situation.«

Mel verzog das Gesicht. »Du hättest eine Verabredung zum

Abschlussball haben können. Ich weiß, dass du kein Interesse an
Sam hast, aber er sieht super aus und er ist ein guter Tänzer.
Außerdem könntest du dann wenigstens zum ABSCHLUSSBALL
gehen!« Ihre Augen verengten sich, als Libby weiterhin völlig
konzentriert Cupcakes auf einem Blech arrangierte. »Du möchtest
gehen, oder? Du bist seit Ewigkeiten mit niemandem mehr aus-
gegangen. Eigentlich seit Weihnachten. Geht es immer noch um
Tony?«

Sie konnte fühlen, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Nein,

ich bin einfach mit niemandem ausgegangen. Was ist schon dabei?
Ich war mit meinem Training und der Bäckerei beschäftigt.« Libby
schaute nach unten und versuchte, ihre Stimme gleichmäßig und
normal klingen zu lassen. Eine Ablenkung. Sie musste Mels
Gedanken von Libbys Nicht-Beziehung mit Tony ablenken. »Cory
also? Bist du sicher, dass du dir das noch mal antun möchtest?«

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Cory und Mel waren mindestens alle sechs Wochen das heiße

Thema der Schule. Waren sie zusammen? Hatten sie Schluss
gemacht? Hast du gehört, dass sie sich im Klassenzimmer gestritten
haben? Libby war sich ziemlich sicher, dass dieser Bekanntheits-
grad teilweise oder sogar ganz den Reiz der Beziehung für ihre Fre-
undin ausmachte. Zu Libbys Verdruss ließ Mel selten eine Gelegen-
heit verstreichen, ihre dysfunktionale Beziehung mit ihr zu
analysieren.

Mel winkte herablassend ab. »Er ist irgendwie eine Unsitte

von mir, aber er ist ein wirklich guter Tänzer und er bringt mich
zum Lachen. Abgesehen davon wird er auf den Bildern super ausse-
hen …« Mel sah sie streng an. »Du versuchst, das Thema zu
wechseln!«

»Nein, das tue ich nicht.«
»Letzten Monat hast du mir erzählt, dass du die Nase voll hast

von allem, was mit Cory zu tun hat, und dass du zukünftig jedes Ge-
spräch über ihn oder unsere Beziehung boykottieren wirst. Jetzt
soll ich glauben, dass du plötzlich wieder Interesse daran gefunden
hast?«

»Letzten Monat musste ich um Mitternacht durch die ganze

Stadt fahren, um dich von dieser Party abzuholen, weil du dich ge-
weigert hast, dich von ihm nach Hause fahren zu lassen.«

»Hallo! Er sabberte praktisch Sherri Munski hinterher. Ich

fühlte mich so erniedrigt und … HALT! Das funktioniert nicht. Wir
müssen reden.« Mel, die auf einem Stuhl an der Theke saß, wack-
elte ein wenig hin und her, als würde sie es sich nun gemütlich
machen. »Ich weiß, dass ich dich Weihnachten ziemlich bestärkt
habe, aber damals habe ich gedacht, dass Tony zur Vernunft kom-
men würde.« Sie holte tief Atem. »Aber ich glaube, dass das nicht
geschehen ist.« Sie wartete auf eine Reaktion.

»Er hat mich geküsst.« Libby hoffte, dass ihre Worte so un-

bekümmert wie möglich klangen.

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»Das habe ich gesehen. Auf der Hochzeit. Das sah sogar aus

wie ein ziemlich guter Kuss.« Mel verzog nachdenklich das Gesicht.
»Ich glaube, er ist zu alt für dich.«

»Was? Wann hast du das entschieden? Er ist nur dreieinhalb

Jahre älter. Was ist aus ›er soll sehen, dass du erwachsen bist‹
geworden?«

»Na ja … Das wird kaum geschehen, wenn du jedes Wochen-

ende zu Hause sitzt!« Mel verlagerte verlegen ihr Gewicht auf dem
Stuhl. »Effie ist in letzter Zeit viel mit ihm zusammen. Ich glaube,
dass sie den Sommer mit ihm in New Jersey verbringt, wenn er
wieder beim Herald arbeitet.«

»Examiner«, verbesserte Libby sie abwesend. »Wer ist Effie?«
»Erinnerst du dich, ich habe dir vor der Hochzeit von ihr

erzählt. Katzenaugenbrille, friert immer?«

»Du hast gesagt, dass sie Stephanie heißt. Was für ein Name

ist denn Effie?« Mann – mit wie vielen Mädchen stand sie eigent-
lich im Wettbewerb? Nicht, dass sie wirklich am Wettbewerb teil-
nahm, schließlich war sie in North Carolina und er eben nicht.

»Hab ich das gesagt?« Mel schien sich an dieser Kleinigkeit

nicht allzu sehr zu stören. Mel befasste sich generell nicht gerne mit
Einzelheiten. »Ich muss den Namen irgendwie verwechselt haben.
Sie heißt Effie. Ich glaube sie kommt aus Griechenland oder Italien,
irgendwo aus der Gegend.«

Das wurde ja immer besser. Exotisch, hatte wahrscheinlich

einen Akzent und sie war offensichtlich klug. Dummköpfe gingen
normalerweise nicht zur Columbia University.

»Er hat sie dir gegenüber nicht erwähnt? In einer seiner E-

Mails?«

Libby erstarrte. »Was meinst du?« Mel wusste nichts über die

E-Mails, außer Tony hatte ihr davon erzählt. Redete Tony mit Mel
über sie? Wollte sie das?

»Stell dich nicht dumm, Lib. Er schickt dir die ganze Zeit E-

Mails, stimmts? Du hast ihm letztes Wochenende während des ges-
amten Films SMS-Nachrichten geschickt. Ich glaube, wir müssen

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heute Abend was anderes anschauen. Ich werde wirklich langsam
zu alt für ›Die kleine Meerjungfrau‹. Vielleicht können wir einfach
im Schnelldurchgang zu den Liedern vorspringen.«

Sie hatte ihm tatsächlich während des Films gesimst. Vielleicht

hätte sie es etwas heimlicher tun sollen, aber wer hatte schon Zeit
für Heimlichkeiten, wenn Tony Marchetti in einer Krisensituation
steckte und ihre Hilfe benötigte? Libby musste in Gedanken daran
lächeln.

Tony: Was ist der Unterschied zwischen gesalzener und un-
gesalzener Butter?
Libby: Eine davon enthält Salz.
Libby: Warum?
Tony: Ich backe Kekse.
Libby: ???????
Tony: Ich habe 1000-mal bei dir zugeschaut! Ich bin mir sich-
er, dass ich das auch kann. Mit oder ohne Salz?
Libby: Ohne Salz … Du weißt, dass man Kekse auch kaufen
kann, oder? Schon gebacken mit allem drum und dran.
Tony: Ich will aber den Backgeruch in der Nase!

Tony: Die Außenseite ist verbrannt und innen ist er noch roh.
Libby: Ich trau mich fast nicht zu fragen … er?
Tony: Der Keks
Tony: Ich habe einen großen Keks gebacken.
Tony: Bist du noch da?
Libby: Tut mir leid, Mel hat mich aus dem Zimmer geworfen,
weil ich so laut gelacht habe. Du hättest ihn wahrscheinlich bei
einer niedrigeren Temperatur backen sollen. Hat es wenig-
stens gut gerochen?

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Tony: Nein, der Geruch war anders, aber ich esse jetzt den
Innenteil mit dem Löffel … schmeckt gar nicht so schlecht.
Libby: Wenn du rohe Kekse isst, kann dir wirklich schlecht
werden!
Tony: Nach der ganzen Mühe? Das Risiko geh ich ein.

Am nächsten Tag verpackte Libby ein Dutzend von Tonys geliebten
Schokoladensplitter-Keksen und schickte sie ihm.

Okay, Mel hatte also herausgefunden, dass die SMS-Nachricht-

en von ihrem Bruder waren. »Hat er dir erzählt, dass wir uns E-
Mails schicken?«

»Mensch – Lib. Das hab ich selbst rausgefunden. Er weiß im

Moment mehr über dein tägliches Leben als ich. Darum geht es jet-
zt aber nicht. Wenn du, aus mir unbegreiflichen Gründen, mit Tony
befreundet sein möchtest, dann ist das okay. Hör aber bitte damit
auf, daheim Trübsal zu blasen. Ich habe alle möglichen Teenager-
Komplexe und muss damit jetzt ganz alleine fertig werden.« Mel
lächelte, um ihr zu zeigen, dass sie hauptsächlich Spaß gemacht
hatte.

»Gut, erzähl mir von Effie«, seufzte Libby resigniert.
»Es gibt nicht viel zu erzählen, außer dass sie sich zusammen

eine Wohnung nehmen.« Es entstand eine lange Pause, in der Mel
auf eine Reaktion zu warten schien. Sie bekam aber keine. »Du ver-
stehst, was ich gerade gesagt habe, ja?«

»Mensch – Mel.« Libby lächelte halbherzig. Vielleicht sollte sie

doch zum Abschlussball gehen. »Ich glaube, ich rufe Sam an.«

Mel grinste, drehte sich um und schlenderte zur Tür hinaus.

Alles Gute zum Schuljahresende. Ich bin mir sicher,
dass du dich schon auf die Sommerferien freust. Wie
fühlt man sich in der Abschlussklasse?
-t-

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Danke. Wünsche ich dir auch. Außer, dass du wohl
diesen Sommer nicht frei hast, sondern wieder
arbeiten musst. Freust du dich schon auf New
Jersey?
-L-

Libby wusste, dass sie nicht herumstochern sollte, aber wenn

Tony wirklich ihr Freund war, gab es eigentlich keinen Grund, war-
um er nicht mit ihr über seine Wohnsituation reden sollte.

Ja, für mich gibt es so bald wahrscheinlich keine
Sommerferien mehr. Warte ab, wenn du ein bis-
schen älter bist, möchtest du auch lieber arbeiten als
am Strand zu liegen.
-T-

›Ein bisschen älter‹. So ein Quatsch! Libby wartete drei Tage, bis
sie ihm zurückschrieb.

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4. Kapitel

»Du hast uns dieses Jahr am Strand gefehlt, großer Bruder.« Mel
hatte das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, während
sie ihre Kleidung für den ersten Schultag aussuchte. »Du hättest
dich gut mit John und Parker verstanden. Sie haben nebenan im
Haus der Johnsons gewohnt. Sie gehen beide zu NYU.«

»Du weißt doch, dass Praktikanten keinen Urlaub bekommen,

Mel. Da ich nicht da war, hast du es sicher genossen, eine Chance
beim Scrabble zu bekommen. Sind John and Parker die Kinder der
Johnsons?«

»Nein, sie haben das Haus nur gemietet. Sie waren die ganze

Woche da. John steht total auf mich.«

»Was ist mit Cory passiert?« Tony interessierte sich kein bis-

schen für Cory, aber ab und zu wollte er sich vergewissern, ob es
Mel gut ging. Ob seine kleine Schwester einen Freund hatte oder
nicht und wie der Freund hieß, zählte vermutlich zu den wichtigen
Fakten.

»Papperlapapp. Cory ist Schnee von gestern. Er hat mich den

ganzen Sommer lang kaum angerufen und John ruft mich immer
an. Er und Parker kamen sogar her und haben den 4. Juli mit mir
und Libby gefeiert.«

Plötzlich wurde er aufmerksam. »Parker besucht Libby?«

Klang das locker und beiläufig? Vielleicht hätte er zuerst etwas über
John fragen sollen. »Äh, du magst John also … hmm?«

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»Ja und ja. Libby ist mit Sam Tucker ausgegangen, aber ich

glaube, Parker gefällt ihr besser. Vor dem Feuerwerk hatten wir ein
Picknick im Park.«

»Sam Tucker!« Gut, das klang jetzt nicht beiläufig, aber das

hatte ihn überrascht.

»Ja. Sam Tucker, der Typ, der tatsächlich mit ihr ausgeht. Du

weißt, was das ist, nehme ich an. Oder gehst du mit Effie nicht
aus?«

»Mit Effie ist das anders. Wir arbeiten im gleichen Ort; so

sparen wir Miete.«

»In einer Wohnung mit nur einem Schlafzimmer?«
»Es gibt ein Ausziehsofa. Erzähl mir von Parker … und John.«

Er musste sich vor Mel nicht rechtfertigen. Effie war nur eine Fre-
undin. Na ja, vielleicht etwas mehr als ›nur eine Freundin‹. Effie
wollte aber genauso wenig eine ernsthafte Beziehung eingehen wie
er – und wie hätte er seiner kleinen Schwester gegenüber Gelegen-
heitssex rechtfertigen sollen?

»Parker und John verbrachten das Wochenende im Hotel hier

im Ort und sind dann in der folgenden Woche wieder zurück nach
New York geflogen. Parker studiert Jura und John möchte Arzt
werden. Ist das nicht total kultiviert?«

Tony blendete aus, was sie sagte. Es war offensichtlich klar,

dass er keine weiteren Informationen mehr über diesen Parker oder
über Sam Tucker erhalten würde. Es war eigentlich auch egal. Libby
konnte ausgehen, mit wem sie wollte. Schließlich hatte er ja auch
fast den ganzen Sommer mit Effie verbracht. Sie sollte sogar ausge-
hen. War das nicht mit der Grund, warum er sie nicht unter Druck
gesetzt hatte? Er wollte, dass sie alle Erfahrungen eines Teenagers
machte, und sich zu verabreden war Teil des Pakets. Wenn er von
sich selbst ausging und sich recht erinnerte (und es war ja noch
nicht so lange her), handelte es sich dabei um viele Verabredungen.

Heute hat es geschneit. Schnee im Oktober ist früh,
selbst in New York. Ich hab mich aber gefreut.

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Schnee erinnert mich an zu Hause. Wie viele Sch-
neeballschlachten hatten wir im Laufe der Jahre?
Mel drückte sich immer und ging zurück ins Haus,
um heiße Schokolade zu trinken, aber du hattest
mehr Ausdauer.
Ich wünschte, ich könnte dir New York zeigen.
Besonders im Schnee.
-T-

Ich mag Schnee wirklich sehr. Vielleicht haben wir
Glück und bekommen weiße Weihnachten. Es ist
Jahre her, seit wir an Weihnachten Schnee hatten.
Mel organisiert dieses Wochenende eine Halloween-
Party. Ich bin Velma … die von Scooby Doo. Das ist
nicht meine erste Wahl, aber wir sind zu viert. Es
war Johns Idee. Er ist natürlich Freddie und Mel ist
Daphne. Velma ist aber auch nicht schlecht, weil sie
so enthusiastisch ist.
-L-

Velma hat mir auch immer gefallen. Irgendwie hatte
ich schon immer was für intelligente Mädels übrig.
-t-

Natürlich musste er nicht fragen, wer die vierte Person war. Mel
hatte ihm bereits erzählt, dass John und Parker zur Party kommen
würden. Vielleicht sollte er versuchen, auch zu kommen. Wahr-
scheinlich konnte er sich an Halloween zum letzten Mal ein paar
Tage frei nehmen, bevor er wirklich anfangen musste, für seine Ab-
schlussprüfungen zu büffeln. Er wollte Libby sowieso etwas zeigen.

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Tony konnte nicht anders, er musste einfach in sich hinein-

grinsen. Da er jetzt die Entscheidung getroffen hatte, konnte er es
kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Er war seit fast einem
Jahr nicht mehr dort gewesen und sein ganzer Körper vibrierte vor
Aufregung, wenn er an die Reise dachte. Einen Flug in letzter
Minute zu buchen war nicht billig, aber er hatte sich ein wenig Geld
zusammengespart und er hatte das Passwort für das Vielflieger-
Konto seiner Eltern. Würde Libby überrascht sein, ihn zu sehen?
Aber er würde natürlich nicht nur Libby treffen. Er vermisste auch
seine Eltern und Mel.

Und Libby. Er vermisste Libby. Er wollte sie in ihrem Velma-

Kostüm sehen und er wollte sicherlich nicht, dass Parker sie darin
sah.

Libby wachte auf und das Bett drehte sich im Kreis. Nein, das

war nicht möglich. Nach nochmaliger Überlegung wurde ihr klar,
dass es ihr Kopf war, in dem sich alles drehte. Sie versuchte, nach
ihrer Mutter zu rufen, aber es fühlte sich an, als hätte sie irgend-
wann in der Nacht einen Basketball verschluckt. Ihr Rachen war
eng und kratzig. Mist. Sie war krank. Sie würde nicht auf Mels Party
gehen können und sie würde Parker nicht sehen. Auch wenn sie
sich eigentlich nicht so viele Sorgen darüber machte, dass sie ihn
nicht sehen würde, hatte sie doch ein schlechtes Gewissen, weil er
allein auf der Party sein würde und niemanden dort kannte. Hof-
fentlich würde sich Mel die Zeit nehmen und ihn den anderen
Gästen vorstellen, bevor sie mit John in einer dunklen Ecke ver-
schwand. Die beiden waren nicht gerade taktvoll.

Bis zum Nachmittag und nach einigen kräftigen Dosen

DayMed fühlte sich Libby ein klein wenig besser. Nicht gut genug,
um auf die Party zu gehen, aber der Raum drehte sich nicht mehr
und sie hatte sogar genug Energie, um ihren Englischaufsatz zu
Ende zu schreiben. Als sich ihre Stimme etwas besser anhörte, rief
sie Mel an und krächzte eine Erklärung heraus. Mel war enttäuscht,
aber John war bereits angekommen, deshalb war sich Libby sicher,
dass sie bald wieder bessere Laune haben würde.

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Nach einer Dusche, bei der sie sich vorstellte, dass alle ihre

Bazillen davongespült wurden, zog Libby einen frischen Schlafan-
zug an und legte sich zurück ins Bett, fest entschlossen, den Rest
dieses schrecklichen Tages mit Schlafen zu verbringen. Dann klin-
gelte es an der Tür. Libby hatte das vom Hausmeister bereitgestell-
te Schild, das um Halloween-Süßigkeiten bettelnde Kinder
willkommen hieß, nicht an die Haustür gehängt. Wenn es um kos-
tenloses Zuckerzeug ging, achteten jedoch nicht alle Kinder darauf.

Es klingelte noch einmal. Libby überlegte, ob sie sich zur Tür

schleppen sollte, und fragte sich, ob wohl noch etwas Zuckerdeko
von den Cupcakes übriggeblieben war, die sie für Mels Party ge-
backen hatte. Vielleicht sollte sie einfach die Cupcakes verteilen?
Sie würden jetzt sowieso verderben.

»Bist du verrückt?!« Tonys Kopf erschien um die Ecke ihrer

Zimmertür. Hatte sie jetzt schon richtige Halluzinationen? Tony.
Hier. In ihrem Schlafzimmer? Ja, sie hatte definitiv Halluzination-
en. »Unter der Fußmatte? Wer legt denn den Hausschlüssel unter
die Fußmatte? Dort schaut man doch immer als Erstes. Einbrecher,
Mörder, Gefängnisausbrecher … Es ist unglaublich, wie leichtsinnig
du bist.«

Okay, ihre Tony-in-meinem-Schlafzimmer-Halluzinationen

nahmen normalerweise einen etwas anderen Verlauf. Libby
beschloss daher, dass es sich um den richtigen Tony handeln
musste. »Scheint nicht so unglaublich zu sein – du hast ihn da ja
offensichtlich gefunden.« Tony warf ihr einen ziemlich unversöhn-
lichen Blick zu. »Es ist okay, Tony. Du hast zu lange in New York
gelebt. Niemand wird uns belästigen. Wir haben außerdem einen
Portier. Jeder mordlüsterne Ausbrecher, der den neuen Cuisinart-
Mixer meiner Mutter klauen möchte, muss erstmal an unserem
Portier vorbeikommen.«

Das brachte ihr ein Lächeln ein. »Ja, Arthur wäre großartig als

Abschreckung. Als ich reinkam, war er vor seinem kleinen tragbar-
en Fernseher fast eingeschlafen.« Arthur war ungefähr 200 Jahre
alt und eigentlich öffnete er gar nicht mehr die Tür, sondern winkte

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nur noch geistesabwesend, wenn jemand rein- oder rausging. Das
war wahrscheinlich der Grund gewesen, warum er die Nachtschicht
übernommen hatte, als Libby noch ein kleines Mädchen war. »Wo
ist deine Mutter? Du solltest nicht unbeaufsichtigt sein, wenn du
krank bist.«

»Midnight Madness.« Libby setzte sich im Bett auf. Tony

nickte. Jetzt erinnerte er sich, dass die Halloweenwoche gleichzeitig
Midnight Madness im Herbst war. Zweimal im Jahr waren die
Läden der Hauptstraße bis ein Uhr morgens geöffnet und es wurde
eine Art Straßenfest veranstaltet – nur eben inklusive Shopping.
»Sie war heute Morgen hier, aber sie wollte nicht noch jemand bit-
ten, seine Halloweennacht aufzugeben. Davon abgesehen glaube
ich, dass da etwas mit Stuart vom Theater gleich neben der
Bäckerei läuft. Warum bist du hier?«

Tony trat einige Schritte näher. »Ich hatte vor meinen Ab-

schlussprüfungen ein wenig Zeit und dachte, dass ich auch zur
Party komme. Mel hat mir erzählt, dass du krank bist. Meine Mut-
ter hat dir Suppe gekocht.« Tony hob einen Armvoll Tüten hoch,
die sie bisher noch nicht bemerkt hatte. Er schien ihren Kopf zu
mustern und schaute dann auf die Stelle, wo sie im Schneidersitz
unter ihrer pinkfarbenen Blumenzudecke saß. »Deine Haare sind
nass.« Er ging einen weiteren Schritt auf sie zu.

»Ich habe gerade geduscht. Das ist eine ganze Menge Suppe.«
Tony hielt inne. Libby mit nassem Haar. Libby in der Dusche.

Wasser fließt ihren Körper herunter … Nein. Er würde nicht an eine
duschende Libby denken. Er atmete ein paarmal tief durch und
zwang sich, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. »Ich habe mehr
als nur Suppe mitgebracht. Ich bin gleich wieder zurück.« Er drehte
sich um und rannte aus ihrem Zimmer.

Zwei Minuten später kam er jedoch mit leeren Händen zurück

und ließ seinen Blick kurz durch den Raum schweifen. Libby dankte
im Stillen den höheren Mächten für die spontane Aufräumaktion
am Mittwoch. Sie hoffte ebenfalls inständig, dass sie nicht ver-
gessen hatte, den Wäschekorb abzudecken. Schmutzige Wäsche

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war nie Teil ihrer Tony-in-meinem-Schlafzimmer-Halluzinationen
gewesen.

»Das geht so nicht.« Tony kam kurzerhand zu ihrem Bett

hinüber und hob sie hoch (einschließlich der pinkfarbenen Decke).
Automatisch legte sie ihre Arme um seinen Nacken, während er sie
den Gang hinunter zum Wohnzimmer trug. Irgendwo in ihrem
Hinterkopf realisierte sie schemenhaft, dass diese Situation zwar in
ihren Halluzinationen genauso passierte, er sie dort aber normaler-
weise in die andere Richtung trug. Tony setzte sie sanft auf dem
Sofa ab und verließ anschließend wieder den Raum.

Als er zurückkam, trug er zwei Suppenteller und hatte einige

Wasserflaschen unter den Arm geklemmt. »Das Abendessen ist an-
gerichtet.« Er zog den Couchtisch mit dem Fuß näher zum Sofa und
setzte je einen Teller mit Hühnersuppe vor jedem von ihnen auf
dem Tisch ab. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Ich habe mir
auch einen Teller genommen. Die Suppe meiner Mutter ist echt
lecker.« Mit schräg gelegtem Kopf grinste er sie glücklich an,
während sie zum Sofarand krabbelte, um zu probieren.

Libby probierte zwei große Löffel voll und seufzte glücklich.

»Mmh. Finde ich auch. Was ist in den anderen Tüten?«

Tony sah ihr beim Essen zu … blöder Löffel. Vielleicht hätte er

eine Thermosflasche bringen sollen. Konnte man Hühnersuppe mit
Nudeln aus einer Thermosflasche trinken? Tony glaubte nicht –
und außerdem, er hatte sowieso das Gefühl, dass es kaum weniger
… effektvoll … gewesen wäre, wenn Libby aus einer Thermosflasche
getrunken hätte …, als ihr zuzusehen, wie sie den verdammten Löf-
fel ableckte.

»Tony?«
»Wie bitte? Ja, richtig, die Tüten. Also, ich habe hier eine

Auswahl an DVDs und eine Überraschung für dich – für später.«

Libby zuckte bei der Erwähnung der ›Überraschung‹ mit den

Augenbrauen, zog dann jedoch die Tüte mit den DVDs zu sich und
stöberte darin herum.

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Er hatte einige Slasher-Filme mitgebracht (wahrscheinlich zu

Ehren von Halloween), den ersten Teil von ›Piraten der Karibik‹
(wahrscheinlich zu Ehren der Tatsache, dass er Keira Knightley
sehr hübsch fand) und … »›Die kleine Meerjungfrau‹?«

»Ich dachte, dass ich dir ein filmisches Entgegenkommen an-

bieten könnte, weil du krank bist und die Party verpasst.« Da war
wieder dieses Grinsen. Libby hatte Schwierigkeiten zu entscheiden,
ob sie wegen ihrer Grippe oder Tonys Lächeln leichte Schwindelan-
fälle bekam. »Also, auf was hast du Lust?«

Lust? Ach so, der Film. »Ich werde dir ›Die kleine Meerjung-

frau‹ ersparen, aber nur weil mir der Hals so wehtut, dass ich nicht
mitsingen kann. Wie wäre es mit den Piraten?«

»Sehr gerne.« Tony war erleichtert und gleichzeitig enttäuscht.

Als er die verschiedenen Filme in die Tüte geworfen hatte, hatte er
sich vorgestellt, wie Libby sich bei den Slasher-Filmen an seine
Hand klammerte, ihren Kopf in seiner Schulter verbarg oder gleich
auf seinen Schoß sprang. Herrgott noch mal, sie hatte die Grippe!
Ein Ehrenmann würde jetzt nicht denken, was er dachte. Er wollte
sie wirklich nur aufmuntern. Um ehrlich zu sein, war er ziemlich
enttäuscht gewesen, heimzukommen, eine ganze Horde Teenager
in Kostümen tanzend im Garten zu finden und seine Schwester, die
wie eine Klette an Pre-Med-John hing, aber keine Libby. Als seine
Mutter ihn dann gefragt hatte, ob er Libby Suppe bringen wollte,
hatte er ihr irritierendes Augenzwinkern ignoriert und sich beeilt,
Libby zu besuchen.

Als sie die Suppe gegessen hatten und sich Johnny Depp auf

dem Weg ins Abenteuer auf hoher See befand, wandte sich Tony
Libby zu. »Macht es dem Parker-Typen oder Sam Tucker etwas aus,
wenn du den Film mit mir anschaust?«

»Du hast eine komische Fixierung auf Sam Tucker. Was ist mit

Effie?«, wich Libby der Frage aus. Es war richtig, dass sie eigentlich
im Moment eine Verabredung mit Parker hatte. Der hatte sie aber
vor allem aus Pflichtgefühl zugestimmt, da ihre besten Freunde

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immer mehr mit Rumknutschen beschäftigt waren als mit etwas
anderem.

»Effie ist nicht meine Freundin, Lib.« Tony hörte sich gereizt

an, als hätte er es satt, diese Frage zu beantworten. Das war völlig
ungerecht, da Libby sich ansonsten sehr bemühte, Effies Existenz
komplett zu ignorieren.

»Wir waren Freunde, die ein Zimmer geteilt haben, und ich

habe sie kaum gesehen, seit wir wieder auf den Campus zurück-
gezogen sind.« Nicht, dass sie das etwas anging, aber es schien
Tony plötzlich wichtig. »Ich habe im Moment keine Freundin.«

Seine Worte standen einen Moment lang im Raum. Libby kon-

nte die knisternde Spannung zwischen ihnen fast spüren.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen und – musste laut

und irgendwie witzig niesen. Sie platzten beide vor Lachen los.
Libby versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Es war erstaunlich –
aber obwohl die köstliche Spannung, die sie vor einem Moment
noch gespürt hatte, nun verschwunden war –, Libby genoss die Zeit
sehr.

»Ich hol dir ein paar Taschentücher. An die hätte ich auch den-

ken müssen.« Tony lachte immer noch in sich hinein, als er sich aus
der Sofaecke aufrappelte. »Brauchst du noch irgendwas anderes?«

»Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mir eigentlich das

MediNait mitbringen, das über der Spüle steht.« MediNait machte
sie normalerweise sehr schläfrig, aber sie hatte den letzten Rest der
Arznei, die für den Tag bestimmt war, bereits genommen und woll-
te nicht riskieren, vor Tony noch einmal so niesen zu müssen.

Als Tony den Flur hinunterging, erlaubte sich Libby, ihn sich

genauer anzusehen. Er trug ein blaues T-Shirt der Marke Columbia
und alte, ausgewaschene Jeans. Bei den meisten Männern fiel ihr
überhaupt nicht auf, was für Hosen sie trugen, außer wenn sie viel-
leicht gelb kariert oder ähnlich seltsam waren. An Tony sahen
Jeans gut aus. Sie stellte fest, dass es seine Schenkel waren. Sie
konnte erkennen, wie sich seine straffen Muskeln beim Gehen an-
spannten. Sein T-Shirt schmiegte sich an seine breiten Schultern.

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Seit Libby ihn kannte, hatte Tony American Football gespielt.

Sie wusste, dass er sogar an der Uni eine Gruppe Freunde hatte, mit
denen er sich mindestens einmal pro Woche traf, um ein spontanes
Match zu spielen. All die Jahre auf dem Spielfeld hatten Tonys
Oberkörper gutgetan. Er war nicht so massig wie manche anderen
Footballspieler, sondern schlank und breit, mit Oberarmen, die die
Ärmel seines T-Shirts leicht dehnten. Sie liebte diese Arme.

Nachdem Tony zurückgekommen war und Libby gehorsam

ihre Arznei geschluckt hatte, machte er es sich auf dem Sofa gemüt-
lich, legte einen starken muskulösen Arm um Libbys Schultern und
lehnte sich zurück, um den Film anzuschauen.

Sie versuchte, gegen die Wirkung des Erkältungsmittels an-

zukämpfen, doch noch lange bevor der Held sein Mädchen bekam,
war Libby gegen Tonys Schulter gesunken und tief eingeschlafen.

Tony überlegte, ob er sie in ihr Zimmer tragen sollte, konnte

sich aber nicht dazu aufraffen. Ihre Mutter würde erst in mehreren
Stunden zurückkommen, und was würde geschehen, wenn Libby in
der Zwischenzeit Hilfe brauchte? Deshalb lehnte er sich in die Pol-
ster zurück und zog Libby, die immer noch in ihre Decke eingewick-
elt war, an seine Brust. Es wurde spät und er konzentrierte sich da-
rauf, seinen Atem dem Auf und Ab ihres Rückens anzupassen, bis
er selbst einschlief.

Am nächsten Morgen wachte Libby in ihrem eigenen Bett auf

und fühlte sich, als hätte sie noch nie in ihrem Leben so gut gesch-
lafen. Sie brauchte eine Weile, bis sich ihre Gedanken klärten. Dann
entsann sie sich, dass Tony sie besucht und ihr Suppe und einen
Film mitgebracht hatte. Sie konnte sich auch undeutlich daran erin-
nern, dass Tony sie in seine Arme genommen und sie sich eng an
ihn gekuschelt hatte, aber dieser Teil war bestimmt nur ein Traum
gewesen. Andererseits war es undenkbar, dass ihre 1,52 Meter
kleine Mutter sie vom Sofa ins Bett getragen hatte, und so blieb nur
eine aufregende Möglichkeit, wie sie gestern Abend zurück ins Bett
gekommen war.

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Als sie sich aufsetzte, bemerkte sie einen dicken blauen Ordner

am Fußende ihres Bettes. Sie öffnete ihn und fand dort in Tonys
undeutlicher Handschrift eine Nachricht an sie.

Libby,
deine Mutter ist zurückgekommen und ich muss
nach Hause. Hier ist der erste fertige Entwurf
meines Buchs. Ich habe dir doch versprochen, dass
du die Erste sein wirst, die es lesen darf. Erinnerst
du dich? Schau mal rein, wenn du Zeit hast. Ich
hoffe, es gefällt dir.
Alles Liebe,
Tony
P.S.: Für den Fall, dass du dir Gedanken gemacht
hast – Johnny Depp kann fliehen und Orlando
Bloom bekommt das Mädchen.

Das war also ihre Überraschung gewesen. Libby grinste breit, als sie
sich zurück in ihre Kissen lehnte und anfing zu lesen.

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5. Kapitel

»Wir haben es geschafft!« Mel hüpfte auf und ab und quietschte
vor Freude. Bei diesem Tanz schwang der hellgrüne Talar leicht hin
und her. Mit ihrem blonden Haar und der hellen Haut sah Mel sehr
hübsch in Hellgrün aus.

John hob Melanie hoch und drehte sie im Kreis.
»Gratuliere, Baby!«, sagte er, bevor er sie etwas unziemlich

umarmte. Die beiden waren zusammen so unvorstellbar niedlich.
»Dir auch, Libster.« John zielte mit einer Fingerpistole auf Libby
und schoss. Gott, wie sie diesen Spitznamen hasste.

Parker drückte Libby einen Kuss auf den Kopf. »Ja, ich grat-

uliere«, flüsterte er. Libby wünschte sich, er würde mit Gesten wie
diesen aufhören. John und Mel waren jetzt schon eine ganze Weile
zusammen und Libby hing daher zwangsläufig immer mit Parker
herum. Nicht, dass es ihr etwas ausmachte; es war eigentlich gut,
dass sie für alle großen Veranstaltungen in ihrem Abschlussjahr
automatisch eine Verabredung hatte. Außerdem mochte sie Parker
wirklich. Er war lustig und selbstbewusst und obwohl sie ihre Ober-
flächlichkeit nicht gerne zugab, so hatte ihr die Tatsache, dass ein
Mann extra aus New York eingeflogen war, um sie zu sehen, doch
ein gewisses Maß an Ansehen verliehen. Sie kamen eigentlich sehr
gut miteinander aus, doch obwohl sie sich einige Male flüchtig
geküsst hatten, schien er doch kein größeres Interesse an ihr zu
haben. In letzter Zeit hatte er sie jedoch mehrmals angerufen und
berührte sie öfter, als es nötig war. Nachdem sie nun die

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Highschool hinter sich gebracht hatte, wollte sie die Sache mit Tony
Marchetti selbst in die Hand nehmen. Die Sache mit Parker konnte
deshalb etwas heikel werden.

Der Garten der Marchettis sah herrlich aus. Papierlaternen

hingen an Kordeln, die Mr Marchetti zwischen den Bäumen angeb-
racht hatte, und Tiki-Fackeln brannten am hinteren Ende des
Gartens. Mel hatte Monate damit verbracht, ihre hawaiianische Ab-
schlussparty zu planen. Nach der Größe der Menschenmenge zu ur-
teilen, war die Party ein großer Hit. Viele Tische und Stühle standen
unter einem großen gemieteten Zelt; weitere Gartenstühle waren
überall im Garten verteilt, damit jedem der geladenen Gäste ein
Platz angeboten werden konnte. Libby hatte fast den ganzen Abend
die zuvorkommende Gastgeberin für Parker gespielt, war jedoch
dankbar, als er in eine Unterhaltung über Baseball verwickelt
wurde und sie sich heimlich davonmachen konnte.

Libby schlenderte am Rande des Gartens herum und fror ein

wenig in ihrem Grasrock und Bikini-Top. Sie wollte sich aber auf
keinen Fall umziehen, bevor Tony da war. Sie wusste, dass sie gut
aussah, und überlegte, dass ein wenig Sex-Appeal sich auf jeden
Fall positiv auf ihren Plan auswirken würde. Tonys Flug hatte Ver-
spätung gehabt und er hatte deshalb die Zeremonie verpasst; mit-
tlerweile musste er aber da sein.

»Bekomme ich eine Umarmung von der Schulabgängerin?«

Als hätte sie ihn durch ihre Gedanken herbeibeschworen, hörte
Libby Tonys warme Stimme vom anderen Ende des Gartens. Sie
folgte seiner Stimme, und als sich ihre Augen langsam an die
Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie ihn ausgestreckt auf einem
alten Liegestuhl unter einem Baum erkennen.

»Ich wusste nicht, dass du schon hier bist.«
»Ich bin vor ungefähr einer Stunde angekommen. Du warst …

beschäftigt.« Tony stand auf, während sie näher kam, hob sie hoch
und umarmte sie, sodass sie nur noch auf ihren Zehenspitzen
stand. Seine Haut fühlte sich sehr warm auf ihrer Haut an; sie kon-
nte seinen Atem warm und feucht auf ihrem Nacken spüren. Für

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einen langen Moment zog er sie noch enger an sich heran, dann set-
zte er sie wieder auf dem Boden ab. »Wie fühlt es sich an?«

»Gut.« Libby hauchte die Antwort, bis ihr klar wurde, dass

Tony wahrscheinlich über ihren Schulabschluss sprach. »Es ist su-
per. Ich fühle mich toll.«

Tony zog Libby neben sich hinunter auf den Liegestuhl. Er

hielt ihre Hand weiterhin mit seiner umfasst.

»Hast du dich schon für eine Uni entschieden? Du hast nicht

mehr viel Zeit.«

Libby grinste. Sie hatte eine gute Nachricht für Tony. »Also,

genau genommen habe ich von der Columbia gehört und eine Zus-
age bekommen!«

Libby hatte Zusagen von fast allen Schulen bekommen, bei

denen sie sich beworben hatte. Bei der Columbia, ihrer ersten
Wahl, war sie jedoch auf der Warteliste gelandet. Von der Florida
State war sie am meisten beeindruckt gewesen und sie hätte dort
die beste finanzielle Beihilfe bekommen. Sie wollte aber nach New
York. Wenn man sie nach dem zweiten Interview an der Columbia
nicht akzeptiert hätte, wäre NYU ihre Ausweichmöglichkeit
gewesen. Die Angelegenheit hatte sich aber jetzt erledigt. Sie ging
mit Tony auf die Columbia.

»Toll! Gratuliere. Auf der Warteliste zu sein und dann akzep-

tiert zu werden, ist eine super Leistung. Willst du aber wirklich dort
studieren? Du hast dich so begeistert angehört, als du von Florida
erzählt hast.«

»Ich möchte aber nach New York. Wenn es an der Columbia

nicht geklappt hätte, dann wäre es wahrscheinlich die NYU ge-
worden.« Libbys Lächeln verblasste etwas. Sie hatte sich das alles
etwas anders vorgestellt. Tony hätte sie zum jetzigen Zeitpunkt
bereits in die Arme schließen und seiner Freude Ausdruck verleihen
sollen, denn nun konnten sie endlich zusammen sein.

NYU. Mit Parker. Tony hoffte, dass Libby in der Dunkelheit

nicht sehen konnte, wie er sein Gesicht verzog. Als sich Libby an
der Columbia beworben hatte, waren seine Gedanken auf

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Hochtouren gelaufen bei der Vorstellung, mit ihr zusammen zu
sein. Dann war sie aber so begeistert gewesen von ihrem Interview
in Florida, und außerdem würde er nur noch ein Jahr in New York
sein. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, nach seinem Abschluss
nach Florida zu ziehen, vorausgesetzt, Libby war mit der Idee ein-
verstanden. Noch ein Jahr, hatte er sich gesagt. Er wollte Libby et-
was Zeit an der Uni geben. Ein oder zwei Semester nach der High-
school und dann war es doch sicher möglich, dass sie zusammen
sein konnten. Das hatte er sich natürlich alles überlegt, bevor er zu
dieser schrecklichen Party gekommen war. Er hatte stundenlang
am Flughafen warten müssen und dadurch die Abschlussfeier ver-
passt. Als er auf der Party eingetroffen war, hatte er keine Schwi-
erigkeiten gehabt, Libby zu finden.

Sie hatte in ihrem Luau-Kostüm wunderbar ausgesehen. Eine

ganze Reihe von Mädchen liefen hier heute Abend in einer ähn-
lichen Aufmachung herum. Mensch, es gab sogar jemanden mit
Kokosnuss-BH! Aber nur Libby konnte sein Herz so zum Rasen
bringen – natürlich hatte er sie als Erstes bemerkt. Als Zweites
hatte er dann den Trottel Parker gesehen, wie er ihr hinterherlief
und ständig eine Hand auf ihrem Rücken oder um ihre Taille hatte.
Natürlich hatte Tony gewusst, dass die beiden sich immer wieder
trafen, es war ihm jedoch nicht klar gewesen, dass Parker zur Party
kommen würde. Dummerweise hatte Tony angenommen, dass er
den Abend mit Libby verbringen würde. Als er erkannte, dass Libby
bereits eine Verabredung hatte, war er sehr enttäuscht.

»New York ist großartig, Libby; ich erinnere mich aber, dass

du so begeistert von Florida warst. Ich habe mir sogar überlegt, ob
ich selbst dort unten ein bisschen Zeit im Sonnenschein verbringen
soll.«

Libby war verwirrt, ließ sich jedoch nicht abschrecken. Heute

war ihrer beider Abend, dessen war sie sich ganz sicher. Sie
rutschte ein wenig näher zum ihm hin und legte ihre Hand auf sein-
en Schenkel. »Ich möchte nach New York kommen. Du bist in New
York.«

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Libby, die jetzt aufs Ganze ging, umarmte ihn und presste ein-

en Kuss auf seine Lippen. Sie hatte Tony anderthalb Jahre lang
nicht geküsst. Nicht seit der Hochzeit seiner Cousine. Sie wurde
nicht enttäuscht.

Die Kälte, die sie früher am Abend gespürt hatte, war plötzlich

wie weggeblasen. Ihre Haut fühlte sich glühend heiß an. Sie spürte
seinen Mund beharrlich auf ihrem Mund, seine Zunge glitt gegen
ihre – und anders als bei den Küssen, die sie in Erinnerung hatte,
fühlte sie jetzt, dass er sich nicht mehr zurückhielt. Tony legte einen
Arm um ihre Taille und zog sie enger an sich. Als ihre Brüste gegen
seine Brust drückten, stöhnte er in ihrem Mund auf, vergrub seine
andere Hand unter ihrem Haar in ihrem Nacken und neigte ihren
Kopf zur Seite, um sie noch leidenschaftlicher küssen zu können.
Ermutigt von seiner Reaktion, schob Libby ihre Hände zwischen
ihre beiden Körper und begann, mit zitternden Fingern die Knöpfe
seines Hemdes zu öffnen. Sie konnte an nichts anderes denken als
ihn zu spüren, seine Haut unter ihren Fingern zu fühlen, die
Muskeln, die sie so viele Jahre lang immer wieder betrachtet hatte,
nun endlich zu berühren. Seine Hände fanden ihre und für einen
flüchtigen Moment dachte sie, dass er ihr helfen würde, die Haut,
die sie so verzweifelt berühren wollte, zu finden. Dann umfasste er
mit seinen Händen plötzlich ihre Handgelenke und entzog sich ihr-
em Kuss so rasch, dass sich Libby ziemlich sicher war, aus Protest
gewimmert zu haben.

»Libby. Warte. Was machst du?«
»Hab ich dir doch gesagt. Ich möchte bei dir sein.« Libby ver-

suchte, sich wieder nach vorne zu lehnen und ihn weiter zu küssen,
Tony hielt sie jedoch fest.

»Das können wir nicht machen, Lib. Nicht jetzt. Nicht hier.«

Tony versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Gleichzeitig
wehrte sich sein Körper heftig dagegen.

Libby stieß sich von ihm ab und ein Gefühl der Demütigung

machte sich in ihr breit. »Du willst mich nicht? Du möchtest nicht
mit mir zusammen sein?«

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»Natürlich will ich dich! Wo warst du vor drei Sekunden? Du

bist so wunderhübsch. Du bist die atemberaubendste Person, die
ich je gesehen habe. So wie du heute Abend angezogen bist, will
dich wahrscheinlich jeder Mann auf dieser Party – ich kann gar
nicht anders, als dich zu wollen. Das soll aber nicht bedeuten …
wird sind nicht … zusammen …«, versuchte Tony stotternd zu
erklären. Er hatte einen Plan. Warum machte sie ihm einen Strich
durch die Rechnung? Warum konnte sein Gehirn nicht alles in ein-
en Zusammenhang bringen, sodass es einen Sinn für ihn ergab? Er
wusste warum – als sie sein Bein berührt hatte, war fast sein ges-
amtes Blut nach unten geflossen.

»Das war also alles? Eine physische Reaktion auf mein Ausse-

hen?« Libby rutschte weiter von ihm weg und riss ihre Hände
zurück.

»Mein Gott, Libby! Das meine ich nicht.« Tony war aus mehr

als einem Grund frustriert und fuhr sich mit der Hand durch sein
Haar. »Du bist siebzehn!«

»Achtzehn.« Libby kaute auf ihrer Lippe.
Er musterte sie mit einem scharfen Blick. »Mel ist siebzehn.«
»Mein Geburtstag ist im Januar und ihr Geburtstag ist im

Dezember. Ich bin fast ein Jahr älter.« Libby sprach kaum hörbar,
denn sie musste all ihre verbliebene Kraft aufbringen, um ihre
Tränen zurückzuhalten. Hatte sie sich jemals so klein gefühlt?

Tony nickte. Er wusste es eigentlich – er hatte nur Schwi-

erigkeiten gehabt, klar zu denken. »Achtzehn. Gut, aber du hast
nichtsdestotrotz gerade erst deinen Schulabschluss gemacht. Ich
weiß nicht, ob dein tatsächliches Alter da einen Unterschied macht.
Nicht jetzt – Libby. Ich kann das mit dir nicht machen.«

Libby nickte. Sie traute ihrer Stimme nicht.
»Was ist mit Parker? Meine Güte, Lib – du bist mit jemand an-

ders hier. Ich mache doch keinem anderen Mann seine Verabre-
dung abspenstig.« Jetzt plapperte Tony nur noch. Er dachte, dass
sie ihn vielleicht nicht mehr so schmerzerfüllt ansehen würde,

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wenn er einfach nur weiterredete. Vielleicht konnte er sich dann
auch selbst überzeugen, dass er das Richtige tat.

»Es ist nicht so, wie du denkst.« Ihre Stimme zitterte leicht.
»Lib. Er ist fast jeden Monat hier. Weißt du überhaupt, wie

teuer es ist, zwischen New York und hier hin und her zu fliegen?
Glaub mir – das ist schon so, wie ich denke.« Libby begann, weg-
zugehen. »Warte. Lass uns … Können wir reden? Wir sind immer
noch Freunde … Können wir noch mal an dem Punkt anfangen, als
du zuerst hier herüberkamst …« Tony lief ihr hinterher, bis sie sich
umdrehte und ihn wieder ansah.

»Es tut mir leid, Tony. Ich glaube, ich habe meine Verabre-

dung lange genug ignoriert.«

Libby drehte sich um und rannte zurück zur Party, so schnell

sie nur konnte. Tony blieb wie vom Donner gerührt stehen und
schaute ihr nach. Irgendwann ging er zurück zum Haus, wütend
und verletzt und einsam und wünschte sich, immer noch in dem
verdammten Flughafen festzusitzen.

Libby konzentrierte sich darauf, wütend zu sein. Wütend, dass

Tony mit ihr flirten und sie küssen und berühren konnte, ohne
richtig mit ihr zusammen sein zu wollen. Wütend, dass sie ihm
nicht genug war. Wütend, dass sie ihre Zeit mit ihm vergeudet
hatte. Wütend, dass sie jemals geglaubt hatte, sie könnten mehr als
nur Brieffreunde sein. Wütend war besser als traurig. Besser als am
Boden zerstört. Besser als die Unsicherheit zu fühlen, die sich in
ihrem Bauch breitmachte. Sie fand Parker ohne Probleme in einer
Gruppe von jungen Männern, wo er immer noch über die eine oder
andere Sportart diskutierte. Libby zog ihn hinter sich her, direkt ins
Haus und in das leere Zimmer von Mel. Sie wusste nicht genau, was
sie eigentlich wollte. Es schien plötzlich nur von höchster Bedeu-
tung zu sein, zu beweisen, wenigstens sich selbst, dass sie eine
begehrenswerte Frau war. Deshalb küsste sie ihn.

Parker küsste zurück. Wie ein Profi. Er teilte ihre Lippen mit

seiner Zunge, zog ihre Hüften eng an sich und fuhr mit seinen

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Fingern ihren Rücken auf und ab. Ihr Herz sank zu Boden.
»Warte.« Sie nahm etwas Abstand.

»Kein Problem«, flüsterte Parker, als er sie wieder an sich zog

und ihren Hals mit einer Spur von Küssen bedeckte. »Ich bin
vorbereitet.« Von was redete er überhaupt … Oh! Die Bedeutung
seiner Worte wurde ihr klar und Libby kam zurück in die Realität.

»Nein«, sagte sie und ging einen weiteren Schritt zurück. »Es

tut mir leid. Das war ein Fehler. Ich weiß, dass es meine Idee
gewesen ist, aber …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, denn sie
hatte keine Entschuldigung. In einem Punkt hatte Tony wenigstens
Recht gehabt. Sie hatte Parker schrecklich behandelt.

»Nicht so schlimm, Libby. Wir müssen das nicht tun. Ich war

ziemlich überrascht, um ehrlich zu sein. Natürlich habe ich darüber
nachgedacht, ob vielleicht mehr aus uns werden könnte; besonders
jetzt, da du wahrscheinlich nächstes Jahr auch zur NYU gehst. Es
ist aber nicht das Ende der Welt, na ja – und jetzt wissen wir es
wenigstens.«

Nun war die Entscheidung also gefallen. Sie konnte auf gar

keinen Fall nächstes Jahr mit Parker zur NYU gehen. Florida State
hatte mit Abstand gewonnen … »Es tut mir leid, Parker. Ich weiß
nicht, was in mich gefahren ist.«

»Hör auf, dich zu entschuldigen, Libby. Einfach nur Freunde.

Das ist cool.« Er zog sie wieder zu sich, aber diesmal war es eine
unkomplizierte freundliche Umarmung, und Libby brauchte jetzt
wirklich einen Freund. »Also, Freundin, kann ich dich um einen
Gefallen bitten?« Libby schaute zu ihm hinauf. »John und Mel sind
vor einer Stunde mit unserem Mietauto verschwunden …, deshalb
…«

»Du brauchst also eine Mitfahrgelegenheit zu deinem Hotel?«

Libby lächelte ihn an. »Lass uns gehen, ich muss sowieso hier
raus.« Parker legte freundschaftlich seinen Arm um Libby und
drückte ihr einen leichten aufmunternden Kuss auf die Schläfe, als
sie zur Haustür gingen.

»Parker?«

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»Hmm?«
»Wie teuer ist es, hierherzufliegen?«
Parker stieß ein bellendes Lachen aus. »Das kostet nur eine

kleine Menge Demütigung.« Libby musste verwirrt ausgesehen
haben, denn als sie im Auto saßen, erklärte Parker: »Johns
Großvater gehört eine Fluggesellschaft. Firmen können die Flug-
zeuge chartern, du weißt schon. Um die Flugtickets zu bezahlen,
arbeitet John für ihn. Meistens als Steward. Den alten Mann kostet
es nichts extra, wenn ich auch noch mitkomme – deshalb kostet es
John wirklich nur ein wenig Demütigung.«

»Ein Steward? So was wie ein Flugbegleiter?«
»Ja, nur dass der alte Mann ein wenig altmodisch ist. Er be-

vorzugt ›Steward‹, und da John rot wie ein Apfel wird, wenn er das
Wort hört, muss auch ich zugeben, dass mir die Bezeichnung ge-
fällt.« Sie lachten gemeinsam und Libby war beruhigt, dass ihr Fre-
und nicht sein gesamtes Schulgeld für das kommende Jahr für
Flugtickets ausgegeben hatte.

Sie verließ die Party. Mit Parker. Tony stand mit offenem

Mund im Gang. Er war gekommen, um sie zu finden und sie zu bit-
ten, ihm noch eine Chance zu geben. Er war so ein Idiot. Sie hatte
ihm all das angeboten, was er schon so lange Zeit gewollt hatte, und
er hatte sie komplett zurückgewiesen. Nur weil er dachte, dass sie
ein wenig zu jung war. Sie hätten eine Lösung finden – es vielleicht
am Anfang etwas langsamer angehen können. Sie hätten zusammen
ausgehen können. Hatte Mel nicht gesagt, dass er das tun sollte? Er
hätte ihr den Broadway zeigen können und das Empire State Build-
ing. Aber nie im Leben hatte er erwartet, sie engumschlungen mit
Parker aus der Tür kommen zu sehen. Es war wahrscheinlich seine
Schuld. Er hatte sie in die Arme eines anderen getrieben, aber es tat
trotzdem weh.

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6. Kapitel

Sie haben mich dieses Jahr befördert. Jetzt darf ich
nicht nur Kaffee holen, sondern sogar etwas
schreiben! Nur die Nachrufe, aber mein Name wird
in der Ausgabe der kommenden Woche stehen.
Außerdem darf ich jetzt Praktikanten zum Kaffee-
holen schicken.
Es tut mir so leid, was passiert ist.
-t-

Wie ist Florida? Hier wird es jetzt immer kälter und
ich denke an dich, wie du dich warm und gebräunt
im Sonnenschein badest.
Ich hoffe, es gefällt dir an der Uni. Mel hat mir
erzählt, dass du gerne zu den Vorlesungen gehst –
natürlich ist sie entsetzt. Ich glaube, sie hat vor, an
der NC State einen Abschuss als professionelle
Partygängerin zu machen.
-T-

Mel hat mir erzählt, dass du jetzt im Leichtath-
letikteam bist. Das ist toll, Lib. Ich weiß, dass du
dich darüber freust.

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Du bist sicher sehr beschäftigt, aber könntest du mir
vielleicht Bescheid geben, wie es dir geht?
-T-

Eine meiner Kurzgeschichten wurde in einem ört-
lichen Literaturmagazin veröffentlicht. Ich wollte dir
eine Ausgabe schicken, aber Mel hat mir deine
Adresse nicht gegeben. Sie hat gesagt, sie glaubt,
dass du sauer auf mich bist. Ich weiß, dass sie recht
hat.
PS: Kannst du mir einen Tipp geben, was ich
machen kann, damit du nicht mehr sauer auf mich
bist?
-t-

Ich habe mir überlegt, dieses Jahr zu Halloween ein
Apfelkostüm zu mieten und den ganzen Tag mit der
U-Bahn zu fahren. Weißt du, es hat mir immer ge-
fallen, abgefahrene Charaktere in der U-Bahn zu
treffen, und ich glaube, dass es nur gerecht ist, wenn
ich etwas an die Gemeinde zurückgebe.
P.S.: Ich vermisse dich so sehr, Lib.
-t-

Ich habe heute einen Witz gehört und musste an
dich denken … Was ist ein Keks unter einem Baum?
… Gibst du auf? Gut, ich sag’s dir. Ein schattiges
Plätzchen.
-t-

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Zum ersten Mal seit fast fünf Monaten musste Libby über Tony
lächeln. Sie hatte es satt, ihn zu ignorieren, und sie hatte es satt,
sich erniedrigt zu fühlen. Es war eigentlich nicht seine Schuld
gewesen. Außerdem hatte sich herausgestellt, dass ihr die Florida
State wirklich gefiel. Deshalb klickte sie auf ›Antworten‹.

Das war so schwach! Was macht ein Bäcker ohne
Arme und Beine? Rumkugeln.
Mir gefällt es an der Uni wirklich gut. Ich habe schon
eine Menge Freunde gefunden und ich vermisse dich
auch.
-L-
Was sind die teuersten Tomaten?
Geldautomaten!
Tut mir leid, mein Repertoire an Backwaren-Witzen
ist limitiert.
Danke.
-t-

Auch wenn Libby glücklich in Florida war, etwas fehlte. Sie wusste
natürlich, dass die Zeit an der Universität anders sein würde als die
an der Highschool, aber etwas zu wissen und es dann tatsächlich zu
erleben, waren zwei paar Schuhe. Libby und ihre Zimmergenossin
Suzy nahmen an vielen Aktivitäten der Universität teil. Sie gingen
zu Partys und fuhren mit nach St. George Island vor der Golfküste.
Libby hatte großen Gefallen an Geländeläufen gefunden. Sie ver-
misste Mel und ihre anderen Freunde, aber sie empfand auch so et-
was wie Freiheit, da sie nun erstmals nicht von den Leuten
umgeben war, die sie bereits seit ihrem sechsten Lebensjahr
kannte.

Über Thanksgiving flog Mel nach Tallahassee und Libby war

über Weihnachten und während der Frühlingsferien zu Hause.

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John und Parker waren Weihnachten ebenfalls zu Besuch gekom-
men. Parker wiederzusehen war angenehmer gewesen, als Libby
gedacht hatte. Vielleicht hatte sie diese schreckliche Party endlich
verdaut. Vielleicht, überlegte sie, fühlte es sich so an, wenn man mit
etwas abschloss. Ein Schlussstrich war gut, denn sie war sich ziem-
lich sicher, dass sie nicht länger darauf warten konnte, dass Tony
ihre Liebe erwiderte.

Tony und Libby fanden wieder zurück zu ihrer Freundschaft;

beide vermieden aber, das Gespräch auf Mels Abschlussparty zu
bringen. Sie bemühten sich, den Kontakt leicht und freundlich zu
halten. Libby war entschlossen, seine Schäkereien zu ignorieren,
denn jetzt wusste sie ja, dass diese zu nichts führten.

Nach wie vor schrieben sie sich und simsten und ab und zu

telefonierten sie. Er überredete sie sogar, ihm Schritt für Schritt zu
erklären, wie man Kekse backt. Leider verstrickten sie sich dabei
aber in eine Diskussion über den neuesten Roman von John
Grisham. Libby war ausgesprochen überzeugt davon, dass Herr
Grisham eine Ausnahme zur Regel sei, dass das Buch generell bess-
er ist als der Film. Manche Dinge ließen sich einfach auf der großen
Leinwand überzeugender darstellen. Bei Nicholas Sparks sei es
genauso. Tony weigerte sich jedoch, auch nur ein Wort über Herrn
Sparks zu verlieren, denn, so sagte er, bisher habe bestimmt noch
kein einziger ehrbarer Mann den gesamten Film ›Wie ein einziger
Tag
‹ durchgestanden, geschweige denn das Buch gelesen. Er sagte
dies aber auf eine Art und Weise, die Libby glauben ließ, dass er
den Film sehr wohl gesehen und vielleicht sogar das Buch gelesen
hatte. Sie konnten jedoch in Bezug auf John Grisham zu keiner
Einigung kommen, da die bei all dem in Vergessenheit geratenen
Kekse verbrannt waren und Tony wegen des Qualms seine
Wohnung verlassen musste. Libby erwog ernsthaft, ein neues Blech
Kekse für ihn zu backen, wollte dann aber doch lieber nicht riskier-
en, die alten, ungesunden Gewohnheiten wieder aufleben zu lassen.

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Nachdem die letzten Abschlussarbeiten vorüber waren, schaute
sich Libby langsam in ihrem jetzt ziemlich leeren Studentenzimmer
um. Suzy war am Abend zuvor abgereist, weshalb eine Seite des
kleinen Raumes völlig kahl war. Auf der anderen Seite waren Kisten
gestapelt, die in einen kleinen Umzugslaster geladen werden soll-
ten, den sie am Morgen abholen würde. Wie komisch, dachte sie –
sie würde am nächsten Morgen nach Hause gehen. Eigentlich nur
etwas später an diesem Morgen, überlegte sich Libby, denn als sie
auf die Uhr schaute, war es schon nach zwei Uhr früh. Sie freute
sich, Mel zu sehen und ihre Mutter und sogar Stuart, den Freund
ihrer Mutter. Dennoch blieb ein seltsames Gefühl bei dem
Gedanken, wieder in ihrem alten Zimmer in der Wohnung zu leben.

Das Handy klingelte und holte Libby aus ihrer Träumerei

zurück in die Gegenwart. Auf der Anruferkennung war Tonys Name
zu sehen. Er hatte diesen Nachmittag sein Abschlusszeugnis von
der Columbia bekommen. Libby nahm den Anruf an.

»Herzlichen Glückwunsch! Wie ist es gelaufen?«
»Es war super. Die ganze Familie ist gekommen. Viele Fotos.

Sehr peinlich. Woher wusstest du, dass ich am Telefon bin?«

»Ich habe Anruferkennung. Warum hörst du dich so komisch

an?« Tony redete zu schnell und er klang ungewohnt.

»Wahrscheinlich weil ich betrunken bin.« Betrunken! Tony

betrank sich nicht; wenigstens glaubte sie, dass er das nicht tat.
Aber mit 22 und nach vier Jahren Universität war dies wahrschein-
lich nicht sein erster Ausflug in die Welt der Drinks für Erwach-
sene. »Meine Familie ist vor Stunden abgereist und meine Freunde
und ich haben gefeiert. Ich bin jetzt daheim. In meiner Wohnung,
meine ich. Nicht daheim in North Carolina. Ich wünschte, du hät-
test dabei sein können, Lib.«

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Libby lachte leise in sich hinein. Tony betrunken war genauso

charmant wie Tony nüchtern. »Ich wäre auch gerne dabei gewesen,
aber ich hatte noch eine Prüfung. Ich bin morgen Abend daheim.
Daheim in North Carolina.«

»Warum bist du noch wach?«
Darüber musste Libby laut lachen. »Du bist auch wach! Ich

wollte eigentlich gerade ins Bett gehen. Meine Sachen zusammen-
zupacken hat länger gedauert als erwartet und dann musste ich
noch duschen und dann hat das Telefon geklingelt!« Es entstand
eine lange Pause. »Tony? Bist du noch dran?«

»Ja, ich bin hier.« Seine Stimme hörte sich etwas tiefer und

belegter an als zuvor. »Ich habe dich also zwischen Dusche und Bett
gestört?«

»Äh, ja. Aber mach dir deshalb keine Sorgen.« Meine Güte, er

war manchmal wirklich komisch. »Tony? Hallo?«

»Ich bin noch hier, Lib. Ich habe nur gerade versucht

herauszufinden, ob ich betrunken genug bin.«

»Betrunken genug für was?«
»Erzähl mir, was du gerade anhast.«
Libbys Herz machte einen Satz. Das war auf jeden Fall nicht

im Rahmen ihrer neuen, wenn auch unausgesprochenen Verhal-
tensregeln. Sie würde dem Ganzen einen Riegel vorschieben und
ihm sagen, dass er seinen beschwipsten Hintern ins Bett packen
und sich ausschlafen sollte.

»Ein Handtuch. Ich habe mir ein rotes Badetuch umgewick-

elt.« Warum hatte sie das gesagt? Okay, es stimmte, aber sie wollte
ihm das eigentlich nicht sagen.

»Mir gefällt rot. Ist dein Haar noch nass?«
»Äh, ja?« War nasses Haar sexy?
»Ich träume von dir, mit nassem Haar und in ein rotes Tuch

gehüllt.« Ja, scheinbar war nasses Haar sexy.

»Du träumst von mir?«
»Wirst du jetzt ins Bett gehen?«

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»Das Badetuch macht die Laken nass.« Libby war überrascht,

dass er ihre Stimme über ihr hämmerndes Herz hinweg hören
konnte.

»Du könntest einfach das Badetuch abnehmen.« Sie konnte

Tonys Atem in jedem seiner Worte hören.

Ihr ganzer Körper kribbelte bei dem Gedanken, dass er sich

vorstellte, wie sie ihr Badetuch ablegte und zwischen die Laken
schlüpfte. »Das scheint eine vernünftige Lösung zu sein.«

»Libby?«
»Ja, Tony?«
»Ich wünschte, ich hätte mehr getrunken.«
Was zum Teufel…? Wow! Er war wirklich miserabel hierin.

»Wow, du bist wirklich miserabel.«

Tony lachte laut und warm; bei diesem Klang kribbelte ihr

Körper noch mehr.

»Tut mir leid, Lib. Ich dachte, ich kann das souverän.« Er

machte eine Pause. »Letzten Sommer bin ich fast verrückt ge-
worden, Libby. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du mich wieder
schneiden würdest. Ich brauche dich in meinem Leben, und das
hier ist keine gute Idee.«

»Du hast recht.« Libby seufzte, war sich jedoch zugleich sicher,

dass sie am nächsten Morgen froh darüber sein würde, dass er
nicht weitergemacht hatte. »Ich wünschte auch, du hättest mehr
getrunken.« Damit brachte ihr ein Stöhnen ein.

»Bist du im Bett?«
»Ja.«
»Deck dich zu, Lib. Mach die Augen zu. Atme tief durch.«

Libby machte, was ihr gesagt wurde. »Schlaf jetzt, Libby. Gute
Nacht.« Und dann legte er auf.

Libby schleuderte ihr Handy durchs Zimmer.

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7. Kapitel

»Du brichst die Uni ab!« Libby tat es umgehend leid, dass sie diese
nicht ganz so guten Neuigkeiten gerade jedem in der Bäckerei mit-
geteilt hatte. »Was werden deine Eltern sagen?« Mel und Libby
waren den Sommer über praktisch unzertrennlich gewesen, und
obwohl Libby wusste, dass Mel sich auf die Rückkehr zur Uni nicht
gerade freute – diese Neuigkeit hatte sie nicht erwartet.

»Sie wissen es bereits, Libby! Sie stimmen mir zu. Weißt du,

ich bin nicht gerade der akademische Typ, und wenn ich jetzt ab-
breche, bekommen sie fast die gesamten Studiengebühren zurück.
Ich bin kein Idiot. Ich habe mir das Ganze gut überlegt. Wenn du
mir versprichst, dass du mir tatsächlich zuhörst, werde ich es dir
erklären.«

Libby bereute, dass sie so laut geworden war. »Natürlich.«
»Erinnerst du dich an die Krawatte, die ich letzten Frühling für

John gemacht habe, als Frank geheiratet hat?«

Mels Cousin Frankie hatte im letzten Frühjahr geheiratet.

Melanie hatte verkündet, dass sie das perfekte Kleid im perfekten
Lilaton gefunden hatte, war jedoch außerordentlich enttäuscht,
dass John nicht in der Lage gewesen war, eine Krawatte zu finden,
die zu ihrem Kleid passte. Libby fand dies ein klein wenig über-
trieben – aber so war Mel eben. Mel hatte es deshalb auf sich gen-
ommen, John eine Krawatte zu nähen, die perfekt mit ihrem Kleid
harmonierte.

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»John hat so viele Komplimente dafür bekommen – einige

Jungs in seiner Verbindung boten ihm sogar Geld dafür an. Er hätte
die Krawatte natürlich nie verkauft. Als seine Studentenverbindung
einen Abschlussball veranstaltete, habe ich mindestens ein Dutzend
neue Krawatten für sie entworfen. Mom und Dad sind einver-
standen, mir die rückerstattete Studiengebühr für dieses Jahr zu
leihen, und ich werde zu John nach New York ziehen.«

Libby war sich sicher, dass ein Teil der wesentlichen Informa-

tionen irgendwo verloren gegangen war, aber mit jahrelang geübter
Geduld gelang es ihr, ihrer Freundin auch diese Informationen zu
entlocken. »Okay. Wozu brauchst du das Geld?«

»Material, du Dummchen.«
Gut, vielleicht war sie ein bisschen aus der Übung geraten.

Libby zählte leise bis zehn. »Welche Art von Material?«

»Zum Großteil Seide und etwas Satin. Ich brauche außerdem

eine bessere Nähmaschine. John hat einen Freund, der eine Web-
seite für mich gestalten kann, und ihn muss ich bezahlen …«

»Du hörst mit der Uni auf, um Krawatten zu nähen?«
»Nicht nur Krawatten, sondern auch Schals und Taschentüch-

er. Ich habe mir auch überlegt, einen Kurs in Lederverarbeitung zu
besuchen, um zu entscheiden, ob ich Gürtel machen möchte. Ich
fange mit Accessoires für Männer an, denn ich glaube, dass der
Markt dort mehr Potenzial bietet. Außerdem ist Johns Mutter
Chirurgin, und sie hat mir versprochen, mich bei ihren Chirurgen-
Freunden, die fast alle Männer sind, anzupreisen. Wenn meine
Marke Erfolg hat, möchte ich auch etwas mit Accessoires für
Frauen machen.«

»Du ziehst nach New York!«
»Hör erstmal zu, Libby.« Mel lächelte wieder. »Ich liebe John

und ich habe es satt, dass wir nur ein Wochenende im Monat
miteinander verbringen können. Es wird alles super klappen. Du
bist die meiste Zeit sowieso in Florida. Wir können uns wahrschein-
lich sogar öfter sehen, weil John diese Beziehungen zur

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Fluggesellschaft hat. Ich möchte das wirklich machen, Libby. Ich
habe endlich etwas gefunden, in dem ich begabt bin.«

»Du bist in so vielen Dingen begabt.« Libby kaute auf ihrer

Unterlippe, während sie alles verarbeitete, was Mel ihr gesagt hatte.
»Ich finde die Idee gut, aber vielleicht solltest du ein paar Kurse in
Business und Design nehmen, um sicherzugehen, dass du auch auf
den Erfolg vorbereitet bist.« Das war auf jeden Fall Libbys Plan. Sie
wollte einen Abschluss in Betriebswirtschaft machen, damit sie ihr
eigenes Café mit Bäckerei eröffnen konnte.

»Ach was, ich lass einfach alles auf mich zukommen. Tony hat

einen Freund, der Jura studiert, und der kann mich wahrscheinlich
beraten, während ich mein Geschäft aufbaue. Aber da ich nun end-
lich herausgefunden habe, was ich tun möchte, habe ich keine Lust,
drei Jahre lang zu warten, bis ich endlich damit anfangen kann!«

Libby nickte etwas dümmlich. »Wann hat sich das alles

ergeben?«

»Hast du mir nicht zugehört? Mein Cousin hat geheiratet und

…«

»Nicht das, Mel. Ich habe eigentlich mit mir selbst geredet. Ich

habe mich nur gewundert, wann ich den Anschluss verloren habe.
Du wirst in New York sein und hast deine Karriere und Tony ist in
New Jersey und hat seine Karriere und ich habe den Anschluss
verloren.«

»Meine Güte! Kriegst du jetzt das heulende Elend?« Mel warf

ihre Serviette nach Libby. »Du hast den Anschluss nicht verloren;
nächste Woche gehst du zurück nach Florida und du hast dort viele
Freunde und dir gefällt sogar die Uni. Libby, ich war letztes Jahr
wirklich unglücklich. Du warst in Tallahassee und John war in New
York. Kannst du dich bitte wenigstens ein wenig für mich freuen?«

»Ich freu mich für dich, Mel. Wenn ich ein Mann wäre, würde

ich alle meine Krawatten bei dir kaufen.«

»Okay, super. Nachdem jetzt alle Unklarheiten beseitigt sind –

kannst du mir beim Umzug helfen? John und Parker kommen

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morgen früh und wir mieten einen Umzugslaster und fahren
zurück. Du könntest übers Wochenende bleiben, wie Parker.«

»Ich würde wahnsinnig gern, Mel, aber ich habe bis Montag

noch so viel zu tun. Ich komme aber morgen früh vorbei und helfe
dir packen.« Libby wollte Ja sagen und dass sie Mel sehr gerne
beim Umzug helfen und das fantastische Reihenhaus sehen würde,
in dem John wohnte. Aber sie musste am Montag zurück nach Flor-
ida und Tony war dieses Wochenende daheim. Er hatte ihr das
selbst gesagt.

»Ja, das ist wahrscheinlich alles ein bisschen kurzfristig.«

Melanie schien Libbys Gesicht zu studieren. Sie blies sich ein paar
Haarsträhnen aus dem Gesicht und begann dann wieder zu reden.
»Tony kommt morgen Abend nach Hause.« Libby war sich nicht
sicher, was sie antworten sollte, deshalb entschied sie, ganz
gelassen zu tun und ihre Freundin, die ihre Nase in alles hinein-
stecken musste, zu ignorieren. Mel gab so schnell nicht auf. »Du
hast mir nie erzählt, was mit Parker passiert ist.«

»Was? Mit Parker ist nichts passiert. Wir sind ein paarmal mit

dir und John ausgegangen und sind seitdem nur Freunde.«

»Und mit Tony?«
»Mit ihm ist auch nichts passiert. Wir sind auch nur Freunde.

Das ist viel besser. Du hattest recht; er ist sowieso zu alt für mich.«

Mel nickte gedankenverloren. »Kannst du mir sagen, über was

ihr euch letztes Jahr gestritten habt?«

»Ich streite mich nie mit Parker. Wir kommen sehr gut mitein-

ander aus.« Libby missdeutete die Frage mit Absicht.

Mel nickte wieder. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht hast du

ein bisschen den Anschluss verloren, aber daran bist du selbst
schuld. Wann bist du das letzte Mal ausgegangen, Libby?«

Libby seufzte resigniert. Das erste Mal in zwölf Jahren

beschäftigte sich Mel nicht mit ihrem eigenen Liebesleben. Das war
wirklich ausgesprochen schlechtes Timing. »Ich habe Verabredun-
gen, Mel. Wie du gerade erwähnt hast, lebe ich in Florida und dort
habe ich auch den Großteil meiner Verabredungen.«

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Erleichterung machte sich in ihrem Gesicht breit. »Okay!

Erzähl. Mit wem gehst du aus?«

Mist. »Nun ja, es ist nichts Ernstes, aber Brian und ich haben

im letzten Semester viel Zeit miteinander verbracht.« Das war nicht
direkt eine Lüge. Brian hatte fast jeden Donnerstagabend geopfert,
damit sie den Kurs ›Buchführung für Studienanfänger‹ bestand,
und es war nichts Ernstes, weil Brian seiner Freundin hoffnungslos
ergeben war. Nicht, dass ihr das etwas ausmachte, denn sie fand
Brian ein wenig langweilig. Er würde wahrscheinlich eines Tages
ein hervorragender Buchhalter sein. Das machte ihn aber nicht
weniger langweilig.

Sie plauderten noch ein wenig länger, wobei Libby so diplo-

matisch wie möglich war, wenn das Thema auf Brian kam. Als Mel
aufsprang und ankündigte, nach Hause zu gehen, um zu packen,
war Libby froh, dass sie ein wenig Zeit für sich selbst hatte. Sie
musste nachdenken. Es genügte nicht, dass sie nicht mehr in Tony
verliebt war – und das war sie nicht mehr. Mel hatte recht: Libby
brauchte mehr Verabredungen. Sie hatte viele Möglichkeiten, aber
sie schien immer zu viele Ausreden zu haben.

Das war ab jetzt vorbei! Ab nächster Woche würde Libby

McKay Ausschau nach ihrem Traummann halten, zumindest nach
einem Traummann für den Augenblick.

Am nächsten Morgen kam Libby in aller Frühe mit einem Papptab-
lett voller Frozen Cappuccinos und einer Schachtel Muffins, alles
aus der Bäckerei ihrer Mutter, bei den Marchettis an. Irgendwann
letzte Nacht war ihr der Gedanke gekommen, dass sie Mel und ihrer
neuen Lebensplanung nicht sehr viel Unterstützung entgegengeb-
racht hatte. Jetzt war sie entschlossen, dies wiedergutzumachen.
Mel, John und Parker klebten immer noch Kisten zu. Sie war

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darüber nicht wirklich überrascht. Mel hatte vielleicht viel über den
Umzug nachgedacht, aber sie hatte eindeutig das Packen bis zur let-
zten Minute hinausgezögert. Libby beteiligte sich jedoch ohne Kla-
gen wortlos an der Arbeit.

Sie kamen nicht sehr schnell voran. Ungefähr alle 90 Sekun-

den verspürte Melanie den Drang, die Arbeit zu unterbrechen und
›Erinnerst du dich noch …‹ zu spielen. Libby, die von den nostalgis-
chen Gefühlen ihrer Freundin angesteckt wurde, beteiligte sich
meistens daran, die Momente ihrer Jugend wieder aufleben zu
lassen. Die Jungs amüsierten sich köstlich über diese Reisen in die
Vergangenheit, und binnen kurzer Zeit beteiligten sich Parker und
John mit ihren eigenen, in zunehmendem Maße haarsträubenden
fiktiven Erinnerungen.

»John, erinnerst du dich noch daran, wie wir die kleinen

Kätzchen aus dem brennenden Schuppen gerettet haben?«

»Das war aber doch nichts im Vergleich zu damals, als du die

alte Frau mit dem gebrochenen Bein zehn Kilometer bis zur
Notaufnahme getragen hast.«

»Ja, ich hatte keine andere Wahl. Ich hätte sie ja gefahren,

aber vielleicht erinnerst du dich daran, dass du dir mein Auto
geliehen hattest, um auf diese Safari zu gehen.«

»Eine Safari in New York?«
»Red keinen Unsinn, Libster – die Safari war in Kanada; de-

shalb brauchte ich wahrscheinlich ein Auto.« John grinste bei dem
Gedanken wie ein zehnjähriger Junge.

»Klar! Wenn ich mich recht erinnere, jagten sie das schwer zu

fassende kanadische Einhorn.«

»Warum heißt es kanadisches Einhorn?« Mel unterbrach ihr

Kichern für einen Moment, um diesen Beitrag zu leisten.

Parker machte eine Grimasse. »Weil es in Kanada lebt.«
»Ja.« John sah begeistert aus. »Die haben nicht diese Spiral-

hörner für Weicheier wie amerikanische Einhörner. Nein, die
haben ein riesiges Elchgeweih mitten auf dem Kopf.« John öffnete
eine Hand, hielt seinen Daumen auf der Stirnmitte und galoppierte

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kindisch ein paarmal im Zimmer herum. Die vier Freunde brachen
in Gelächter aus.

»Hast du eins erwischt?«, brachte Mel heraus, als sie ein wenig

zu Atem kam.

»Natürlich!«, meldete sich Parker zu Wort. »Und man hat ein-

en Wunsch frei, wenn man ein Einhorn fängt, weißt du das?«

»Ich dachte, das waren Kobolde.« Libby stand auf und begann

die Frühstücksreste einzusammeln, um sie draußen in den Müll zu
werfen.

»Unsinn, Kobolde gibt es nicht«, antwortete John mit gespiel-

tem Ernst.

»Was hast du dir gewünscht?«
John musste noch nicht einmal überlegen. »Die Laker Girls
Mel wirbelte zu ihm herum, um ihm ins Gesicht zu sehen, und

stieß dabei Libby um. Die Überreste von zwei nun geschmolzenen
Cappuccinos spritzten auf Libbys T-Shirt. »Mel!« Libby zog die
nasse und fleckige Baumwolle von ihrer Haut. »Bitte sag mir, dass
du etwas in diesen Kisten hast, was ich anziehen kann.«

Mel schüttelte kichernd ihren Kopf. »Du weißt, dass alle meine

Sachen an dir eindeutig unanständig aussehen.« Sie hatte recht.
Libbys umfangreichere Oberweite hatte vor langer Zeit dem Teilen
von Kleidungsstücken ein Ende bereitet.

»Vielleicht deine Mutter?« Libby wusste jedoch, dass Mel ihre

Figur von Mrs Marchetti geerbt hatte und war daher nicht überras-
cht, als Melanie etwas traurig ihren Kopf schüttelte. Das Eis in den
Kaffees war bereits vor einigen Stunden geschmolzen, aber die
Flüssigkeit war immer noch kalt. Aufgrund dieser Tatsache und we-
gen ihrer Verlegenheit zogen sich ihre Brustwarzen zusammen, was
ihr natürlich noch peinlicher war.

Parker, wie immer ein Kavalier, griff sich an den Rücken,

packte eine Handvoll Stoff und zog sich sein eigenes T-Shirt über
den Kopf. »Hier, Libby.« Er warf es Libby quer durch das Zimmer
zu und sie ging ins Badezimmer im Gang, um sich umzuziehen und
den Kaffee aus ihrem T-Shirt zu waschen. Parker war groß und das

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Shirt fiel über den Saum ihrer Shorts. Libby zog den über-
schüssigen Stoff zusammen und verknotete ihn am Rücken mit
einem Gummiband, das sie aus ihrem Haar gezogen hatte. Als sie in
Mels Zimmer zurückkehrte, ließ Parker seine jetzt entblößten
Muskeln spielen und zog John auf, dass dieser sich ›hatte gehen
lassen‹. Libby stand für eine Weile in der Türöffnung und beo-
bachtete ihre Freunde. Bald würden sie alle in New York sein und
sie in Tallahassee.

»Meinst du, du hast genug Klamotten?« John lachte, als er

einen Stapel mit Koffern trug, über dem ein Armvoll Kleiderhüllen
lag. Es hatte den ganzen Morgen und einen Teil des Nachmittags
gedauert, bis alle Sachen verpackt waren. Libby würde ihre Hilfs-
bereitschaft bereuen, aber sie erinnerte sich daran, wie viel Spaß sie
zusammen hatten.

»Ein Mädchen möchte immer perfekt aussehen«, antwortete

Mel mit süßer Stimme und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

John riss sie mit einer ungestümen Umarmung von den Bein-

en. »Schatz, du kannst alle Kleider haben, die du möchtest, aber du
weißt, dass du ohne Kleider am besten aussiehst.« Er drückte über-
trieben ihren Hintern, um seine Ansicht zu verdeutlichen.

»Ein bisschen mehr Anstand, mein Freund.« Parker wandte

dramatisch seinen Blick ab. »Wir können ja inzwischen ein paar
Sachen zum Laster bringen, Libby.« Er gab ihr einen kleinen Stapel
Kisten und hievte selbst zwei Koffer hoch. »Du lässt mich mit
diesen beiden wandelnden Hormonen allein auf eine zehnstündige
Autofahrt gehen! Bist du sicher, dass du nicht mit uns zurückfahren
willst?«

»Tut mir leid, ich muss selbst noch packen. Ich habe dieses

Wochenende sowieso Pläne.«

»Mit Brian?«
»Was!« Libby ließ die Kisten, die sie im Arm gehalten hatte,

etwas härter fallen als beabsichtigt und wirbelte herum, um Parker
anzusehen. »Es tut mir leid, was hast du gesagt?«, versuchte sie es
noch mal, diesmal etwas gefasster.

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Parkers Augenbrauen zogen sich zusammen. »So heißt dein

Typ doch, oder? Mel hat ihn erwähnt, aber sie kann sich Namen so
schlecht merken.«

Libbys Herz machte einen extra Sprung, als sie sich daran

erinnerte, dass sie während der Stephanie/Effie-Konversation ähn-
lich über ihre Freundin gedacht hatte. Am Ende hatte es eigentlich
keinen Unterschied gemacht, wie sie hieß, außer vielleicht, dass sie
ihrer Tante Stephanie vergeben konnte, die eben doch nicht den
gleichen Namen trug wie Tonys Freundin. Wichtig war damals nur,
dass Tony eine Freundin hatte. Ja okay, es hatte nur einen Sommer
gehalten, aber das war viel länger gewesen als jede von Libbys Bez-
iehungen. Was nicht viel hieß: Libby hatte eigentlich noch nie eine
richtig feste Beziehung gehabt. Wie erbärmlich, überlegte sie sich;
19 Jahre alt und sie hatte noch nie einen richtigen Freund gehabt.

»Libby? Die sind ein bisschen schwer. Könntest du …« Libby

kam zurück auf den Boden der Tatsachen und trat zur Seite, damit
Parker seine Ladung in den Laster stellen konnte. »Ich wollte dir
nicht die Laune verderben. Mel hat erwähnt, dass du jemanden
triffst und ich dachte, dass er dir vielleicht beim Packen hilft. Falls
er nicht kommt, kann ich einen Tag extra hierbleiben und dir
helfen.« Libby warf einen Blick auf Parkers Gesicht. Sie hatte sich
so schlecht gefühlt, weil sie während ihres letzten Schuljahrs ohne
es zu wollen mit seinen Gefühlen gespielt hatte. Er ahnte offenbar,
was sie dachte. »Beruhig dich. Ich mache keine Annährungsver-
suche. Ich dachte nur, wenn du so viel Gepäck hast wie Mel …«

»J.Lo hat nicht so viel Gepäck wie Mel«, gab Libby etwas spöt-

tisch zurück. »Brian ist in Florida und ich habe schon fast alles
zusammengepackt und bin fertig zur Abreise – ich danke dir aber
für das Angebot. Abgesehen davon, wie würdest du zurück nach
New York kommen?«

»So langsam glaube ich, dass es den Preis für ein Flugticket

wert wäre, nicht an dieser Autoreise teilnehmen zu müssen.« Park-
er grinste. Er hatte ein nettes Grinsen. Als Libby ihm die Treppe
hinauf folgte, überlegte sie sich, dass an ihm eigentlich alles

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ziemlich nett war. Er war groß und schlank, bewegte sich aber auf
eine selbstbewusste und anmutige Art und Weise, sodass er nicht
ungeschickt oder schlaksig wirkte. Er hatte Muskeln, die man viel-
leicht bei Schwimmern oder Läufern sehen konnte. Er hätte ein
Tänzer sein können, überlegte sie sich. Es gab doch sicher ein paar
männliche Balletttänzer, die nicht homosexuell waren. Wie hieß der
Schauspieler von ›Dirty Dancing‹ doch gleich? Libby war sich ziem-
lich sicher, dass er ein echter Tänzer war. Ja, Parker sah ziemlich
gut aus. Es war ein Jammer, dass sie ihr Herz nicht überzeugen
konnte, wenigstens ein klein wenig schneller zu schlagen, wenn er
den Raum betrat, oder sie ihre Haut nicht dazu bringen konnte, zu
kribbeln, wenn sie seine Stimme hörte. Abgesehen von diesen
Kleinigkeiten wäre Parker der perfekte Kandidat als Traummann
gewesen.

Parker hielt inne und schnitt vor Mels geschlossener Schlafzi-

mmertür eine Grimasse. Libby war sich ziemlich sicher, dass sie die
Tür offen gelassen hatten. Parker klopfte. »Seid ihr beiden da
drin?« Keine Antwort. »Wir sollten wirklich den Laster beladen,
falls wir vorhaben, noch heute Abend aufzubrechen.«

Ein schwerer Aufprall war zu hören. Besorgt eilte Libby zur

Tür, aber Parker zog sie zurück und bedeutete ihr, leise zu sein, in-
dem er den Finger auf seine Lippen legte.

Tatsächlich hörte Libby nun schweres Atmen und leises

Stöhnen. »Igitt.« Sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück und
riss ihre Hand vom Türknauf, als hätte sie sich verbrannt. »Sie
würden nicht …« Sie wurde rot.

Parker hämmerte mit seiner Handfläche ein paarmal gegen die

Tür. »Hey, Alter! Komm schon!«

»Hau ab, Park«, antwortete John endlich durch die

geschlossene Tür.

»Hast du einen Vorschlag, was wir tun sollen?«
»Parker, mein Freund, wenn ich dir das erklären muss, dann

kann ich dir wirklich nicht mehr helfen. Verschwinde jetzt – du
bringst meine Freundin in Verlegenheit.«

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»Lass uns gehen, Libby. Suchen wir uns was zum Mitta-

gessen.« Parker schüttelte seinen Kopf, als er sie wieder nach unten
führte. Libby war sprachlos.

In der Küche suchte Libby alle Zutaten für Käsetoast zusam-

men und Parker bezog seinen Posten an der Bratpfanne. »Sollen
wir für John und Mel auch etwas machen?«

Parker runzelte die Stirn. »Auf keinen Fall. Obwohl ich wette,

dass die beiden ihren Appetit im Moment ganz schön anregen. Aber
sie können sich selbst was machen, wenn sie … fertig sind.«

Libby bemerkte, wie sie wieder rot wurde. »Parker, glaubst du,

wir – ich meine, es scheint, dass John dachte, wir …« Sie war sich
nicht ganz sicher, wie sie die Frage stellen sollte. »Wir haben früher
beinahe und vielleicht sollten wir jetzt …«

Parker lachte. Es war ein lautes, brüllendes, etwas fieses

Lachen.

»Ich dachte nicht, dass das so lustig war!« Libby schämte sich

so sehr, dass sie sich kaum noch daran erinnerte, was normale Ver-
legenheit war. »Ich meinte nur … ist auch egal, es war dumm von
mir.«

»Es tut mir leid, Libby. Ich hätte nicht lachen sollen. Du hast

aber so nervös ausgesehen und es ist wirklich noch nicht mal ›fast‹
etwas passiert.« Er schob den Teller mit ihrem gegrillten Toast über
die Arbeitsplatte zu ihr hinüber und biss herzhaft in seinen eigenen.

»Letzten Sommer!«
»Herzchen, wenn du das, was damals passiert ist, als ein ›fast‹

bezeichnest – dann kann ich verstehen, warum du vorhin dort oben
so rot geworden bist.« Er lachte wieder.

»Oh Mann!«, antwortete Libby verstimmt. »Warum mache ich

mir darüber überhaupt Gedanken.«

Parker schien die echte Verzweiflung in Libbys Gesicht zu be-

merken. Er ging um die Kücheninsel herum und drehte Libby zu
sich, wobei er seine Arme rechts und links neben ihr auf der Theke
aufstützte. »Es wäre großartig, Libby … für mich. Du bist hübsch,
sexy und ich habe wirklich schon daran gedacht. Es wäre aber nur

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Sex – und du bist nicht die Art Mädchen, mit der man ›nur Sex‹
hat. Möchtest du wirklich zwei Jahre Freundschaft in den Mül-
leimer werfen, nur um eine Stunde Spaß zu haben?«

»Eine Stunde?«
Das brachte Parker wieder zum Schmunzeln und er küsste sie

leicht auf die Nase.

»Ich mag dich wirklich, Libby. Ich würde meine Freundschaft

zu dir nicht riskieren – noch nicht mal für drei Stunden!« Den let-
zten Teil des Satzes flüsterte er in ihr Ohr, bevor er sich vom Tisch
abstieß und zu seinem Mittagessen zurückkehrte.

»Ich bin von Männern umgeben, die alle versuchen, mich vor

mir selbst zu retten. Ich bin ja so ein Glückspilz.«

»Redest du von Brian? Habt ihr beiden Probleme?« Parker aß

jetzt wieder sein Mittagessen.

»Nein, Brian geht es gut … wir sind aber nicht wirklich zusam-

men. Vergiss es einfach, okay?« Libby stopfte sich den Käsetoast in
den Mund, damit sie nicht noch mehr Unsinn reden konnte.

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8. Kapitel

Draußen wanderte Tony in der Einfahrt hin und her. Noch vor
einem Moment war er so glücklich gewesen, nach Hause zu kom-
men. Als er jedoch ins Haus kam, hatte er Libby gesehen, die of-
fensichtlich Parkers T-Shirt trug, denn der hatte kein Oberteil an
und was Libby trug, musste fünf Nummern zu groß sein. Tony war
eigentlich kein gewalttätiger Typ; er hatte jedoch seine gesamte
Selbstkontrolle aufbringen müssen, um nicht ins Haus zu rennen
und auf den Typen einzuschlagen, der sich zu ihr hinüberlehnte,
um sie zu küssen. Sobald Tony wieder im Vollbesitz seiner motor-
ischen Funktionen war, hatte er sich leise zurück zur Haustür
bewegt.

Warum hatte er nicht gewusst, dass Parker und Libby immer

noch zusammen waren? Libby hatte es nicht erwähnt, aber abgese-
hen von einem berauschten Telefonanruf mitten in der Nacht (von
dem Tony noch drei Monate später träumte), hatten sie so ziemlich
alles, was mit Romantik zu tun hatte, vermieden. Er glaubte ja
nicht, dass sie jedes Wochenende alleine daheimsaß, aber es war
doch ein ziemlich großer Unterschied zwischen dem Wissen, dass
sie Verabredungen hatte, und dem, es in seiner eigenen Küche mit
ansehen zu müssen. Wo zum Teufel sollte er in Zukunft sein Früh-
stücksmüsli essen? Er war beim besten Willen nicht in der Lage, je
wieder an der Küchentheke zu sitzen.

Okay, er musste das jetzt in den Griff bekommen. Tony

konzentrierte sich und atmete ein paarmal tief durch. Libby hatte

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nach der Party fünf Monate lang nicht mit ihm geredet. An diesem
Abend hatte er sie praktisch in Parkers Arme getrieben. Er war so
dumm! Sie war für ihn da gewesen, und er hatte sie von sich
gestoßen. Er hatte sie daran erinnert, dass Parker mit ihr auf die
Party gekommen war. Ihr gesagt, dass Parker natürlich mehr als
nur ein Freund sein wollte
. Wie dumm! Nein, er würde nicht weiter
darüber nachdenken. Er würde sich nur immer wieder daran erin-
nern, dass er sich während dieser langen Monate ohne Kontakt zu
ihr geschworen hatte, bezüglich Libby keine dummen Fehler mehr
zu machen. Wenn das bedeutete, dass sie nur Freunde waren, dann
würde er damit leben, denn er war nicht bereit, sie noch einmal zu
verlieren. Vielleicht sollte er einfach für eine Weile im Ort herum-
fahren. Wann würde Mel nach New York aufbrechen? Parker würde
sicherlich mitfahren. Wenn Tony zurückkam, würde er seine Fre-
undin Libby zum Abendessen einladen, dann vielleicht ins Kino
und danach vielleicht auf ein Eis.

Gerade als er den Entschluss gefasst hatte und zu seinem Auto

zurückkehrte, hörte er, wie sich die Haustür öffnete.

»Tony!« Er sah, wie Libby auf ihn zugerannt kam. »Du bist

früh dran«, sagte sie, als sie ihn für einen viel zu kurzen Moment
umarmte. »Du wolltest nicht gerade wieder gehen, oder?« Libby
warf einen Blick auf ihn und dann auf sein Auto.

Ja, dachte er, ich gehe wieder, damit ich deinen dummen Fre-

und mit seinem entblößten Oberkörper nicht durch eine Wand
stoße.

Er sagte aber stattdessen: »Aber nein, ich wollte nur noch mal

nachsehen, ob es auch abgeschlossen ist.«

»Komm schon! Mel ist deine Schwester; es ist nur gerecht,

dass du uns dabei hilfst, etwas von ihrem Kram runter zum Laster
zu tragen.« Libby zog Tony ins Haus.

Tony fühlte sich etwas unbehaglich, als er alle in der Küche

traf. John und seine Schwester waren noch beim Mittagessen. »Na
… Hat Mel euch die ganze Arbeit überlassen?«

»Nein.«

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»Ja.«
»Ja.«
»Ja.«
Alle sprachen zur gleichen Zeit.
Tony lächelte leicht, konnte sich aber nicht verkneifen, Parker

böse anzufunkeln. Parker, der die Situation nun endlich verstand,
räusperte sich. »Ach so, Libby hat sich nur mein T-Shirt geliehen,
bis ihr eigenes trocken ist.« Tony hob seine Augenbrauen an. »Sie
hat Kaffee darauf verschüttet …«, fuhr Parker zaghaft fort, sein ge-
wohntes Selbstvertrauen war erschüttert.

»Ich bin mir sicher, dass du es zurückhaben möchtest, bevor

ihr aufbrecht.« Tony drehte sich zu Libby um. »Du kannst dir in
meinem Zimmer aussuchen, was du möchtest. Du weißt ja, wo es
ist.« Libby sah etwas verwirrt aus, ging jedoch trotzdem den Gang
hinunter zu seinem Zimmer. Als sie zurückkam, hatte sie das eine
übergroße Shirt gegen ein anderes ausgetauscht, und Tony konnte
sich gerade noch zurückhalten, sich nicht wie ein Neandertaler auf
die Brust zu schlagen.

Ein paar Stunden später hatten sie endlich alles in den Laster

geladen und verabschiedeten sich voneinander.

»Ich glaube nicht, dass Mels Bruder mich besonders gut leiden

kann.« Parker schmunzelte ein wenig, als er Libby mit einem Arm
an sich drückte. In seinem anderen Arm hielt er einen fassgroßen
Behälter mit Popcorn. Parker hatte verkündet, dass er für die be-
vorstehende Autofahrt eine Stärkung brauchte.

»Mach dir nichts daraus. Er ist manchmal ein wenig überfür-

sorglich, was mich betrifft.« Libby verzog ihr Gesicht. »Wie fast alle
großen Brüder.«

»Ja, nur dass er eben nicht dein großer Bruder ist, oder?«

Parker verzog das Gesicht.

»Sag ihm das mal«, murmelte Libby in Parkers Schulter.
»Ich denke, dass er das selbst herausfinden kann.« Parker

legte seine Hand freundschaftlich auf Libbys Wange. »Geht es dir
gut? Du bist heute den ganzen Tag schon nicht so gut drauf.«

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»Ich bin wahrscheinlich traurig, weil der Sommer vorbei ist.

Erinnere Mel daran, mir eine SMS zu schicken, wenn ihr angekom-
men seid.«

»Klar, das mach ich!« Parker gab ihr einen Kuss auf die Wange

und stieg dann in den Laster. »Bis bald. Ich hoffe, du hast ein gutes
Semester.« Der Laster fuhr rückwärts aus der Einfahrt und ihre
Freunde waren verschwunden.

Libby schüttelte den Kopf, als sie zurück zum Haus lief. Sie

musste darüber hinwegkommen. Ihre Freunde hatten sie nicht mit
Absicht aus ihrem kleinen New-York-Club ausgeschlossen. Außer-
dem gefiel ihr Tallahassee sehr gut. Mel hatte recht: Libby musste
mehr ausgehen. Das würde als erstes auf der Tagesordnung stehen,
wenn sie nächste Woche wieder zurück zur Uni ging.

Tony beobachtete Libby durchs Fenster. Er hatte sich bereits

mit John und Mel für das Ende der kommenden Woche zum
Abendessen verabredet. Da er eine Vollzeitstelle beim Examiner
angenommen hatte, würde Tony in New Jersey sein. Er würde Mel
viel öfter sehen als Libby, deshalb hatte er sich beim Verabschieden
im Hintergrund gehalten. Seine Toleranzfähigkeit in Sachen Parker
war außerdem seit mindestens 45 Minuten überschritten, und er
war sich ziemlich sicher, dass Libby es nicht begrüßen würde, wenn
er ihrem Freund eine reinhauen würde. Vielleicht war das Glück auf
seiner Seite und Parker würde an einem Stück Popcorn ersticken.

Der Rest des Abends verlief weitaus besser. Tony lud Libby ins

Kino ein. Der Film war nicht gut, aber das machte nichts; er war so
schlecht, dass er schon wieder lustig war. Nach dem Film gingen sie
Pizza essen – halb Hawaii für Libby und halb Salami und Hack-
fleisch für Tony. Während der Mahlzeit redeten sie. Libby erzählte
Tony, dass sie sich in St. George Island verliebt hatte und über die
Muschelsammlung, die sie und Suzy bereits hatten. Tony berichtete
von seiner Vollzeitstelle bei der Zeitung und dass er seinen eigenen
abgeteilten Raum zum Arbeiten hatte – na ja, eigentlich nur einen
Schreibtisch und ein Regal. Tony war ein wenig enttäuscht, dass er
für den Sportteil zuständig war; er arbeitete aber auch an einigen

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Artikeln über persönliche Schicksale, und einer der Lektoren hatte
gesagt, sie wären ›nicht schlecht‹. Libby beschwerte sich betrübt,
dass sie im zweiten Studienjahr Buchführung belegen musste und
dass ihr Freund Brian ihr dieses Jahr noch nicht einmal dabei
helfen konnte, da er mit seiner Freundin für ein Jahr ins Ausland
ging.

»Vielleicht kann er dir telefonisch helfen«, neckte Tony sie.
»Großartige Idee – schließlich geht er nach Australien. Das ist

ein Zeitunterschied von 14 Stunden! Ich bezahle diese Telefonrech-
nung auf jeden Fall nicht.«

»14 Stunden! Ich wusste, dass es weit weg ist, aber Mann oh

Mann … Trotzdem, es ist wahrscheinlich super dort. Du solltest ihn
fragen, ob er sich die Toiletten genau ansehen kann – ich habe ge-
hört, dass das Wasser in die entgegengesetzte Richtung abläuft.«

Libby lachte. »Ich glaube, das ist ein Ammenmärchen, aber ich

werde es für dich herausfinden. Wenn ich ein Jahr ins Ausland ge-
hen könnte – du weißt schon, wenn ich in der Lotterie gewinne –,
dann würde ich lieber nach Europa gehen. Vielleicht Rom. Oder
Paris – die Franzosen machen so gutes Gebäck!«

Sie redeten, bis die Pizza kalt war. Es machte aber keinen Sinn,

zwei Stücke liegenzulassen, deshalb nahm jeder von beiden mit
übertriebener Selbstaufopferung noch ein Stück vom Blech.

»Früchte gehören nicht auf eine Pizza«, meinte Tony, als er ein

Stück Ananas, das sich auf seine Pizza verirrt hatte, aufnahm und
ihr verächtlich anbot. Libbys Hände hielten ihre eigene Pizza und
sie reagierte, ohne nachzudenken. Sie lehnte sich nach vorne und
naschte die Frucht aus Tonys Hand.

Weißglühendes Begehren schoss durch Tonys Nervensystem.

Ihre weichen feuchten Lippen schlossen sich über seine Finger-
spitzen. Ihre Zunge bewegte sich kurz über seine Daumenkuppe
und ihre Zähne berührten leicht seine Haut. Das Ganze hatte nur
eine halbe Sekunde gedauert, aber Tony saß sprachlos und wie an-
gewurzelt in seinem Stuhl. Libby erkannte im Nachhinein die

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Intimität ihrer Handlung und zog sich blitzschnell auf ihre Seite des
Tisches zurück, wo sie mit großer Konzentration anfing zu essen.

Als die Bedienung die Rechnung brachte, lag die Anspannung

immer noch in der Luft. Libby griff nach ihrem Geldbeutel, aber
Tony winkte ab. »Hast du vergessen, dass ich dieser Tage erwerb-
stätig bin?« Tonys Grinsen bewirkte Wunder, um Libbys Nerven zu
beruhigen. »Nicht sehr einträglich, ich würde aber sehr gerne das
Abendessen bezahlen. Besonders da ich den Film ausgesucht habe
und du dadurch im Prinzip zwei Stunden deines Lebens vergeudet
hast.«

»Du hast auch für den Film bezahlt, deshalb bezahle ich jetzt

für Skee Ball.« Libby zog ein paar Geldscheine aus ihrer Geldbörse
und sprang übermütig zum Geldwechselautomaten, der in der
kleinen Spielhalle stand. Tony war froh, dass er ein paar Minuten
alleine warten musste, bis die Kellnerin mit seinem Wechselgeld
zurückkam. Er brauchte etwas Zeit, um sich zu beruhigen, bevor er
Libby in der Spielhalle traf, ansonsten wäre die Situation zu pein-
lich für ihn geworden. 4 mal 6 ist 24, 4 mal 7 ist 28, 4 mal 8 ist 32 …

Am Ende des Abends hatte Libby Tony gründlich und entwürdi-
gend haushoch im Skee Ball geschlagen, und als sie ihre gemein-
samen Punkte zusammenzählten, hatten sie genügend Tickets für
eine Tüte saure Fruchtgummis, ein Perlenarmband und ein Sheriff-
Abzeichen aus Plastik. Tony steckte sich das Abzeichen stolz an sein
Hemd, während sie die Hauptstraße entlanggingen, zu ihren hinter
der Bäckerei geparkten Autos.

»He, wo ist dein Armband?«, fragte er mit dem Mund voller

Fruchtgummis.

Libby zog es aus der Tasche und wedelte es in seine Richtung.

»Ich habe es hier.«

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Tony nahm ihr das Kinderarmband ab und befreite es von

seiner Papierverpackung. Feierlich schob er das Armband über
Libbys Hand. Bevor er sich selbst davon abhalten konnte, küsste er
die Innenseite ihres Handgelenkes mit geöffneten Lippen und bil-
dete sich ein, dass er fühlen konnte, wie ihr Puls einen Sprung
machte. Sie ließen beide ihre Hände sinken und er verflocht wortlos
ihre Finger in seine. Zusammen gingen sie Hand in Hand die
Hauptstraße hinunter, als wäre das ganz alltäglich. War ihm jemals
zuvor aufgefallen, wie zierlich ihre Handgelenke waren? Natürlich
nicht. Er hatte noch nie zuvor die Handgelenke von Frauen
beachtet, denn nur Libby hatte die Macht, aus ihm einen ver-
dorbenen, sexbesessenen Neandertaler zu machen.

Er hatte es versucht – andere Frauen zur Kenntnis zu nehmen.

Er hatte das ganze Jahr über versucht, jemanden zu finden. Irgend-
jemanden, zu dem er auch nur einen Bruchteil dieser Verbindung
spürte. Es hatte nicht funktioniert. Er hatte sich dabei ertappt, wie
er seine Begleiterinnen am Ende jedes Abends vor ihren Haustüren
ablieferte und sich höflich entschuldigte, dass er früh zum Unter-
richt müsse oder dass er befürchte, eine Erkältung sei im Anmarsch
und dann war er nach Hause gegangen – allein.

»Was möchtest du morgen machen?«, fragte Tony, als sie ihre

Autos erreicht hatten.

»Äh … Ich weiß nicht. Musst du nicht etwas Zeit mit deinen El-

tern verbringen?« Libby war von der Idee begeistert, ihn einen gan-
zen Tag lang zu sehen. Sie wollte jedoch keine voreiligen Schlüsse
ziehen, und dann waren da noch diese alten schlechten Ange-
wohnheiten, die sie meiden musste. Händchenhalten und Arm-
bänder aus Plastik bedeuteten noch keine unsterbliche Hingabe.

Tony ignorierte ihre Frage. »Wir sollten zusammen Plätzchen

backen. Du warst bis jetzt zwar keine so tolle Lehrerin, aber ich
würde es noch mal versuchen.«

»Du möchtest, dass ich dir zeige, wie man backt?«

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»Nur wie man Plätzchen backt«, berichtigte er sie. »Ich habe

die Schokolandensplitter-Kekse wirklich vermisst. Ich könnte zur
Bäckerei kommen.«

»Nein, lieber nicht. Du bist ein Verstoß gegen die Gesundheits-

verordnung. Wir können in die Wohnung meiner Mutter gehen.«

»Mann, du weißt wirklich, wie man einen Kerl runtermacht!«
Libby lächelte ihn kurz an. »Nimms nicht persönlich. Du

musst einen Kurs in Lebensmittelsicherheit bestehen, bevor du un-
sere Küche benutzen darfst.«

»Super, also dann bis morgen. So gegen zwei Uhr?«
»Zwei passt gut.«
Sie hatten die Bäckerei erreicht und standen nun neben Libbys

Auto. Beide wollten den Abend nicht enden lassen.

Tony wog seine Optionen ab. Er könnte sie umarmen – sie in

seine Arme nehmen, seine Hände in ihre Hüften eingraben, ihr
Shampoo riechen … Ein Gutenachtkuss wäre natürlich besser. Ein
flüchtiger Kuss wäre unschuldig genug, jedoch nicht befriedigend.
Tatsächlich wollte er sie gegen das Auto drücken und ihren Mund
verschlingen. Er war sicher, dass er in diesem Mund ertrinken kön-
nte und glücklich sterben würde. Dann war da ihr Hals; er musste
wissen, wie ihre Haut am Nacken schmeckte. Er wollte sie ber-
ühren, das Gewicht ihrer Brüste spüren, die Weichheit ihrer Haut …
Gut, diese Option hatte sich erledigt.

Anstatt all das zu tun, hob er ihre verflochtenen Finger an, gab

ihr einen Handkuss und sagte: »Nacht, Lib«, bevor er zurück zu
seinem Auto ging.

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9. Kapitel

Am nächsten Tag kam Tony wie versprochen um zwei Uhr nachmit-
tags an. Libby hatte alle Zutaten für Schokoladensplitter-Kekse
zurechtgelegt. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals mehr Spaß mit
Tony gehabt zu haben. Und das sollte etwas heißen, denn Libby
hatte immer Spaß mit Tony. Sie entdeckte die pinkfarbene ›Big or
Small – Save Them All‹-Schürze ihrer Mutter (sie war von einem
Kuchenbasar zur Aufklärung über Brustkrebs vor ein paar Jahren
übriggeblieben). Tony, cool wie er war, trug die Schürze ohne jeg-
lichen Kommentar. Sie arbeiteten stundenlang zusammen. Libby
machte normalerweise nicht nur eine Portion Kekse – das kam dav-
on, wenn man bei einer Konditorin aufwuchs. Sie aßen die erste
Portion, während sie die zweite bis neunte Portion vorbereiteten,
die in der nächsten Woche im Rahmen des Apfelfestes für den ört-
lichen Lions Club gespendet werden sollten. Die zehnte Portion
packte Libby für Tony ein, damit er sie mit nach New Jersey neh-
men konnte.

Tony verbrannte unter den wachsamen Augen von Libby nicht

ein einziges Blech mit Keksen und er steckte seinen Probierlöffel
nicht in den rohen Teig. Selbst nachdem sie den gesamten vorheri-
gen Abend zusammen verbracht hatten, hatten Tony und Libby
keinerlei Probleme, den ganzen Nachmittag lang Gesprächsthemen
zu finden.

»Danke, Lib. Ich werde dir nicht sagen, wie schnell ich diese

Kekse essen werde und wie viel zusätzliche Zeit ich im Fitnessclub

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verbringen muss.« Tony erledigte den Abwasch und redete dabei
über seine Schulter mit ihr. Dieser Moment hatte etwas fast Zärt-
liches an sich und Libby konnte deshalb nicht antworten. Sie war
sicher, dass ihre Stimme versagen würde, sollte sie jetzt versuchen
zu sprechen. Sie hatte sich solche Situationen so oft in ihren besten
›Wenn-ich-erwachsen-bin‹-Fantasien vorgestellt. Das Geschirr war
dann jedoch nicht von einer Backstunde übriggeblieben, sondern
vom Abendessen. Ein Braten, den sie den ganzen Nachmittag lang
vorbereitet hatte, für Tony und ihre drei Kinder. Kinder, die das
schokoladenbraune Haar und den italienischen Hautton von Tony
hatten. Das war jedoch die Vergangenheit. War sie nicht erwach-
sener geworden seit der Zeit, in der sie darauf gewartet hatte, dass
Tony mehr in ihr sah als nur eine Freundin? Deshalb schob sie
diese Gedanken zur Seite. Es würde keinen Braten geben und keine
Babys mit olivfarbener Haut.

Es war fast Zeit für das Abendessen. Tony trocknete sich die

Hände ab, nachdem er die letzten Backbleche zum Abtropfen in den
Geschirrständer gestellt hatte. Er drehte sich um und sah zu, wie
Libby die Tischplatten abwischte. Sie hatte Mehl im Haar und an
ihren Händen und war bis zu ihren Ellbogen verschmiert. Mein
Gott, sah sie hübsch aus. Er wollte hinter sie treten und ihr sagen,
dass Mehl ihr gut stand. Er wollte ihren Zopf öffnen und ihr Haar
durch seine Finger gleiten lassen. Es gab viele Dinge, die er tun
wollte.

»Sollen wir etwas zum Essen besorgen? Ich kenne auch eine

Spielhalle, in der ich dich wieder im Skee Ball gewinnen lassen kön-
nte.« Tony war nicht hungrig, nachdem sie den ganzen Nachmittag
lang Kekse gegessen hatten, aber er wollte auch nicht nach Hause
gehen.

»Nur in deinen Träumen, Marchetti.« Libby hatte bei Weitem

nicht so viele Kekse gegessen wie Tony und daher riesigen Hunger;
sie fühlte aber auch, dass sie kurz vor einem emotionalen Rückfall
stand, und brauchte etwas Zeit, um wieder klar denken zu können.

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»Ich bin eigentlich nicht hungrig und ich muss noch eine Menge
Sachen zusammenpacken. Vielleicht ein andermal?«

Tony brach innerlich zusammen. »Ja, zu viele Kekse – ich kön-

nte sicherlich auch nichts mehr essen.« Vorsichtig brachte er sein
nettestes falsches Lächeln zum Vorschein (das normalerweise für
seine Großtante Millicent reserviert war, die nach Katze roch, von
seinem Vater aber trotzdem jedes Jahr zu Thanksgiving eingeladen
wurde) und nahm seine Jacke auf, um zu gehen. »Morgen. Was
möchtest du morgen machen?« Wollte er sie zugrunde richten?
»Ich muss Montagmorgen ziemlich früh aufbrechen und ich bin
mir sicher, dass deine Eltern ein bisschen Zeit mit dir verbringen
möchten.«

Selbst das Tante-Millie-Lächeln gelang ihm jetzt nicht mehr.

Tony gab jedoch so schnell nicht auf. »Gut, dann packst du heute
Abend alles zusammen und ich hole dich morgen früh ab. Wir ge-
hen zum Fitnessclub und laufen zusammen.« Super, dachte er, sie
würde ihn Staub schlucken lassen – keine gute Art und Weise, ein
Mädchen zu beeindrucken. »Wenn wir dann zurückkommen, helfe
ich dir, die Kisten einzuladen, damit du am Montag ein bisschen
länger schlafen kannst.«

Sie gab sich geschlagen und nickte, weil sie der Idee, einen

Morgenlauf mit Tony zu erleben, nicht widerstehen konnte. »Ich
gehe normalerweise früh ins Fitnessstudio.«

Er kam früh. Mit Kaffee. Tony klopfte an der Haustür und war
überrascht, als Mrs McKay aufmachte. Was bescheuert war, denn
Mrs McKay lebte natürlich auch dort. Da Bäckereien sehr früh öffn-
en, arbeitete sie jedoch normalerweise zu ungewöhnlichen Zeiten
und Tony war noch nicht sehr oft da gewesen.

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»Komm rein, Tony. Libby zieht sich gerade um; es dauert sich-

er nur einen Moment. Setz dich doch.«

Tony bedankte sich und nahm auf der Couch Platz, während er

an dem heißen Kaffee nippte, um seine Nervosität zu kaschieren. Er
erinnerte sich sehr klar an die Nacht, als Mrs cKay früh am Morgen
nach Hause gekommen war und ihn und Libby schlafend und eng
umschlungen auf derselben Couch vorgefunden hatte. Als sie Tony
wachgerüttelt hatte, wäre er am liebsten im Erdboden versunken.
Sie war aber sehr nett mit der Situation umgegangen. Sie hatte sich
bei ihm bedankt, weil er so ein guter Freund war, seine Halloween-
nacht geopfert und Libby zurück in ihr Bett gebracht und zugedeckt
hatte, denn die Arznei hatte sie komplett außer Gefecht gesetzt.
Dadurch hatte er sich noch schlechter gefühlt, denn der Grund,
warum er an diesem Abend gekommen war, war weniger ehrenhaft
gewesen.

»Libby hat mir erzählt, dass du in New Jersey lebst?«
Hoppla, hör auf, mit offenen Augen zu träumen! Mrs McKay

sprach mit ihm. Hatte er etwas verpasst?

Ȁh, ja. Ich arbeite dort seit ein paar Jahren als Praktikant bei

einer Zeitung. Deshalb war die Entscheidung einfach.« Er erwähnte
nicht, dass er vor etwas mehr als einem Jahr Nachforschungen über
Zeitungsagenturen in Tallahassee angestellt hatte. Das war vor der
Luau-Party gewesen – und vor Parker.

»Ein Journalist?« Mrs McKay lächelte. Er konnte eine Ähn-

lichkeit zu Libbys Lächeln in ihrem Gesicht erkennen. Er fragte
sich, ob Libby in zwanzig Jahren so aussehen würde. Libby musste
ihre Körpergröße vom verstorbenen Mr McKay geerbt haben, die
glänzenden dunklen Augen und die schwer zu bändigenden
dunklen Locken waren aber ganz die Mutter. »Habe ich vielleicht
bereits einen Artikel von dir gelesen?«

»Wahrscheinlich nicht, außer sie haben das Literaturmagazin

der Columbia abonniert oder sie lesen die Todesanzeigen des
Trenton Examiner.« Tony zuckte verlegen mit den Schultern. »Der
Examiner ist eine kleine Zeitung, ich bevorzuge das aber. Ich weiß

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nicht, ob ich Perry White sein möchte. Da ich jetzt meinen Ab-
schluss habe, freue ich mich schon darauf, etwas interessantere
Themen bearbeiten zu dürfen.«

»Hmm.« Sie nickte höflich. Vielleicht sollte er ihr erzählen,

dass er ein Buch geschrieben hatte, und von seinen Pläne, mehr zu
schreiben. Nein – das war noch so etwas wie ein Hirngespinst und
versprach nicht eben eine sichere Zukunft.

»Der Examiner ist keine große Zeitung, wird aber gut geführt.

Ich habe viel gelernt. Ich möchte vielleicht eines Tages meine ei-
gene Zeitung herausgeben. Taylorsville hat nicht mal eine eigene
Tageszeitung.« Wo kam das jetzt her? Es war aber keine schlechte
Idee. Tony wollte nicht für immer in New Jersey bleiben. Er hatte
sich nicht viele Gedanken darüber gemacht, wegzugehen, nachdem
er seine Idee mit Florida aufgegeben hatte, aber ihm gefiel die Vor-
stellung, wieder nach Hause zu ziehen.

»Das ist sehr schön.« Mrs McKay schien von seinenZukunfts-

plänen so oder so nicht beeindruckt zu sein. Nicht dass seine
Zukunftspläne irgendeine Bedeutung für sie hatten. Parker würde
als Rechtsanwalt arbeiten. Parker hatte einen Kontostand, der ihm
monatliche Flugtickets ermöglichte, nur um ein oder zwei Verabre-
dungen mit ihrer Tochter zu haben. Dieser verdammte Parker.

Libby und Tony liefen zweimal eine Meile. Beide Male gewann

sie haushoch. Tony schwor sich im Stillen, in seinem Fitnessstudio
mehr auf dem Laufband zu trainieren. Er war jedoch kein Stuben-
hocker und als sie zu einem langsamen Joggen um die Bahn herum
übergegangen waren, hatte er weniger Probleme, mit ihr mitzuhal-
ten. Libby war sehr hübsch, wenn sie lief. Sie war immer hübsch,
aber sie hatte diesen entspannten Gesichtsausdruck während des
Laufens. Sie strahlte eine Ruhe aus, als brauchte sie sich um nichts
auf der Welt Sorgen zu machen. Ganz anders Tony – seine Lungen
brannten und er konnte sich an seinen Blaubeer-Muffin von heute
Morgen kaum noch erinnern. Libby sah dagegen unglaublich aus.
Ihre fantastischen langen Beine und diese eng anliegenden Lauf-
shorts taten den Augen nicht gerade weh.

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»Das hat Spaß gemacht. Ich glaube, ich habe es vermisst, mit

jemandem zu trainieren.« Libby wischte sich mit ihrem Handtuch
über das Gesicht und stopfte es zurück in ihre Tasche. Tony hätte
geantwortet, wenn er den Atem dazu gehabt hätte – was jedoch
nicht der Fall war.

Nachdem sie geduscht hatten, bot Tony Libby seine Hilfe an,

um ihre Sachen in den Laster einzuladen.

»Ich hole den Umzugslaster erst heute Abend ab – das ist

billiger.«

»Ja, stimmt.«
»Meine Mutter und Stuart wollen mit mir zu Mittag essen.«
»Oh, gut. Ich bringe dich dann nach Hause.«
Tony fuhr Libby zurück zu ihrer Wohnung, ohne ein Wort zu

sagen.

»Vielen Dank, dass du dieses Wochenende Zeit mit mir ver-

bracht hast«, sagte Tony schließlich, als sie vor dem Haus anhiel-
ten. »Gute Fahrt morgen.«

»Ja, es hat Spaß gemacht. Da Mel mich so früh im Stich

gelassen hat, war es nett, einen Freund hier zu haben.«

Libby lehnte sich zu ihm hinüber, um ihn zum Abschied zu

umarmen. Ihr Haar, das von der Dusche im Fitnessstudio noch
nass war, blieb an seinem Hals hängen. Klar, dachte er, wir sind
nur Freunde.

Oben angekommen, redete sich Libby ein, sie sei froh, dass

Tony gegangen war. Sie erinnerte sich an ihren Entschluss, ihr
Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie würde nicht herumsitzen
und in dem Gefühl schwelgen, wie sie Tonys Augen auf ihren Bein-
en und ihrem Po gesprüt hatte, … jedenfalls nicht allzu lange.

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10. Kapitel

Es war leicht, in den Unialltag zurückzukehren. Suzy sprudelte
geradezu über, wie sehr sie ihren Sommer genossen hatte und dass
sie jetzt wieder mit ihrem Freund von der Highschool zusammen
war. Der Kurs in Buchhaltung war nicht ganz so schrecklich, wie
Libby ihn in Erinnerung gehabt hatte, und natürlich war auch das
Wetter in Florida ein zusätzlicher Bonus.

Libby, die an ihrem Entschluss, ihr Leben nun selbst in die

Hand zu nehmen, festhielt, begann ihre Zeit an der Universität
richtig zu genießen. Sie ging auf Verabredungen und zu Partys. Sie
vernachlässigte ihr Studium nicht, aber sie fühlte sich auch nicht
mehr, als hätte sie den Anschluss verloren. Nicht wirklich.

Brian hat die Spülung an einer Toilette ausprobiert –
er sagt, dass das Wasser direkt nach unten fließt.
Das hat mit der Form der australischen Toiletten zu
tun. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.
-L-

Ich bin nicht enttäuscht. Ich wette, dass er dich nur
auf den Arm nimmt. Ich bleibe dabei, dass die Toi-
lette gegenläufig spült.
-t-

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Ich darf die Kolumne von Sarah Kendall überneh-
men, solange sie in Mutterschutz ist. Das ist ein
großer Sprung nach vorne für mich.
Halloween im Büro war super. Ich war Clark Kent.
-t-

Gratuliere! Schick mir die Ausgaben!
Ich war ein Piratenmädchen – der Akzent hat Spaß
gemacht.
-L-

Ich bin schon seit einiger Zeit nicht mehr daheim
gewesen, um Thanksgiving-Truthahn zu essen.
Wann kommst du nach Hause?
-t-

Mom und Stuart fahren über Thanksgiving weg. Ich
bin froh, denn sie geht nicht oft in Urlaub. Ich fahre
nach New York, um Mel zu besuchen.
-l-

Meine Mom hat geheiratet!!! Als sie aus ihrem
Thanksgiving-Urlaub zurückkam, war sie verheirat-
et! Sie haben das Ganze heimlich in Las Vegas
gemacht – so seltsam. Ich finde Stuart natürlich nett
– es ist aber unglaublich, dass sie nach Vegas gegan-
gen sind! Das ist zu romantisch für Erwachsene.
-L-

Wow. Stuart ist ganz schön cool. Er war übrigens in
der Little League mein Trainer. Ich wette, sie sind

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glücklich. Das muss wirklich merkwürdig für dich
sein.
Ich habe gehört, dass Mel den Truthahn verbrannt
hat! Das geschieht dir recht, weil du mich in Taylors-
ville im Stich gelassen hast. Ruf mich an, falls du re-
den möchtest.
-T-

Wir haben dich an Weihnachten vermisst, Lib. War-
um hast du nicht erwähnt, dass du an der Uni
bleiben wolltest, um einen Winterkurs zu belegen?
Ich habe bald ein paar Tage Urlaub – ich habe mir
überlegt, dass ich vielleicht nach Florida komme.
Was meinst du?
-t-

»Hallo, Tony.«

Libby saß in ihrem Studentenzimmer. Sobald sie seinen Na-

men auf dem Display gesehen hatte, hatte sie sofort auf »Anneh-
men« gedrückt.

»Libby! Das wirst du nie erraten. Ich meine, ich hatte schon

fast aufgegeben, es zu verschicken – aber zum Glück bin ich
hartnäckig …«

»Tony! Du beginnst, mich an Mel zu erinnern.« Libby lächelte

in ihr Handy. Sie hatte seine Stimme vermisst. Nächste Woche
würde er sie besuchen kommen und Libby konnte es kaum er-
warten. Sie hatte eine ellenlange Liste mit Dingen, die sie ihm zei-
gen wollte.

»Tut mir leid, Lib.« Tony atmete tief durch. »Ich habe einen

Agenten gefunden.«

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»Für dein Buch? Das ist fantastisch. Super. Ich habe dir doch

gesagt, dass es gut ist!«

»Ich weiß. Du warst so eine große Hilfe. Du warst die Einzige,

der ich alles erzählt habe. Ich habe bis jetzt auch noch mit keinem
anderen darüber geredet – erst muss ich einen Verleger haben. Ein
Literaturagent ist aber ein sehr guter Anfang. Er ist wirklich zuver-
sichtlich und hat bereits den Kontakt zu einer Lektorin in der Stadt
hergestellt. Nächste Woche werde ich sie treffen.«

»Nächste Woche?«
»Ich weiß, Lib. Das ist einer der Gründe, warum ich anrufe.

Ich muss meine Reise absagen. Ich will nicht, aber ich habe nur
eine begrenzte Anzahl an Urlaubstagen, und ich glaube, es wäre
besser, wenn ich die Zeit dafür nutze, um mit meiner Lektorin zu
arbeiten. Meiner Lektorin, kannst du das glauben?«

»Natürlich, kein Problem. Wirklich toll. Ich freue mich riesig

für dich.« Blödes Buch! Ihre gesamte Woche war im Eimer. Außer,
dass es kein blödes Buch war. Es war sehr gut; Tony war ein
großartiger Schriftsteller.

»Ich wusste, dass du mich verstehen würdest. Libby – ich

verdiene Freunde wie dich eigentlich gar nicht. Herr Carson – Jack
– er ist mein Agent. Ich habe ihm zusätzlich zu dem Manuskript
eine ganze Reihe Probetexte geschickt und ihm gefällt alles. Er
stimmt mit mir überein, dass Isaac Raines der stärkste Charakter
ist. Ich habe bereits einen groben Entwurf für ein paar Geschichten
verfasst. Habe ich dir von Isaac erzählt?«

»Äh, nein.«
»Er ist ein Detektiv. So ein Typ, der immer zur falschen Zeit

am falschen Ort ist. Stell dir John McClane vor, nur nicht so
pampig.«

»John McClane ist nicht pampig!« Libby liebte die ›Stirb

Langsam‹-Filme.

»Das ist nicht der Punkt, Lib.« Tony lachte über sie.
»Ja, richtig. Tut mir leid. Gut, erzähl mir alles über die Lektor-

in und dein neues Buch.«

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Sie redeten bis spät in die Nacht. Tony war so begeistert, und

das mit gutem Recht. Das war so enorm wichtig für ihn. Libby war
dennoch traurig. Sie hasste es, eifersüchtig zu sein, aber sie musste
zugeben, dass sie insgeheim wirklich sehr eifersüchtig war. Auf das
Buch. Nein, eigentlich nicht auf das Buch – sie hatte das Gefühl,
sich in einer Art Warteschleife zu befinden. Die Menschen um sie
herum brachten Dinge zustande und taten etwas für ihre Zukunft.
Sie dagegen wäre schon glücklich, wenn sie ihren Kurs in Buchhal-
tung bestehen würde.

Mel hatte gerade einen Vertrag mit einer Boutique in SoHo un-

terschrieben (denn wenn man in New York lebt, tut man Dinge, wie
zu Boutiquen nach SoHo zu gehen). Sie würde nun Marchetti
Designs
in Bekleidungsläden für Frauen anbieten. Scheinbar waren
es die Frauen, die Accessoires für Männer kauften. John und Parker
sahen sich nach Unis um, wo sie ihr Medizin- bzw. Jurastudium
fortsetzen konnten. Suzy verbrachte die meisten Abende in der
Wohnung ihres Freundes und machte jetzt sogar Andeutungen,
dass es vielleicht bald eine Verlobung geben könnte. Selbst der
langweilige Brian und seine langweilige Freundin amüsierten sich
köstlich in Australien. Die zuverlässige alte Libby schleppte sich nur
zu ihrem Abschluss in Betriebswirtschaft.

Tmarchetti: Bist du da?

Libby zuckte zusammen, als sie das ›Ping‹ des Chat-Fensters auf
ihrem Computer hörte.

Libbylibbylibby: Ich arbeite gerade an einem Referat. Ja, ich
bin hier.
Tmarchetti: Ich habe mich heute in der City mit meinem
Agenten getroffen. Ich war zum Abendessen bei Mel. Hast du
in letzter Zeit mit ihr geredet?

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Libbylibbylibby: Eigentlich seit ein paar Wochen nicht. Sie
hat so viel zu tun. Ist alles mit ihr in Ordnung?
Tmarchetti: Ihr geht es gut. Kann ich dich anrufen?
Libbylibbylibby: Natürlich.

»Hallo?« Libby fing jetzt an, sich Sorgen zu machen. Sie hätte Mel
anrufen sollen, um zu hören, wie es ihr ging. Sie war aber in letzter
Zeit so beschäftigt mit ihrem Studium gewesen.

»Hi. Lib.« Tony hörte sich komisch an.
»Was gibt’s?«
»Also, ich war heute in der Stadt und habe dort Mel und John

besucht und Parker ist auch vorbeigekommen.«

»Okay. Was ist los, Tony?«
»Libby, er hatte ein Mädchen dabei. Ich weiß nicht, ob du das

wusstest oder was eigentlich Sache ist, aber du solltest es wissen.
Du bist tausendmal hübscher – falls das hilft. Ich kann mir nicht
vorstellen, was er sich dabei gedacht hat.«

»Tony! Versuchst du mich zu warnen, dass Parker eine neue

Freundin hat? Sie heißt Penny. Ich habe sie getroffen. Ich mag sie.«
Meine Güte! Sie hatte sich wirklich Sorgen gemacht, dabei hatte
Tony nur wieder einmal seine überfürsorgliche Bruder-Routine
drauf.

»Ihr beiden seid also nicht mehr zusammen?«
»Nein. Wir waren nie zusammen. Nicht richtig. Nur einige

Verabredungen und eine supergute Freundschaft. Ernsthaft, mein
Herz ist nicht gebrochen. Aber vielen Dank für deine Fürsorge. Das
ist sehr nett von dir.«

»Ihr wart nicht zusammen?« Tonys Stimme nahm einen leicht

ärgerlichen Tonfall an. »Das sah aber letzten Sommer ganz anders
aus, als er seinen Kleiderschrank mit dir geteilt hat!«

»Auch auf die Gefahr hin, mich jetzt zu wiederholen – Parker

und ich sind nur Freunde.« Libby versuchte, ihre Stimme ruhig
klingen zu lassen. Das Ganze ging ihn überhaupt nichts an.

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»Was wart ihr dann? Freunde mit gewissen Vorzügen? Ein

Zeitvertreib, wenn er zu Besuch kam? Ich sollte ihn umbringen.«

Jetzt wurde Libby langsam wirklich sauer. »Nein, du solltest

überhaupt nichts tun, Tony! Du bist nicht für mich verantwortlich,
du bist nicht mein großer Bruder. Und selbst wenn du das wärst –
ich bin erwachsen und alt genug, um zu wissen, welche Art Freunde
ich haben möchte!«

»Ich weiß, wie alt du bist, Lib«, brachte Tony mühsam hervor.

»Tut mir leid. Ich möchte – ich möchte nicht, dass dir jemand we-
htut, Libby.« Er hörte sich an, als würde er sich jetzt beruhigen.

»Parker hat mir nie wehgetan.«
Tony zuckte zusammen. Er wusste, dass er derjenige gewesen

war, der Libby wehgetan hatte. Jetzt war aber alles anders.

»Parker hat also Penny, und du …?«
»Ich freue mich für die beiden.«
»Okay. Wann bist du mit deinen Kursen fertig?«
Libby war erleichtert, dass Tony das Thema wechselte. Sie

wollte ihre Beziehungen wirklich nicht mit Tony ausdiskutieren. Sie
gab ihm die Daten für ihre Abschlussprüfungen (die noch einige
Wochen entfernt waren) und wann sie voraussichtlich zurück in
North Carolina sein würde. Sie redeten eine Weile darüber, wie ko-
misch es sein würde, ›nach Hause‹ in das Reihenhaus von Stuart zu
ziehen, anstatt in das Haus, wo sie aufgewachsen war. Als Tony ihr
Gähnen durch die Telefonleitung hörte, schickte er sie ins Bett.

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11. Kapitel

Als sie am Morgen nach ihrer Rückkehr nach Taylorsville zur
Bäckerei kam, wartete Tony auf sie. Er grinste wie ein Ho-
nigkuchenpferd und lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen
an der Hintertür. Nicht direkt das begehrte Nur-für-Libby-Lächeln.
Es war eher herausfordernd und fast ein wenig raubtierhaft, aber
ihre Gedanken spielten ihr wahrscheinlich wegen des Schlafman-
gels einen Streich.

Er hob sie hoch und umarmte sie lange und fest. »Ich habe

dich vermisst, Lib«, flüsterte er leise knapp oberhalb ihres Ohres in
ihr Haar hinein, und Libby fühlte, wie ein Wonneschauer, dem sie
sich seit der Highschool nicht mehr hingegeben hatte, durch ihren
Körper floss.

»Was für eine Überraschung«, brachte sie heraus, als er sie

wieder abgesetzt hatte und sie in der Lage war, die Tür
aufzuschließen.

Tony folgte ihr nach drinnen und beobachtete sie wortlos, als

sie damit anfing, die Öfen aufzuheizen und sich auf den Arbeitstag
vorzubereiten. Er musste seine gesamte Selbstbeherrschung auf-
bringen, um sie nicht bis zur Besinnungslosigkeit zu küssen. Ihr
Haar war zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden
und auf ihrem Gesicht war keine Spur von Make-up zu sehen. Sie
war das hübscheste Mädchen, das er je gesehen hatte. Er wollte je-
doch Vorsicht walten lassen. Keine Vermutungen oder Missver-
ständnisse mehr. Tony wollte diesmal alles richtig machen. Das

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bedeutete, dass er seine Libido noch ein wenig länger im Zaum hal-
ten musste.

»Okay, kannst du mir verraten, was du hier machst?«, unter-

brach Libby das Schweigen.

»Hab ich dir doch gesagt – ich habe dich vermisst.« Tony warf

ihr sein charmantestes Lächeln zu.

»Um fünf Uhr morgens?«
»Besonders um fünf Uhr morgens.« Sein Lächeln war jetzt

leicht anzüglich. »Ich bin für ein paar Tage hier. Ich wäre gestern
zu Stuart gekommen, aber ich dachte mir, dass deine Mutter dich
sicher auch eine Weile für sich allein haben will.«

»Mom und Stuart hatten wirklich ein großartiges Abendessen

vorbereitet, als ich ankam. Sie hatten auch ziemlich erstaunliche
Neuigkeiten.«

»Ich habe auch fantastische Neuigkeiten.« Sie gingen nun in

den Gastraum, und Tony half ihr wortlos, die Stühle von den Tis-
chen zu nehmen und auf den Boden zu stellen. »Nun, teilweise
Neuigkeiten, aber ich möchte auch über etwas anderes mit dir
reden.«

»Über was?«
»Gut, als Erstes … Jack hat ›Thrills‹ verkauft! Es ist eine kleine

Auflage, aber sie reden jetzt von einem Vertrag für mehrere Bücher,
nachdem sie einige Probekapitel der Isaac-Raines-Bücher gelesen
haben. Das sind großartige …« Tony konnte seinen Satz nicht zu
Ende reden, denn Libby stürzte auf ihn zu und umarmte ihn herz-
lich und ungehemmt.

Für einen Moment fand Libby ihren eigenen Mut etwas pein-

lich, aber Tony legte seine Arme sofort um ihre Hüften. Er drückte
ihren Körper an sich und rahmte ihr Gesicht mit seinen Händen
ein. Er gab ihr einen hungrigen leidenschaftlichen Kuss. Raue
Finger fuhren ihren Nacken hinunter. Seine Hände öffneten sich
und strichen weiter über ihren Rücken. Die Hitze seiner Haut bran-
nte sich ihre Wirbelsäule herunter, durch ihr dünnes T-Shirt
hindurch. Als sie seine Daumenspitzen an den Unterseiten ihrer

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Brüste spürte, zog sie hörbar den Atem ein. Tony stöhnte, während
er sie küsste; seine Zunge erforschte ihren Mund hemmungslos. Er
umfasste ihre Taille und hob sie lässig auf einen Barhocker. In-
stinktiv öffnete Libby ihre Knie, als Aufforderung für ihn, näher zu
kommen. Er rückte an sie heran, seine Hände glitten über den
Saum ihrer Shorts und massierten die Haut ihrer entblößten Schen-
kel. Libby schlug ein Bein um seinen Körper und Tony rieb seine
Hüften gegen sie.

Libby spürte, wie sich in ihrer Bauchgegend Wärme ausbreit-

ete. Sie konnte Tonys sexuelle Erregung eindeutig spüren, selbst
durch ihre Kleidung hindurch. Berauscht von der Macht, die sie
über ihn hatte, kratzte sie mit ihren Fingernägeln leicht an seinem
Rücken hinunter. Als sie den Hosenbund seiner Jeans erreicht
hatte, drängte sie ihn, sich fester und enger an sie zu drücken. Sie
fuhr unter sein T-Shirt und konnte nun seine traumhaft harten
Muskeln fühlen. Sie erforschte ihn mit ihren Handflächen, während
sie mit offenem Mund eine Spur heißer Küsse seinen Nacken hin-
abwandern ließ, bis sie schließlich an seinem Schlüsselbein
knabberte.

»Ah, Libby!«, krächzte Tony. Seine Hand war in ihrem Haar

vergraben; den Haargummi hatte er schon vor einiger Zeit gelöst
und weggeworfen. Seine andere Hand hatte er um ihr Knie gelegt
und hielt sie dabei fest an sich gedrückt. Libby hatte nicht gewusst,
wie erotisch es sein konnte, in ihrer Kniekehle berührt zu werden.
»Wir müssen aufhören«, brachte er zwischen seinen keuchenden
Atemzügen hervor.

»Auf gar keinen Fall.« Libby knabberte an der Haut in seinem

Nacken und hob ihr Gesicht, um seine Lippen noch einmal zu
schmecken.

»Stopp.« Tony löste seine Hände mühsam von ihrer wunder-

voll weichen Haut. Er griff nach der Theke hinter ihr und schloss
sie mit seinen Armen ein, wobei er sie jedoch nicht länger berührte.
»Richtig, nur Freunde.« Libby vermied es, ihm in die Augen zu
sehen.

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»Nein, Liebling.« Tonys Stimme war heiser und zärtlich,

während er immer noch schwer atmete. »Ich hatte nur nicht damit
gerechnet, dass das passieren würde.« Er lachte leise in sich hinein.
»Du hast eine Begabung, mir einen Strich durch die Rechnung zu
machen, weißt du das?« Libby schaute ihn verwirrt an. »Hinter mir
ist eine riesige Fensterwand. Und ich war kurz davor, dich einfach
direkt hier auf dem Hocker zu nehmen«, flüsterte Tony in ihre
Halswölbung, während er sie dort wiederholt küsste.

»Gut, dann lass uns nach hinten gehen.«
»Das hört sich sehr verlockend an, meine Süße, aber so sollte

das nicht passieren. Hart und schnell zwischen den Öfen deiner
Mutter? Das bist nicht du.«

Libby dachte, dass sie das durchaus sein könnte.
»Wir zwei kommunizieren erfahrungsgemäß nicht sehr gut

miteinander. Wir sollten zuerst reden.«

Oh. Jetzt wurde ihr alles ein wenig klarer. Sie bereute für einen

Moment, dass sie ihm erlaubt hatte zu glauben, dass Parker und sie
eine Freundschaft mit Mehrwert gehabt hatten. Er wollte sicherge-
hen, dass sie keine weitergehenden Erwartungen hatte. Das war
nur fair, dachte sie, denn er lebte über tausend Meilen von ihr ent-
fernt. Fairness konnte ihren Schmerz aber auch nicht lindern. »Gut.
Rede.«

Tony stieß sich von der Theke ab und verlagerte sein Gewicht

zurück nach hinten. Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht
und durch sein Haar. Libby liebte diese Bewegung. »Ich brauche
nur einen Moment, um mein Gehirn wieder auf ›neutral‹ zu schal-
ten. Ich möchte nicht, dass du mich falsch verstehst – Kommunika-
tionsprobleme, wie du weißt.« Er hatte ein Lächeln auf den Lippen.
»Erzähl mir irgendwas, Libby. Ich brauche Ablenkung.«

»Gut.« Libby rutschte vom Hocker und brachte ihre Kleidung

wieder in Ordnung. »Also, mein Zimmer in Stuarts Haus hat die
Größe einer Briefmarke. Er sagt, dass er mir sein Büro gibt, aber er
ist bisher noch nicht dazu gekommen. Da ist gerade mal Platz für
mein Bett.«

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»Libby!« Seine Augen wurden vor Begierde dunkel, aber er

war in der Lage, diesen Ausdruck mit einem Lachen auszugleichen.
»Bitte nicht über Betten reden.«

»Oh.« Ihre Wangen röteten sich. Sie beschäftigte sich damit,

die Schaukästen mit frischen Muffins zu füllen. »Mom und Stuart
haben ziemlich gute Neuigkeiten. Sie schicken mich nach Rom.«

»Was? Du gehst nach Italien? Über den Sommer, als Urlaub?«
»Nein, als Teil meiner Ausbildung. Sie kommen dafür auf, dass

ich ein Jahr ins Ausland gehen kann. Ich denke mal, dass sich Stu-
art schlecht fühlt, weil er mich ausschließt und mich aus meiner
vertrauten Umgebung reißt …« Die ausholende Bewegung, die sie
mit einem Arm machte, zeigte an, dass er wohl viele Gründe hatte,
ihr dies aber egal war. »Deshalb gehe ich nach Rom.«

»Für ein Jahr? Du verlässt mich für – ein Jahr.« Tony war

niedergeschmettert. Vor einem Moment hatte er ihr noch sein Herz
ausschütten wollen. Ihr sozusagen seine Heiratsabsichten mitteilen.
Und sie verließ ihn. Er war für sie nicht mehr als Parker gewesen
war. Er hätte nie gedacht, dass er Parker jemals bemitleiden würde,
aber jetzt war es soweit. Sie hatte ihn beiseitegeschoben und am
Ende des Sommers würde sie das Gleiche mit Tony machen … wenn
sie das Land verlassen würde.

Sie schien bestärkt, weil er nicht antwortete, deshalb redete sie

weiter und beendete dabei ihre morgendliche Routine. »Ich habe
ihm gesagt, dass es nicht nötig ist, aber er war entschlossen. Ich
möchte wirklich gerne gehen, deshalb gab ich ziemlich schnell
nach. Ungefähr eine Stunde von der Uni entfernt ist eine Koch-
schule mit einem großartigen Programm für Konditoren und ich
könnte von den Besten lernen wie man Biscotti, Budino und Tiram-
isu macht, und zur gleichen Zeit meinen Abschluss in Betrieb-
swirtschaft machen. Das ist etwas, was ich wirklich gebraucht habe.
Weißt du, du hast deine Schreiberei, Mel hat ihre Designs und
Parker redet die ganze Zeit über Unis, an denen er sein Jurastudi-
um weiterführen kann …«

»Ich möchte nicht über Parker reden!« Tony war wütend.

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»Okay …« Libby dehnte das Wort nachdenklich in die Länge.

Das war lächerlich. Sie plapperte hier herum und wartete darauf,
dass er den Mut aufbrachte, sie zu fragen, ob sie Sex ohne weitere
Verpflichtungen haben wollte? Auf gar keinen Fall. »Hör mir zu,
Tony. Zwischen uns beiden ist alles okay. Das hier ist wahrschein-
lich sowieso keine gute Idee. Wir sind nicht solche Freunde, oder?
Das ist nur in der Hitze des Gefechts passiert. Vergiss es einfach.«

»Natürlich. Du hast recht, Lib. Ich muss jetzt los. Wir reden

morgen, ja?« Tony ging schnell zum Ausgang, und als er bei seinem
Auto angekommen war, zog er sein Handy heraus und sagte sein
Bewerbungsgespräch beim Tallahassee News Journal ab.

Tony war bereits zwanzig Minuten weg, als Libby bemerkte,

dass er ihr gar nicht seine andere Neuigkeit erzählt hatte.

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12. Kapitel

»Oh mein Gott! Ich kann nicht glauben, dass du jetzt wirklich geh-
st!«, schwärmte Mel am Flughafen. Genauso überschwänglich hatte
sie im Auto, auf dem Weg zum Flughafen und am Telefon geredet,
als Libby ihr klarzumachen versucht hatte, dass es töricht sei, nur
nach Hause zu kommen, um sie zum Flughafen zu bringen.

»Wir können immer miteinander reden, Mel – das Wunder

moderner Technologie.«

»Es wird nicht das Gleiche sein!«
»Okay, Schatz – drück sie noch mal fest und lass sie durch die

Sicherheitskontrolle gehen. Wir wollen doch nicht, dass sie ihren
Flug verpasst.« John versuchte, Mel zu beruhigen. Wie albern! Mel
lebte für Situationen wie diese. »Guten Flug, Libster; ruf uns an,
wenn du dich eingewöhnt hast.«

»Oh! Das habe ich fast vergessen! Tony wünscht dir auch eine

gute Reise.«

Jetzt wurde sie hellhörig. Libby hatte Tony seit dem Vorfall in

der Bäckerei nicht mehr gesehen.

Angeblich hatte er am gleichen Nachmittag einen Anruf von

seinem Verleger erhalten, dass er sich mit ein paar Leuten wegen
der Isaac-Raines-Bücher treffen sollte, und war schon am Abend
abgereist. Sie telefonierten miteinander und schickten sich E-Mails,
aber ihr Verhältnis zueinander fühlte sich irgendwie merkwürdig
an. Sie waren beide entschlossen, den Kuss in der Bäckerei nicht
mehr zu erwähnen; Libby schätzte, dass es dennoch eine Weile

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dauern würde, bis alles wieder beim Alten war. Sie war ohnehin
froh – sie konnte akzeptieren, dass für Tony Gelegenheitssex okay
war. Das war in Ordnung. Aber ganz bestimmt würde sie nicht sein
warmer und bereitwilliger Körper sein. Die ganze Woche, oder ei-
gentlich den ganzen Sommer nach dem Kuss in der Bäckerei, hatte
Libbys Verstand mit ihren Hormonen gekämpft. Sie hatte Tony
damals mehr gewollt als ihren nächsten Atemzug; aber sie musste
sich nur Mels Abschlussparty ins Gedächtnis rufen, als er ihr
erklärt hatte, dass er keinen Einfluss darauf hatte, wie sein Körper
reagierte. Er hatte ihr klar gemacht, dass seine Reaktionen ihr ge-
genüber rein körperlich waren. Als sie begriffen hatte, dass seine
Reaktion dieselbe war wie auf ein Jucken, bei dem man sich kratzen
musste, hatte sie einen Schmerz verspürt, der monatelang anhielt.
Sie wollte das nicht noch einmal durchmachen.

»Richte ihm bitte meinen Dank aus … Ich werde ihn anrufen …

nachdem ich dich angerufen habe.«

Mel prustete. »Ja, natürlich. Gleich nachdem du mit mir gere-

det hast. Lib, tu dir selbst einen Gefallen. Such dir einen heißen it-
alienischen Typen und mach dich von meinem idiotischen Bruder
frei. Gönne dir ein heißes und erotisches europäisches Abenteuer.«

»Ich gehe nicht nach Europa, um eine Affäre zu haben!«
»Das solltest du aber. Ich weiß, dass deine akademische Ausb-

ildung viel Zeit in Anspruch nimmt, aber ich bin mir sicher, dass du
im Verlauf des nächsten Jahres ein paar freie Nächte finden wirst.
Überleg dir mal – die haben alle einen Akzent!«

»Okay, ich denke darüber nach.« Libby hatte nicht vor, über

etwas derartiges nachzudenken, aber das war die beste Möglichkeit,
mit ihrer Freundin umzugehen, wenn sie unter Zeitdruck stand.

Nachdem Libby und Mel sich fest umarmt hatten, machte sie

sich zusammen mit dem Rest der Menschenmenge zu den
Metalldetektoren auf.

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Ich freue mich, dass es dir gut geht. Du solltest mir
ein paar italienische Schokoladensplitter-Kekse
schicken!
Nur noch 5 Wochen, bis ›Thrills‹ veröffentlicht wird.
Ich bin völlig aus dem Häuschen. Du kannst das
Buch in Italien nicht kaufen, aber ich schicke dir
eine Ausgabe.
-t-

Ich habe die englische Ausgabe letzten Monat bei
Amazon vorbestellt! Du könntest mir aber trotzdem
eine Ausgabe mit Autogramm schicken. Wenn ich alt
bin, kann ich dann die Erstausgabe eines Marchettis
mit Signatur für 8 Millionen Dollar verkaufen.
Rom ist herrlich. Als ich hier angekommen bin, hat
die Uni erst einmal viele Rundfahrten organisiert.
Jetzt lerne ich aber nette Leute kennen, dir mir auch
die örtlichen Sehenswürdigkeiten zeigen.
-L-

Liebe Libby,
ich weiß nie, was ich in E-Mails schreiben soll! Ich
vermisse Dich, Lib! John vermisst dich auch. Hast
du Fortschritte in Bezug auf die Jagd nach italienis-
chen Männern gemacht?
Alles Liebe, Mel

Liebe Mel,
Bis jetzt hatte ich noch keinen Erfolg.
Alles Liebe, Libby

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Als Tonys Päckchen bei Libby ankam, riss sie es noch im Fahrstuhl
ihres Wohnhauses auf. Sie konnte einfach nicht warten. Es beinhal-
tete zwei Ausgaben von ›Thrills‹, »von dem vielversprechenden
Autor Anthony Marchetti«.
Als sie das erste Buch öffnete, sah sie
dort Tonys vertraute, krakelige Handschrift auf der inneren
Umschlagseite.

Danke, dass du nie an mir gezweifelt hast!
Alles Liebe, Anthony Marchetti

Ich habe gerade dein Päckchen erhalten! Das Buch
ist einfach perfekt! Natürlich habe ich nie daran gez-
weifelt, aber es ist wirklich wahr. Ich habe meinen
Freunden eines deiner Bücher ausgeliehen (nicht
das mit deiner Unterschrift; das hebe ich auf, um
davon meine Rente bezahlen zu können). Ein Mäd-
chen hat sich beschwert, dass sie danach einen Mon-
at lang nicht schlafen konnte. Ein großes Lob.
-l-
P.S.: Ist es komisch, dass ich dir sagen möchte, dass
ich stolz auf dich bin?

Sie flog über Weihnachten nicht nach Hause, sondern fuhr mit ein-
er Gruppe von der Universität zum Skifahren. Sie vermisste ihre
Familie und ihre Freunde, aber sie liebte Rom und ihre neuen Fre-
unde. Ein Gefühl in ihrem tiefsten Inneren sagte ihr, dass sie diese
Zeit brauchte. Sie brauchte das europäische Abenteuer. Selbst wenn
es nicht heiß und erotisch war.

Liebe Libby,

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wie schön, dass es dir beim Skifahren so gut gefallen
hat. Vielen Dank für den Ballen italienisches Leder!
Ich kann dir nicht sagen, wie begeistert mein Liefer-
ant über italienische Ledergürtel und Geldbörsen ist.
Fröhliche Weihnachten, Mel

Liebe Mel,
hier ist es einfach nur Leder! Ich freue mich, dass es
dir gefallen hat.
Alles Liebe, Libby

Ich habe heute den Vertrag für ›Isaac Raines‹ unter-
schrieben und sie haben eine zweite Auflage für
›Thrills‹ bestellt.
Ich überlege mir, umzuziehen. Was hältst du davon,
wenn ich zurück nach Taylorsville ziehen würde?
-t-

Liebe Libby,
ich freu mich schon, wenn du endlich nach Hause
kommst. Wie kommst du mit der Affäre voran – ir-
gendwelche Kandidaten?
Ich glaube nicht, dass es was Ernstes ist, aber Tony
hat zum Osterschmaus ein Mädchen mit nach Hause
gebracht. Nur damit du Bescheid weißt.
Alles Liebe, Mel

Libby weinte nicht. Sie wollte, aber ihr Bedürfnis zu schluchzen war
nicht so stark, wie sie gedacht hatte. Deshalb heulte sie nicht, son-
dern ging zu einer Party. Sie rief sich Mels Ratschläge in Sachen
Mode ins Gedächtnis und kleidete sich mit einer gewissen Absicht.

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Ihr rotes Kleid schmiegte sich eng an ihren Oberkörper an, bevor es
an der Taille weiter wurde. Sie drehte sich vor dem Spiegel und be-
wunderte, wie das Material sich mit ihrem Körper bewegte und sich
verführerisch anhob, als sie mit den Hüften schwang. Schwarze
Riemchenschuhe mit Absätzen und ein komplettes Make-up ver-
vollständigten ihr Aussehen.

Lena, eine italienische Freundin von Libby, die zur gleichen

Kochschule ging, hatte sie zu ihrer Party eingeladen. Ursprünglich
hatte sie abgelehnt, weil sie dachte, sie würde sich als einzige
›Touristin‹ fehl am Platze fühlen, aber mit ihren Schulbüchern
zuhause zu bleiben war auch keine gute Idee. Im Taxi, auf dem Weg
zum Nachtclub, überlegte sie immer noch hin und her. Teilweise
hatte sie Angst davor, dass der Schock über Mels Neuigkeiten ver-
fliegen und sich stattdessen Depression breitmachen würde. Von
allen Möglichkeiten, wie dieser Abend enden könnte, war ein trän-
enreicher Nervenzusammenbruch in aller Öffentlichkeit das
Szenario, dass Libby am wenigsten wollte.

Nach fast einem Jahr in Italien konnte sie eine Mahlzeit auf

Italienisch bestellen, einkaufen gehen und nach der Toilette fragen.
Das war nicht genug, um einen Abend auf einer Party mit Ein-
heimischen zu überleben. Es war möglich, dass die meisten dieser
tanzenden, trinkenden und lachenden Menschen besser Englisch
sprachen als Libby, aber sie hasste es, die ignorante Amerikanerin
zu sein.

Lena stellte sie allen vor, aber bald fand sie sich an der Bar

sitzend wieder und fragte sich, ob sie sich auf höfliche Weise ein
Taxi rufen sollte. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass der
Gedanke an eine Affäre schöner war als ihre reale Umsetzung.

»Ballare?«
Libby drehte sich um und sah einen großen, dunklen und

gutaussehenden Mann, der Mels Anforderungen als ›Kandidat‹ auf
jeden Fall entsprechen würde. Er war wahrscheinlich zu alt, um
Student zu sein. Andererseits gab es an der Kochschule Schüler al-
ler Altersstufen, also konnte sie sich nicht sicher sein. Seine

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Hemdsärmel waren bis über die Ellbogen aufgerollt und am Kragen
war, aus Rücksicht auf die Hitze im Raum, ein Knopf geöffnet. Im
so entstehenden Ausschnitt war seine dichte Brustbehaarung zu se-
hen. Damit wurde eine Jahrzehnte währende Diskussion zwischen
Libby und Mel entschieden: Brusthaar oder kein Brusthaar.
Brusthaar war ohne Frage sexy.

Er legte seinen Kopf schief, während er auf eine Antwort war-

tete. »Amerikanisch?«

»Si, ja, tut mir leid.«
Er schien das lustig zu finden. »Es tut dir leid, dass du Amerik-

anerin bist?«

»Nein. Es tut mir leid, dass ich nicht verstanden habe, was du

gesagt hast. Ich lerne noch.«

»Ich habe dich gefragt, ob du mit mir tanzen möchtest.«
»Oh! Natürlich, … ja. Danke schön.«
Das fand er wieder lustig. Sie standen beide auf und gingen auf

die anderen Tänzer zu. Dieser Mann war so groß, dass er sie selbst
in ihren Tanzschuhen überragte. Obwohl er ein relativ legeres
Hemd anhatte, konnte sie dennoch erkennen, dass er muskulös
war. Seine Unterarme, die unter den aufgerollten Hemdsärmeln zu
sehen waren, waren stark und solide und seine Schulter fühlte sich
unter ihren Händen hart an. Er war ein wunderbarer Tänzer. Das
war gut für Libby, denn sie war keine gute Tänzerin – und die Ver-
bindung zweier schlechter Tänzer kann katastrophale Folgen
haben. Sie tanzten zwei, drei Lieder lang, und er hielt sie so eng an
sich gezogen, dass sie die ganze Zeit sein Rasierwasser riechen
konnte.

»Möchtest du einen Spaziergang mit mir machen? Mia

Bellezza?« Er musste sich herunterbeugen, um direkt in ihr Ohr zu
sprechen, denn die Musik war auf der Tanzfläche viel lauter. Heißer
Atem kitzelte ihren Nacken.

Libby versteifte sich. Er konnte offensichtlich das Unbehagen

in ihrem Gesichtsausdruck erkennen, denn er fügte hinzu: »Hier
drinnen ist es zu warm und wir können nicht reden. Die Straße ist

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hell beleuchtet und belebt. Ich werde nichts tun, wodurch du dich
unbehaglich fühlen könntest.«

Der Märchenprinz war also auch höflich, dachte sie und er-

laubte ihm, sie nach draußen zu führen.

»Wie hast du mich genannt?«, fragte Libby, als die Ruhe der

Straße eine Unterhaltung zuließ.

»Mia Bellezza.«
Libby dachte für einen Moment nach. »Meine Schöne?«
»Das hört sich im Italienischen besser an, aber ja. Und du bist

sehr schön.« Er lachte sie jetzt breit an und bedeckte die Finger, die
sie unter seinen Arm geschoben hatte, mit seiner freien Hand.
Nicht weit entfernt vom Eingang des Nachtlokals setzten sie sich
auf eine Bank unter einer Straßenlaterne.

»Bist du demnach die böse Hexe des Westens?« Libby lachte

bei dem Gedanken, diese maskuline Person mit grüner Gesichts-
farbe zu sehen.

Mit gerunzelter Stirn sagte er: »Scusi?«
»Wie in ›Der Zauberer von Oz‹ – im Film sagt die Hexe: ›Ich

kriege dich, meine Schöne, und deinen kleinen Hund auch!‹«

Alles, was sie sagte, schien dieser Mann lustig zu finden. Er

lachte laut. »Ich kann nicht behaupten, diesen Film jemals gesehen
zu haben.« Er berührte kurz ihr Gesicht und fuhr fort: »Du bringst
mich zum Lachen. Vielleicht sollte ich dich Mia Risata nennen? Ich
würde dich aber lieber bei deinem Namen nennen.«

»Libby – das ist die Abkürzung für Elizabeth.« Als ob er dafür

eine Erklärung brauchte … Warum war sie so nervös?

»Elisabetta.« Er hatte Fältchen um die Augenwinkel, als würde

er immer noch über sie lachen. »Siehst du, alles hört sich auf Itali-
enisch besser an, Betta.«

»Oh.« Er hatte recht; ihr Name war auf Italienisch viel hüb-

scher. »Äh, wie heißt du?«

»Gio. Das ist die Abkürzung für Giovanni.« Er zog sie auf!

Libby lachte und die Anspannung war verflogen.

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Es war sehr spät, als Gio und Libby sich ein Taxi teilten und er

sie vor ihrem Haus aussteigen ließ. Sie waren so ineinander vertieft
gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatten, wie spät es geworden
war. Gio war kein Student. Er war tatsächlich ein Lehrer an der
Kochschule – jedoch nicht für Konditoren, worüber Libby froh war,
denn das hätte peinlich werden können. Er war dreißig Jahre alt.
Der Altersunterschied beunruhigte sie in keinster Weise. Außer Un-
terricht im Kochen zu geben, war Gio ebenfalls der Besitzer eines
Bistros. Dadurch kamen sie auf das Bäckerei-Café ihrer Mutter zu
sprechen und Libbys eigene Absichten.

Sie redeten über ihr Programm an der Universität und er war

beeindruckt, dass sie zwei verschiedene Studiengänge bewältigen
konnte. Sie sprachen auch darüber, welche Sehenswürdigkeiten sie
in Rom bereits besucht hatte. Er lachte wieder, als sie bedauerte,
dass sie noch keine Rollertour gemacht hatte.

»Wie Audrey Hepburn!«, bemerkte er.
»Ich bin mir nicht sicher … ist sie Roller gefahren?«
Mehr Gelächter folgte. Gio lachte viel. Libby war sich noch

nicht sicher, ob sie beleidigt sein sollte oder nicht.

»In ›Ein Herz und eine Krone‹ … der Film ist sehr bekannt. Du

musst ihn dir ansehen.«

So verbrachten sie den Abend: Sie lernten einander kennen.

Libby erlaubte sich nur einen ganz kurzen Vergleich und stellte fest,
dass ihr diese Erfahrung mit Tony fehlte. Denn die beiden würden
nie das Bedürfnis haben, die ganze Nacht wach zu bleiben, um das
Leben und den Charakter des anderen zu entdecken. Als das Taxi
vor ihrem Haus anhielt, winkte Gio leger ab, als sie versuchte zu
zahlen, und wies den Taxifahrer an zu warten, bis sie im Gebäude
war.

Am nächsten Tag schlief Libby aus; schließlich war sie erst

kurz vor Sonnenaufgang ins Bett gegangen. Kurz vor Mittag klin-
gelte es an Libbys Tür. »Betta, kann ich hochkommen?« Gios volle
Stimme tönte durch die Sprechanlage.

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Libby ließ ihren Blick kurz durch das kleine Zimmer schweifen

und bemerkte die Unordnung. Ein Haufen mit Kleidungsstücken,
die sie während ihrer Vorbereitungen am Vorabend verworfen
hatte, lag noch auf dem Boden vor ihrem Schrank. Ihr Bett war
nicht gemacht, denn sie war ja gerade erst aufgestanden. Das wird
keinen guten Eindruck auf Gio machen, schimpfte sie mit sich
selbst.

»Ich komme runter«, antwortete sie. Libby zog sich in Windes-

eile frische Kleidung an und nahm ihr Haar zu einem Pfer-
deschwanz zusammen. Da sie keine Zeit für Make-up hatte,
entschied sie sich für Lipgloss, den sie im Fahrstuhl auftrug.
Draußen stand Gio gegen einen Roller gelehnt, der am Straßenrand
geparkt war.

»Dein Gefährt.« Gio trat auf sie zu und zeigte nach hinten auf

die Vespa.

»Du hast einen Roller!«
»Er ist eigentlich gemietet, aber das Resultat ist das gleiche.

Fahr eine Runde mit mir.«

Das tat sie dann auch. Sie fuhren zu allen bedeutenden Se-

henswürdigkeiten. Die meisten davon hatte sie bereits gesehen,
aber mit Gio nahm sie alles ganz anders wahr. Ihre Tour endete am
Trevi-Brunnen. Gio brachte Libby nahe an die berühmte Se-
henswürdigkeit heran, denn er hatte aufgrund seiner Größe keine
Probleme, sich durch die Touristenmenge hindurchzuschieben.

»Angeblich kommt man auf jeden Fall eines Tages nach Rom

zurück, wenn man eine Münze in den Brunnen wirft.«

Gio griff in seine Tasche und bot ihr eine Handvoll Münzen an.

Libby kannte die Legende und hatte in der Tat einen Euro in den
Brunnen geworfen, als sie während ihrer ersten Woche in Italien
hier gewesen war. Sie wollte aber den Zauber des Nachmittags
nicht mit ihrem Geständnis zerstören, deshalb nahm sie eine Mün-
ze aus Gios Hand, warf sie hoch in die Luft und sah zu, wie sie im
Wasser verschwand. Ohne seinen Blick von Libbys Gesicht
abzuwenden, streckte Gio seinen Arm aus und drehte das

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Handgelenk. Die übrigen Münzen fielen in den Brunnen. »Damit
du ganz oft zurückkommst, Mia Betta«, sagte er, als sie fragend ihre
Augenbrauen hochzog.

Liebe Mel,
Ich habe jemanden getroffen! Er heißt Gio und er ist
unglaublich. Letzte Woche hat er mich zu einer
Rollertour eingeladen und vor einigen Tagen hat er
mir Abendessen gekocht. Nächstes Wochenende
möchte er mir die Amalfi-Küste zeigen und hat ein
Picknick am Strand von Positano geplant.
Alles Liebe, Libby
P.S.: Du wärst mit seinem Akzent einverstanden.

Liebe Libby,
Einzelheiten!
Alles Liebe, Mel

Ich hoffe, alles ist in Ordnung – du hast eine ganze
Weile lang nicht geschrieben. Du bist wahrscheinlich
sehr beschäftigt. Ich muss zugeben, dass die Zeit
schneller vergangen ist, als ich gedacht habe. Ich
freu mich schon sehr, dich diesen Sommer zu sehen.
-t-

Tut mir leid. Ich hatte viel zu tun. Ich werde diesen
Sommer doch nicht nach Hause kommen. Die Koch-
schule hat mich in ein Diplomprogramm aufgenom-
men. Ich werde diesen Herbst meinen Abschluss an
der American University of Rome machen und dann
nehme ich Vollzeit an einem achtzehnwöchigen Kurs

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an der Kochschule teil. Ich konnte kaum glauben,
dass meine Mutter zugestimmt hat, aber es ist eine
unglaubliche Gelegenheit.
Ich freue mich schon auf das erste Raines-Buch. Ich
werde allen meinen Freuden sagen, sie sollen das
Buch vorbestellen. Dein Buch wird in Europa
bestimmt schneller veröffentlicht, als du denkst!
-l-

Das ist super, Lib. Ich freue mich für dich.
-t-

Liebe Libby,
wir heiraten! Ich habe so getan, als wäre ich überras-
cht gewesen, als John mich gefragt hat, aber ich
habe den Ring bereits vor Wochen gefunden. Wir
planen die Hochzeit für Juni – du bist bis dahin da-
heim, oder? Wir brauchen genug Zeit für die An-
proben deines Trauzeuginnen-Kleides.
Alles Liebe, die zukünftige Mrs Jonathan Evans

Liebe Mel,
ich gratuliere! Natürlich werde ich bis dahin daheim
sein. Ich bin voraussichtlich Ende April wieder
zurück,

also

genügend

Zeit,

um

eine

Junggesellinnenparty für dich zu organisieren. Ich
freue mich so für dich. Für John auch.
Alles Liebe, Libby

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Kannst du das mit Mel glauben? Ich denke, John ist
mir inzwischen ein wenig ans Herz gewachsen. Sie
ist aber so jung und jetzt heiratet sie schon. Wow.
Ich habe beim Examiner aufgehört. Ich miete ein
Büro in Taylorsville und eine Wohnung darüber. Ich
habe mich dazu entschlossen, meine eigene Zeitung
herauszugeben. Was meinst du?
-t-

Das ist toll, Tony! Ich möchte, dass du mir jede Aus-
gabe schickst!
-l-

Libby entschloss sich, nicht zu erwähnen, dass Mel erwachsen war.
Es war höchstwahrscheinlich an der Zeit, diesen alten Streit zu
begraben.

Ich kann kaum glauben, dass mein Studium zu Ende
ist. Die letzten paar Monate waren sehr stressig, aber
es hat sich wirklich gelohnt. Warum hast du mir
nicht gesagt, dass es so unglaublich bestärkend ist,
einen Universitätsabschluss zu haben?
Es war schade, dass Mel und John nicht kommen
konnten. Meine Mutter und Stuart sind aber in Rom
auf ihrer zweiten Hochzeitsreise und es war schön,
die beiden zu sehen. Ich weiß, dass du viel zu tun
hast, aber ich hätte mich gefreut, wenn du gekom-
men wärst.
-l-

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13. Kapitel

Bestärkend? Tony konnte sich nicht daran erinnern, dass seine Ge-
fühle während der Abschlussfeier so tiefgreifend gewesen waren.
Das war aber vielleicht eine Mädchensache. Er hätte wahrscheinlich
kommen können, aber er glaubte nicht, dass er in der Lage gewesen
wäre, Libbys italienischem Freund gegenüberzutreten. Außerdem
würde sie in ein paar Monaten zu Hause sein. Mel schien sicher zu
sein, dass Libby es mit diesem Typen ernst meinte. Libby hatte aber
immer noch vor, nach Hause zu kommen, und das war für Tony so
gut wie grünes Licht. Er wusste, dass er mit ihren Neuigkeiten vor
ihrer Abreise nicht sehr gut umgegangen war. Jetzt hatte er aber
Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und Libby hatte recht. Sie
hatte diese Zeit in Italien gebraucht; und nachdem er so lange ge-
wartet hatte, kam es auf zwanzig weitere Monate auch nicht mehr
an. Sie hinter sich zu lassen hatte nicht funktioniert. Libby war so
in sein Gehirn eingebrannt, dass Tony es letztendlich aufgegeben
hatte, mit anderen Mädchen auszugehen.

Als Libby nach Italien abgereist war, war Mel sehr deutlich ge-

worden in ihren Beschimpfungen ihm gegenüber. Ihrer Meinung
nach verdiente Libby mehr als nur ein paar E-Mails und Telefonge-
spräche. Außerdem hätte er ihr auch Blumen vorenthalten und sie
um abendliche Verabredungen und ›all die Dinge, die richtige
Pärchen taten‹ beraubt. Sie hatte recht: Libby verdiente diese
Dinge. Wenn Libby nach Hause kam, würde Tony bereit sein. Er
hatte einen neuen Beruf und jetzt, da die Zeitung sich selbst trug,

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war er auf Häusersuche. Er war ein Schriftsteller mit mehreren Ver-
öffentlichungen. Er war zwar kein Rechtsanwalt oder italienischer
Küchenchef, aber Libby schien dennoch beeindruckt zu sein. Er
würde sie zu richtigen Verabredungen einladen und ihr Blumen
schenken und sie würde sich in ihn verlieben. Das war offensicht-
lich Tonys einzige Möglichkeit, denn er war sich jetzt so sicher wie
nie zuvor, dass Libby die Richtige für ihn war.

An Libbys letztem freien Tag, bevor ihr Programm an der

Kochschule anfing, trafen sich Gio und Libby zu einem späten
Abendessen in seinem Bistro. In den letzten Monaten hatten sie
fast ihre gesamte Freizeit miteinander verbracht. Am Anfang war
Libby beeindruckt gewesen, weil Gio sie in Bezug auf eine körper-
liche Beziehung nicht unter Druck gesetzt hatte – sie hatten sich ein
paarmal leidenschaftlich geküsst, aber das war alles gewesen. Jetzt
verlor sie jedoch langsam die Geduld.

»Vielen Dank, dass du diese Woche so oft mit mir gefeiert

hast.« Sie teilten sich eine Sitzbank und Libby rückte näher an ihn
heran.

»Prego, mia Betta.« Gio küsste sie. Die Leidenschaft, die alles

andere in Vergessenheit geraten ließ, und die sie in Tonys Armen
gespürt hatte, fehlte. Sie fühlte jedoch Wärme und ein ruhiges, an-
genehmes Feuer.

»Vielleicht sollten wir noch etwas weiterfeiern?« Libby zuckte

innerlich vor ihren eigenen Worten zusammen. Sie hörte sich so
kitschig an!

»Ahh, Betta. Ich glaube, dass wäre nicht ratsam.« Gio nahm

sie in seinen Arm.

»Küsse ich nicht gut?« Libby war schockiert, dass sie jetzt et-

was fragte, was sie schon seit Jahren quälte. Sie war jedoch aus-
nahmsweise froh, als Gio zu lachen anfing.

»Oh, mia Risata!« Gio bedeckte ihren Mund mit einem lang-

samen, bedächtigen Kuss. »Ich glaube, du bist sehr begabt.«

»Dann rieche ich vielleicht nicht gut?« Libby kaschierte ihre

Verlegenheit mit einem Witz.

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»Ich glaube, jemand anders hat dein Herz gestohlen, habe ich

recht?«

»Nein.« Libby wollte mit Gio zusammen sein, sie war sich ganz

sicher.

»Du wirst in einigen Monaten abreisen. Ich möchte nicht mit

dir schlafen und wissen, dass du weggehst.«

»Oh.« Das leuchtete ein. Sie würde abreisen. Sie liebte Rom,

aber sie wusste, dass sie dort nicht für immer leben wollte. Sie ver-
misste ihre Freunde und ihre Familie sehr.

»Ich war noch nie in Amerika. Vielleicht komme ich dich ja be-

suchen, wenn du deinen Kurs beendet hast und wieder zu Hause
bist? Du kannst eine Rollertour mit mir machen! Und dann werden
wir weitersehen, Betta.«

Libby nickte.

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14. Kapitel

Hatte Amerika einen bestimmten Geruch? Libby war sich sicher,
dass es nach Zuhause roch, als sie aus dem Flugzeug ins Freie trat.
Mel und John warteten auf sie und sie rannte ihrer besten Freundin
entgegen, bis sie sich jauchzend und hüpfend umarmten.

»Sag mir, dass du Geschenke mitgebracht hast!«, witzelte Mel,

als sie sich bei Libby unterhakte und John zurückließ, damit er sich
um ihr Gepäck kümmern konnte.

Die drei fuhren zurück nach Taylorsville und die Unterhaltung

wechselte so oft zwischen Italien und den Hochzeitsplänen hin und
her, dass John sich klugerweise nicht beteiligte.

Es fühlte sich wunderbar an, wieder daheim zu sein. Libby

freute sich sogar, ihr Schlafzimmer von der Größe einer Briefmarke
in Stuarts Haus wiederzusehen. Es gelang ihr aber nicht, dies als ihr
neues Zuhause anzusehen. Sie mochte Stuart und sie freute sich,
dass er ihre Mutter so glücklich machte, aber sie selbst gehörte dort
einfach nicht hin. Sie wollte daher nur vorläufig dort wohnen. Sie
hatte einen Plan.

Sie wollte die Küche ihrer Mutter benutzen, um ein Geschäft

für Catering und Sonderanfertigungen aufzuziehen. Erster Auftrag:
die Hochzeitstorte für Mel. Libby plante, sich erst einen Namen zu
machen und etwas Geld zu sparen, um einen gewerblichen Kredit
aufnehmen zu können, mit dem sie dann ihren eigenen Laden er-
öffnen würde. Stuarts Haus musste ausreichen, bis sie zumindest
einen neuen Standort gefunden hatte. Denn sie war sich noch nicht

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ganz sicher, ob Taylorsville groß genug für zwei Bäckereien mit Café
war. Libby hatte sich damit abgefunden, sich an einem anderen Ort
niederzulassen.

An ihrem zweiten Tag zu Hause, nachdem sie ein anfangs et-

was schwerfälliges, dann aber größtenteils unterhaltsames Früh-
stück mit Stuart hinter sich gebracht hatte (ihre Mutter war früh
zur Arbeit gegangen), verließ Libby das Haus, um eine Runde zu
laufen. Sie musste sich demnächst etwas Zeit nehmen und ihre Mit-
gliedschaft im Fitnessclub erneuern, aber in der Zwischenzeit woll-
te sie ihre Kondition nicht verlieren. Libby war gerade aus der Tür
ins Freie getreten und hatte mit ihren Dehnübungen begonnen, als
sie Tony auf sich zukommen sah.

Ihre Beine waren noch viel großartiger als in seiner Erinner-

ung. Er wurde von Nervosität überwältigt und blieb wie an-
gewurzelt auf dem Gehweg stehen.

»Hallo!« Libby lief zu ihm hinüber, um ihn zu umarmen.
Tony, der immer noch wie gelähmt war, schaffte es kaum, ihre

Umarmung zu erwidern, bevor sie sich wieder von ihm losmachte.
»Hallo.« Gute Arbeit, Marchetti!, schimpfte Tony mit sich selbst.
»Hast du eine Minute Zeit?«

»Kannst du mithalten?« Libby grinste ihn spielerisch an.
Er war nicht für einen Dauerlauf angezogen, aber er erinnerte

sich noch sehr genau an seinen letzten schmachvollen Versuch, mit
Libby mitzuhalten; außerdem hatte er in der Zwischenzeit trainiert,
deshalb stimmte er zu. Ihr Tempo war langsam und konstant,
wofür Tony dankbar war, denn er trug schwere Cargo-Shorts.

»Du

bist

also

immer

noch

dabei,

dich

wieder

einzugewöhnen?«

»Ja, schon die ganzen 24 Stunden, die ich jetzt daheim bin.«
Tony fuhr innerlich etwas zusammen. Er hatte vorgehabt, ihr

mehr Zeit zu geben. Es war höchstwahrscheinlich nicht einfach für
sie, sich wieder einzuleben. Dann musste sie noch versuchen, über
ihren italienischen Freund hinwegzukommen. Tony hatte sich ein-
fach nicht zurückhalten können; sein Bedürfnis sie zu sehen, hatte

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die Oberhand gewonnen. Also gut, sie nur zu sehen, würde nicht all
seine Bedürfnisse befriedigen, aber fürs Erste musste er sich damit
zufriedengeben.

»Gut. Ich weiß, dass du wahrscheinlich beschäftigt damit bist

… äh … dich wieder einzuleben, aber ich wollte dich fragen, ob du
Lust hast, am Samstag mit mir auf das Weinfest zu gehen?«

»Das Weinfest? Du kommst mir nicht gerade wie ein Weinken-

ner vor.«

»Na ja, bin ich auch nicht.« Mist, das ging alles sehr schnell

den Bach hinunter. Mel hatte gesagt, dass Libby dieser Tage sehr
gerne Wein trank. »Ich muss einen Artikel für die Zeitung
schreiben und Mel sagt, dass du dich mit Wein gut auskennst,
deshalb …«

»Ja, okay. Hört sich gut an.« Libby war jetzt ein klein wenig

außer Atem. Tony fühlte, wie eine Welle des Stolzes über ihn kam,
denn er musste noch nicht schneller atmen.

»Super. Ich hol dich dann um vier Uhr ab?«
»Können wir uns in deinem Büro treffen? Ich würde es gerne

sehen. Ich wollte sowieso mit dir über eine Werbeanzeige reden.«

»Klar, natürlich. Komm etwas früher, dann können wir alles

erledigen, was auch immer du brauchst.« Tony hätte sie lieber
abgeholt, er konnte sich jedoch anpassen.

Jetzt waren sie bereits mehrere Male um den Häuserblock ger-

annt und Tony verlangsamte zu einem Gehtempo.

»Hast du genug?«, fragte Libby etwas spöttisch, während sie

auf der Stelle lief.

»Nein, aber ich muss los. Ich muss noch zurück nach Hause

und mich umziehen, bevor ich ins Büro gehe.«

Nun hatte Libby ein schlechtes Gewissen. »Das tut mir leid!

Ich habe mir nichts dabei gedacht. Du hättest etwas sagen sollen!«

»Beruhige dich, Lib. Ich bin der Boss. Wenn ich will, kann ich

zu spät kommen … und das wollte ich heute. Bis dann, okay?«

»Okay.«

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Tony drehte sich um und ging zu seinem Auto. Er fuhr davon

und winkte ihr noch einmal durch das offene Fenster zu.

Für Libby ging die Zeit bis Samstag sehr schnell vorbei. Sie hatte
den Anfang der Woche damit verbracht, ihren Geschäftsplan weit-
erzuentwickeln und die Art und Größe der Anzeige auszuarbeiten,
die sie in der Zeitung veröffentlichen wollte. Sie wollte der Sonntag-
szeitung eine Speisekarte beilegen, dachte aber auch, dass eine täg-
liche Anzeige Sinn machte, bis ihr Bekanntheitsgrad gestiegen war.
Tonys Zeitung war inzwischen sehr beliebt und fast die ganze
Ortschaft schien The Taylorsville Daily Press abonniert zu haben.

Es war kurz nach drei Uhr, als Libby das Büro von Tony betrat.
»Du bist früh dran.« Tony streckte seinen Kopf aus einem

hinteren Büroraum. »Ich muss mich noch kurz umziehen.« Er ver-
schwand wieder hinter der Tür und Libby konzentrierte sich darauf,
nicht daran zu denken, wie er gerade seine Kleidung wechselte.

Das vordere Büro war ziemlich klein, aber Libby vermutete,

dass eine Zeitung wohl nicht sehr viel Kundenverkehr hatte, de-
shalb war das sicherlich kein Problem. An einer Wand standen ein-
ige Zeitungsautomaten mit Münzeinwurf und etwas, das aussah wie
eine Maschine zum Drucken von Fotos. Links von ihr stand ein Em-
pfangstisch, dahinter zwei kleinere Schreibtische. An der langen
Seite hing ein Wandbild, das einen geschäftigen Zeitungsraum aus
vergangenen Zeiten darstellte. Es war im Stil eines Comic-Heftes
gezeichnet, mit gewellten Linien, die auf klingelnde Telefone hin-
wiesen, gesichtslosen Reportern in Anzügen die herumeilten, und
einem schreienden rotgesichtigen Mann, der, wie Libby vermutete,
wohl Tony darstellen sollte. Es war sehr nett gemacht. Libby hatte
von Tony genau etwas in dieser Art erwartet.

»Mir gefällt es auch.«

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Libby wirbelte herum und stand Tony gegenüber. Er hatte jetzt

ein grünes Hemd an. Grün war auf jeden Fall eine gute Farbe für
ihn.

»Das war ein Projekt, das einige Schüler der Highschool in der

Abschlussklasse gemacht haben. Dann haben wir einen Artikel
darüber geschrieben, wie wichtig es ist, Kunstunterricht auf dem
Lehrplan zu haben.« Tony führte sie in sein Büro. »Weißt du, was
das Beste ist? Die ganze Wand darunter ist abgeblättert und hat
Risse!« Er grinste sie mit zur Seite geneigtem Kopf an. »Jetzt kann
man das nicht mehr sehen – ganz schön clever, oder?«

»Von dir hätte ich nichts anderes erwartet.« Libby grinste ihn

auch an. »Das alles hier ist super, Tony. Wirklich ganz toll.« Libby
war nicht überrascht, als sie in seinem Büro einen unter Papier beg-
rabenen Schreibtisch sah. Er war nie sehr ordnungsliebend
gewesen. An der Wand hingen drei Rahmen im Schaukastenstil –
in einem war die erste Ausgabe der Daily Press zu sehen und in den
anderen beiden seine zwei veröffentlichten Romane. In einer Ecke
stand ein Papierkorb aus Draht und der Boden drumherum war
übersät mit zerknüllten Papierbällen. Sie stellte sich in Gedanken
vor, wie diese Bälle dort gelandet waren – typisch Tony.

»Die Zeitung trägt sich jetzt knapp selbst, aber es ist eher eine

Leidenschaft als alles andere. Ich habe ein paar Teenager, die
Teilzeit für mich arbeiten, um ihr Taschengeld aufzubessern und
damit ihr Name in der Zeitung erscheint. Seit meinem Auszug ver-
miete ich auch die Wohnung im oberen Stockwerk – das macht
ebenfalls einen Unterschied.«

»Wohin bist du gezogen?«
Vor Stolz und Aufregung rötete sich Tonys Gesicht. »Ich habe

vor ungefähr zwei Monaten ein Haus gekauft. Ein altes viktorian-
isches Haus in der Pine Street. Als Anzahlung habe ich den Rest des
Vorschusses verwendet, den ich für mein Buch erhalten habe. Ich
kann mir keine Möbel leisten und das ganze Haus braucht wahr-
scheinlich Reparaturen im Wert von 60.000 Dollar. Es wird aber
alles klappen. Ich freue mich schon darauf, es dir zu zeigen.«

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Libby versuchte vergeblich, sich zu erinnern, wann sie ihn

jemals so glücklich gesehen hatte. »Das hast du richtig gut
gemacht, Tony. Ich bin so froh. Alle deine Träume gehen in
Erfüllung.«

»Nicht alle, Lib. Ich mache mir aber große Hoffnungen. Was

kann ich für dich tun?«

Libby gab ihm den Ordner, den sie in der Hand gehalten hatte.

»Ich möchte auf jeden Fall eine Beilage in der Sonntagszeitung
und, abhängig von deinem Kostenvoranschlag, hätte ich gerne auch
eine tägliche Werbung.«

Tony sagte nichts, während er durch die paar Seiten blätterte,

die sie ihm gegeben hatte. »Das sieht gut aus … ›Dolce McKay‹?«

Libby zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, man kann sich

das gut einprägen. Außerdem verweist es auf meine italienische
Ausbildung … Dolce ist süß

Tony nickte. »Ja, es ist einprägsam. – Das können wir auf

jeden Fall machen. Du arbeitest in der Küche deiner Mutter?«

»Im Moment. Ich habe den Traum noch nicht aufgegeben,

mein eigenes Café zu eröffnen, aber ich muss schrittweise
vorgehen.«

»Das hört sich gut an. Sollen wir jetzt gehen?«
»Was?« Libby war überrascht, als Tony aufstand.
»Zum Weinfest? Du möchtest doch immer noch mitkommen,

oder?«

»Natürlich. Wir haben aber noch gar nicht über die Kosten

geredet und ich …«

»Sei nicht albern. Dafür musst du nichts bezahlen.«
»Auf gar keinen Fall! Ich führe ein Geschäft und ich habe ein

Budget – einschließlich Werbekosten.«

Hoppla! Er hatte sie beleidigt. Manchmal war es einfacher, in

E-Mails mit ihr zu reden. Wenn er ihr gegenüberstand, waren seine
Gedanken manchmal etwas verwirrt und er sagte die falschen
Dinge. »Das habe ich nicht so gemeint. Ich wollte nur helfen. Ich
habe eine Idee.« Er gab ihr ein Infoblatt. »Hier ist unser

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Werbevertrag. Alle Preise sind aufgelistet. Ich bestehe darauf, dass
du den Rabatt von 25 Prozent für Freunde und Familie annimmst.
Das biete ich auch deiner Mutter an, wenn sie Gutscheine drucken
lässt. Ob du die 25 Prozent dann doch noch in Keksen bezahlst, ist
natürlich ganz und gar deine Sache.«

Libby entspannte sich sichtlich.
»So, jetzt aber los.« Tony warf sich die Kameratasche über

seine Schulter und hielt die Tür für sie auf. »Jetzt amüsieren wir
uns ein bisschen.«

Und sie amüsierten sich. Auf dem Festgelände standen Buden

und Zelte und an einem Ende des Feldes spielte eine Band für ein
paar Picknicker. Die meisten Händler verkauften Wein, es gab aber
auch Stände mit Speisen und einige mit Kunsthandwerk und
Neuheiten. Die Musik der Band wehte zu ihnen hinüber und Tony
nahm ihre Hand, als sie sich durch die Menge schlängelten und die
Stände der verschiedenen Anbieter begutachteten. Obwohl Tony in
einer dienstlichen Angelegenheit hier war, schien er aufrichtig dar-
um bemüht, dass Libby Spaß hatte. Behutsam fragte er nach ihrer
Meinung, sobald sie einen Wein probiert hatten, und brachte sie
geschickt dazu, ihm die Grundlagen der Weinverkostung zu
erklären. Libby vermutete, dass er ein sehr guter Reporter war.

»Jetzt machen wir ein Picknick«, erklärte Tony fröhlich, als sie

so ziemlich alles gesehen hatten. Libby ging wieder ein Stück
zurück, um eine halbe Flasche eines leichten Rosé-Weins zu kaufen,
der ihr besonders gut geschmeckt hatte. Sie wurde blass, als Tony
nach seinem Geldbeutel griff. Der Wein war nicht besonders teuer,
aber es war auch nicht gerade der billigste gewesen. »Beruhige
dich«, ermahnte er sie, als er ihr Gesicht sah. »Ich kann dich von
der Steuer absetzen – ich lade einen meiner Berater zu einem Drink
ein.« Tony zwinkerte ihr zu, als er sein Wechselgeld zurückbekam
und Libby die Tüte reichte.

»Gut«, stimmte Libby zu. »Was wollen wir essen?« Sie ging

voraus zu den Ständen, an denen Speisen verkauft wurden.

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»Du darfst wählen. Ich habe keine Ahnung, was gut zu diesem

Wein passen würde.«

»Das ist das Schöne an einem Rosé – man kann so ziemlich

alles dazu essen.«

Sie entschied sich letztendlich für ein knuspriges Baguette und

verschiedene Käsesorten.

»Das kann ich von der Steuer absetzen, erinnerst du dich?«

Wieder weigerte er sich, sie zahlen zu lassen. »Ich hätte eine Decke
mitbringen sollen«, bedauerte Tony und schaute an seinen hellen
Hosen herunter.

»Angst vor ein paar Grasflecken, Marchetti?«, forderte Libby

ihn spielerisch heraus.

Sie setzten sich in der Nähe des Konzertpavillons nebenein-

ander ins Gras und packten ihr kleines Picknick aus. Jetzt, da der
Tag zur Neige ging, kamen immer mehr Pärchen und Familien hier
zusammen. Ein älteres Paar tanzte auf der kleinen Tanzfläche einen
Walzer und einige Kinder spielten Ringelreihen.

»Wer hätte gedacht, dass man Kinder zu einem Weinfest mit-

bringen kann?« Tony lachte leise, als er die Kinder beobachtete, die
sich jedes Mal dramatisch ins Gras warfen, wenn ihr Lied zu Ende
ging.

»Es ist nicht so, als würde man Kinder in eine Bar mitneh-

men.« Libby kaute gedankenverloren an ihrem Brot. »Bei Wein ge-
ht es mehr um das Genießen, nicht nur um das Trinken.«

Tony sah sie an und zog eine Augenbraue hoch.
»Es ist wahr.« Libby gab ihm einen spielerischen Klaps. »Tra-

ditionell gesehen geht es darum, eine Mahlzeit zu genießen, aber
philosophisch gesehen ist es eher eine Lebenserfahrung.«

Tony nickte. Er sah beeindruckt aus. »Okay – sie werden also

Erinnerungen an das Picknick und die Musik haben, selbst wenn
sie nur ein Tetrapack mit Saft hatten?« Er zeigte auf die Kinder.

»Ja, und ihre Eltern werden Erinnerungen an sie haben, wie

sie lachen und spielen. Benjamin Franklin hat gesagt ›Wein macht
das tägliche Leben einfacher, gemütlicher und man hat weniger

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Anspannung und mehr Toleranz.‹ Thomas Jefferson hat einen
guten Wein als ›lebensnotwendig‹ bezeichnet.«

»Das gefällt mir.« Tony nahm ein kleines Notizbuch aus seiner

Tasche und begann zu schreiben.

»Äh … Ich bin mir nicht sicher, ob das alles hundertprozentig

richtig war.«

Tony warf ihr einen Blick zu. »Ich bin ein ziemlich guter Fak-

tenprüfer.« Sie hoffte, dass sie ihn nicht beleidigt hatte.

Als er alles notiert hatte, stand er entschlossen auf und nahm

seine Kamera heraus. »Jetzt wird es Zeit, dass ich etwas Geld
verdienen gehe!« Er machte einige Aufnahmen, während er zwis-
chen den Picknickern hindurchging. Fotos von Familien, die
zusammen spielten und Liebespaare, die tanzten. Libby nippte an
ihrem Wein und sah ihm bei der Arbeit zu. Gelegentlich blieb er
stehen und redete mit jemandem oder er ließ sie etwas unters-
chreiben, was, wie sie vermutete, eine Freigabe für die Veröffent-
lichung der Fotos war. Er bewegte sich lässig, lachte mit den Leu-
ten, als wären sie alte Freunde, oder entfernte sich diskret, wenn
die Paare sich wieder aneinanderschmiegten. Schließlich drehte er
sich um und kam dorthin zurück, wo sie auf ihn wartete. Er hob
seine Kamera wieder und machte ein paar schnelle Serienaufnah-
men von Libby, die noch ausgestreckt auf dem Rasen saß. Sie lachte
und hob ihr nun leeres Glas, um ihm zuzuprosten. Als er die Kam-
era wieder gesenkt hatte, schaute er ihr in die Augen und sein
Gesichtsausdruck schien voller Verlangen zu sein. Da konnte man
mal wieder sehen, was mit dem Wahrnehmungsvermögen passiert,
wenn man einen ganzen Nachmittag lang Wein getrunken hat.

Der Rest des Abends verstrich angenehm. Sie wanderten noch

einmal an den Zelten und Ständen vorbei und Libby hielt an, um
eine Schmuckauslage zu betrachten, speziell einen hübschen blauen
Kristall, der an einer langen Kette hing. Tony bezahlte sofort und
legte ihr die Kette um den Hals.

»Ich glaube nicht, dass du das von der Steuer absetzen

kannst«, witzelte Libby, um ihr Unbehagen zu verbergen.

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»Nein, die Zeitung zahlt dafür nicht. Betrachte es als ein

Dankeschön für deinen Unterricht in Sachen Vino

Als Libby später am Abend in ihrem Bett lag und nachdachte,

kam sie zu dem Schluss, dass dies zweifellos die beste Nicht-Ver-
abredung gewesen war, die sie jemals gehabt hatte, und sie prägte
sich jeden Moment davon ein.

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15. Kapitel

»Ich hasse das Medizinstudium.«

»Dann ist es ja gut, dass du nicht Medizin studieren musst.«

Libby klemmte ihr Telefon zwischen Ohr und Schulter ein, damit
sie Mel, die ihrer Unzufriedenheit Ausdruck gab, zuhören und zur
gleichen Zeit Teig mixen konnte. Stuart wollte an seinem
Imbissstand Biscotti verkaufen, deshalb übernahm sie abends die
professionell ausgestattete Küche ihrer Mutter.

»Ach, du weißt, was ich meine. John ist kaum noch daheim

und ich habe auch ziemlich viel zu tun. Wir haben nie Zeit zum –
du weißt schon. Das letzte Mal ist schon fast eine Woche her.«

»Meine Güte, Mel! Es tut mir ja so leid, dass du eine ganze

Woche lang ohne Sex auskommen musstest.«

»Na ja, es ist ja nicht deine Schuld.« Mel hatte entweder

Libbys Sarkasmus nicht bemerkt oder ignorierte ihn einfach. »Ich
freue mich aber wirklich auf dieses Wochenende. John hat mir ver-
sprochen, keine Schulbücher mitzunehmen.«

»Fahrt ihr beiden weg?«
»Ja, hab ich dir das nicht erzählt? Dieses Wochenende ist das

Familientreffen. Du solltest auch kommen! Wir sehen uns so selten,
obwohl wir jetzt wieder im gleichen Land leben. Du kannst deinen
Titel im Kuchen-Wettessen verteidigen.« Früher war Libby jedes
Jahr zum Familientreffen der Marchettis gegangen. Als Mel in die
Pubertät kam, brachte sie dann aber lieber ihre männlichen Fre-
unde mit.

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»Ich war 14, als ich zum letzten Mal bei einer dieser Veranstal-

tungen war. Ich bin mir sicher, dass während der letzten acht Jahre
jemand anders das Kuchen-Wettessen gewonnen hat.«

»Natürlich gibt es immer einen Gewinner, aber niemand hat

dich jemals übertroffen und sieben Kuchenteller leer gegessen.«

Libby erinnerte sich daran, wie stolz sie in diesem Jahr

gewesen war. Mit 14 hatte sie noch nicht realisiert, dass es nicht
gerade sehr damenhaft war, sieben Teller mit Kuchen zu verschlin-
gen. »Okay, wenn du meinst, dass jeder damit einverstanden ist,
würde ich sehr gerne kommen. Ich kann dir aber keine Ver-
sprechungen in Sachen Kuchen-Wettessen machen.«

Libby formte gerade einen weiteren Biscotto, als Tony durch

die Schwingtür kam, die den vorderen Verkaufsraum mit der Küche
verband. Als hätten die letzten zwei Jahre nie stattgefunden,
wanderten Libbys Gedanken wieder zu dem Moment zurück, als sie
das letzte Mal alleine in dieser Bäckerei gewesen waren. Sie konnte
seine Worte ›hart und schnell, zwischen den Öfen deiner Mutter?
so klar hören, als würde er sie immer noch in ihr Ohr flüstern. Es
war gut, dass sie nicht mehr in Tony verliebt war, andernfalls wäre
die Situation heikel gewesen, dachte Libby, als sie sich auf den Teig,
der vor ihr lag, konzentrierte. Wann hatte sie ihn flach gerollt?

»Hallo, Lib. Deine Mutter hat mich reingelassen, als sie gegan-

gen ist.«

Tony lehnte sich an die Wand und sah ihr zu, wie sie den Teig

formte. Diese kleinen schmalen Hände erschienen ihm sehr kräftig.
Sie knetete und klopfte den Teig, und ihre Finger wussten genau,
was sie zu tun hatten. Was würde er nicht dafür geben, dieser
Klumpen Teig zu sein. Warum war er immer so auf Libbys Hände
fixiert? Wenn noch genug Blut in seinem Gehirn verblieben
gewesen wäre, um zu denken, hätte er sich wahrscheinlich
geschämt.

»Hörst du mir zu?«
Mist. »Tut mir leid, Lib. Ich habe meine Gedanken schweifen

lassen. Was hast du gesagt?«

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»Schon gut. Was brauchst du?«
Was er brauchte? Tony machte tatsächlich einen Schritt auf sie

und ihre Hände zu, bevor es ihm gelang, seinen Hormonen die
Kontrolle über seine Motorik wieder zu entreißen. Er musste ihr
Zeit geben. Sie brauchte Zeit, um über diesen italienischen Koch
hinwegzukommen; dann würde Tony seine Bemühungen ver-
stärken. Im Moment musste er sich mit einigen Verabredungen
abfinden und ihr zeigen, wie gut sie beide zusammenpassten.

»Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um dich für dieses

Wochenende zu einer Party einzuladen. Es handelt sich genau gen-
ommen um das Familientreffen der Marchettis.« Warum schaute
sie ihn so eigenartig an?

»Ich weiß … Ich habe dir gerade erzählt, dass ich mit Mel und

John hingehe.«

Blöder Handfetisch. »Stimmt. Ja … nun, man kann nie wissen,

wann die beiden aus ihrem Hotelzimmer auftauchen. Kann ich dich
vielleicht abholen? Du darfst auf keinen Fall das Kuchen-Wettessen
verpassen!«

Tony zwinkerte ihr zu. Meine Güte, warum war in letzer Zeit

jeder so sehr auf Kuchen fixiert? »Okay, wann soll ich mich
bereithalten?«

Nachdem sie ihre Verabredung für das nächste Wochenende

getroffen hatten, zog Tony einen Stuhl heran und nahm sich einen
Stift und einen Stapel Servietten, damit sie Tic-Tac-Toe spielen
konnten, während ihr Teig-Ding backte. Sie gewann achtundzwan-
zig Mal und er drei Mal. Aber er musste zugeben, dass er ein wenig
abgelenkt war. Die Art und Weise, wie sie ihren Stift hielt …

»Iss nicht zu viel, Libster! Das Kuchen-Wettessen findet nach dem
Mittagessen statt! Ich werde es dir nicht leicht machen.« John

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bellte vor Lachen. Libby fragte sich einen Moment lang, ob es falsch
war zu hoffen, dass ihm sein Chiliwürstchen auf das Hemd kleck-
erte. Aber natürlich saß Mel auf seinem Schoß, und sie wollte nicht
unbedingt den ganzen Nachmittag lang Mels Gejammer über ihr
ruiniertes Tanktop anhören, deshalb verwarf Libby die Chiliwurst-
Lösung.

Libby hatte sich an diesem Morgen sorgfältig überlegt, was sie

anziehen sollte. Grüne Shorts und ein leuchtend blaues T-Shirt mit
V-Ausschnitt, das ihr Dekolleté ein klein wenig sehen ließ. Sie
wusste, dass der Tag wahrscheinlich zu warm werden würde, um
ihr Haar nicht zurückzubinden, aber sie tat es trotzdem nicht. Ihre
dunklen Locken, die ihr bis über die Schultern fielen, bildeten einen
schönen Kontrast zum Blau des T-Shirts. Sie zog sich ein Gum-
miband für ihr Haar über das Handgelenk (falls sie später doch zur
Vernunft kam). Libby versuchte, nicht zu sehr darüber nachzuden-
ken, warum sie sich solche Mühe mit ihrem Aussehen gab. Als sie
dann aber doch darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass
sie Tony seit 15 Jahren beobachtete, und es sicher nicht falsch war
zu wollen, dass er ihr auch Beachtung schenkte. Ein wenig Beach-
tung konnte nun wirklich nicht schaden.

Tony schenkte ihr tatsächlich Beachtung, als sie die Tür

öffnete. Genau genommen war er für geraume Zeit etwas beun-
ruhigt, ob ihre Shorts wirklich als Kleidung durchgingen. Der Park
war etwas über eine Stunde von Taylorsville entfernt und das war
eine lange Zeit für ihn, um nicht auf ihre gebräunten und
durchtrainierten Beine zu starren. Beine, die er gerne … NEIN. Das
war erst ihre zweite Verabredung und er ließ sich Zeit. ›Nimm dir
Zeit‹ wurde für Tony zum Mantra, das er den gesamten restlichen
Tag für sich wiederholte.

Als sie auf der Party ankamen, stellte Tony Libby all den Ver-

wandten vor, die sie noch nicht getroffen hatte, und denen, die sie
seit Jahren nicht gesehen hatte. Es gab zahllose ›Oh, ich erinnere
mich an dich
‹ oder ›Das kann nicht die kleine Libby McKay sein‹,
und zu Libbys Blamage erwähnten sogar einige das Kuchen-

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Wettessen. Dabei handelte es sich meistens um die Tanten und
Cousinen. Die Männer neigten eher dazu, Tony zuzuzwinkern, ihn
anzustoßen oder ihm zweideutig die Hand zu schütteln. Sein Cous-
in Nick ging sogar so weit, Tony auf den Arm zu schlagen und ihn
einen schlauen Fuchs zu nennen. Tony brüstete sich wie ein Pfau.

Tony wurde ganz warm ums Herz, als er Libby hier mit seiner

Familie sah. Ein Gefühl, das so zärtlich war, dass es ihm die
Stimme verschlug. Seine Gedanken schweiften einige Jahre in die
Zukunft und er stellte sich vor, wie er Libby zu einem dieser Feste
als seine Frau oder sogar als die Mutter seiner Kinder mitbringen
würde. Wie würden ihre Babys aussehen? Er entschied sich für
dunkles lockiges Haar. Er wollte auf jeden Fall ein kleines Mäd-
chen, das dunkles lockiges Haar hatte.

»Libby McKay!« Frankie joggte zu den beiden herüber. »Wie

zum Teufel geht es dir? Hallo, Tony. Du haust mir jetzt aber keine
runter, wenn ich deine Hand schüttle, oder?« Tony funkelte ihn an,
aber er schüttelte ihm trotzdem die Hand.

»Komm, Lib. Ich glaube, ich sehe Mom und Dad.« Tony zog

Libby mit sich, und sie konnte hinter sich hören, wie Frankie laut
johlte.

»Um was ging es denn da?«
»Ich habe ihm vor ein paar Jahren eine verpasst und es gefällt

ihm, die Angelegenheit wieder aufzuwärmen.« Tony legte etwas
besitzergreifend seinen Arm um ihre Schultern.

»Oh.« Libby hatte den leisen Verdacht, dass sie genau wusste,

warum Tony Frankie einen Fausthieb versetzt hatte.

Das Kuchen-Wettessen war nicht das einzige Spiel auf der

Liste. Die Marchettis waren sehr ehrgeizig. In einer Ecke des Pavil-
lons stand eine große weiße Tafel; darauf war der Zeitplan für die
Aktivitäten zu sehen und eine Liste, in die man sich eintragen kon-
nte. Libby hatte diese Spiele als Kind geliebt. Sie hatte immer nur
ihre Mutter gehabt und jetzt Stuart. Aber das waren bei Weitem
nicht genug Leute zum Eierwerfen, Stafettenlauf und zur Schnitzel-
jagd. Libby erinnerte sich, dass Tony sich nicht sehr für die Spiele

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begeistern konnte – außer für das Softball-Match, das jedes Jahr
zum Abschluss der Party gespielt wurde. Als Libby jedoch den Stift
in die Hand nahm, um sich einzutragen, schrieb er seinen Namen
beim Dreibeinlauf, Wasserbombenwerfen und natürlich Tauziehen
beherzt neben ihren.

Der Dreibeinlauf war das große Eröffnungsspiel für die Mar-

chettis. Mit einem Kreidespray war die 30-Meter-Linie markiert
worden.

»Ich habe vor, das Rennen zu gewinnen, McKay. Lass mich

nicht hängen.« Tony hatte ihr Lieblingsgrinsen aufgesetzt, als er die
Schals um ihre Fußgelenke und Schenkel band. Wenn sie es nicht
besser gewusst hätte, hätte sie glauben können, dass er sich dort
unten ein wenig länger aufhielt als notwendig.

»Oh, die stecken wir in die Tasche.« Libby tat so, als würde sie

ihre Fingernägel an ihren Ärmeln polieren.

Die Sache mit dem Dreibeinlauf war, dass es weniger um

Geschwindigkeit ging als vielmehr um Zusammenarbeit und
Gleichgewicht. Libby und Tony hatten einen recht guten Start. Er
hatte seinen Arm eng um ihre Taille gelegt, und sie hatte ihre Hand
auf seiner Schulter. Das wäre die perfekte Position gewesen, um ihr
Gleichgewicht zu halten, wenn Libby es geschafft hätte, die kleinen
Stromstöße zu ignorieren, die in ihrem Magen herumtanzten und
die durch diese Nähe hervorgerufen wurden. Sie konnten ungefähr
bis zur Hälfte des Rennens mithalten. Als Tonys Finger zwischen
ihren Hosenbund und den Saum ihres T-Shirts rutschten und für
einen Augenblick die nackte Haut an ihrer Taille berührten,
taumelte sie als Reaktion. Sie stürzte nach vorne und zog Tony
zwangsläufig mit sich nach unten.

Er hatte seine Arme um sie geschlungen, um den Aufprall der

beiden so weit wie möglich abzufangen, aber das führte letztlich nur
dazu, dass sie sich komplett verhakten, als sie den Boden ber-
ührten. Tonys Gesicht landete an der Kurve ihrer Schulter; sein
Körper passte sich ihrem perfekt an. Seine Sinne wurden von dem
Lavendelduft überwältigt und für einen Moment oder vielleicht

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auch für zwei Momente wünschte sich Tony, sie wären nicht in
einem öffentlichen Park, umgeben von seiner Familie.

»Bist du okay?«, fragte er, während er ihr in die Augen sah.
»Alles in Ordnung, bis auf meinen verletzten Stolz.« Libby lief

dunkelrot an. Tony rollte sich schnell von ihr weg, bevor der An-
blick der erröteten Libby unter ihm noch zu Problemen führte.

Als sich die beiden endlich entwirrt hatten, führten die Gewin-

ner (ein Onkel und eine Tante, die Libby nicht kannte) einen leicht
chaotischen Siegestanz auf. Die Marchettis waren wirklich sehr
wettbewerbsorientiert.

»Mensch, ich hoffe, ihr beiden habt mehr Glück beim Wasser-

bombenwerfen!« Mel winkte ihnen vom Spielfeldrand aus zu. John
stand hinter ihr und hielt ihre Taille mit beiden Händen umfasst.
Wie Tony vorausgesagt hatte, waren die beiden über eine Stunde zu
spät aufgetaucht. Libby war froh, dass Tony ihr angeboten hatte, sie
mitzunehmen, denn sonst hätte sie einen großen Teil der Party
verpasst.

»Hallo, Schwesterherz. John.« Tony ging zu den beiden

hinüber, um seine Schwester zu umarmen und seinem zukünftigen
Schwager die Hand zu schütteln. »Macht ihr beiden auch beim
Wasserbombenwerfen mit?«

»Kommt gar nicht in die Tüte«, rief Mel. »Ich habe etwas

Weißes an«, erklärte sie in einem lauten Flüsterton.

»Wo können wir uns eintragen?« John bewegte seine Augen-

brauen auf eine Art, die wohl sexy wirken sollte – tatsächlich aber
etwas abstoßend war.

»John!« Mel versetzte ihm einen spielerischen Klaps und als

Antwort legte er sie sich wie ein Feuerwehrmann über die Schulter.

Libby schüttelte den Kopf in ihre Richtung. »Diese beiden soll-

ten ein ›Achtung, nicht jugendfrei!‹-Schild tragen.«

»Wem sagst du das, Lib. Vergiss nicht, sie ist meine Schwest-

er!« Tony tat so, als steckte er sich den Finger in den Mund, um
sich zu übergeben.

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Die vier schauten sich für eine Weile den Rest der Spiele an.

Sie jubelten Nick zu, der den ersten Platz beim Hufeisenwerfen
belegte, und auch John beim Staffellauf (obwohl John nicht beson-
ders gut war).

Beim Wasserbombenwerfen standen sich zwei Teams ge-

genüber und warfen die Wasserballons hin und her. Wenn der Bal-
lon platzte, war man ausgeschieden, und wenn er ganz blieb, trat
man einen Schritt zurück und versuchte es noch mal. Tony war
zwar nicht begeistert, an den Spielen teilzunehmen, aber er war
genauso ehrgeizig wie der Rest der Familie. Er flüsterte Libby bis zu
dem Moment, als der Startpfiff ertönte, Anweisungen zu: »Weiche
Hände, nicht drücken, aus dem Unterarm werfen …« Es war extrem
nervend, und Libby klatschte mit dem Rest der Menge, als Tony
den Ballon der beiden in der dritten Runde platzen ließ.

»Soviel zu den weichen Händen!«, rief ihm Libby zu, als er

sein nun nasses T-Shirt auszog.

Libby musste sich selbst daran erinnern, dass sie nicht mehr in

Tony verliebt war. Denn wenn sie noch in ihn verliebt gewesen
wäre, dann wäre sie bei dem Anblick, wie er sich mithilfe seiner Ell-
bogen aus dem T-Shirt wand und dann die Sonne auf seinen gut ge-
formten Oberkörper schien, wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen.

Als Vergeltung für ihre Spötteleien nahm sich Tony den

Wasserballon seines Nachbarn und zielte damit auf Libbys Rücken.
Daraufhin brach natürlich ein Wasserballon-Chaos aus und bald
gab es weit und breit keinen trockenen Marchetti mehr.

Tony holte von irgendwo eine Picknickdecke hervor und legte

sie auf den Boden. Libby streckte sich auf ihrem Bauch aus und ließ
ihr T-Shirt von der Sonne trocknen. Zum Glück war das Shirt nicht
weiß.

Die beiden lagen dort eine Weile, ohne zu reden. Das war eines

der Dinge, die sie an ihrer Freundschaft mit Tony liebte. Sie hatten
niemals das Gefühl, die Stille füllen zu müssen. Als sie sprachen,
fragte Tony sie nach ihrer Meinung zu ein paar Geschichten, dann
zeigte Libby Tony, wie man Löwenzahn-Popper machte. Als das

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Tauziehen ausgerufen wurde, waren beide wieder trocken und
komplett gekleidet.

Beim Tauziehen waren stets auf der einen Seite Frauen und

auf der anderen Männer. Das wäre normalerweise vielleicht etwas
unfair gewesen; die Marchetti-Familie aber war sehr östrogenlastig,
weswegen die weibliche Mannschaft gut doppelt so groß war wie
die männliche. Wegen der Parkbestimmungen hatten sie nicht die
traditionelle Schlammgrube unter der Mitte des Seiles ausheben
dürfen. Stattdessen wurde ein aufblasbarer Kinderpool mit einer
Masse gefüllt, die wie Schlagsahne aussah. Wo konnte man nur so
viel Schlagsahne kaufen? Mannomann! Diese Leute nahmen ihre
Spiele wirklich ernst. Libby nahm sich fest vor, nächstes Jahr extra
Kleidung zum Umziehen mitzubringen. Doch dann dachte sie
daran, dass sie wohl nächstes Jahr gar nicht hier sein würde, da
Tony kein richtiges Date war.

Die Männer gewannen trotzdem, aber Libby schaffte es, nicht

in Kontakt mit der Schlagsahne zu kommen – ein persönlicher Tri-
umph am Rande der Teamniederlage.

»Bist du sicher, dass du nicht am Kuchenwettbewerb teilneh-

men möchtest?«, fragte Tony, nachdem die beiden zu Mittag ge-
gessen hatten.

»Absolut sicher. Eine Dame verschlingt nicht mehrere Kuchen

auf einmal.«

Einen Moment lang stellte sich Tony vor, wie sie mit einem mit

Früchten und Schlagsahne verschmierten Mund aussehen würde.
Es war eine große Schande, dass Libby eine Dame war. »Okay,
dann schauen wir aber wenigstens zu. Nick ist ziemlich gut. Ich
wette, er gewinnt.«

»Die Wette würde ich annehmen. Du hast vergessen, dass ich

gesehen habe, was John essen kann. In dem Jahr, als Mel den
Truthahn verbrannt hat? John hat mindestens drei Kuchen ge-
gessen … und das war nur aus Spaß. Jetzt geht es um seinen Ruf.«

»Die Wette gilt.« Tony lehnte sich im Pavillon gegen einen

Pfosten. Es gab keine Stühle mehr, deshalb zog er ihren Rücken

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gegen seine Brust und legte seine Hände auf ihre Hüften. Das war
viel besser als Stühle. »Um was möchtest du wetten, McKay?«

»Kekse?« Schlug Libby vor und fragte sich, ob ihre Stimme

normal klang.

»Nö. Meine sind immer noch ungenießbar; ich würde mich zu

sehr schämen, den Wetteinsatz einzulösen, wenn ich verliere. Ich
weiß, was wir machen – wir wetten um einen Film. Wenn du
gewinnst, schaue ich mir mit dir ein schnulziges Musical an, und
wenn ich gewinne, dann schaust du dir mit mir ›Matrix‹ an.«

»Ein hoher Einsatz. Könnte ich dich vielleicht von Keanu

Reeves abbringen? Vielleicht könnte ich dich dazu bewegen, einen
anderen Film zu wählen – ›Bill und Teds verrückte Reise durch die
Zeit‹?«

Tony fragte sich, ob sie auch nur ahnte, welche Bilder ihm in

den Sinn kamen, als sie die Worte ›dazu bewegen‹ sagte. Er war
sich sehr sicher, dass sie ihn zu so ziemlich allem bewegen konnte.

»Auf keinen Fall.«
Nick und John verloren beide. Tony verkündete, dass sie als

Kompromiss einen ›Stirb Langsam‹-Marathon machen könnten.

»Zeit zum Ballspielen!«, rief jemand vom Baseballfeld

herüber.

»Lass uns gehen.« Tony zog Libby zum Softballspiel.
»Ich schau nur zu.«
»Auf keinen Fall, du musst spielen. Das ist der beste Teil!«
»Ich werde nicht mitspielen. Ich glaube noch nicht einmal,

dass ich alle Regeln kenne.«

»Ich habe vergessen, dass du keine Teamsportarten magst.

Erinnerst du dich noch, als du Cheerleader werden wolltest?« Tony
schüttelte bei dem Gedanken den Kopf. »Gut – dann gehen wir
spazieren.«

»Nein, geh und spiel. Ich werde zusehen – und dich an-

feuern«, neckte Libby ihn.

Letztendlich spielte Tony doch nicht Ball. Er wollte, aber heute

war Libbys Tag. Deshalb gingen sie spazieren. Es gab einen Pfad,

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der durch ein kleines Wäldchen führte. Wenn Tony sich recht erin-
nerte, gab es dort auch einen Bach mit einer kleinen hübschen
Brücke. Tony ging langsam den Pfad entlang, während er ihre Hand
hielt. Das Laub der Bäume war so dicht, dass es hier dunkler und
ruhiger war als auf der offenen Fläche im Park. Es war eigentlich
richtig romantisch. Tony dachte jetzt nicht mehr an das Softball-
spiel, das er verpasst hatte.

»Was ist das?« Libby zeigte auf die Bäume über ihnen.
»Ich glaube, dass ist die seltene Rotbauch-Langschwanz-Wald-

schwalbe«, antwortete Tony mit steinernem Gesicht, ohne nach
oben zu schauen.

Libby prustete und hob sein Kinn mit ihren Fingerspitzen et-

was nach oben.

»Oh, das«, sagte Tony, als hätte er erst in diesem Moment

seinen Fehler bemerkt. »Sieht aus wie ein Drachen.«

Genau über ihnen hing ein Drachen aus Plastik in den Ästen.
»Hilf mir kurz.«
Libby kletterte bereits am Baumstamm hoch. Tony hob sie

noch etwas höher nach oben und versuchte nicht … zu sehr … auf
ihren Po zu starren. Es dauerte einige Zeit, bis Libby den Drachen
erreicht hatte, und dann noch etwas länger, um die übriggebliebene
Schnur zu entwirren. Einige entsetzliche Sekunden lang glaubte
Tony, dass sie ganz sicher abstürzen würde.

»Vorsicht da unten!« Der etwas ramponierte Drache flatterte

zu Boden und Libby fing an, sich zentimeterweise rückwärts über
den Ast zu schieben. »Äh … ich glaube, das Herunterkommen wird
schwieriger werden als das Hochklettern.«

Tony stand unter ihr und rief Anweisungen und Warnungen.

Bald rutschte sie wieder den Baumstamm hinunter. »Ich hab dich.«
Tony streckte sich und umfasste ihre Taille, sobald er sie berühren
konnte.

Libby ließ sich das letzte Stück herabfallen und drehte sich

dabei, sodass sie in Tonys Armen landete, ihren Rücken an den
Baumstamm gepresst. Oh, das war viel besser als Softball! Tony

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schloss die verbleibende Lücke zwischen ihnen. Eines seiner Knie
presste sich zwischen ihre Knie. Er atmete langsam ein und genoss
den Lavendelduft seiner Libby. Vorsichtig entfernte Tony einen
Zweig aus ihrem Haar und seine Hand fuhr an ihrer Wange
entlang, während er sich noch näher zu ihr hinlehnte –

»Was ist das?« Libby fuhr erschrocken zusammen.
Tatsächlich hörten sie jetzt flüsternde Stimmen: »Nur ein

wenig weiter vorne auf diesem Pfad gibt es einen Bach mit einer
Brücke«, sagte Tonys Cousin Nick, als er um die Biegung herum
auftauchte. Er hatte einen Arm eng um ein blondes Mädchen in
einem pinkfarbenen Sommerkleid gelegt und liebkoste ihren Nack-
en, während die beiden näher kamen.

Tony richtete sich auf und löste sich von Libby. Es brachte ihn

fast um, aber als Kavalier ließ er nicht zu, dass jemand sein Mäd-
chen sah, wie es im Wald begrapscht wurde. Er winkte leicht, als
Nick und seine Freundin an ihnen vorbeigingen, aber er war sich
nicht sicher, ob die beiden überhaupt etwas bemerkt hatten.

»Hört sich an, als hätte Nick große Pläne«, witzelte Libby, als

sie ihre Kleidung und ihr Haar glattstrich.

»Ja, er ist sehr originell«, antwortete Tony etwas sarkastisch.

»Sollen wir probieren, ob das Ding noch fliegt?« Tony bückte sich
und hob den Drachen auf, bevor er Libby zurück zum offenen Feld
führte.

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16. Kapitel

Das Familientreffen der Marchettis lag nun einen Monat zurück.
Mel und John würden in etwas mehr als zwei Wochen heiraten. Bei
der Bäckerei ›Dolce McKay‹ flatterten jetzt immer mehr Aufträge
ins Haus; Libby war überglücklich. Sie schien alles zu haben, was
sie sich gewünscht hatte. Fast alles. Nach dem Familientreffen kam
Tony oft zu Besuch. Sie fanden immer Gesprächsthemen und
Dinge, über die sie lachen konnten. Aber dass sie einander jetzt im-
mer so nahe waren und er sie ansah wie damals in dem Wäldchen
neben dem Park, fand sie verwirrend. Sie wollte nicht in Tony ver-
liebt sein, oder besser gesagt, sie war sich ziemlich sicher, dass sie
nicht in Tony verliebt sein wollte.

Wie vereinbart, hatte Tony einen ›Stirb Langsam‹-Marathon

organisiert. Da er noch keine Wohnzimmereinrichtung hatte,
landeten sie in Stuarts Wohnzimmer. Irgendwie fand Libby das
alles sehr liebenswert. Manchmal brachte Tony Mittagessen für
zwei zur Bäckerei und als sie ihre Mitgliedschaft im Fitnessclub
erneuert hatte, kam er ein paarmal die Woche morgens vorbei und
begleitete sie bei ihren Läufen. Letzte Woche hatte Tony sie zum
Strand gefahren und sie hatten Sandburgen gebaut. Mit Tony
zusammen zu sein fühlte sich fast an wie Atmen – zwingend
notwendig.

»Mann, hab ich Neuigkeiten für dich!«
Libby freute sich immer, wenn Mel sie anrief – Sie konnte

geradezu die Ausrufezeichen in ihrer Stimme hören.

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»Was gibt’s?«
»Rate mal, mit wem ich gerade telefoniert habe – nein, du

wirst es nie erraten – und er ruft dich auch gleich an.«

»Dann spuckst du es jetzt am besten aus.«
»Gio!« Der Name kam fast wie eine Explosion durch das Tele-

fon. »Libby? Hallo?«

»Gio? Mein Gio?« Libby war sprachlos. Warum, um Himmels

Willen, sollte Gio Mel anrufen? Seit Libby Rom verlassen hatte,
hatten sie sich ein paar Briefe und E-Mails geschrieben, aber er
hatte sie nicht gerade mit transatlantischen Telefonanrufen über-
flutet. Um ehrlich zu sein, hatte sie den Verdacht gehabt, dass Gio
es vergessen oder keine Lust mehr hatte, nach Amerika zu kommen
oder zu versuchen, irgendeine Art von Beziehung mit ihr
aufrechtzuerhalten. Was hatte sie denn gedacht? Dass er sein Leben
aufgeben und umziehen würde, nur um mit ihr zusammen zu sein?

»Wie viele gemeinsame Gios kennen wir?«
»Um ehrlich zu sein, dachte ich, keine … warum hast du mit

ihm geredet?«

»Er kommt zur Hochzeit!«
Libby ließ ihr Telefon fallen. »Wie bitte – was?«
»Ich habe ihm eine Einladung geschickt. Es war wirklich nur

aus Spaß – wer hätte gedacht, dass er zusagt? Mädel – er muss
wirklich etwas für dich übrig haben! Du hast den Akzent total
heruntergespielt!«

»Mich ruft gerade noch jemand an, Mel! Ich muss aufhören!«
Es war Gio.
Libby freute sich, dass Gio kommen würde. Er hatte einen

neuen Manager für sein Restaurant eingestellt und die Kurse an der
Kochschule waren für dieses Semester vorbei. Er lachte, weil sie
überrascht war, dass er einen Besuch geplant hatte.

»Betta! Wir haben darüber geredet. Ich habe gesagt, dass ich

Amerika sehen möchte, und das möchte ich auch. Ich möchte dich
sehen. Ich habe mich von meinen Verpflichtungen frei gemacht und
ich kann mindestens einen Monat bleiben.«

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Libby fragte sich, was ›mindestens‹ bedeutete.
Gio kam ein paar Tage später an einem Freitagmorgen an.

Libby holte ihn vom Flughafen ab und ihre Erinnerungen hatten sie
nicht getäuscht: Er sah umwerfend gut aus. Sie erinnerte sich eben-
falls richtig, dass das Zusammensein mit ihm irgendwie unwirklich
war. Am Flughafen liefen sie sich tatsächlich in die Arme – oder
besser, sie gingen schnell aufeinander zu, aber Gio hob Libby hoch
und gab ihr einen Kuss, der in einen kitschigen Liebesfilm gepasst
hätte. Eigentlich war alles etwas peinlich, weil Leute stehen blieben
und sie anstarrten.

»Hast du mich vermisst, Betta?«
»Natürlich, Gio!« Sie hatte ihn vermisst. Es war nicht Gios

Schuld, dass sie keine Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken,
wie sehr sie ihn vermisst hatte.

»Hast du etwas?«
»Nein. Nein. Es ist nur – weißt du – der Flughafen – Leute

schauen uns an …«

»Ah. Dachtest du, dass Gregory Peck Audrey Hepburn am

Flughafen keinen Kuss gegeben hätte?«

»Aber Gregory Peck war der Amerikaner«, berichtigte ihn

Libby. Als ob die Hervorhebung dieses Unterschieds sein Argument
entkräftet hätte. Sie hatten sich letztes Jahr oft zusammen ›Ein
Herz und eine Krone‹ angesehen. In dem Film war der Held ein
Amerikaner und sein Mädchen war Europäerin.

»Tut mir leid, wegen …« Libby machte eine ausschweifende

Bewegung in Richtung Glastür und zeigte damit an, dass es
draußen wolkig und nass war. Libby hasste, dass es regnete. Ir-
gendwann in der vergangenen Nacht hatte ein ständiger Nieselre-
gen den Boden durchnässt und eine Menge Würmer aus ihren Ver-
stecken gelockt. Regen machte Libby normalerweise nichts aus,
aber es tat ihr leid, dass Gios erster Tag in Amerika so trist war.

Er amüsierte sich über sie. Libby hatte fast vergessen, wie oft

Gio sich über sie lustig machte und auch, dass sie diese Gewohnheit
etwas störend fand.

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»Für den Rest der Woche sollte die Sonne scheinen«, fügte

Libby zu ihrer Verteidigung hinzu.

»Ah – mia Betta. Du entschuldigst dich für das Wetter?« Er

lachte immer noch leise in sich hinein, als er ihr einen Kuss auf die
Stirn gab. »Ich habe dich vermisst.«

Libby entschloss sich, ihm zu vergeben, dass er sie ausgelacht

hatte.

Gio wollte im Hotel einchecken und sich nach seinem Flug

ausruhen. Bei Libby kamen leichte Schuldgefühle auf, weil sie ihn
nicht eingeladen hatte, bei Stuart zu übernachten. Ihre Mutter
würde am Wochenende einen Workshop für Konditoren abhalten
und Stuart wollte mitfahren, um das Wochenende mit ihr zu ver-
bringen. Es fühlte sich schon so etwas eigenartig an, allein im Haus
zu sein, aber alleine mit Gio? Das wäre keine gute Idee. Deshalb
verabredeten sie, dass Libby ihn nach dem Mittagessen abholen
und ihm die Bäckerei zeigen würde. Mel und John würden ebenfalls
am Abend ankommen und für zwei Wochen bei Mels Eltern
wohnen, um sich um die letzten Details für die Hochzeit zu küm-
mern. Mel hatte unbedingt auch zum Flughafen kommen wollen,
um Gio mit Libby gemeinsam abzuholen, wurde jedoch durch das
Versprechen besänftigt, dass sie sich alle am Abend in einer Bar in
der Nähe treffen würden, um etwas zu trinken.

Gio gefiel die Bäckerei sehr. Libbys Mutter gefiel Gio. Das war

positiv gelaufen, mutmaßte sie. Als Nächstes fuhren sie etwas im
Ort herum. Sie sahen Libbys alte Highschool und den Park, wo Mel
und sie als Kinder gespielt hatten. Libby wusste nicht, warum es
sich merkwürdig anfühlte, Gio diesen Teil ihres Lebens zu zeigen.
Er fand es auf jeden Fall nicht langweilig. Er stellte viele Fragen
über ihre Kindheit und was sie getan hatte, seit sie aus Italien
zurückgekommen war, und über ihr Catering-Unternehmen.
Danach äußerte er viele Ideen hinsichtlich der Wahl des Ortes,
wenn Libby bereit sein würde, ihren eigenen Laden aufzumachen.
Sie aber war nicht ganz sicher, ob sie sich freute, dass sich die Real-
ität in ihr europäisches Abenteuer hineindrängte.

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Später am Abend, als sie sich mit Mel und John trafen, war

Libby etwas entspannter. Sie mochte die Bar. Die Atmosphäre war
nicht wie die der eleganten Diskotheken, zu denen Gio sie gebracht
hatte, aber es wirkte auch nicht heruntergekommen. Libby war in
den letzten paar Wochen einige Male hier gewesen und es hatte ihr
gefallen. Die Band spielte immer Musik, auf die man tanzen konnte,
aber nicht zu laut, und die Getränke waren nicht allzu teuer. Libby
fand, dass der Abend soweit ziemlich gut verlief. Gio schien sich mit
ihren Freunden bestens zu verstehen – sogar mit John.

»Stimmt! Das europäische Abenteuer!«, bemerkte John mit

seiner üblichen Taktlosigkeit, als Libby alle einander vorstellte und
er sich über den Tisch streckte, um Gios Hand zu schütteln.

Gio hob lediglich eine Augenbraue in Richtung Libby, bevor er

Johns Hand nahm. »Ich denke mal, dabei handelt es sich um
mich.«

»Ignoriere ihn, Gio, wie wir alle«, flüsterte Libby.
»Hier sind wohl Glückwünsche angebracht?« Er wechselte

ohne Probleme das Thema, indem er Mel, die neben John saß,
leicht zunickte. »Meine besten Wünsche an die Braut.« Die Taktik
wirkte ausgezeichnet. Mel begann, euphorisch über die Hochzeit zu
reden, und dass sie schon immer am Strand hatte heiraten wollen.
Wenn Mel bisher noch nicht von Gios Charme eingenommen
geweesn war, dann geschah das spätestens, als er eine Runde Sekt
bestellte, um ›auf ihr glückliches Leben‹ anzustoßen.

»Er ist einfach so süß, Lib.« Mel frischte in der Damentoilette

ihren Lipgloss auf. »Er tanzt außerdem ausgezeichnet. Ich liebe
Männer, die tanzen können.«

Gio hatte Mel bereitwillig auf der Tanzfläche herumgewirbelt,

als John verkündete, er sei viel zu nüchtern, um sich zu blamieren.
John konnte tanzen; er war jedoch eher ein Schieber, wohingegen
Gio den frühen Teil des Abends damit verbracht hatte, Libby sehr
gekonnt zu drehen und zurückzuneigen.

»Ja. Er ist fantastisch«, stimmte Libby zu.

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Mel warf ihr einen schnellen Blick im Spiegel zu. »Du bist mir

nicht böse, weil ich ihn eingeladen habe, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Ich freue mich, dass er hier ist«,

protestierte Libby.

»Gut. Weil man sieht, dass er dich vergöttert.« Mel drehte sich

um und schloss ihre Handtasche. »Tony wird auch vorbeikom-
men«, fügte er vorsichtig hinzu.

Das war eine ziemliche Überraschung. Libby hatte Tony seit

Mittwoch nicht gesehen, als sie sich zum Eisessen getroffen hatten.
Da hatte sie ihm erzählt, dass Gio zu Besuch kommen würde, und
seitdem hatte er sich etwas eigenartig verhalten. Sie hatte einerseits
gehofft, dass er vielleicht eifersüchtig war, aber andererseits war sie
irritiert, denn er hatte vor langer Zeit sein Recht verwirkt, eifer-
süchtig zu sein. Tony hatte sehr deutlich gemacht, an was für einer
Art Beziehung er Interesse hatte – und daran war Libby nicht
interessiert.

»Gut. Dann kann er Gio kennenlernen.«
Als sie zurück zum Tisch kamen, versuchte John eifrig, Gio

davon zu überzeugen, dass Baseball allen anderen Sportarten über-
legen war. Libby bemerkte das leichte Lächeln, das um Gios Lippen
spielte, und wusste, dass er sich mehr über John amüsierte als alles
andere. Vielleicht hatten Italiener ja mehr Humor, als sie geglaubt
hatte.

Als Tony das Lokal betrat, winkte Mel ihm wild mit den

Händen über dem Kopf zu, damit er auf sie aufmerksam wurde.

»Super – ich bin so froh, dass ich dich in diesem Menschen-

meer gefunden habe, Schwesterchen«, neckte er sie, als er den hal-
bleeren Raum überblickte.

»Ha ha, sehr lustig.« Sie verpasste ihm einen Klaps und zog

einen Stuhl zu sich heran, damit er sich neben sie setzen konnte.
Tony ignorierte sie jedoch und setzte sich auf einen Stuhl auf
Libbys anderer Seite.

Aus irgendeinem Grund war diese Vorstellungsrunde etwas

unbehaglicher. Um genau zu sein, kannte Libby den Grund, sie

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versuchte ihn jedoch beiseitezuschieben und sich normal zu verhal-
ten. Das Lustige ist jedoch, dass man ein sehr guter Schauspieler
sein muss, um Normalität vorzuspielen.

»Der Küchenchef«, bestätigte Tony und nickte ihm zu.
»Der Schriftsteller«, sagte Gio schroff.
»Ganz genau. Mein dritter Roman ist gerade auf der Best-

sellerliste gelandet.« Tony versuchte ganz klar abgeklärt und
gelangweilt zu klingen, aber seine Aufregung gewann doch die
Überhand.

Am Tisch brach unvermittelt Tumult aus. Mel und Libby ver-

wickelten Tony stürmisch in eine Drei-Personen-Umarmung und
John johlte seine Glückwünsche. Tony grinste und lachte und
erzählte ihnen, dass er von der Möglichkeit gewusst, aber erst am
Morgen den Anruf von seinem Agenten bekommen hatte, und dass
er ziemlich weit unten auf der Liste sei, aber auf der Liste zu sein
war das einzig Wichtige. Gio bestellte mit einer Handbewegung
eine weitere Runde Sekt zum Feiern. John würde später Tonys un-
berührtes Glas austrinken.

»Mia Betta. Du hast talentierte Freunde.«
»Das ist wahr.« Libby war so stolz auf Tony, dass sie nicht

merkte, dass Gio sich nun anders verhielt.

»Wie hast du sie genannt?«, schwärmte Mel von der anderen

Seite des Tisches.

»Das ist mein Name auf italienisch.« Libby zuckte mit den

Schultern und errötete. »Gio sagt, dass alles auf Italienisch besser
klingt.«

»Es ist nicht nur ihr Name«, murmelte Tony so leise, dass

Libby sich einreden konnte, sie hätte ihn nicht gehört.

Der Moment verflog jedoch sehr schnell, da Mel eine improvis-

ierte Italienischstunde verlangte. Gio lieferte ihr bereitwillig Über-
setzungen für alle möglichen Ausdrücke, die ihr einfielen. »Er hat
recht! Alles klingt besser!« Ihre Augen wurden plötzlich größer.
»John! Wir könnten unser Eheversprechen auf Italienisch sagen!
Das wäre so romantisch.«

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»Alles was du möchtest, Schatz, aber es wäre nett, wenn un-

sere Familien verstehen könnten, was wir sagen. Zur Hölle – ich
würde es selbst gerne verstehen. Außerdem habe ich bereits alles
auf Englisch auswendig gelernt.«

»Ich bin mir sicher, dass eure Zeremonie genau wie ihr sie ge-

plant habt wunderbar sein wird«, sagte Gio etwas abwesend.

»Du hast natürlich recht.« Mels Laune besserte sich. »Ist es

nicht wie in alten Zeiten, Libby? Wir treffen uns an einem Freit-
agabend? Ich fühle mich, als müssten wir ›Unter dem Meer‹
singen.«

»Lieber nicht! Und lass uns so tun, als hätten wir das nie

gemacht, okay?« Libby warf einen Blick in Richtung Bar und fragte
sich, wieviel ihre Freundin bereits zu trinken gehabt hatte.

»Natürlich nicht, Dummchen. Es ist aber wirklich schade, dass

meine Eltern das Gästezimmer nicht mehr haben. Wir hätten eine
Pyjamaparty machen können und du müsstest nicht alleine in Stu-
arts Haus übernachten.« Mel warf einen nicht eben diskreten Blick
in Gios Richtung.

Libby dachte, dass sie doch lieber alleine in Stuarts Haus

schlief, als an einer Pyjamaparty mit John teilzunehmen. »Das
macht mir nichts aus.«

»Ich habe im Hotel eine Suite«, murmelte Gio mit tiefer

Stimme. »Mit einem herrlichen Ausziehsofa im Wohnzimmer«,
fügte er hinzu, als er die Panik in ihrem Gesicht erkannte.

»Ich habe ein Gästezimmer«, brüllte Tony fast heraus. Er ber-

uhigte sich ein wenig. »Du könntest in meinem Gästezimmer über-
nachten, Libby.«

»Sei nicht lächerlich, großer Bruder«, sagte Mel eisig. »Du hast

noch nicht einmal Möbel.« Daraufhin zog Gio missbilligend eine
Augenbraue noch.

»Ich habe Möbel«, verteidigte sich Tony. »Ich habe nur noch

nichts für das Wohnzimmer ausgesucht.« Er wandte sich an Libby.
»Mein Gästezimmer ist dein Gästezimmer, Lib. Du hast außerdem
mein neues Haus noch nicht gesehen. Bleib das ganze Wochenende,

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wenn du möchtest – es wird dann wie in alten Zeiten sein.« Tony
warf Gio einen bohrenden Blick zu.

Ȁh. Ja, vielleicht. Ich wollte wirklich nicht in Stuarts Haus

übernachten. Und –«, Libby drehte sich zu Gio um, »ich möchte
mich nicht aufdrängen.«

Sie stand auf und verkündete, auf die Toilette zu gehen. »Bes-

tellt mir etwas, falls ich die Kellnerin verpasse, in Ordnung?«, rief
sie über ihre Schulter in die Runde.

Sie verpasste die Kellnerin. Was keine Überraschung war,

denn die lebhafte blonde Frau kam alle fünf Minuten vorbei, wenn
Gio auf seinem Platz saß. Wenn er jedoch tanzte, ging John nor-
malerweise zur Bar und bestellte Getränke – das ging schneller.
Natürlich fing die Kellnerin bei Gio an – zwei Gläser von dem
weißen Hauswein – und sah die anderen kaum an, als sie bestell-
ten. Tony verlangte ein Glas Wasser und eine Kirsch-Cola mit extra
Kirsche.

Als Libby zurückkam, standen ein Glas Wein und ein Glas Cola

an ihrem Platz. Tony hätte vor Freude in die Luft springen und ein-
en Siegestanz aufführen können, als sie nach der Kirsch-Cola griff.
Seine Freude dauerte jedoch nur einen Moment lang an.

»Ballare?«, murmelte Gio und deckte ihre Hand mit seiner zu.

Sie lächelten sich vertraut zu und gingen zur Tanzfläche.

»Betta, hast du gewusst, dass ich einen Freund habe, der ein

Restaurant in New York besitzt?« Gio hielt Libby eng an sich
gedrückt und bewegte sich langsam mit der Musik, wobei er sich
aber hauptsächlich auf Libbys Gesicht konzentrierte.

»Oh? Wolltest du New York besuchen, während du hier bist?

Das sollten wir wirklich tun. Es ist schöner im Herbst, aber im
Sommer ist es auch gut.«

»Vielleicht.« Gio studierte ihr Gesicht auf eine Art und Weise,

die sie beunruhigte. Als ob er kurz davor wäre, eine Entscheidung
zu treffen. »Meine Freundin Elaine, sie lebt jetzt in New York, aber
sie verbringt ihre Winter in Italien. In letzter Zeit habe ich mir

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überlegt, dass ich meine Zeit ähnlich einteilen könnte. Vielleicht
sechs Monate hier und Herbst und Winter in Rom?«

Libby starrte ihn etwas verblüfft an. »Du möchtest jedes Jahr

sechs Monate in New York verbringen?«

Gio atmete tief durch. »Nein. Ich hatte eher North Carolina in

Betracht gezogen. Ich dachte, dir würde ein Winterquartier in Rom
gefallen.«

Libby begriff langsam. Gio wollte mit ihr zusammen sein. Hier

und in Rom. Sie würde natürlich etwas dazu sagen – sobald sie sich
daran erinnern konnte, wie man atmet.

»Ah, mia Betta. Ich hatte nie eine Chance, oder?«
Libby war immer noch zu sehr damit beschäftigt, Luft in ihre

Lungen zu zwingen und wieder herauszupressen, um eine intelli-
gente Antwort geben zu können. »Hmm?«

»Gegen den großen Bruder da drüben – ich hatte nie eine

richtige Chance, oder?«

»Was? Nein, natürlich hattest du eine Chance – hast! Natür-

lich hast du eine Chance. Es ist nur so eine große Veränderung für
dich und ich bin mir nicht sicher … Gio, ich möchte mit dir zusam-
men sein.«

»Nein, Betta. Ich glaube, dass dir die Vorstellung gefällt, mit

mir zusammen zu sein.« Gio küsste sie zart und lehnte sich vor, so-
dass seine Stirn ihre berührte. »Es hätte wundervoll werden
können mit uns beiden!«

Libby seufzte. »Ich glaube, ich brauche nur etwas Zeit …«
»Das dachte ich auch. Ich wusste, dass jemand hier immer

noch Einfluss auf dich hat, aber ich muss zugeben, ich hatte gehofft,
dass Zeit und Entfernung ein unüberwindliches Hindernis sein
würden – für ihn. Es ist in Ordnung so. Ich sehe, wie ihr beiden
euch anschaut, und ich möchte, dass du glücklich bist.«

»Tony. Er sieht mich nicht so«, gab Libby leise zu.
»Dann ist er wohl ein Schwachkopf.« Libby musste lachen.

»Kannst du dich an das Treffen mit meiner Nona erinnern?«

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»Natürlich.« Im letzten Herbst hatte Libby großes Heimweh

gehabt. Rom war wunderschön gewesen, aber niemand feierte
Thanksgiving. Gio brachte sie zum Haus seiner Großmutter. Dort
hatte Nona eine komplette Thanksgiving-Mahlzeit gekocht. Natür-
lich servierte sie gebackene Ziti und Bruschetta als Beilagen zum
Truthahn. Libby war aber sowieso eher ein Mensch, für den der
Gedanke zählte.

»Wusstest du, dass sie mit meinem Großvater nur 16 Monate

verheiratet war, bevor er ermordet wurde?«

»Das ist schrecklich.«
»Lass sie das nie hören.« Gio schmunzelte leicht. »Nona find-

et, dass sie in den 16 Monaten mehr geliebt hat als manche
Menschen in ihrem ganzen Leben. Sie glaubt, sie hat Glück gehabt.
Sie hat nie wieder geheiratet – sie sagt, manchmal dauert eine
Liebe ein ganzes Leben lang an.«

»Das ist wunderschön. Traurig, aber wunderschön«, flüsterte

Libby und dachte daran, wie Nona all die Jahre nur von Erinner-
ungen gelebt hatte.

»Eine Liebe wie diese möchte ich auch finden. Ich glaube, ich

werde nach New York gehen. Morgen früh.«

»Morgen!«
»Si. Ich habe vier Wochen frei und ich habe gesagt, dass ich

Amerika sehen möchte. Ich komme wieder hierher, bevor ich
zurück nach Italien fliege. Ich denke, wir werden großartig mitein-
ander auskommen – als Freunde.«

»Danke, Gio.« Libby wusste nicht, was sie sonst noch sagen

konnte.

»Danke, Betta, mein amerikanisches Abenteuer. Komm. Sollen

wir seine Aufmerksamkeit wecken?« Gio hatte ein Funkeln in den
Augen.

»Du möchtest mir helfen, Tony eifersüchtig zu machen?«
Gio lachte leise und drehte Libby in einem weiten Bogen, bevor

er sie wieder zu sich heranzog. »Tony und jeden anderen Mann im

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Raum. Wusstest du, dass du heute Abend das Ziel großer Eifersucht
bist?«

Der Rest des Abends verging ohne weitere Vorfälle. Gio pro-

vozierte Tony weiterhin subtil, und Tony reagierte weiterhin gereizt
auf die Worte ›Mia Betta‹. Im Großen und Ganzen hatten sie aber
alle Spaß. Als Gio sich verabschiedete mit den Worten, er sei noch
müde vom Flug, begleitete Libby ihn zur Tür und umarmte ihn fest.
»Wir sehen uns in einem Monat?«

»In einem Monat.« Er verabschiedete sich und gab ihr einen

Kuss auf die Wange.

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17. Kapitel

Kurz nachdem Gio gegangen war, brachen auch Mel und John auf.
»Bist du bereit, Lib?«, fragte Tony leise und fast etwas mürrisch, als
er aufstand.

»Oh.« Libby erinnerte sich daran, dass sie zugestimmt hatte,

in seinem Gästezimmer zu übernachten. »Äh, ja. Ich glaube aber,
ich gehe einfach zurück zu Stuarts Haus.«

Tony schüttelte seinen Kopf. »Du hast etwas getrunken. Und

das bedeutet, dass du mit mir fährst. Und mein Auto fährt nach
Hause. Lass uns gehen.«

Tony wusste ganz genau, dass Libby seit Stunden nichts mehr

getrunken hatte und dass Stuarts Haus mehr oder weniger auf
seinem Heimweg lag; er hätte sie dort absetzen können. Er wollte
sie aber für sich allein haben. Er hatte es schrecklich gefunden, sie
den ganzen Abend lang mit Gio teilen zu müssen. Und er wollte sich
Zeit lassen! Er war so ein Idiot. Er hätte sie vom Flughafen mit dem
Standesbeamten im Schlepptau abholen sollen. Jetzt musste er mit
der italienischen Antwort auf ›Let’s Dance‹ höchstpersönlich
konkurrieren, anstatt nur mit der Erinnerung an ein europäisches
Liebesabenteuer. Das sollte nicht heißen, dass er aufgeben würde.
Auf keinen Fall. Er würde so unnachgiebig kämpfen wie immer.

Auf dem Weg zum Auto und während der gesamten Fahrt

zurück zu seinem Haus schäumte Tony vor Wut. Er hasste Gio! Er
hasste ihn. Mel hatte erwähnt, dass er älter war, aber mal im Ernst
… Der Typ war uralt! Wie er sie den ganzen Abend befummelt

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hatte! Er hatte ständig ihren Arm berührt oder nicht vorhandenes
Haar aus ihrem Gesicht gestrichen. Es war geradezu peinlich
gewesen. Tony hatte kaum den Impuls unterdrücken können, Libby
zu packen und so schnell er nur konnte zur Tür zu rennen, als er
zum ersten Mal gehört hatte, wie Gio ›Mia Betta‹ mit der Stimme
eines Liebhabers geflüstert hatte. Mia bedeutet ›mein‹. Also gut,
mein Freund, überlegte sich Tony, denk noch mal genau darüber
nach, denn Libby ist seit Jahren mein … Sie hat es nur noch nicht
begriffen. Aber sie würde es begreifen. Tony musste nur den richti-
gen Weg finden, um es ihr zu zeigen. Wie konnte er sie davon
überzeugen?

»Also … sind wir da?«
Tony bemerkte, dass er in seiner Einfahrt geparkt hatte, und

fragte sich, wie lange er dort schon geistesabwesend gesessen hatte.
»Oh, tut mir leid, Lib. Ich bin wohl müde. Ja, wir sind da.«

Tony und Libby mussten zur Tür rennen. Der Nieselregen vom

Morgen hatte sich zu einem Regenschauer entwickelt, dann zu
einem Platzregen, und jetzt sah es so aus, als würde als nächstes ein
Wolkenbruch kommen.

Tony hatte ein hübsches Steinhaus im viktorianischen Stil. Es

gab eine kleine überdachte Terrasse mit einer Verandaschaukel
links neben der Eingangstür. Es sah wie ein Zuhause aus, dachte
Libby. Sie schaute sich drinnen um und musste kichern, als sie das
Wohnzimmer sah.

»Ich dachte, du hast keine Wohnzimmermöbel!«, neckte sie

ihn, als sie sich in einen Gartenstuhl aus Plastik fallen ließ – einen
von vier Stühlen, die in dem sonst leeren Raum standen.

»Nun ja, ich wollte nicht angeben.« Tony ließ sich in einem an-

deren Stuhl nieder und streckte sich dramatisch. »Ich werde Möbel
kaufen«, sagte er dann etwas ernster. »Nach den Neuigkeiten mit
meinem Buch sollte Geld auch kein Problem mehr sein.«

Libby nickte schläfrig. »Das ist toll, Tony. Du musst dich nicht

vor dem Mädchen rechtfertigen, das im sardinenbüchsengroßen

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Gästezimmer ihres Stiefvaters lebt. Zeig mir den Rest!« Sie sprang
aus dem Stuhl auf.

Die Küche mit einer großen Kochinsel sah gemütlich aus und

war offen hin zu einem genauso gemütlich aussehenden Esszim-
mer. Die Bäckerin in Libby bemerkte die großzügigen Arbeits-
flächen und den Doppelofen. Das war eine Traumküche. Ungeb-
etene Bilder von Tony in einer pinkfarbenen Schürze, wie er Kekse
in sich hineinstopfte, kamen ihr in den Sinn.

»Kann ich dir etwas anbieten? Ich habe Saft – und das ist so

ziemlich alles.« Tony steckte seinen Kopf in den Kühlschrank. »Tut
mir leid. Ich gehe viel essen. Ich habe vielleicht irgendwo etwas Li-
monadenmix.« Tony durchstöberte seine leeren Küchenschränke,
als ob das Herumschieben des spärlichen Inhalts in den Regalen
eine verlockendere Auswahl produzieren würde.

»Ich brauche nichts, Tony.«
Libby durchstreifte die beiden Räume. Sie gefielen ihr. Sie

mochte das Haus. Dass sie hier heute so spät am Abend mit Tony
allein war, fühlte sich sehr vertraut an. Die Situation erinnerte sie
ein wenig an die nächtlichen Monopoly-Spiele der beiden – nur war
das Gefühl ungefähr tausendmal stärker. Plötzlich realisierte sie et-
was – und es traf sie wie ein Schlag. In Wirklichkeit rührte der Sch-
lag vom Donner von draußen, aber die Wirkung auf Libby war die
gleiche. Als sie dort stand und ihre nasse Kleidung Tropfen auf dem
Fliesenboden hinterließ und Tony sich törichterweise Sorgen um
die Getränkeauswahl machte, kam Libby zu der Erkenntnis, dass
sie Nona war. Tony hatte sie für alle zukünftige Romantik ver-
dorben. Noch nicht einmal heiße italienische Küchenchefs, die sie
anhimmelten und ihr gesamtes Leben für sie umwerfen wollten,
waren in der Lage, ihr Herz zu erobern. Sie würde Tony für den
Rest ihres Lebens lieben. Mist.

»Also, ich verspreche dir, dass ich das morgen früh wiedergut-

machen werde, indem ich das beste Take-away-Frühstück besorge,
das man finden kann.« Tony gab seine Suche auf und drehte sich zu

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Libby um, die gedankenverloren ins Leere starrte. »Du siehst müde
aus. Möchtest du dein Zimmer sehen?«

»Okay.« Benommen folgte Libby Tony die mit Teppich belegte

Wendeltreppe hinauf. Sehr charmant, dachte sie. Genau wie der
Rest des Hauses und wie Tony.

»Also, das ist das Badezimmer – im Hauptschlafzimmer gibt

es noch ein Bad, deshalb kannst du das hier für dich alleine haben.
Und mein Zimmer ist hier drüben.« Obwohl sie das nicht wissen
muss, rügte Tony sich selbst. »Das ist dein Zimmer.« Tony öffnete
die Tür, und das Gästezimmer mit den Möbeln, die er damals als
Kind bei den Marchettis gehabt hatte, kam zum Vorschein.

»Kein Wunder, dass deine Eltern kein Gästezimmer mehr

haben«, neckte Libby ihn und betrat den Raum.

Irgendetwas stimmte nicht. Wo kam das Geräusch her? Sie

sahen es beide zur gleichen Zeit.

»Verdammt!« Tony sprang nach vorne und befühlte das Bett.

Es war klitschnass. Von der Decke kam ein ständiges Tropfen. »Oh
Mann!« Tony stöhnte und zog die Bettdecke weg, wodurch eine
durchnässte Matratze zum Vorschein kam. »Kennst du ein paar
gute Dachdecker?«, witzelte er lässig über seine Schulter.

»Tut mir leid, nein.« Libby schüttelte ihren Kopf. »Ist es sehr

schlimm?«

»Es hätte schlimmer sein können. Das Bett kann man jetzt

wegschmeißen, aber der Boden wurde dadurch gerettet. Ich wusste,
dass das Dach repariert werden muss. Ich hatte nur bisher keine
Zeit, mich darum zu kümmern. Vielleicht hätte ich mir etwas Zeit
nehmen sollen.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Gut.
Schadensbegrenzung.« Er rannte aus dem Zimmer und kam mit
einer Plastikplane und einem großen Kochtopf zurück. Er rückte
das Bett aus dem Weg und deckte die Stelle mit der Plastikplane ab,
um den Boden zu schützen, falls der Kochtopf nicht alle Tropfen
auffing. Danach trug er das Bettzeug hinunter in die Waschküche.

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Nachdem sie getan hatten, was sie konnten, standen sich Tony

und Libby im Gang gegenüber und starrten sich an. Denn es gab
nur noch ein Bett.

»Tut mir leid, Lib. Hör zu, nimm mein Zimmer. Ich …«
»… schlafe auf dem Sofa?«, beendete Libby den Satz für ihn

und grinste ihn an.

»Auf dem Boden, würde ich sagen.« Tony machte bei dem

Gedanken eine Grimasse.

Libby wusste, dass die nahe liegendste Lösung war, ihn zu bit-

ten, sie zurück zu Stuarts Haus zu fahren. Seit ihrer Erkenntnis in
der Küche hatte sich aber ein anderer Gedanke in ihrem Hinterkopf
eingeschlichen – sie war nicht wirklich Nona, denn Nona hatte
glückliche Erinnerungen, die sich über 16 Monate erstreckten.
Wenn Libby also dazu verurteilt war, den Rest ihres Lebens allein
zu verbringen, dann wollte sie vorher auf jeden Fall wenigstens eine
glückliche Erinnerung schaffen.

»Können wir nicht teilen?« Libby hoffte, dass sie verführerisch

klang. Sie hatte in ihrem Leben nicht viel Gelegenheit gehabt, ver-
führerisch zu sein, deshalb improvisierte sie jetzt. »Ich meine, wir
sind doch beide erwachsen und alte Freunde … Ich bin mir sicher,
dass es kein Problem sein wird, zu teilen.« Okay, jetzt verwechselte
sie verführerisch mit flittchenhaft. Sie war aber langsam sehr verz-
weifelt, deshalb funktionierte flittchenhaft vielleicht. Davon abgese-
hen – Tony hatte bisher sowieso nur Interesse an ihr als einer Gele-
genheitspartnerin gezeigt. Vielleicht war flittchenhaft gut? Nein, so-
viel Stolz hatte sie noch. Flittchenhaft war gestorben.

Tonys Kehle wurde trocken. Genau wie sein Gehirn – denn all

sein Blut schien sich in eine andere Richtung zu bewegen. Wie viel
hatte sie getrunken? Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was sie da
sagte? Tony versuchte, sich an den Abend zu erinnern und die
Stunden zu zählen, seit sie ihr letztes Glas Wein getrunken hatte. Er
hatte den ganzen Abend nichts außer Wasser gehabt. Er hatte sich
selbst bestraft, indem er all diese ›Mia Bettas‹ stocknüchtern über-
stand. Er war sich ziemlich sicher, dass ihr letztes Glas Wein

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mehrere Stunden zurücklag – ziemlich sicher, aber nicht
hundertprozentig.

»Tony?«
»Wir können das Bett teilen. Ich glaube, das ist in Ordnung für

mich.« Er konnte es nicht. Gut, er konnte … Physisch konnte er es
auf jeden Fall. Aber man geht nicht mit der Frau, die man liebt,
zum ersten Mal ins Bett, nachdem sie die ganze Nacht getrunken
und noch dazu mit einem anderen Mann getanzt hatte. Das war
heute Nacht. Morgen würde alles ganz anders aussehen. »Äh, warte
hier.«

Tony hastete in sein Schlafzimmer und Libby hörte ein paar

dumpfe Schläge und Knallgeräusche. Er räumte für sie auf! So un-
glaublich lieb.

»Okay. Besser geht’s im Moment nicht.« Sein Kopf erschien

wieder in der Tür zum Gang.

Als Libby in Tonys Schlafzimmer ging, schlug ihr Magen

Purzelbäume. Es erinnerte sie so sehr an die Nächte, als sie als
Teenager Monopoly gespielt hatten. Nur dass sie keine Teenager
mehr waren und Tonys Eltern nicht mehr gleich nebenan schliefen.
Und sie hatten kein Monopoly-Brett.

»Hübsch«, kommentierte Libby, als sie sich im Schlafzimmer

umsah. Das Bett war groß und halbwegs gerichtet. Sie hatte das Ge-
fühl, dass er gerade erst die Bettdecke darübergeworfen hatte. Ein
großes Panoramafenster überblickte seinen Garten oder hätte sein-
en Garten überblickt, wenn es draußen nicht dunkel gewesen wäre.
An einer Seite war eine Tür, die wahrscheinlich zum Badezimmer
führte, es gab einige dunkle Holzkommoden, die an der anderen
Wand standen, und passende Nachttische rechts und links des
Bettes.

»Ja, es ist hübsch.« Tony wollte, dass sie es liebte. Er wollte ihr

sagen, dass er alles nur für sie gekauft hatte – das Bett, die Kom-
moden und das ganze verdammte Haus waren für sie. Und es war
nur ein Teil der Werbekampagne, mit der er sie für sich gewinnen

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wollte; er wollte ihr zeigen, dass er ihr so viel geben konnte wie
jeder italienische Chefkoch.

»Tony?«
»Ja?«
»Ich habe keinen Schlafanzug.«
»Was?«
»Dein Auto ist nur hierher gefahren, erinnerst du dich?«
»Ja, richtig.« Er hatte sich in der Bar etwas idiotisch verhalten,

aber er hatte sich gefreut, Libby für sich zu haben – und dann hatte
sie gesagt, sie wollte zurück zu Stuarts Haus. Ja, er war ein Depp
gewesen. Er hätte wenigstens anhalten können, damit sie eine
Tasche packen konnte. »Möchtest du dir ein T-Shirt leihen?« Er
würde nie schlafen können, wenn sie mit nichts als seinem T-Shirt
neben ihm lag. Eigentlich hatte er sowieso nicht vor, zu schlafen.

»Ich habe ein Camisole drunter an … vielleicht kannst du mir

ein paar Boxershorts leihen?«

»Natürlich, hier.« Tony ging wie benommen zur Kommode

und warf ihr ein Paar blaue Boxershorts zu. Er wunderte sich, was
ein Camisole war. Wahrscheinlich eine Art Unterhemd, vermutete
er. Er zog einige zusätzliche Kissen oben aus dem Schrank und
begann, sie in der Mitte des Bettes aufzustellen. »Äh, nur für alle
Fälle«, murmelte er, als sie ihn fragend ansah.

Natürlich. Libby brach innerlich zusammen. Sie hatte ganz of-

fensichtlich keine Ahnung, was flittchenhaft, verführerisch oder
sonst irgendetwas dieser Art war. Er war entschlossen, die Gelegen-
heit nicht zu nutzen, und sie war zu beschämt, um wagemutiger zu
sein. Es würde keine schöne Erinnerung geben. »Ich gehe nur ins
Bad und ziehe mich um.«

Niedergeschlagen ging Libby in das Badezimmer im Gang und

zog sich um. Sie hängte ihr Kleid über die Badewanne, damit es am
nächsten Tag nicht zerknittert aussah, und ging zurück in Tonys
Zimmer.

Okay, kein Unterhemd! Ein Camisole war offensichtlich ein

Foltergerät aus Seide und Spitze. Tony konnte kaum seine Augen

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von Libby abwenden, so wunderhübsch sah sie aus. Ihr Camisole
war beige (praktisch hautfarben) und oberhalb der Brüste reizvoll
in Spitze eingefasst. Brüste, die unter dieser Seide offensichtlich
nackt waren. Das Material warf am Ausschnitt kleine Falten. Tony
fragte sich, was er wohl zu sehen bekäme, wenn sie sich leicht nach
vorne lehnte.

»Ich dusche nur kurz.« Kalt. »Du brauchst nicht auf mich zu

warten.« Tony ging ins Badezimmer und drehte sich nicht wieder
um.

Libby, die jetzt offiziell eine gescheiterte Verführerin war, legte

sich auf ihre Seite des Bettes und passte dabei auf, nicht die große
Kissenwand zu zerstören; dann schlief sie ein … irgendwann.

Tony duschte lange und kalt. Dann wartete er, zählte bis

tausend, legte den sauberen Stapel Handtücher in seinem Wäsches-
chrank zusammen, putzte die Toilette und versuchte sich an alle
Staaten von Amerika in alphabetischer Reihenfolge zu erinnern (er
konnte nur 47 aufzählen – Moment, North Carolina war Nummer
48!). Dann ging er leise zurück ins Zimmer, legte sich ins Bett und
wartete darauf, einzuschlafen. 6 mal 8 ist 48, 7 mal 8 ist 56, 8 mal
8 ist 64.

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18. Kapitel

Das war sein bester Traum. Tony träumte von Lavendel, Seide und
samtweicher Haut. Im besten Traum, den er jemals gehabt hatte,
lag Libby eng an ihn gekuschelt vor ihm – eine seidenbedeckte
Brust füllte eine seiner Hände aus, während sich ihre Hüfte ver-
führerisch unter der anderen wölbte. Die Libby in seinen Träumen
trug natürlich normalerweise keine Shorts, aber das machte nichts;
er zog die Baumwolle soweit nach unten, dass er Zugang zu einer
Handvoll warmer weicher Haut hatte. Die Traum-Libby gab ein
sanftes Stöhnen von sich. Tonys Augen öffneten sich schlagartig.
Libby, die richtige Libby, hatte sich an ihn gekuschelt. Ihr weiches
perfektes Hinterteil schmiegte sich an seine Hüften und ihre Beine
waren mit seinen verschlungen. Er reckte seinen Hals ein wenig
und sah einen Kissenhaufen, der sich zu ihren Füßen gebildet hatte.
Wer hatte die Kissen bewegt? Na klar, er war derjenige auf der
falschen Seite des Bettes. Libby stöhnte wieder.

Tony versuchte, nicht in Panik zu geraten. Er versuchte eben-

falls, nicht an die unglaublichen Empfindungen zu denken, die ihn
erwarteten, wenn er sich nur ein klein wenig weiter nach vorne
schieben würde. Erste Lektion, wie man eine Frau schreiend in die
Arme eines anderen Mannes schickt: Belästige sie, während sie
schläft. Was zum Teufel war los mit ihm? Langsam und vorsichtig
bewegte er das Gummiband der geborgten Shorts, bis es wieder
zurück an seinem Platz war. Sie lag immer noch auf seinem Arm.
Tony, der seinen Atem anhielt und hoffte, dass sie nicht aufwachte,

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wiegte sie in einer lockeren Umarmung und rollte ihre beiden
Körper sanft hin und her, bis er in der Lage war, seine Hand zu be-
freien. Er spürte einen Schmerz in seiner Brust, als er den Verlust
ihrer Wärme und ihres Gewichts fühlte. Seine Arme wollten sich
wieder ausstrecken und sie an sich ziehen, deshalb stand er auf und
stakste in sein Badezimmer, um wieder kalt zu duschen.

Zwanzig Minuten später und erstaunt über die Nutzlosigkeit

kalter Duschen kam Tony auf Zehenspitzen wieder zurück ins Sch-
lafzimmer. Er warf nicht einen einzigen Blick auf das Bett. Sein
Körper verlangte, dass er wieder ins Bett ging und seinen Traum
beendete. Vielleichte sollte er das Haus verlassen? Frühstück – er
schuldete ihr das beste Frühstück zum Mitnehmen, das er finden
konnte. Tony erinnerte sich an sein Versprechen vom vorherigen
Abend. Ein Handlungsplan begann sich in seinem Kopf zu entwick-
eln. Er würde kurz hinausschleichen und Pfannkuchen zum Früh-
stück zurückbringen.

Sie hatte wahrscheinlich später irgendwelche Verabredungen

mit dem Chefkoch; er würde jedoch ihren gemeinsamen Morgen
voll auskosten. Da er nun einen Plan gefasst hatte, durchquerte
Tony den Raum, um an seinem Schreibtisch eine Nachricht für sie
zu schreiben, falls sie aufwachte, bevor er mit dem Frühstück
zurück war. Er blieb am Fußende des Bettes stehen, als er ein
kleines Geräusch hörte und aus dem Augenwinkel eine Bewegung
bemerkte.

Als Tony sich umdrehte, sah er Libby – Augen immer noch

geschlossen, auf den Rücken gedreht, die Zudecke bis zur Taille
heruntergerutscht und eine Hand unzweifelhaft unter ihrer Cam-
isole. Er blieb wie angewurzelt stehen und fühlte, wie sich sein
Körper fast schmerzhaft zusammenzog. Er konnte ein Stöhnen
nicht verhindern, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte.

Libby war plötzlich völlig wach und öffnete ihre Augen. Da ihr

peinlich bewusst wurde, in welcher Position Tony sie erwischt
hatte, schloss sie sie sofort wieder.

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»Morgen, Lib.« Tonys volle Stimme schwebte zu ihr hinüber.

»Was gibt’s?«

Sie wagte, ihm einen verstohlenen Blick zuzuwerfen. Sein

Gesicht war hungrig und voller Lust. Natürlich, dachte sie, er hatte
ihren Körper immer attraktiv gefunden. Er hatte aber keine Ver-
wendung für ihr Herz. »Äh … Ich hatte einen Traum«, sagte sie
ausweichend.

»Das glaube ich auch. Möchtest du mir davon erzählen?« Ich

glaube nämlich, dass ich den gleichen Traum hatte, fügte er zu sich
selbst hinzu.

Auf keinen Fall, dachte Libby. Auf gar keinen Fall würde sie

zugeben, dass sie geträumt hatte, in seinen Armen zu liegen, und
von seinen morgendlichen Bartstoppeln, die auf ihrer Wange krib-
belten, während er sich über ihr Haar neigte und ihren Duft tief
einatmete. »Gio. Natürlich habe ich von ihm geträumt.«

Tony sah rot. »In meinem Bett! Du lagst in meinem Bett … und

hast getan, was du getan hast, und hast an einen anderen Mann
gedacht!« Er starrte sie an, forderte sie heraus, ihre Antwort zu
ändern.

»Äh … Ich …« Libby handelte aus ihrem Schock heraus. Sie

rutschte ein wenig auf dem Bett nach hinten. Warum hatte sie das
gesagt? Sie hätte eine Antwort verweigern können. Ihn zu beleidi-
gen, war nicht die Art, wie sie ihn zu sich ins Bett bekommen
würde. Sie wollte ihn nur überzeugen, dass sie nicht nach einer
emotionalen Bindung suchte und dass sie mit Sex ohne Bedingun-
gen umgehen konnte. Sie wollte, dass er ihr zu dieser einen Erin-
nerung verhalf, nach der sie sich die ganze Nacht lang gesehnt
hatte. Jetzt würde er sie sicher aus seinem Haus werfen.

»Dann weiß ich jetzt, was ich zu tun habe.« Tony streckte eine

Hand aus und hielt sie am Knöchel fest. Er zog sie zum Ende des
Bettes.

»Ich werde dir zeigen, wovon du träumen solltest. Liebling, ich

werde dich lieben, bis du dich noch nicht einmal mehr an den Na-
men von Eros Ramazzotti hier erinnern kannst.« Er stieg ins Bett,

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streckte seinen Körper über ihrem aus und gab ihr einen langen,
leidenschaftlichen Kuss. »Wir werden dieses Bett nicht verlassen,
bis ich jeden Gedanken an einen anderen Mann aus deinem hüb-
schen Kopf vertrieben habe.«

»Okay.«
Tony begann, sein Versprechen einzulösen, indem er sie den

Hals entlang küsste, wobei seine Zunge über ihre Haut strich und
jeden köstlichen Zentimeter von ihr aufnahm. Er fuhr mit seinen
Händen an ihrem Bauch hinunter, bis sie den Saum ihrer Camisole
zu fassen bekamen, dann zog er das Top nach oben und entblößte
ihre perfekten Brüste mit ihren rosafarbenen Spitzen. Tony legte
seine Hände über ihre Brüste und fuhr fort, mit seiner Zunge ihren
Körper zu erobern. Er leckte eine Spur zu einer der Spitzen und
umkreiste dort mit seiner Zunge einen harten Nippel, wobei er den
anderen zwischen Daumen und Zeigefinger rollte. Ihr Körper wöl-
bte und drehte sich unter ihm und flehte nach mehr
Aufmerksamkeit. Er kam ihr entgegen, indem er den Prozess in
umgekehrter Reihenfolge wiederholte.

Libby fühlte, wie jeder Nerv in ihrem Körper vor Lust explod-

ierte, zur gleichen Zeit sehnte sie sich jedoch nach mehr. In ihrer
Brust entstand ein heißes und hungriges Verlangen. Sie versuchte,
sich mit dem Berühren und Schmecken seiner Haut zu befriedigen,
doch er wich ihren Versuchen rücksichtslos aus. »Lass mich das
machen, Liebling«, befahl er und drückte sie zurück auf das Bett.
»Ich möchte, dass du dich gut fühlst. Ich kann so gut zu dir sein.«
Er murmelte dies halb zu sich selbst, während er weitermachte.

Für Tony war sie wie ein göttliches Wesen und seine Zunge

und seine Hände drückten jeden Knopf, den er je entdeckt oder
über den er je gelesen hatte oder den er sich auch nur am Körper
einer Frau vorgestellt hatte. An ihrem Körper gab es keine Stelle,
die er nicht liebte. Er zog ihr seine Boxershorts und ihren Slip aus
und warf sie achtlos zu Boden. »Du bist so wunderschön«, flüsterte
er gegen ihre Haut, als er sie rund um ihren Bauchnabel küsste.
»Ich wusste es.«

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Langsam hob er eines ihrer Beine an und begann, sich von der

Fessel aus aufwärtszuarbeiten, wobei er der Haut in ihrer Kniekehle
besondere Beachtung schenkte. Als er die Stelle erreicht hatte, wo
sie ihn am meisten wollte, warf er ihr ein schelmisches Lächeln zu
und übersprang das obere Ende ihres Schenkels, um sich an ihrem
anderen Bein an die Arbeit zu machen.

Als er endlich seinen Hunger überall an ihrem Körper gestillt

hatte – oder besser gesagt, fast überall an ihrem Körper – kehrte
Tony zu ihrer intimsten Stelle zurück. Er ließ seine Zunge schnell
über sie gleiten. Sie stöhnte. Männlicher Stolz überkam ihn. Er war
dafür verantwortlich, dass sie diese Geräusche machte. Er hatte sie
dazu gebracht, dass sie nur noch unverständliche und lustvolle
Laute von sich geben konnte. Er neigte ihre Hüften, um sie besser
erreichen zu können, und saugte und knabberte an ihrer köstlichen
Haut.

»Bitte«, flehte sie über ihm.
Er erkannte, dass sie kurz davor war. »Es ist okay, mein Herz.

Lass es einfach geschehen«, trieb er sie an, als er seine Bemühun-
gen verdoppelte.

Die Erlösung wusch über sie hinweg wie Wellen im Meer – un-

glaubliche, lusterfüllte Wellen. »Oh, Tony«. Sie atmete aus, als sie
wieder zur Erde zurückkehrte.

Sein Name. Sein Bett. Seine Libby. Seine Name. Sein Bett.

Seine Libby. Ein Nebel der Lust erfüllte Tonys Gehirn, als er hörte,
wie sie seinen Namen ausstöhnte.

»Beweg dich nicht«, befahl er ihr. Widerwillig, sie auch nur

einen Moment zu verlassen, reckte sich Tony nach seinem Nacht-
tisch. Er stöberte darin herum und kam mit einem Folienpäckchen
zu ihr zurück. Nachdem das erledigt war, gab Tony ihr einen weit-
eren langen Kuss. Dieses Mal waren ihre Zungen heiß und fordernd
miteinander verschlungen, während er ihre Schenkel griff und in
sie eindrang.

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Unter ihm schrie Libby in seinem Mund auf. Tony lag nun still

auf ihr. Schmerz spiegelte sich in ihren Augen, wo noch vor einem
Moment Verlangen gewesen war.

»Libby?« Eine Welle der Zärtlichkeit überfiel ihn. Sie hatte

ihm etwas so Kostbares anvertraut. »Warum hast du mir das nicht
gesagt? Ich wäre vorsichtiger gewesen …«

»Noch etwas vorsichtiger und ich wäre vor Verlangen in Ohn-

macht gefallen«, flüsterte Libby, während sie sein Kinn küsste.

Er blieb still liegen; er wusste nicht, wie er weitermachen soll-

te, aus Sorge, ihr noch mehr wehzutun, war aber auch nicht in der
Lage, sich zurückzuziehen.

»Tony?«
»Hmm?«
»Du weißt, wie das funktioniert, oder? Ich denke, einer von

uns sollte das wissen.«

Tony lachte sanft in sich hinein. »Natürlich, Herz – es ist nur

… Ich möchte dir nicht weh tun, Libby.«

»Oh. Okay. Du tust mir nicht weh.« Tony sah sie skeptisch an.

»Wirklich«, beharrte sie. »Es hat nur eine Sekunde lang wehget-
an.« Libby bewegte ihre Hüften versuchsweise.

Tony knurrte und drang etwas tiefer in sie ein. Mit langen, be-

dachten Stößen begann er, sie zu einem langsamen sinnlichen
Höhepunkt zu bringen. Als sie unter ihm erzitterte und wieder sein-
en Namen stöhnte, verließ ihn jegliche Kontrolle. Er nahm sie
schneller und schneller und holte sich von ihr all die Dinge, die sein
Körper brauchte. Schließlich, nachdem er ihren Namen heraus-
gestöhnt hatte, brach er auf ihr zusammen. Tony rollte sich zur
Seite, um sie nicht zu zerquetschen, zog sie an seine Brust und
drückte ihr atemlose Küsse auf ihr Gesicht und ihr Haar und alle
anderen Stellen, die er erreichen konnte.

»Wow«, brachte Libby nach einiger Zeit heraus.
»Geht es dir gut? Es tut mir leid, ich war am Ende ein wenig …

ähem, enthusiastisch.«

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»Mir hat ›enthusiastisch‹ gefallen«, schnurrte Libby an seiner

Brust. Eine Welle der Erkenntnis überrollte sie und ihr wurde be-
wusst, dass sie nun all das fühlen und probieren konnte, was sie
bisher versäumt hatte. Ihre Finger kratzten verführerisch über
seine Bauchmuskeln. Libby, die die Härte seines Körpers genoss,
wurde mutiger mit ihren Liebkosungen und wollte ihn so befriedi-
gen, wie er sie befriedigt hatte.

»Warte.« Tony hinderte sie daran fortzufahren, indem er ihre

zierlichen Hände mit seinen Händen an seinem Bauch abfing.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Das ist unmöglich, Lib.« Tony drückte ihr einen schnellen

Kuss auf die Lippen. »Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich
danach gesehnt habe, deine Hände auf mir zu spüren. Wir können
das aber jetzt nicht gleich wieder ausprobieren.«

»Oh, richtig. Das wusste ich.« Libby nickte. »Äh, Tony? Wie

lange muss ich warten?«

»Was?«
»Wieviel Zeit brauchst du, bis du … Bis du wieder …« Sie ver-

stummte, als er anfing zu lachen.

»Ich meinte dich, Libby«, sagte er. »Du wirst wahrscheinlich …

ziemlich wund sein.«

»Das nehme ich gerne auf mich … Ich meine – wenn du bereit

bist.« Libby lächelte ihn an.

Tony zog Libbys Hände nach unten und zeigte ihr, wie bereit

er wirklich war.

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19. Kapitel

Als Tony aufwachte, war es elf Uhr morgens. Er hatte seit seiner
Studentenzeit keinen ganzen Morgen mehr verschlafen. Obwohl er
an diesem Morgen eigentlich nicht allzu viel geschlafen hatte. Libby
schnaufte leise neben ihm. Mein Gott, war sie hübsch. Er wollte sie
aufwecken. Vielleicht mit einem Kuss? Vielleicht mit etwas
anderem.

Sein Magen knurrte. Er war zu hungrig für ›das andere‹ und

Libby würde auch Hunger haben, wenn sie aufwachte. Er schlüpfte
schnell aus dem Bett und zog frische Kleidung an. Nachdem er ihr
eine Nachricht auf dem Nachttisch hinterlassen hatte, machte er
sich auf den Weg, um das beste Frühstück (oder Mittagessen) zum
Mitnehmen zu finden.

Libbys Lieblings-Diner war nur zehn Minuten entfernt. Es

würde eine Menge zu besprechen geben, wenn er zurückkam, und
er war sich nicht zu gut, sie mit einem Stapel Pfannkuchen zu be-
stechen. Er würde sie davon überzeugen, dass er sie glücklich
machen konnte. Er würde ihr zeigen, dass sie zu ihm gehörte, in
sein Leben, in sein Haus und in sein Bett.

»Was hast du getan!?«, kreischte Mel durchs Telefon, während

Tony genug Essen, um eine Armee zu verpflegen, zurück zu seinem
Auto trug.

»Guten Morgen, Schwesterherz!«
»Versuch nicht, mich zu umgarnen, Bürschchen! Wo ist

Libby?«

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Peinlich. Konnte er seiner kleinen Schwester sagen, dass ihre

beste Freundin schlafend in seinem Bett lag, nachdem sie sich den
ganzen Morgen lang geliebt hatten? Nein. »Äh … sie ist noch in
meinem Haus, Mel. Ich bin gerade unterwegs, um uns Frühst…
Mittagessen zu besorgen.«

»Sag’s mir nicht! Ich will es gar nicht wissen. Du bist zu weit

gegangen. Ich hätte nie gedacht, dass du so tief sinken könntest.
Obwohl, nachdem du dich gestern wie ein verzogenes Balg aufge-
führt hast, weiß ich nicht, warum ich überrascht bin.«

»Kannst du mir sagen, was los ist, Mel?«
»Gio ist verschwunden. Was auch immer du und Libby gestern

abend gemacht habt, es muss einen Streit zwischen den beiden
gegeben haben, denn er ist aus dem Hotel ausgezogen. Ich hatte ge-
hofft, dass er zur Vernunft kommen und mit Libby bei Stuart
bleiben würde – aber bei Stuart war niemand und ihr Auto steht
immer noch bei der Bar. Das bedeutet, dass sie letzte Nacht bei dir
war.«

»Wo liegt das Problem?« Gio war verschwunden? Hatte sie ihn

angerufen? Hatte sie ihm gesagt, dass er abreisen sollte?

»Es gäbe kein Problem, wenn ich eine Sekunde lang glauben

könnte, dass du es ernst meinst. Wir wissen jedoch beide, dass das
nicht der Fall ist. Du bist normalerweise ein ganz patenter Kerl,
Tony. Ich weiß wirklich nicht, warum du so mit ihr spielst. Gio liebt
sie! Hast du gewusst, dass er hierherziehen wollte? Er hat mir das
letzte Woche gesagt, als ich am Telefon mit ihm geredet habe.«

»Ist das wahr?«
»Ja, entweder das oder sie wäre zu ihm gezogen … es war ver-

wirrend, aber er hatte Pläne.«

Tony hatte auch Pläne. »Er wollte, dass sie mit ihm

zusammenzieht?«

»Um ihn zu heiraten, großer Bruder. Ich bin mir sicher, dass er

sie fragen wollte, ob sie ihn heiraten möchte. Ich habe auf jeden
Fall gespürt, dass bald ein Ehering am Horizont auftaucht. Du
kannst es einfach nicht sehen, wenn sie mit jemand anders

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glücklich ist. Habe ich recht? Du bist ein egoistischer Idiot! Du
liebst sie nicht, aber du möchtest, dass sie dich weiterhin liebt? Sie
liebt Gio, Tony. Ich konnte das allein daran sehen, wie sie mitein-
ander getanzt haben.«

Er wollte sie heiraten? Sie hatten noch nicht einmal mitein-

ander geschlafen. Oder wollte sie vielleicht auf die Hochzeitsnacht
warten? Stimmt, in einigen Kulturen wurde die ganze Sache mit der
Braut als Jungfrau noch relativ ernst genommen. Tony wollte
schreien. Er wollte sagen, dass er sie liebte, seit sie ihn vor sechs
Jahren im Monopoly besiegt hatte. Das war jedoch nicht etwas, was
man der besten Freundin eines Mädchens erzählte, bevor man es
dem Mädchen selbst sagte. Er entschied sich für: »Ich mag Libby
sehr gerne.«

»Nein, Tony, wenn du sie gern hättest, dann hättest du ge-

wollt, dass sie glücklich ist. Ist auch egal! Ich versuche es jetzt noch
mal auf ihrem Handy.«

»Nein. Mel. Ich bin in zwei Minuten daheim. Ich werde mit ihr

reden. Versprich mir, dass du dich da raushältst … Mel? Hallo?«
Verdammt. Tony fuhr schneller. Mel hatte unrecht. Libby konnte
nicht in Gio verliebt sein – das konnte einfach nicht wahr sein.

In Tonys Bett herrlich befriedigt und etwas wund

aufzuwachen, war die beste Erfahrung in Libbys bisherigem Leben.
Naja, auf jeden Fall stand die Erfahrung ganz oben auf der Liste.
Libby streckte sich nach Tony aus. Er war jedoch nicht da. Sie zog
ihr Camisole und seine Boxershorts wieder an und begann, ihn zu
suchen. Aber er war wirklich nicht da. Nachdem sie durchs Haus
gegangen war, schaute Libby aus dem Fenster und sah, dass auch
sein Auto verschwunden war. Er hatte sie einfach alleingelassen.
Sie rollte sich, wo sie war, auf dem Wohnzimmerboden zusammen,
und gab sich ihrer Verzweiflung hin.

Tränen liefen ihr über das Gesicht. Wie hatte sie glauben

können, darauf vorbereitet zu sein? Damit umgehen zu können, ein
Mädchen zu sein, mit dem er nur Sex hatte, um mit ihm zusammen
sein zu können. Sie war nunmal kein Mädchen, mit dem man nur

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Sex hatte. Parker hatte recht, und jetzt konnte sie wahrscheinlich
noch nicht einmal mehr mit ihm befreundet sein. Denn sie wusste,
dass sie nun nie wieder damit zufrieden sein konnte, nur mit ihm
zusammen zu sein, ohne wirklich mit ihm zusammen zu sein.

»Libby?«, rief Tony, als er durch die Haustür eilte. »Libby …«
Sie lag weinend und zusammengerollt auf seinem Boden, weil

er noch nicht einmal Zeit gehabt hatte, Möbel zu kaufen. Was tat sie
dort unten überhaupt? Vielleicht konnte sie nach ihrem Streit mit
Gio nicht mehr in seinem Bett bleiben. Mel hatte recht. Sie musste
in ihn verliebt sein.

»Libby, Liebling, bitte weine nicht.« Tony ließ das Essen im

Flur stehen und kam zu ihr, um sie zu umarmen. Sie hatte wahr-
scheinlich ein schlechtes Gewissen. Sie fühlte sich schuldig, weil
Tony sie verführt hatte, obwohl Gio derjenige war, den sie in Wirk-
lichkeit wollte.

»Mach dir keine Sorgen. Ich habe mit Mel geredet und ich

weiß, dass Gio abgereist ist. Hattet ihr beiden einen Streit?«

»Was? Oh. Keinen Streit – eher eine Meinungsverschieden-

heit.« Das war zum Teil die Wahrheit; sie hatten eine Diskussion
über ihre Zukunft gehabt. Es gab keinen Grund, weshalb Tony wis-
sen musste, dass sie sogar ein wenig erleichtert gewesen war über
Gios Entschluss abzureisen. Libby trocknete sich die Tränen mit
ihrem Handrücken ab. »Ich bin nur ein dummes Mädchen. Ich
ziehe mich jetzt an und vielleicht kannst du mich dann nach Hause
fahren?«

Sein Herz krampfte sich zusammen. Alle verbliebene

Hoffnung, dass sie ihn wählen würde, war nun verflogen. Sie wollte
ihn nicht und er machte alles nur schlimmer für sie, indem er sie
drängte. Mel hatte recht, er war ein egoistischer Idiot. »Eure Mein-
ungsverschiedenheit? War es … hast du ihm erzählt, was gestern
Abend passiert ist?«

»Was? Nein. Ich habe nicht mehr mit ihm geredet, seit er die

Bar verlassen hat.« Libby sackte in Tonys Arme und versuchte nicht

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an die Ironie zu denken, dass Tony sie tröstete, weil er ihr das Herz
gebrochen hatte.

Letzte Nacht? Sie und Gio hatten letzte Nacht einen Streit?

Libby hatte daraufhin als Reaktion mit ihm geschlafen? Jetzt
bereute sie es und wollte ihn zurückhaben.

»Okay, also. Hör mir zu, ich bin mir sicher, dass sich alles find-

en wird. Du musst ihm nicht von … du weißt schon … erzählen.«

Libby weinte noch bitterer.
Tränen stiegen ihm in die Augen. Es war so schwer, sie nicht

anzuflehen, dass sie blieb und Gio vergaß. Tony wusste, dass sie mit
ihm nie richtig glücklich sein konnte, wenn es ihr jetzt schon so
schlecht ging. Er konnte nicht sein Leben leben und darauf warten,
dass Gio wieder auftauchen und sie ihm wegnehmen würde.

»Es tut mir leid, Lib. Wenn er dich liebt, dann wird es ihm

nichts ausmachen – und wenn du dir immer noch Sorgen machst …
vielleicht kannst du es ja auch vortäuschen? Nur ruhig daliegen und
scharf einatmen oder so etwas in der Art.«

»Was?« Libby hob ihren Kopf, um ihn anzusehen.
»Ich meine, wenn du, äh … wenn Gio erwartet hat … dass du in

der Hochzeitsnacht?« Mein Gott, für einen Mann, der seinen
Lebensunterhalt mit Worten verdiente, hatte er jetzt wirklich Sch-
wierigkeiten, auch nur einen kompletten Satz herauszubringen.
»Libby, ich möchte damit sagen, dass ich möchte, dass du glücklich
bist. Deshalb werde ich dich jetzt in Ruhe lassen. Ich werde dich
nicht mehr anrufen und mit dir ausgehen. Ich schwöre dir, dass Gio
niemals herausfinden wird, dass wir miteinander gegangen sind.
Selbst wenn ich Mel die Zunge abschneiden muss – er wird es nicht
herausfinden.«

Durch den Schock wurde Libby letztendlich gezwungen

zuzuhören, was Tony sagte. Sie war aber immer noch sehr verwirrt.
»Wann sind wir miteinander gegangen?«

Tonys Augenbrauen zogen sich zusammen. »Du weißt schon …

vorher. Die letzten sechs Wochen.«

Sie starrte ihn immer noch an.

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»Das Picknick und das Weinfest und all die Verabredungen

zum Mittagessen. Wir haben einen ganzen Nachmittag mit ›Stirb
Langsam‹ verschwendet!«

»Mel hat mich zum Picknick eingeladen und das Weinfest war

für die Zeitung. Das waren keine Verabredungen – du hast nie
gesagt, dass es Verabredungen waren. ›Stirb Langsam‹ war niemals
eine Zeitverschwendung!«

Wenn es nicht so schrecklich gewesen wäre, hätte Tony sie jet-

zt ausgelacht. Wirklich? War jetzt der richtige Zeitpunkt, um mit
der Diskussion fortzufahren, ob John McClane pampig oder nicht
pissig war? »Natürlich waren das Verabredungen – was hattest du
denn gedacht, was das war?«

»Wir haben Zeit miteinander verbracht. Eine Verabredung ist

etwas anderes – schicke Kleidung und du hättest mich abgeholt
und mir Blumen geschenkt, mich zum Tanzen oder zum
Abendessen eingeladen …« Libby machte ein langes Gesicht.

Mist. Er hatte die Blumen vergessen. Jetzt, da sie es erwähnte,

erinnerte er sich daran, dass Mel ihm das irgendwann einmal
gesagt hatte. »Ich habe die Blumen vergessen und ich habe nicht
gedacht, dass du schick mit mir ausgehen wolltest. Ich hätte dich
überallhin eingeladen, wo immer du hingewollt hättest.«

»Du hast recht«, sagte Libby leise. »Wir sind miteinander

gegangen.« Sie ließ ihren Kopf in ihre Hände sinken und stöhnte
auf.

»Es tut mir leid, Libby.« Tony wusste jetzt nicht mehr, warum

er sich überhaupt entschuldigte. Aber das war das erste Mal, dass er
eine Frau zum Weinen brachte, weil er sie zu ein paar Verabredun-
gen

eingeladen

hatte.

»Vielleicht

waren

es

ja

keine

Verabredungen?«

»Nein. Es waren welche.« Libby schaute immer noch nach un-

ten, und es war schwer für Tony, ihren Gesichtsausdruck zu lesen,
da er nur ihr Haar sehen konnte. »Tony Marchetti geht endlich mit
mir aus, und zwar nicht nur einmal, sondern mehrfach – und ich
krieg’s nicht mit.«

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»Libby? Ich bin jetzt wirklich ernsthaft verwirrt.«
»Ich auch.«
Sie saßen eine Weile da und hielten sich in den Armen. Keiner

von beiden wusste, was er sagen sollte. Endlich brach Libby das
Schweigen. »Was für eine Hochzeit?«

»Hmm?«
»Du dachtest, ich würde Gio heiraten? Du hast eine Hochzeit-

snacht erwähnt.«

Tony sah sehr unbehaglich aus. »Mel schien zu denken, dass es

wohl bald dazu kommen würde.«

»Mel ist dumm.«
Tony erlaubte sich, Erleichterung zu fühlen und Hoffnung.

»Du heiratest ihn nicht?«

»Nein. Gio und ich haben uns dazu entschlossen, nur Freunde

zu sein.«

»Und das ist okay für dich?« Libby nickte, während ihr Kopf

an seiner Schulter lehnte. »Dann … warum habe ich dich weinend
auf dem Fußboden gefunden, als ich reingekommen bin?«

»Oh … Vielleicht müssen Mädchen manchmal einfach Tränen

vergießen?« Libby sah ihn hoffnungsvoll an. Vielleicht würde er ihr
ja glauben. Er starrte zurück. »Okay, mir ist gerade bewusst ge-
worden, dass ich kein Mädchen bin, mit dem man nur Sex hat. Als
ich allein aufgewacht bin, fühlte ich mich verletzt, weil du mich ein-
fach so alleingelassen hast. Das ist aber in Ordnung.«

»Ich bin ja zurückgekommen! Ich wollte dich nicht aufwecken.

Hast du meine Nachricht nicht gelesen?«

»Es gab eine Nachricht?«
Libbys Handy klingelte. Tony antwortete. »Halte dich da raus,

Mel!« Er legte auf.

Tony rückte leicht von Libby ab, damit sie sich gegenüber-

sitzen konnten. Er konnte diese Unterhaltung nicht führen, wenn er
von ihrem Geruch nach Lavendel und Sex abgelenkt wurde.

»Kannst du dich daran erinnern, dass ich dir einmal gesagt

habe, dass wir Kommunikationsprobleme haben?«

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Libby nickte.
»Okay. Es gibt einige Dinge, die ich wissen muss. Liebst du

Gio?«

»Nein.«
»Möchtest du, dass er zurückkommt?«
»Nein.«
»Warum hast du mich glauben lassen, dass du mit Parker

geschlafen hast?«

Libby sah verlegen aus. »Ich wollte nicht, dass du denkst, ich

hätte Sehnsucht nach dir.«

Tony sah sie schmerzerfüllt an. »Ich bin ein Idiot.«
»Ist das eine Frage?« Libby begann zu lächeln.
»Nein. Das ist einfach nur eine Tatsache. Ich liebe dich. Ich bin

in dich verliebt seit – ja, schon eine ganze Weile. Ich hoffe in-
ständig, dass du mich auch liebst.«

Libby war so geschockt, dass ihr der Mund offen stand. Dann

lächelte sie, kletterte auf seinen Schoß und küsste ihn.

»Oh nein, so einfach kommst du mir nicht davon.« Tony hatte

sein Nur-für-Libby-Grinsen aufgesetzt, das sie am liebsten hatte.
»Ich möchte, dass du es sagst.«

»Natürlich liebe ich dich, Tony. Ich bin Nona.«
»Nona? Könntest du das vielleicht erklären?«
»Vielleicht später.« Libby küsste ihn wieder. »Wo warst du

denn dann?«

»Oh. Ich habe Frühstück besorgt«, murmelte Tony geistesab-

wesend, während er sie ganz auf seinen Schoß zog.

»Essen? Ich verhungere!« Sie kroch von seinem Schoß her-

unter zu den vergessenen Tüten, die bei der Tür standen.

»Du lässt mich wegen kalter Pfannkuchen sitzen!« Tony griff

nach seinem Herz, als würde er dort Schmerzen spüren. Das war
seine Libby – und sie gehörte wirklich ihm.

Das Essen wurde wieder aufgewärmt und Libby bekam ihr

versprochenes Take-away-Frühstück – um zwei Uhr nachmittags.

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»Ich glaube, wir sollten heiraten«, gab Tony verhalten von der

anderen Seite des Tisches bekannt.

Libby spuckte ihre Pfannkuchen aus. »Heiraten?«
»Ja – weil wir Probleme haben, miteinander zu gehen.« Tonys

Lächeln wurde breiter. »Du kannst heute hier einziehen. Ich weiß,
dass du dir nicht sicher bist, ob du in Taylorsville bleiben möchtest,
aber ich kann überall schreiben. In Tallahassee gibt es eine Zeitung,
die früher einmal sehr an mir interessiert war, falls du zurück nach
Florida möchtest. Falls du aber immer noch an New York in-
teressiert bist, dann ist das auch cool.«

»Wann hast du mit einer Zeitung in Tallahassee geredet?«
Huch. Ertappt. »Bevor du nach Rom gegangen bist. Ich habe

dich vermisst, Lib. Ich wollte nicht mehr von dir getrennt sein. Und
ich will auch weiterhin nicht von dir getrennt sein. Was sagst du?
Möchtest du mich heiraten? Ich verspreche dir, dass ich dir jedes
Sofa kaufe, das du möchtest.«

Libby starrte ihn einfach an. Vielleicht hatte er das alles doch

falsch kalkuliert.

»Wie lange?«
»Bis wir heiraten können?« Tony eilte zu ihrer Seite des

Tisches.

»Nein. Wie lange bist du schon in mich verliebt? Du hast

gesagt, es ist schon eine ganze Weile

»Oh. Äh, das ist etwas peinlich. Du warst noch ziemlich jung.«
Libby warf ihm einen entnervten Blick zu. »Ich sage es dir,

wenn du es mir auch sagst.« Tony nickte. »Okay, lach jetzt nicht. Es
war an dem Tag, als wir uns begegnet sind. Du hast unser Popcorn
gestohlen und dich über ›Die kleine Meerjungfrau‹ lustig
gemacht.«

»Damit beschreibst du die meisten Freitagabende unserer

Kindheit, Lib.« Tonys Tonfall war unbeschwert. »Es war der Som-
mer, als wir Monopoly gespielt haben. Du hattest diesen blauen
Schlafanzug an, kannst du dich erinnern? Ich musste in diesem
schrecklichen Bürostuhl sitzen, um mich davon abzuhalten, dich

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nicht auf das Bett zu pressen – dafür hätte ich wahrscheinlich ins
Gefängnis gehen können, weil du erst sechzehn warst.«

»Du warst erst neunzehn! Wirst du mit dem Alter immer Prob-

leme haben?«

»Ich glaube, das hängt davon ab, ob du mich heiratest.«
Libby biss noch einmal in ihren Pfannkuchen. »Mir gefällt es

hier sehr. Ich möchte bleiben und ich glaube, meine Mutter kann
mit der Konkurrenz umgehen. Unsere Kundschaft ist eigentlich
sowieso unterschiedlich. Wir können später ein Sofa aussuchen,
wenn du möchtest.«

»Libby!« rief Tony. »Kommunikation, erinnerst du dich?

Möchtest du mich heiraten?«

»Habe ich das nicht gerade gesagt?«
»Die Worte, Lib. Ich möchte die Worte hören.«
Libby grinste. »Ja, Tony. Ich werde dich heiraten.«
Tony hob sie aus ihrem Stuhl und ging mit ihr nach oben. »Wir

können später ein Sofa aussuchen«, sagte er, als sie über die Sch-
lafzimmerschwelle traten.

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Epilog

Vier Jahre später …

Mia Betta,
Elaine und ich möchten uns sehr herzlich für dein
Geschenk bedanken. Wir haben es sehr bedauert,
dass du nicht zu unserer Hochzeit kommen kon-
ntest, aber es ist gut, dass du in deinem Zustand
nicht reist. Bitte gratuliere Tony von uns zu seinem
letzten Roman. Ich fürchte, Elaine ist ziemlich vern-
arrt in Isaac Raines.
Wir sind in ein paar Monaten wieder zurück in New
York und freuen uns schon, das neueste Familien-
mitglied der Marchettis begrüßen zu dürfen. Bitte
richte dem kleinen Luca aus, dass Onkel Gio sagt, es
ist eine große Verantwortung, ein Fratello zu sein.
Vielleicht kannst du ja nächstes Jahr die Familie
nach Rom mitbringen? Nona würde sehr gerne die
Kinder sehen.
Alles Liebe,
Gio

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Bonusmaterial

Es folgt eine Kurzgeschichte, die bisher nur online zur Verfügung
stand.

Die Hochzeit ihrer besten Freundin

»Ich dachte immer, dass die Kleider der Brautjungfern hässlich
sein müssen.« Libby wirbelte herum und sah Tony, wie er faul am
Rahmen der Küchentür lehnte. Wie lange hatte er sie schon
beobachtet?

Libby warf einen Blick nach unten. Ihr Kleid war zum großen

Teil unter ihrer ›Dolce McKay‹-Schürze versteckt, aber Tony
musste eine gute Rückenansicht von ihr gehabt haben. Das war das
erste (und letzte) Mal, dass Libby ein rückenfreies Kleid trug. Mel
hatte eine herrliche Farbschattierung in Stahlblau ausgesucht.
Natürlich hatte Libby gehofft, dass sie sich auch über den Schnitt
etwas mehr Gedanken machen würde, aber so war Mel eben. Der
rückenlose Stil mit dem losen Wasserfall-Ausschnitt hätte an der
gertenschlanken Mel ohne Zweifel herrlich ausgesehen. Libby hatte
jedoch Kurven, um die sie sich Sorgen machen musste. Klebeband
war wirklich ein vielseitiges Hilfsmittel.

»Ich bin keine Brautjungfer. Ich bin die Trauzeugin.« Libby

zwinkerte Tony zu und drehte sich wieder um, um Mels Kuchen
den letzten Schliff zu geben. Sie konnte ihr Grinsen nicht zurück-
halten. Obwohl sie Tony nicht mehr sehen konnte, fühlte sie doch,
dass er sie noch ansah. Vielen Dank, Klebeband. Das inzwischen
vertraute prickelnde Hochgefühl, das sie jedes Mal fühlte, wenn ihr
klar wurde, dass Tony wirklich und wahrhaftig ihr gehörte, durch-
lief sie von ihren Zehen bis zu ihren Fingerspitzen. Ihre Hände

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zitterten sogar ein klein wenig, als sie die letzte Zuckerblume auf
dem Kuchen platzierte.

Sie trat einen Schritt zurück, um ihre Arbeit zu bewundern,

und stieß dabei mit Tony zusammen. Er legte seine Arme um ihre
Taille und hielt sie eng an sich gedrückt. Seine Lippen streiften ihr
Ohr, als er flüsterte: »Die Regeln für die Kleider der Trauzeuginnen
sind auf jeden Fall andere.«

Bevor sie eine Antwort herausbrachte, nahm er den

Spritzbeutel aus ihrer Hand und spritzte eine Buttercreme-Linie
ihren Rücken hinunter. Libby konnte kaum aufrecht stehen
bleiben, als sie seine Zungenspitze auf ihrer empfindlichen Haut
spürte. »Lecker«, flüsterte er.

»Du solltest dich bald umziehen.« Libby versuchte, sich von

ihm frei zu machen. Natürlich bemühte sie sich nicht sehr ern-
sthaft. In seinen Armen gefangen zu sein, war nicht wirklich
unerträglich.

»Warum kommst du nicht mit und hilfst mir, mich

umzuziehen?« Tony drehte sie zu sich um und drückte ihr einen
Kuss auf die Lippen. Er hob bedeutungsvoll seine Augenbrauen.
»Und vergiss nicht, die Buttercreme mitzubringen.«

»Tony!« Libbys Empörung kam ihm wohl lustig vor, denn er

lachte laut auf und löste seinen Griff um ihre Taille. »Nein. Geh
dich jetzt besser umziehen, sonst kommen wir noch zu spät.«

»Ach … komm schon, Lib.« Er griff wieder nach ihr. »Wir

haben jede Menge Zeit.«

»Oh nein. Mel wird mir nie verzeihen, wenn wir zu spät

auftauchen und beide nach Kuchen riechen.«

Tony stöhnte bei ihren Worten und Libbys Herz tanzte glück-

lich in ihrer Brust. Vielleicht hatte sie jetzt langsam mehr Erfolg mit
dieser ganzen Verführerei. Sie hatte jetzt natürlich schon einige
Wochen Übung. Tony schien auch entschlossen zu sein, die Jahre
der Selbstkontrolle durch Wochen ohne jegliche Kontrolle wieder-
gutzumachen … natürlich beschwerte sie sich darüber nicht.

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Der erste Abend, den sie seit dieser ersten Nacht nicht mitein-

ander verbracht hatten, war gestern gewesen, der Junggesellen-
und Junggesellinnen-Abschied von Mel und John. Tony hatte ihr
während ihrer Trennung zehn SMS-Nachrichten geschickt. Manch-
mal nur, um ihr zu sagen, dass er sie vermisste, und manchmal, um
sich über Johns verrückte Freunde zu beschweren und wie albern
der Junggesellenabschied war. Einmal schickte er ihr eine Na-
chricht, um sie an ihr Versprechen zu erinnern, am nächsten
Morgen Schokoladensplitter-Kekse zum Frühstück zu backen. Viel-
leicht würde sie das eines Tages, wenn sie alt und grau waren, lästig
finden … sie bezweifelte das jedoch.

»Okay«, Tony küsste sie noch einmal, bevor er sich von ihr ab-

wandte. »Du verpackst die Torte, während ich mir etwas weitaus
weniger Gemütliches anziehe. Dann lade ich die Torte ins Auto und
wir können fahren.«

Tony zog am Saum seiner perfekt gebügelten Smokingjacke. Er
liebte seine Schwester und John war in Ordnung, aber … war es
wirklich nötig, so etwas anzuziehen? Libby sah extrem verführ-
erisch aus und er sah aus wie ein Pinguin. Nur die Krawatte war
wirklich schön. Tony lachte leise in sich hinein, als er den leuchtend
blauen Windsorknoten zurechtrückte, der oberhalb seiner Weste zu
sehen war und der genau zu Libbys Kleid passte. Wer hätte gedacht,
dass sich alles so gut entwickeln würde, nachdem Mel die
Universität abgebrochen hatte? Es tat ihm fast weh es zuzugeben,
aber seine kleine Schwester hatte sich ganz gut gemacht. Sie war
immer noch eine naseweise Besserwisserin, aber er war trotzdem
stolz auf sie.

Hochzeiten waren wirklich nicht seine Sache. Außer Olivias

Hochzeit … und der beste Teil des Tages war das rote Kleid von

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Libby gewesen. Tony erlaubte sich, die alten Bilder von Libby in
jenem Kleid, die sein Herz schneller schlagen ließen, wieder au-
fleben zu lassen, während er seine Schuhe anzog und einen Umsch-
lag in seine Jackentasche steckte. Eine Überraschung für seine
Libby.

Unten angekommen sah Tony, wie Libby eine der Tortenkisten

zur Haustür trug. Er eilte zu ihr hinüber und nahm ihr die Kiste aus
der Hand. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich diesen Teil
übernehme.«

Libby zuckte mit einer Schulter. »Weil ich so zerbrechlich und

zart bin? Ich liefere Kuchen aus, seit ich meinen Führerschein habe
… Mom hat diesen Teil immer gehasst.«

»Ich versuche nicht, dich zu beleidigen, Lib. Kannst du die Tür

für mich aufmachen?« Tony machte eine ruckartige Bewegung mit
dem Kinn in Richtung Tür. »Das ist irgendwie Männersache. Ich
möchte derjenige sein, der alles Schwere für dich hebt.«

Libby grinste, während sie die Tür weit aufhielt. »Es ist

Biskuittorte … nicht so schwer.«

»Darum geht es nicht.« Tony lief zurück zum Haus, nachdem

er die große Kiste sicher mit einem dafür vorgesehenen Gurt, der
sich im Kofferraum seines Autos befand, festgeschnallt hatte. Er
hob die zweite Kiste hoch, drehte sich um und sah Libby, die gerade
die letzte Kiste nehmen wollte. »Nein!«

»Gut, ich verstehe. Du bist ein großer starker Mann. Ich

möchte aber nicht zu spät kommen. Meine Handtasche wiegt mehr
als diese Kiste.«

Sie hörte sich irritiert an, Tony gab aber nicht nach. »Lass die

Kiste stehen. Ich bin gleich wieder zurück.«

Libby stampfte mit ihrem Fuß auf und verschränkte die Arme

vor der Brust. »Du bist lächerlich, weißt du das?«

»Ich weiß.«

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»Das ist also mein letzter Moment als unverheiratete Frau.« Mel
drehte sich vor dem altertümlichen Standspiegel im Brautzimmer.
Ihr Kleid bauschte sich auf; Millionen von Stofflagen machten ein
raschelndes Geräusch, das sogar noch anhielt, als Mel aufgehört
hatte, sich zu drehen. »Ich liebe dieses Kleid.« Sie lächelte Libby
durch den Spiegel hindurch an.

»Du siehst wunderhübsch aus, Mel. Perfekt.«
Mel lächelte wieder. »Ich weiß.« Sie wollte nicht prahlen. Mel

wusste einfach, wie hübsch sie war, und hatte nicht die Geduld oder
den Anstand für falsche Bescheidenheit. Sie drehte sich um und
stand Libby gegenüber. »Du siehst auch großartig aus. Ich wette,
meinem großen Bruder hat das Kleid gefallen.«

»Ja, um ehrlich zu sein, war eine gewisse Wertschätzung zu

spüren.« Libby betete, dass sie nicht rot wurde, denn sie spürte
bereits eine verräterische Wärme in ihren Wangen.

»Du bist so niedlich.« Mel lachte über sie. »Ich freue mich

wirklich für dich und ich hoffe, du weißt das.«

»Ich weiß, Mel. Du hast mich bis jetzt nur ungefähr tausend

Mal daran erinnert.«

Mel war nicht immer eine Befürworterin des Teams ›Libby und
Tony‹ gewesen. Genauer gesagt kam Mel an dem Abend, nachdem
sie und Tony sich endlich über ihre Gefühle ausgesprochen und
sich entschlossen hatten, zu heiraten, vorbei und trommelte an die
Haustür. Zugleich schimpfte sie lautstark und für die gesamte
Umgebung gut hörbar, was für ein Idiot Tony war.

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Libby ließ sie natürlich so schnell wie möglich ins Haus. Sie be-

dauerte nur, dass sie nicht schneller zur Tür gekommen war, denn
einige ihrer neuen Nachbarn hatten Mels einfallsreiches und
schmutziges Mundwerk zu hören bekommen.

»Libby!«
Mel war entweder überrascht, Libby zu sehen, oder sie war

überrascht, Libby in einem von Tonys Columbia-T-Shirts und sein-
en Boxershorts zu sehen. Libby war aber keine Zeit mehr geblieben,
das Kleid vom Abend zuvor wieder anzuziehen. Mel hatte so laut
gerufen, dass sie damit Tote hätte aufwecken können!

»Überraschung.« Libby zeigte ihr ein peinlich berührtes

Lächeln und wartete darauf, dass ihre Freundin reagierte.

Mel kniff lediglich die Augen zu Schlitzen zusammen und ging

durch das Wohnzimmer, um ihren Kopf durch die Küchentür zu
stecken. »Wo ist mein Bruder?«

»Wirklich, Mel? Das ist alles, was du zu sagen hast?«
»Im Moment, ja. Wo ist er?«
Libby drängte sich an ihrer Freundin vorbei und begann, lie-

gen gelassene Pappschachteln vom Frühstück aufzuheben und in
den Mülleimer zu werfen. Sie hatten nicht viel Zeit im unteren
Stockwerk verbracht. »Er duscht gerade, und wenn er damit fertig
ist, werde ich duschen. Danach gehen wir zum Essen, um zu
feiern.«

»Was genau wollt ihr feiern?«
Libby hörte damit auf, die Tischplatte abzuwischen, und dre-

hte sich zu ihrer besten Freundin um. »Uns. Tony und mich. Wir
haben endlich … geredet … und wir sind ab jetzt zusammen.«

Mel sah immer noch etwas verunsichert aus. »Tony?«
»Natürlich Tony. Du weißt, dass es für mich nie jemand anders

gab.«

»Na gut.« Mel ging um den Tisch herum und öffnete den

Kühlschrank. »Aber was passiert mit Gio? Ich dachte … Warum hat
er nie etwas hier drin, was nicht schon abgelaufen ist?« Mel wurde
durch eine verdächtig aussehende Flasche Orangensaft abgelenkt.

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Sie stellte diese schließlich wieder zurück und schloss die Kühls-
chranktür. »Bist du dir sicher wegen Tony?«

»Sag mir, was du wirklich denkst, Schwesterherz.« Beide Mäd-

chen wirbelten herum und sahen Tony im Türrahmen stehen. Er
hatte außer einem Handtuch, das er tief um seine Hüften gewickelt
hatte, nichts an. Tony machte noch ein paar Schritte und lehnte
Libby über seinen Arm nach hinten, um ihr einen langen, revier-
markierenden Kuss zu geben. »Was sagst du jetzt?« Er strahlte
Libby mit einem herzerwärmenden Lächeln an, bevor er wieder
seine Schwester anschaute.

»Vielleicht sagt mir jemand, was hier vor sich geht!« Mel

kräuselte ihre Lippen und stemmte ihre Fäuste in die Hüften.

»Reg dich nicht gleich so auf.« Tonys Laune war zu gut, als

dass Mel sie ihm verderben könnte. Vielleicht hatte es einmal eine
Zeit gegeben, in der er seine Schwester als Faktor in der Beziehung
mit Libby sah, aber sie waren keine Kinder mehr. Er ließ jetzt
nichts mehr zwischen sich und sein zukünftiges Glück kommen.
»Libby ist eine erwachsene Frau. Wenn sie deinen idiotischen
Bruder heiraten möchte, dann ist das ihre Sache.«

»Heiraten?« Alle Anzeichen von Mels kleinem Wutanfall war-

en dahin. »Ihr beiden meint es wirklich ernst?«

»Natürlich!«, sagte jetzt Libby. »Es macht dir doch nichts aus,

oder? Wenigstens nicht viel?«

»Ob es mir etwas ausmacht?« Mel hüpfte und quietschte und

zog Libby von Tony weg. »Wir werden Schwestern sein! Erzähl mir
alles! Nein, warte, lass alle guten Teile weg – pfui. Aber wir werden
Schwestern sein! Wann? Ich denke, vielleicht September. Du hast
den richtigen Hautton für Herbstfarben. Im Freien, würde ich
sagen. Wir müssen wahrscheinlich Heizgeräte mieten. Ich frage
mich, wieviel das wohl kosten wird?« Mel schritt schnell im Kreis
herum und murmelte Einzelheiten über Libbys und Tonys bevor-
stehende Hochzeit vor sich hin. Libby war nur erleichtert, dass die
Situation nicht unangenehm wurde.

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Plötzlich drehte sich Mel schnell um und sah Libby direkt in

die Augen. »Du bist dir sicher, dass du dir sicher bist, oder? Tony
hat noch nicht einmal Saft im Kühlschrank, der nicht schlecht ge-
worden ist, und Gio …«

»Mel!« Tony unterbrach sie. »Sie ist sich sicher. Kannst du jet-

zt verschwinden?«

»Okay.« Sie umarmte Libby, streckte Tony ihre Zunge raus

und hüpfte dann aus der Tür, während sie etwas von Chrysanthe-
mentöpfen und dekorativen Kürbissen murmelte.

»Hallo? Erde an Libby.« Mels Stimme holte Libby zurück in die Ge-
genwart. Mel befasste sich immer noch vor dem Spiegel mit ihrem
Brautkleid, nur dass sie in Wirklichkeit Libbys Gesicht beobachtete.
»Ich freue mich wirklich für euch beide.« Ihre Stimme klang etwas
unsicher.

»Ich weiß, Mel. Tony weiß es auch. Du freust dich für uns und

wir freuen uns für dich und John freut sich, dass er endlich die
Hochzeitstorte essen kann. Jeder freut sich.«

Libby versuchte, einen kleinen Witz zu machen, doch auf ein-

mal ließ Mel sich in einen berüschten, unbequem aussehenden
Stuhl fallen und brach in Tränen aus. »Es tut mir leid. Es ist ganz
allein meine Schuld.« Sie schluchzte ein paar andere Entschuldi-
gungen heraus, bevor Libby in der Lage war, sie zu unterbrechen.

»Melanie! Du musst versuchen, dich etwas klarer auszudrück-

en. Über was zum Kuckuck redest du denn da? Was ist deine
Schuld?«

»Du und Tony! Ich habe fast alles ruiniert. Ich schwöre, dass

ich keine Ahnung von seinen wirklichen Gefühlen hatte. In all den
Jahren habe ich noch nicht einmal geahnt, dass er es mit dir ernst
meinen könnte. Ich habe nur immer versucht, dich mit Gio und

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Sam zu verkuppeln. Hast du übrigens gewusst, dass er homosexuell
ist? Wie kann ich mir bei John sicher sein, wenn ich noch nicht ein-
mal in der Lage bin, die Gefühle meines eigenen Bruders zu
erkennen?«

»Sei nicht albern, Mel«, sagte Libby leise und ging vor dem

Stuhl in die Hocke. »Nichts, was du jemals gesagt hast, hatte einen
großen Einfluss auf unsere Beziehung. Übrigens, jeder außer dir
und Tony wusste über Sam Tucker Bescheid.«

Mel schniefte und rollte ihre Augen.
»Ernsthaft«, fuhr Libby fort. »Tony und ich haben vielleicht

eine Weile gebraucht, bis wir alles zwischen uns ins Reine gebracht
haben. Wir haben aber unsere eigenen Entscheidungen getroffen.
Wenn wir nicht gewartet hätten, dann wären wir jetzt vielleicht in
einer ganz anderen Situation. Mir hat Rom sehr gefallen. Ich
möchte diese Zeit mit nichts in der Welt eintauschen. Wenn ich vor
zwei Jahren zwischen Tony und Rom hätte wählen müssen, dann
wäre ich wahrscheinlich nie gegangen. Wenn Tony zu mir nach
Florida gezogen wäre, dann hätte er vielleicht nie seine Daily Press
gegründet. Wie dem auch sei, es ist etwas ganz anderes, Tony jetzt
zu lieben, als damals, als wir Kinder waren. Wir mussten erwachsen
werden, und jetzt sind wir beide auf der gleichen Ebene und
können zusammen sein. Ich bin eigentlich ganz froh, dass du deine
Nase ab und zu in die ganze Sache gesteckt hast. Und John? Glaub
mir, ein Mann der ›Kiss the Girl‹ aus ›Die kleine Meerjungfrau‹ als
Hochzeitslied akzeptiert, ist auf jeden Fall der Richtige. Ihr zwei
seid auf eine abartige Art und Weise perfekt füreinander.«

»Er ist schon etwas Besonderes.« Mel tupfte sich ihre Wangen

mit dem Taschentuch trocken, das Libby ihr gegeben hatte. »Ich
bin so glücklich. Ich werde dich und John als meine Familie
haben!«

»Vergiss Tony nicht.«
Mel verdrehte die Augen. »Ich glaube, er ist in Ordnung.«

Danach beschäftigten sie sich wieder damit, Mel perfekt aussehen
zu lassen, wenn sie zum Altar geführt wurde.

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Wenn man den ›Klotz-am-Bein‹-Witz von John, den er während
des Eheversprechens erzählte, außer Acht ließ, dann war die
Hochzeit sehr schön. Libby überlegte sich außerdem, dass sie John
den Witz nicht übel nehmen konnte, denn Mel fand ihn anschein-
end sehr lustig. Libby stand die ganze Zeit neben ihr und lächelte
und versuchte nicht daran zu denken, wie schwer der irrwitzig
große Hochzeitsstrauß war. Sie nahm sich fest vor, nur eine einzel-
ne klassische Blume zu tragen, wenn sie zum Altar geführt wurde.
Die Zeremonie dauerte sehr lange, aber endlich waren Mel und
John verheiratet und jeder applaudierte, während sie vom Altar
zurück zum Ausgang stolzierten. Libby verließ die Kirche mit Park-
er, da er Johns Trauzeuge war.

Während der unglaublich vielen Fotos, auf denen Mel bestand,

stahl sich Tony ein oder zwei Küsse. Sie konnte jedoch nur kurze
Zeit mit ihm zusammen sein, denn die Trauzeugin der Braut
musste sich fast immer neben den Trauzeugen des Bräutigams stel-
len. Tonys Lächeln verschwand jedes Mal, wenn Parker seinen Arm
um ihre Taille legte. Was war heute mit Tony los? Es konnte doch
nicht sein, dass er immer noch eifersüchtig auf Parker war, oder et-
wa doch? Aber selbst das hätte nicht sein eigenartiges Machover-
halten wegen der Kisten vorhin erklärt.

Während der Hochzeitsfeier konnten sie noch nicht einmal

nebeneinandersitzen. Sie saßen zwar am gleichen Tisch, aber der
Tisch des Brautpaares war so extrem lang, dass die anderen
Trauzeugen des Bräutigams mehrere Stühle von Libby entfernt
saßen. Tony verhielt sich weiterhin komisch, während das Lied für
die Hochzeitsgesellschaft gespielt wurde. Parker schien dies außer-
ordentlich lustig zu finden und köderte den armen Tony, indem er
Libby etwas enger an sich zog und in ihr Ohr flüsterte. Natürlich
konnte Tony nicht wissen, dass Parker tatsächlich die Höhepunkte

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eines Gruselfilmes wiedergab, den er vor einigen Tagen gesehen
hatte.

Das Lied war noch nicht einmal ganz verklungen, als Tony

schon neben ihnen auftauchte. »Kann ich den nächsten Tanz
haben?« Er drängte Parker grob weg, bevor er Libby einen Kuss auf
den Mund gab. Über seine Schulter konnte er Parker sehen, der
sich vor Lachen schüttelte, während er sich zurückzog.

»Was ist denn in dich gefahren?« Libby versuchte, nicht laut

zu werden.

»Wovon redest du?« Tony grinste und drehte Libby im Kreis.

»Ich möchte einfach mit meiner Verlobten tanzen.«

»Natürlich, aber was hatte es mit den bösen Blicken auf sich,

die du dem armen Parker zugeworfen hast?«

»Der arme Parker«, spottete Tony. »Ich glaube, ich bin lange

genug danebengestanden, während der Kerl dich begrapscht hat.«

»Wir sind nur Freunde, Tony. Du musst dir keine Sorgen

machen.«

Tony grinste und zog sie enger an sich heran. »Ich mache mir

keine Sorgen, Liebling. Ich vertraue dir von hier bis zum Mond. Das
bedeutet aber nicht, dass ich gerne anderen Männern zusehe, die
dich berühren, wenn ich so gerne derjenige sein möchte, der dich
berührt.«

Libby dachte darüber nach. Es war irgendwie romantisch,

selbst wenn es gleichzeitig auch irritierend war. Tonys Finger tan-
zten über die entblößte Haut ihres Rückens und sie fand es sehr
schwierig, sich weiterhin über ihn zu ärgern.

Tony neigte seinen Kopf, bis Libby spüren konnte, wie sein

Atem an ihrem Ohr kitzelte. »Du hast so weiche Haut«, flüsterte er.
»Ich liebe dieses Kleid.« Libby konnte nichts anderes tun als zu
seufzen und sich noch enger an seine Brust zu schmiegen. »Habt
ihr Mädchen nicht eine ganze Menge Umkleideräume im oberen
Stockwerk?«, fragte Tony, als ihr Lied zu Ende ging.

»Ja, das stimmt. Warum?« Libby sah zu ihm hoch. Tonys Au-

gen waren dunkel und groß und er hatte sein Raubtierlächeln

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aufgesetzt, das nur dazu diente, Libby komplett durchein-
anderzubringen. »Oh.«

Er lächelte noch breiter. »Oh ist ganz richtig«, flüsterte er mit

etwas tieferer Stimme. »Warum machen wir nicht einen kleinen
Rundgang?«

Gerade in diesem Moment legte sich eine starke dunkle Hand

auf ihren Unterarm. Sie sah sich um und entdeckte Gio, der die
beiden anlächelte. »Darf ich euch beide unterbrechen?«

Libbys Blick flog zu Tony hinüber, aber der schüttelte nur mit

einem kleinen Schmunzeln seinen Kopf. »Klare Sache, Chef. Ich
hole uns etwas zu trinken. Okay, Liebling?« Die Betonung lag etwas
zu stark auf dem Wort ›Liebling‹, aber er verhielt sich auf jeden
Fall besser, als Libby erwartet hatte.

»Danke.« Sie hoffte, dass er beide Gründe für ihre Dank-

barkeit verstand. Tony nickte, aber er sah immer noch etwas ver-
stimmt aus.

Gios Arme fühlten sich vertraut an, als er ihre Tanzschritte auf

ein etwas schnelleres Lied anpasste. Vertraut – aber es gab keiner-
lei Anzeichen mehr dafür, dass sie mehr wollte. Kein Wunder, dass
Libby und Gio es ausgehalten hatten, ihre Hände so lange bei sich
zu behalten … Zwischen ihnen gab es wirklich nicht mehr als eine
warme Freundschaft und eine leichte Anziehungskraft, die durch
Tonys Anwesenheit zu einer Nichtigkeit wurde.

»Also der Schriftsteller?« Gio grinste sie an.
»Äh … ja.« Peinlich! Libby konnte ihm nicht in die Augen se-

hen. »Tony und ich hatten … ein langes Gespräch, nachdem du
gegangen warst. Er liebt mich.«

»Und du liebst ihn.« Gio fragte nicht, sondern er stellte es fest.
»Ja, das stimmt.« Sie sah ihn endlich an. Er lächelte immer

noch. »Ich bin glücklich.«

»Das ist die Hauptsache, Betta.« Gio fuhr fort, ihr amüsante

Geschichten über seine Reise nach New York zu erzählen. Eine
außergewöhnlich große Anzahl von Sätzen begann mit den Worten

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›Elaine und ich …‹, und Libby hatte den Verdacht, dass seine Reise
in die USA nicht völlig umsonst gewesen war.

Sie tanzten zwei weitere Lieder lang, bis die Zeit für die Tis-

chreden gekommen war. Danach schleppte Mel Libby mit sich weg,
um ihr ihre neuen Schwiegereltern vorzustellen. Dann wurden er-
staunlicherweise noch mehr Fotos gemacht. Tony schaute mit
wachsendem Ärger zu. Libby fand dies überaus unterhaltsam. Es
war sehr unwahrscheinlich, dass Tonys Aufmerksamkeit sie jemals
langweilen würde. Letztendlich erbarmte sich John und überzeugte
Mel, dass sie noch den Rest ihres Lebens zusammen hatten, um
Bilder zu machen, und dass alle zurück zur Party gehen sollten.

»Das hört sich gut an!«, rief Tony und ergriff Libbys

Handgelenk. »Ich möchte mit meiner Freundin tanzen.«

»Ich auch, Kumpel.« John nickte in Mels Richtung und zum

ersten Mal überhaupt war Libby Zeuge, wie John und Tony sich
über etwas einig waren.

Mel bemerkte das auch. »Unglaublich. Wir benehmen uns

schon wie Familie! Wir werden alle so glücklich miteinander sein.
Wir verbringen die Feiertage miteinander und wir werden zusam-
men in Urlaub gehen und unsere Kinder werden beste Freunde
sein!«

Libby dachte, dass sich das nett anhörte … die Jungs verdreht-

en die Augen.

»Lass uns erstmal die Hochzeitsnacht hinter uns bringen, be-

vor wir über Babys reden, Liebling.« John griff für Libbys
Geschmack etwas zu unsittlich nach Mel. Sie stieß Tony an, damit
er mit ihr in Richtung Tanzfläche ging.

»Wartet!«, rief Mel ihnen nach. »Bevor ich es vergesse. Unser

Flug hat sich auf morgen Abend verschoben. John und ich dachten
deshalb, dass wir uns vielleicht auf ein kleinen Brunch nach der
Hochzeit treffen könnten! Hört sich das nicht herrlich an?«

»Ja, natürlich, gerne …«
»Nein!«, rief Tony. Dann räusperte er sich. »Nein danke.

Libby und ich haben morgen andere Pläne. Komm jetzt, Lib.« Tony

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kugelte ihr fast den Arm aus, so schnell zog er sie von Mel und John
weg.

»Das war sehr unhöflich!« Libby entriss sich Tonys festem

Griff. »Was ist nur heute Abend mit dir los?«

»Was?« Er sah sie aufrichtig verwirrt an. »Wovon redest du

denn?«

»Du benimmst dich wie ein Geistesgestörter! Zuerst behan-

delst du mich wie eine Invalidin, dann rastest du plötzlich wieder
wegen Parker aus und jetzt haben wir irgendwelche erfundenen
Pläne, damit wir uns morgen nicht mit deiner Schwester treffen
müssen. Du. Bist. Verrückt!« Bei jedem Wort stieß sie ihm in die
Brust.

»Lib.« Tony griff nach ihrem Finger, bevor sie noch einmal

zustoßen konnte. »Ich bin nicht verrückt. Ich schwöre es dir.
Außerdem war ich in Bezug auf meine Eifersucht nicht annährend
auf meiner Ausrast-Stufe. Erinnerst du dich daran, wie du im Haus
meiner Eltern in seinem T-Shirt herumstolziert bist? Der Kerl hat
Glück gehabt, dass ich ihm nicht jeden Knochen in seinem Gesicht
gebrochen habe.«

»Das ist nicht lustig.« Libby schnitt eine Grimasse.
»Das war mein absoluter Ernst«, murmelte Tony. »Gut, ich

verhalte mich ein wenig komisch, aber ich schwöre dir, dass ich
gute Absichten habe. Außerdem haben wir für morgen Pläne.«

»Oh? Was machen wir denn?«
Tony zuckte zusammen. »Das kann ich dir nicht sagen.«
Libby warf die Arme in die Luft. »Was geht hier vor?«
Tony griff nach ihr. »Es tut mir leid, dass mir Parker zu schaf-

fen macht. Alte Gewohnheiten lassen sich schwer ablegen. Komm,
lass uns jetzt bitte einfach ein wenig Spaß haben.«

Tony schaffte es, Libbys gute Laune wieder hervorzulocken,

und die beiden genossen den Rest der Party. Er zuckte nur ein
wenig zusammen, als sein Cousin Frank Libby ein Kompliment
über ihr Kleid machte. Als Parker das Strumpfband auffing und
Libby den Hochzeitsstrauß, sagte er kein Wort, als Parker das

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Strumpfband über Libbys Bein schob. Er stand aber genau in Park-
ers Blickrichtung und fing an, laut zu husten, als das Strumpfband
ihr Knie erreicht hatte.

Libby schimpfte später mit ihm, er hätte eine Szene gemacht.

Es sei doch nur eine dumme Tradition. Tony hatte jedoch die per-
fekte Antwort. »Es tut mir leid, Lib. Du hast recht. Ich verspreche,
dass ich dir später das Strumpfband bis ganz nach oben schiebe.«
Das war eine Entschuldigung, gegen die sie nicht viel einzuwenden
hatte.

Da sie Teil der Familie waren, wurde von ihnen erwartet, dass

sie länger blieben und mithalfen, alle Geschenke und andere Dinge
in Autos zu laden. Libby machte das nichts aus. Sie hatte die Mar-
chettis sehr gerne. Tony verhielt sich aber immer noch eigenartig.
Eigentlich verhielt er sich immer eigenartiger. Als sie versuchte,
ihre Kuchentasche, die mit Notfalldekorationen gefüllt war, zu ihr-
em Auto zu tragen, ließ er sie nicht in die Nähe der Tür kommen.
Als dann Mrs Marchetti wissen wollte, ob sie wegen der Hochzeit-
sanzeige von Mel einige zusätzliche Ausgaben der Daily Press vom
Montag haben könnte, sagte ihr Tony, dass sie im Büro anrufen
müsste, damit jemand einige Ausgaben für sie zur Seite legen kon-
nte. Das war sehr ungewöhnlich für ihn. Warum konnte er das
nicht selbst tun?

Endlich war alles aufgeräumt, verladen oder im Müll gelandet

und die Zeit zum Aufbruch war gekommen. Tony war seit mindes-
tens zehn Minuten verschwunden, während Libby noch einmal
unter allen Tischen nachsah, ob vielleicht jemand etwas vergessen
hatte. Als er mit ihren Jacken über seinem Arm wieder auftauchte,
schien sein Schritt zu federn und er sah fast so aus wie an den Ta-
gen, an denen sie früher Schokoladensplitter-Kekse gebacken hatte.

»Bist du fertig, mein Herz?« Sie schmolz dahin, als er ihr eines

seiner patentierten Nur-für-Libby-Lächeln schenkte.

»Wo warst du?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich musste nur noch etwas

erledigen. Möchtest du jetzt gehen?«

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Sie lächelte zurück. »Ja! Lass uns nach Hause gehen.«
»Noch nicht.« Tony grinste etwas breiter.
»Nein?« Libby sah sich um. Alles schien erledigt zu sein.

»Möchtest du noch irgendwo anders hingehen?«

Tony nickte langsam und bot ihr seinen Arm an, während sie

nach draußen gingen. »Erinnerst du dich noch daran, als ich mich
vorhin etwas komisch verhalten habe?«

»Lebhaft«, erwiderte sie.
Daraufhin musste er lachen. »Ich habe dir gesagt, dass ich gute

Vorsätze hätte, erinnerst du dich?«

»Daran erinnere ich mich auch.« Libby war überrascht, als er

sie in die entgegengesetzte Richtung vom Parkplatz zog. »Wohin
gehen wir?«

»Nur dort hinüber.« Sie kamen um die Ecke des Gebäudes und

Libby hielt inne, als sie eine Bank in einem kleinen Ziergarten sah,
der mit winzigen Lichtern übersät war. Am Straßenrand, einige
Meter entfernt, stand eine lange weiße Limousine.

»Was geht hier vor sich?«
»Setz dich. Lib.«
Libby ging wie betäubt zur Bank und setzte sich hin.
»Mein Herz«, sagte Tony, nachdem er auf ein Knie her-

untergegangen war. »Ich liebe dich so sehr. Ich habe dich fast mein
ganzes Leben lang geliebt, und der Tag, an dem du zugestimmt
hast, meine Frau zu werden, war mit Abstand der glücklichste in
meinem bisherigen Leben. Aber …«

»Aber?!?«, unterbrach Libby. Tony lachte und bedeutete ihr,

ruhig zu sein.

»Aber«, fuhr er fort, »iIch wünschte, ich hätte dir eine

schönere Erinnerung an den Moment geschenkt als die an kalte
Pfannkuchen und einen bevorstehenden Möbelkauf.«

»Ich liebe dieses Sofa!« Libby musste ihn einfach noch mal un-

terbrechen. Tony hatte sie zum Möbelkauf mitgenommen, nachdem
er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er hatte darauf best-
anden, ihr egal welches Sofa im Laden zu kaufen.

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»Kann ich das hier vielleicht zu Ende bringen?«
»Oh. Richtig, natürlich. Mach ruhig weiter.« Libby machte es

sich gemütlich und Tony musste wieder über sie lachen.

»Wie ich bereits sagte, ich bin so froh, dass du zugestimmt

hast, meine Frau zu werden. Jetzt möchte ich dich aber etwas an-
deres fragen. Libby?« Er griff in seine Tasche und zog einen perfek-
ten Diamantring heraus. Die kleinen Lichter wurden in dem Stein
reflektiert und ließen ihn noch märchenhafter aussehen. »Möchtest
du mich heiraten?«

»Ich verstehe nicht«, sagte Libby. »Warum ist das eine andere

Frage?«

»Ich habe dich gefragt, ob du mich jetzt heiratest.«
»Jetzt?«
Tony griff nach ihrer Hand und schob ihr den Ring über den

Finger. »Nun ja, heute Abend, vielleicht morgen sehr früh.« Er griff
in eine andere Jackentasche und gab ihr einen Umschlag.

Libby öffnete ihn langsam und ihr Herz machte einen Sprung,

als sie die Flugtickets sah. »Las Vegas?«

Tony nickte in Richtung Limousine. »Deine Sachen sind ge-

packt. Du musst nur noch Ja sagen. Ich erinnere mich, als du gesagt
hast, das sei eine romantische Art zu heiraten und dass du all das
hier nicht brauchst.« Er machte eine Handbewegung in Richtung
des Gebäudes, wo Mel gerade geheiratet hatte. »Ich brauche nur
dich, Lib. Ich brauche dich für den Rest meines Lebens, und ich
möchte, dass es jetzt beginnt.«

»Deshalb hast du dich wie ein Idiot verhalten?«
»Ich glaube, ja. Ich war den ganzen Tag lang aufgeregt.

Gestern Abend habe ich es geschafft, deinen Koffer ins Auto zu
schmuggeln, aber die Torten …«

»Oh!« Libby verstand plötzlich, warum er sie unter allen Um-

ständen vom Kofferraum des Autos fernhalten wollte.

»Ich dachte …« Tony sah unsicher aus. »Wenn ich daneben-

liege, kannst du natürlich jede Hochzeit haben, die du möchtest.«

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»Nein!« Libby zog Tony aus seiner knienden Stellung, damit

sie ihn küssen konnte. »Ich möchte nur dich, Tony. Lass uns
heiraten.«

Tony küsste sie dort auf dem Gehsteig, mit dem Fahrer als ein-

zigem Zeugen, dass ihr Hören und Sehen verging. Dann half er ihr,
in die Limousine einzusteigen. »Weißt du was?«

»Was?« Libby seufzte glücklich.
»Von hier bis zum Flughafen ist es mindestens eine Stunde.«

Libby wurde rot, als der Fahrer die dunkle Zwischenscheibe hoch-
fahren ließ und Tony sie auf seinen Schoß zog. »Habe ich dir schon
gesagt, wie sehr ich dieses Kleid liebe?«

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