Pauline Réage
Geschichte der O
und
Rückkehr nach
Roissy
revised by AnyBody
Dieses Buch gehört ganz offensichtlich zu den Büchern, die ihre Leser
prägen, die ihn nicht genauso zurücklassen, wie sie ihn vorfanden oder
sogar völlig verändern.
(Backcover)
ISBN 3-7766-0747-5
Originaltitel: Histoire d'O
Übertragen aus dem Französischen von Simon Saint Honoré
Originaltitel: Retour à Roissy
Übertragen aus dem Französischen von Margaret Carroux
8. Auflage 2000
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
JOSEPH MELZER VERLAG DARMSTADT
Buch ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
REVERS
Der Käufer dieses Buches hat auf einem beigelegten
Verpflichtungsschein versichert, daß er das 21. Lebensjahr
vollendet hat, auf den Inhalt des Buches vorbereitet war und
daran keinen Anstoß nimmt. Er hat sich weiterhin verpflichtet,
es vor Jugendlichen unter 21 Jahren unter Verschluß zu halten
und solchen Personen vorzuenthalten, die mit
Wahrscheinlichkeit zu einer objektiven Kenntnisnahme nicht in
der Lage sind.
Inhalt
REVERS ..................................................................................2
Geschichte der O..........................................................................6
Vorwort ....................................................................................7
DAS GLÜCK IN DER SKLAVEREI .................................7
I Bündig wie ein Brief .........................................................8
II Ein unerbittlicher Anstand .............................................11
III Ein seltsamer Liebesbrief .............................................15
Die Wahrheit über den Aufstand .......................................19
I DIE LIEBENDEN VON ROISSY ......................................22
II SIR STEPHEN ...................................................................67
III ANNEMARIE UND DIE RINGE ..................................128
IV DAS KÄUZCHEN .........................................................168
Rückkehr nach Roissy .............................................................191
Ein verliebtes Mädchen .......................................................192
Rückkehr nach Roissy .........................................................203
-4-
Herbig
"Geschichte der O"
"Rückkehr nach Roissy"
"Geschichte der O" (c) 1954 by Jean Jacques Pauvert éditeur,
Paris
"Rückkehr nach Roissy" (c) 1969 by Jean Jacques Pauvert
éditeur, Paris
Alle deutschen Rechte bei
Gesamtherstellung: Wiener Verlag, Himberg
Printed in Austria
Pauline Réage
Rückkehr nach Roissy
mit dem Vorwort
-5-
Ein verliebtes Mädchen
Originaltitel: Retour à Roissy
Aus dem Französischen von Margaret Carroux
(c) 1969 by Jean Jacques Pauvert éditeur, Paris.
Alle deutschen Rechte Joseph Melzer Verlag, Darmstadt
-6-
Geschichte der O
-7-
Vorwort
DAS GLÜCK IN DER SKLAVEREI
Ein Aufstand auf Barbados
Ein seltsamer Aufstand forderte im Lauf des Jahres 1838 auf
der friedlichen Insel Barbados blutige Opfer. Etwa zweihundert
Schwarze, Männer und Frauen, sämtlich durch die März-Erlasse
in Freiheit gesetzt, suchten eines Morgens ihren früheren Herrn
auf, einen gewissen Glenelg, und baten ihn, sie wieder als
Sklaven anzunehmen. Eine Klageschrift, verfaßt vo n einem
Anabaptisten-Pastor, wurde vorgelegt und verlesen. Dann
begann die Diskussion. Aber Glenelg wollte sich, aus
Zaghaftigkeit, Unsicherheit oder einfach aus Furcht vor dem
Gesetz, nicht überzeugen lassen. Worauf die Schwarzen ihm
zunächst gütlich zusetzten, ihn dann mit seiner ganzen Familie
massakrierten, und noch am gleichen Abend wieder in ihre
Hütten zogen, ihre Palaver und gewohnten Arbeiten und Riten
wieder aufnahmen. Die ganze Sache konnte durch das
Eingreifen des Gouverneurs MacGregor schnell unterdrückt
werden, und die Befreiung nahm ihren Fortgang. Die
Klageschrift übrigens wurde nie aufgefunden.
Ich denke manchmal an diese Schrift. Wahrscheinlich enthielt
sie, neben berechtigten Einwänden gegen die Organisation der
Arbeitshäuser (workhouses), die Ablösung der Prügelstrafe
durch die Gefängnisstrafe, und das Krankheitsverbot für
"Lehrlinge" - so nannte man die neuen, freien Arbeiter -
zumindest in Umrissen eine Rechtfertigung der Sklaverei. Zum
Beispiel die Bemerkung, daß wir nur für die Freiheiten
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empfänglich sind, die andere Menschen in eine entsprechende
Knechtschaft werfen. Es gibt niemanden, der sich nicht freuen
würde, frei zu atmen. Doch wenn ich mir zum Beispiel die
Freiheit nehme, bis zwei Uhr morgens lustig Banjo zu spielen,
so verliert mein Nachbar die Freiheit, mich nicht bis zwei Uhr
morgens Banjo spielen zu hören. Wenn ich es fertigbringe,
nichts zu tun, so muß mein Nachbar für zwei arbeiten. Zudem ist
bekannt, daß totaler Freiheitsdrang unweigerlich schon bald
nicht minder totale Konflikte und Kriege nach sich zieht. Dazu
kommt noch, daß, kraft der Dialektik, der Sklave sowieso
einmal zum Herrn wird, es wäre falsch, diese naturgesetzliche
Entwicklung forcieren zu wollen. Ferner: sich ganz dem Willen
eines anderen ergeben (wie dies Liebende und Mystiker tun),
ermangelt nicht der Größe und schafft seine eigenen Freuden, so
die Freude, sich - endlich! - befreit zu wissen von den eigenen
Neigungen, Interessen und Komplexen. Kurz, diese kleine
Schrift würde heute, mehr noch als vor hundert Jahren, als
Häresie gelten: als gefährliches Buch.
Hier handelt es sich um eine andere Art von gefährlichem
Buch, genau gesagt, um ein Erotikum.
I Bündig wie ein Brief
Übrigens, warum nennt man diese Bücher gefährlich! Das ist
zumindest unklug. Als hätte man es - wir alle fühlen uns ja
gemeinhin recht mutig - geradezu darauf angelegt, daß wir sie
lesen und uns so der Gefahr aussetzen. Es hat schon seinen
Grund, wenn die Geographischen Gesellschaften ihren
Mitgliedern nahelegen, in ihren Reiseberichten den Akzent nicht
auf die bestandenen Gefahren zu legen. Nicht aus
Bescheidenheit, sondern um niemanden in Versuchung zu
führen (man bedenke nur die Leicht-Fertigkeit der Kriege).
Doch welche Gefahren?
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Eine zumindest besteht, und ich sehe sie von meinem
Standpunkt aus sehr deutlich. Eine geringfügige Gefahr. Die
gehört ganz offensichtlich zu den Büchern, die ihren Leser
prägen - die ihn nicht ganz so zurücklassen, wie sie ihn
vorfanden - oder ihn sogar völlig verändern: die von dem
Einfluß, den sie ausüben, auf wunderliche Weise selbst erfaßt
werden und sich mit dem Leser wandeln. Nach ein paar Jahren
sind sie nicht mehr die gleichen Bücher. So daß die ersten
Kritiken bald schon ein bißchen töricht wirken. Aber sei's drum,
ein Kritiker sollte niemals zögern, sich lächerlich zu machen.
Am besten gestehe ich sogleich ein, daß ich mich hier auf
fremdem Gelände bewege. Ich taste mich durch die Geschichte
der O wie durch ein Märchen - die Märchen sind bekanntlich die
erotischen Romane der Kinder -, wie durch eines jener
Märchenschlösser, die gänzlich verlassen scheinen, in denen
jedoch die Sessel unter ihren Hüllen und die Taburetts und die
Himmelbetten sorglich abgestaubt und die Peitschen und
Reitstöcke ohnehin, sozusagen von Natur aus, blitzblank sind.
Nicht die Spur von Rost an den Ketten, kein Schmutzhauch an
den buntfarbenen Glasscheiben. Sooft ich an O denke, kommt
mir spontan ein Wort in den Sinn: das Wort Anstand. Ein Wort,
das zu schwierig zu begründen wäre. Lassen wir es also. Und
dieser Wind, der unaufhörlich bläst, der durch alle Gemächer
streicht. Es weht auch in O ein undefinierbarer Geist, rein und
heftig, ohne Pause, ohne Beimischung. Ein entschiedener Geist,
der vor nichts scheut, weder vor Seufzer noch Greuel, weder vor
Ekstase noch Ekel. Wenn ich ehrlich sein soll, mein Geschmack
geht zumeist in eine andere Richtung: ich mag die Werke, deren
Autor gezögert hat; bei denen eine gewisse Befangenheit verrät,
daß das Sujet ihn zunächst eingeschüchtert hat; daß er
bezweifelt hat, ob er jemals damit zurechtkommen würde. Die
Geschichte der O dagegen ist von Anfang bis Ende durchgeführt
wie ein bravouröses Gefecht. Man denkt eher an eine Rede, als
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an einen gewöhnlichen Herzenserguß; eher an einen Brief, als
an ein Tagebuch. Doch an wen ist der Brief gerichtet! Doch wen
will die Rede überzeugen! Wen soll ich danach fragen! Ich weiß
nicht einmal wer Sie sind.
Daß Sie eine Frau sind, bezweifle ich kaum. Nicht so sehr
wegen der Details, bei denen Sie so gern verweilen, den
grünseidenen Kleidern, den Wespentaillen und Röcken, die sich
hochrollen lassen (wie Haarsträhnen auf einen Lockenwickler).
Vielmehr: weil O, in dem Augenblick, als Rene sie wieder ihren
Peinigern überläßt, noch klar genug denkt, um festzustellen, daß
die Pantoffeln ihres Geliebten abgetreten sind, er muß sich neue
kaufen. So etwas scheint mir kaum vorstellbar. Darauf wäre ein
Mann niemals gekommen, und wenn, so hätte er es nicht zu
sagen gewagt.
Und doch stellt O, auf ihre Weise, ein männliches Ideal dar,
jedenfalls ein Männerideal. Endlich eine Frau, die es zugibt! Die
was zugibt! Das, wogegen die Frauen sich allezeit gewehrt
haben (und niemals heftiger, als heute). Das, was die Männer
aller Zeiten ihnen vorgeworfen haben: daß sie immer nur ihrem
Blut gehorchen; daß alles an ihnen Sexus ist, sogar der
Verstand. Daß man sie unaufhörlich füttern müßte, unaufhörlich
waschen und schminken, unaufhörlich prügeln. Daß sie einfach
einen guten Herren brauchen, und zwar einen, der sich hütet vor
seiner Güte: denn sobald wir unsere Güte zeigen, beziehen sie
daraus allen Elan, alle Freude, alle Leichtigkeit, die sie
brauchen, um sich von anderen lieben zu lassen. Kurz, daß man
die Peitsche mitnehmen muß, wenn man zu ihnen geht. Es gibt
wenige Männer, die nie davon träumten, eine Justine zu
besitzen. Doch keine einzige Frau hat bisher, soviel ich weiß,
davon geträumt, eine Justine zu sein. Jedenfalls nicht laut davon
geträumt, mit soviel Stolz auf Klagen und Tränen, soviel
stürmischer Gewalttätigkeit, soviel Leidensgier und soviel
Willenskraft, die sich bis zum Bersten spannt. Eine Frau, sicher,
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aber eine Frau, die etwas von einem Ritter, von einem
Kreuzfahrer hat. Als trügen Sie beide Naturen in sich oder als
wäre der Adressat des Briefes Ihnen in jedem Augenblick so
gegenwärtig, daß Sie seine Neigungen und seine Stimme
annehmen. Aber welche Frau, und wer sind Sie?
Wie dem auch sei, die Geschichte der O kommt von weither.
Ich spüre darin vor allem diese Ruhe und den Abstand, den eine
Erzählung gewinnt, wenn ihr Autor sie lange mit sich
herumgetragen hat. Wer ist Pauline Réage? Einfach eine
Träumerin, wie es viele gibt? (Es genügt, sagt man, auf sein
Herz zu hören. Hier ist ein Herz, das vor nichts zurückschreckt.)
Eine Dame mit Erfahrung, die das alles selbst erlebt hat? Die es
erlebt hat, und sich wundert, daß ein Abenteuer, das so gut
begann - oder zumindest so ernsthaft: mit Askese und
Züchtigung - schlecht ausgeht und in einer ziemlich
zweifelhaften Buße endet, denn schließlich, darüber sind wir uns
einig, bleibt O in dieser Art Bordell, wohin die Liebe sie
gebracht hat-, sie bleibt dort, und hat es dabei garnicht so
schlecht. Dennoch, auch hierbei:
II Ein unerbittlicher Anstand
Auch mich überrascht dieses Ende. Sie werden mir nicht
ausreden können, daß es nicht das wirkliche Ende ist. Daß Ihre
Heldin in Wirklichkeit (wenn ich so sagen darf) bei Sir Stephen
durchsetzt, sterben zu dürfen. Daß er ihre Eisen erst abnimmt,
wenn sie tot ist. Aber es wurde noch nicht alles ausgesprochen,
und diese Biene - ich meine Pauline Réage - hat einen Teil ihres
Honigs für sich behalten. Wer weiß, vielleicht hat sie, dieses
eine Mal, einer Autorenüberlegung nachgegeben: eines Tages
die Fortsetzung von Os Abenteuern zu schreiben. Auch ist
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dieses Ende so naheliegend, daß man es nicht zu schreiben
brauchte. Wir finden es mühelos selbst. Wir finden es, und es
setzt uns ein bißchen zu. Aber Sie, wie haben Sie es gefunden -
und wie lautet die Lösung dieses Abenteuers! Ich muß darauf
zurückkommen, weil ich überzeugt bin, daß diese Taburetts und
Sprossenbetten und sogar die Ketten, sobald man diese Lösung
gefunden hätte, sich von selbst erklärten, daß diese große,
geheimnisvolle Gestalt, dieses hintergründige Phantom, sich
dann zwischen diesen Dingen bewegen könnte.
Ich muß dabei an all das Unerklärliche, Unerträgliche denken,
das die männliche Begierde auszeichnet. Es gibt Steine, in denen
der Wind singt, die sich plötzlich bewegen oder anfangen,
Seufzer auszustoßen oder Musik zu machen wie eine
Mandoline. Die Leute kommen von weither, um sie zu sehen.
Dennoch möchte in an zunächst am liebsten die Flucht
ergreifen, auch wenn man die Musik noch so sehr liebt. Sollte
die Rolle der erotischen (oder wenn Sie so wollen, der
gefährlichen) Bücher darin bestehen, uns aufzuklären? Uns
dieserhalb zu beruhigen, wie ein Beichtvater es tut? Ich weiß
wohl, daß man sich im allgemeinen daran gewöhnt. Und die
Männer machen sich auch nicht sehr lange Gedanken deswegen.
Sie werden damit fertig, indem sie sagen, daß sie, die Frauen,
selbst damit angefangen haben. Sie lügen, und, wenn man so
sagen darf, die Beweise dafür liegen auf der Hand: klar, allzu
klar.
Auch die Frauen lügen, wird man mir entgegenhalten .
Stimmt, aber bei ihnen fällt es nicht so auf. Sie können immer
nein sagen. Welcher Anstand! Daher kommt zweifellos auch die
Meinung, daß sie das schö nere Geschlecht seien, daß die
Schönheit weiblich sei. Schöner, davon bin ich nicht überzeugt.
Aber zurückhaltender auf jeden Fall, unauffälliger, und auch das
ist eine Form der Schönheit. So denke ich nun schon zum
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zweiten Mol an den Begriff Anstand im Zusammenhang mit
einem Buch, in dem davon kaum die Rede ist...
Aber stimmt es, daß davon kaum die Rede ist! Ich denke nicht
an den faden und verlogenen Anstand, der sich damit begnügt,
sich zu verstellen; der vor dem Stein flieht und leugnet, gesehen
zu haben, wie er sich bewegte. Hier haben wir eine andere Art
von Anstand, unbeugsam und zu Züchtigungen schnell bereit;
der das Fleisch zutiefst demütigt, um ihm seine ursprüngliche
Unschuld zurückzugeben, es mit Gewalt zurückzuversetzen in
die Tage, als die Be gierde noch nicht lautgeworden war, der
Fels noch nicht gesungen hatte. Ein Anstand, dem man besser
nicht ausgeliefert sein sollte. Denn, um ihm Genüge zu tun,
müssen Hände auf dem Rücken gefesselt, Knie gespreizt, Leiber
ausgespannt, Schweiß und Tränen vergossen werden.
Es sieht aus, als sagte ich grauenvolle Dinge. Mag sein, aber
heute ist das Grauen unser tägliches Brot - und vielleicht sind
die gefährlichen Bücher nur die Bücher, die uns unserer
natürlichen Bedrohung wieder ausliefern. Welcher Liebende
wäre nicht entsetzt, wenn er einen Augenblick lang die
Tragweite des Schwures ermessen würde, mit dem er sich,
keineswegs leichtfertig, für das ganze Leben bindet. Welche
Liebende, wenn sie eine Sekunde lang wägte, was die Worte:
"ich habe die Liebe nicht gekannt, eh ich dich kennenlernte...
mein Herz hat nie gesprochen, eh ich dich traf" besagen, Worte,
die sich ihr auf die Lippen drängen. Oder auch das vernünftigere
- vernünftig? - : "Ich möchte mich bestrafen für jede Stunde, die
ich ohne dich glücklich war." Jetzt wird sie beim Wort
genommen. Jetzt bekommt sie, wenn ich so sagen darf, was sie
bestellt hat.
Es fehlt daher nicht an Folterungen in der Geschichte der O.
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Es fehlt nicht an Peitschenhieben, es fehlt nicht einmal die
Brandmarkung mit glühendem Eisen, garnicht zu reden vom
Halsring und der öffentlichen Zurschaustellung. Beinah
ebensoviele Foltern, wie es im Leben des Wüstenheiligen
Gebete gibt. Nicht weniger sorgfältig abgestuft, und wie
numeriert - durch kleine Steinchen voneinander getrennt. Es
sind nicht immer vergnügte, will sagen, mit Vergnügen
verabreichte Foltern. René weigert sich, sie zuzufügen; und
wenn Sir Stephen sie vollzieht, so tut er es, wie man eine Pflicht
erfüllt. Ganz offensichtlich finden beide Männer keinen Spaß
daran. Sie sind keine Sadisten. Ja, alles geht so vor sich, als
hätte O allein von Anfang an verlangt, daß man sie züchtige,
ihren letzten Widerstand breche.
An dieser Stelle wird irgendein Dummkopf von Masochismus
schwatzen. Von mir aus, aber das hat weiter nichts zu sagen, als
daß einem echten Mysterium ein falsches zugesellt wird, ein
reines Sprach-Klischee. Was ‹b›heißt‹/b› Masochismus? Daß
der Schmerz zugleich eine Lust ist; und das Leiden eine Freude?
Möglich. Es handelt sich dabei um Behauptungen, wie sie bei
den Metaphysikern im Schwange sind - so sagen sie zum
Beispiel auch, jede Anwesenheit sei eine Abwesenheit; und
jedes Wort ein Schweigen - und ich leugne keineswegs (wenn
ich sie auch nicht immer verstehe), daß diese Behauptungen
ihren Sinn haben mögen, zumindest ihren Nutzen. Aber einen
Nutzen, der sich auf keinen Fall aus der bloßen Beobachtung des
Falles ziehen läßt, - der mithin nicht Sache des Arztes oder des
einfachen Psychologen und schon gar nicht Sache des
Dummkopfs ist. - Nein, sagt man mir, es handelt sich zwar um
einen Schmerz, den jedoch der Masochist in Lust
‹b›verwandeln‹/b› kann; um Leiden, dem er, mittels eines nur
ihm bekannten alchemistischen Verfahrens, reine Freude
abgewinnt. Welch frohe Botschaft! Somit hätten die Menschen
endlich gefunden, was sie so emsig suchten, in der Medizin, in
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der Moral, in den Philosophien und Religionen: das Mittel, den
Schmerz zu vermeiden oder zumindest ihn zu überwinden: ihn
zu begreifen (und sei es nur, indem sie in ihm die Auswirkung
unserer Dummheit oder unserer Fehler sehen). Besser noch, sie
hätten dieses Mittel immer schon gekannt, denn schließlich gibt
es Masochisten nicht erst seit gestern. Und daher wundere ich
mich, daß man ihnen nicht die größten Ehren erwiesen hat-, daß
man nicht versucht hat, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Daß
man sie nicht in Paläste geholt und dort in Käfige gesperrt hat,
um sie besser beobachten zu können.
Vielleicht stellen die Menschen sich niemals Fragen, die nicht
schon längst beantwortet sind. Vielleicht genügte es, wenn man
sie miteinander in Kontakt bringen, sie ihrer Einsamkeit
entreißen würde (als gäbe es ein einziges menschliches Streben,
das nicht reine Schimäre wäre). Nun, hier haben wir wenigstens
den Käfig, und in dem Käfig haben wir diese junge Frau. Wir
brauchen ihr nur zuzuhören.
III Ein seltsamer Liebesbrief
Sie sagt: "Du bist zu Unrecht erstaunt. Betrachte Deine Liebe
genauer. Sie wäre entsetzt, wenn sie begreifen würde, daß ich
eine Frau bin und lebe. Du wirst die heißen Quellen Deines
Blutes nicht zum Versiegen bringen, indem Du sie vergißt."
"Deine Eifersucht täuscht Dich nicht. Sicher, Du gibst mir
Glück und Gesundheit und ein tausendfältiges Leben. Aber ich
kann nicht verhindern, daß dieses Glück sich sofort gegen Dich
kehrt. Auch der Stein singt lauter, wenn das Blut frei strömt und
der Körper entspannt ist. Laß mich doch in diesem Käfig und
gib mir kaum Nahrung, wenn Du es wagst. Alles, was mich der
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Krankheit und dem Tod näher bringt, macht mich treu. Und nur
dann, wenn Du mir Schmerzen zufügst, bin ich nicht gefährdet.
Du hättest Dich nicht bereitfinden dürfen, für mich ein Gott zu
sein, wenn die Pflichten der Götter Dir Angst machen, jeder
weiß, daß SIE nicht weichherzig sind. Du hast mich schon
weinen sehen. Nun mußt Du noch Geschmack an meinen
Tränen finden. Ist mein Hals nicht reizend, wenn er sich gegen
meinen Willen bäumt und an einem Schrei erstickt, den ich
zurückhalte. Es ist nur zu wahr, daß man die Peitsche nicht
vergessen darf, wenn man zu uns geht. Und bei manchen
bedürfte es sogar der neunschwänzigen Katze."
Sie fügt sofort hinzu: "Welch dummer Scherz. Aber Du
begreifst auch nichts. Wenn ich Dich nicht wirklich lieben
würde, glaubst Du, daß ich dann wagte, so zu Dir zu sprechen
und meinesgleichen zu verraten!"
Und sagt dann: "Meine Phantasie, meine flüchtigen Träume,
werden dauernd zum Verräter an Dir. Nimm mir die Kraft.
Befreie mich von diesen Träumen. Liefere mich aus. Sorge
dafür, daß ich nicht einmal die Zeit habe, daran zu denken, daß
ich Dir untreu bin. Doch laß mich zuerst mit Deine r Nummer
zeichnen. Wenn ich die Spur Deiner Peitsche trage oder Deine
Kette oder diese Ringe an meinen Lippen, dann muß allen klar
sein, daß ich Dir gehöre. Solange man mich in Deinem Namen
schlägt und mich schändet, bin ich nur, was Du denkst, was Du
wünschst, was Du begehrst. Und genau das wolltest Du, glaube
ich. Ich liebe Dich, und deshalb will ich es auch."
"Wenn ich endgültig aufgehört habe, ich selbst zu sein, wenn
mein Mund und mein Leib und meine Brüste nicht mehr mir
gehören, dann werde ich zu einem Wesen aus einer anderen
Welt, wo alles einen anderen Sinn hat. Eines Tages weiß ich
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vielleicht nichts mehr von mir. Was ist mir von nun an die Lust,
was sind mir die Liebkosungen so vieler Männer, Deiner
Abgesandten, die ich nicht unterscheiden - nicht mit Dir
vergleichen kann?"
So spricht sie. Ich höre ihr zu und merke sehr wohl, daß sie
nicht lügt. Ich versuche ihr zu folgen (die Prostitution hat mir
lange zu schaffen gemacht). Es ist schließlich möglich, daß die
lodernde Tunika der Mythologien nicht eine simple Allegorie
ist; noch die kultische Prostitution eine Kuriosität der
Geschichte. Es ist möglich, daß die Refrains der Liebeslieder
und die "ich bin sterblich in dich verliebt" keine simplen
Metaphern sind. Noch, was die Huren zu ihren Auserwählten
sagen: "Ich bin verrückt nach dir, mach mit mir, was du willst."
(Merkwürdig, wenn wir uns von einem Gefühl befreien wollen,
das uns verwirrt, dann sprechen wir dieses Gefühl den Ganoven
zu, den Prostituierten.) Es ist möglich, daß Heloise, als sie an
Abälard schrieb: "Ich werde Dein Freudenmädchen sein", nicht
einfach nur eine hübsche Phrase machen wollte. Sicher ist die
Geschichte der O der heftigste Liebesbrief, den ein Mann je
erhalten hat.
Ich erinnere mich an jenen Holländer, der so lange auf den
Meeren herumirren muß, bis er ein Mädchen findet, das bereit
ist, ihr Leben zu verlieren, um seines zu retten; und an den Ritter
Guigemar, der, um von seinen Wunden zu genesen, auf eine
Frau wartet, die für ihn leidet "wie nie eine Frau gelitten hat".
Natürlich ist die Geschichte der O länger als ein Liebeslied und
ausführlicher als ein einfacher Brief. Vielleicht mußte man auch
weiter dazu ausholen. Vielleicht war es noch nie so schwierig,
auch nur zu begreifen, was die Jungen und Mädchen von der
Straße sagen: wahrscheinlich das gleiche, wie die Sklaven von
Barbados. Wir leben in einer Zeit, in der die einfachsten
Wahrheiten sich uns nur dann nackt (wie O) präsentieren
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können, wenn sie eine Käuzchenmaske aufhaben.
Denn völlig normale und selbst vernunftbegabte Leute
sprechen gern von der Liebe als von einem spielerischen Gefühl,
das man nicht ernst nehmen muß. Man sagt, daß es viel
Vergnügen verschafft, und daß der Kontakt zweier Epidermen
nicht ganz ohne Reiz ist. Man sagt, daß der Reiz oder das
Vergnügen sich dem voll erschließen, der es versteht, der Liebe
ihren willkürlichen Charme, ihre Kapriziosität, eben ihre
natürliche Freiheit zu bewahren. Von mir aus, wenn es
Menschen verschiedenen (oder auch gleichen) Geschlechts so
leicht fällt, einander Lust zu verschaffen, dann sollen sie sich
nur ja nicht genieren. Nur ein oder zwei Wörtchen geben mir
dabei zu denken: das Wort Liebe und auch das Wort Freiheit.
Natürlich trifft das Gegenteil zu. Liebe bedeutet Abhängigkeit -
nicht nur in ihrem Vergnügen, in ihrer Existenz und in dem, was
vor der Existenz kommt: in dem Wunsch, zu existieren - von
fünfzig wunderlichen Dingen: von zwei Lippen (und von der
Grimasse oder dem Lächeln, zu dem sie sich verziehen), von
einer Schulter (von der Art, wie sie sich hebt oder senkt), von
zwei Augen (von einem Blick, der ein wenig weicher, ein wenig
härter ist), schließlich von einem ganzen fremden Körper, mit
dem Geist oder der Seele, die in ihm sind - von einem Körper,
der in jedem Augenblick strahlender als die Sonne werden kann,
eisiger als eine Schneefläche. Es ist keine Freude, das alles an
sich zu erfahren, dagegen kommen Ihre Martern mir lächerlich
vor. Man zittert, wenn dieser Körper sich bückt, um das Band
eines kleinen Schuhs zu knüpfen, und es scheint, daß jeder
einem ansieht, wie man zittert. Lieber die Peitsche und die
Ringe im Fleisch! Was die Freiheit anlangt... Jeder Mann oder
jede Frau, die sie an sich erfahren haben, dürften sich dagegen
auflehnen, sie mit Schimpf und Greuel bedrohen. Sicher, es fehlt
nicht an Greuel in der Geschichte der O. Aber manchmal scheint
es mir, daß hier nicht so sehr eine junge Frau als vielmehr eine
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Idee, eine Meinung gefoltert wird.
Die Wahrheit über den Aufstand
Merkwürdig, die Idee vom Glück in der Sklaverei nimmt sich
heutzutage wie neu aus. In der Familie hat das Oberhaupt kaum
mehr das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, in den
Schulen und in der Ehe ist die körperliche Züchtigung verpönt,
und Männer, die man in früheren Jahrhunderten stolz auf
öffentlichen Plätzen enthauptet hat, läßt man heute jämmerlich
in Kellern verfaulen. Wir martern nur noch anonym, und Leute,
die es nicht verdienen. Deshalb sind diese Martern auch
tausendmal grausamer, der Krieg röstet auf einen Schlag die
gesamte Bevölkerung einer Stadt. Die exzessive Nachgiebigkeit
des Vaters, des Lehrers oder des Liebhabers wird mit
Bombenteppichen und Napalm und Atomexplosionen bezahlt.
Alles geht vor sich, als existiere in der Welt ein geheimes
Gleichgewicht der Gewalttaten, an denen wir den Geschmack
verloren haben, ja, deren Sinn wir nicht mehr erkennen können.
Und ich bin gar nicht böse, daß eine Frau diesen Geschmack
und diesen Sinn wiedergefunden hat. Ich wundere mich nicht
einmal darüber.
Ehrlich gesagt, ich habe über die Frauen nicht so viele
bestimmte Ans ichten, wie dies bei Männern im allgemeinen der
Fall ist. Ich bin überrascht, daß es sie gibt (die Frauen). Mehr als
überrascht: vage verwundert. Weshalb sie mir vielleicht
wunderbar erscheinen, ich beneide sie fast dauernd. Was erregt
nun meinen Neid?
Manchmal sehne ich mich nach meiner Kindheit zurück.
Dabei gilt aber meine Sehnsucht ganz und gar nicht den
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Überraschungen und Offenbarungen, von denen die Dichter
sprechen. Nein. Ich erinnere mich an eine Zeit, als ich für die
ganze Erde verantwortlich war. Abwechselnd Boxweltmeister
oder Koch, politischer Redner (jawohl), General, Dieb und sogar
Rothaut, Baum oder Fels. Man wird einwenden, daß es sich um
ein Spiel handelte. Sicher, für Sie, die Erwachsenen, aber für
mich nicht, ganz und gar nicht. Damals war ich Herr des
Universums, mit allen Sorgen und Gefahren, die diese
Herrschaft mit sich bringt: damals war ich universell. Genau
darauf will ich hinaus.
Die Frauen besitzen die Gabe, ihr ganzes Leben lang den
Kindern zu gleichen, die wir waren. Eine Frau versteht sich auf
tausend Dinge, die uns fremd sind. Fast immer kann sie nähen.
Sie kann kochen. Sie weiß, wie man ein Zimmer einrichtet und
welche Stile sich untereinander vertragen (ich sage nicht, daß sie
alles perfekt macht, aber ich war auch keine perfekte Rothaut).
Sie kann noch mehr. Sie kann mit Hunden und Katzen umgehen;
sie spricht mit diesen Halbverrückten, den Kindern, die wir
unter uns dulden: sie lehrt sie die Kosmologie und gute
Manieren, die Hygiene und die Märchen, ja, manchmal sogar
das Klavierspielen. Kurz, wir träumen von Jugend an vergeblich
von einem Mann, der alle Männer zugleich wäre. Dagegen
scheint es, daß es jeder Frau möglich ist, alle Frauen (und alle
Männer) zugleich zu sein. Aber es kommt noch merkwürdiger.
Man hört heutzutage oft sagen, daß es genüge, alles zu
begreifen, um alles zu verzeihen. Nun, ich war immer der
Ansicht, daß bei den Frauen - so universell sie auch sein mögen
- das Gegenteil zutrifft. Ich hatte eine Menge Freunde, die mich
so nahmen, wie ich bin, und die ich meinerseits so nahm, wie sie
waren - ohne den geringsten Wunsch, uns gegenseitig zu
verändern. Ich freute mich sogar - und auch sie freuten sich -,
daß jeder von uns so sehr er selbst war. Aber es gibt keine Frau,
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die nicht versuchte, den Mann, den sie liebt, zu ändern, und sich
damit. Als löge das Sprichwort, als genüge es, alles zu
verstehen, um gar nichts zu verzeihen.
Nein, Pauline Reage verzeiht sich so gut wie nichts. Und ich
frage mich sogar, ob sie nicht ein klein wenig übertreibt; ob
ihresgleichen, die Frauen, ihr wirklich so gleichen, wie sie
annimmt. Aber mehr als ein Mann wird wohl zu gern mit ihr
einer Meinung sein.
Muß man bedauern, daß die Klageschrift verlorenging? Ich
fürchte, ehrlich gesagt, daß der ehrenwerte Anabaptist, der sie
verfaßte, diese Schrift in ihrem apologetischen Teil mit ziemlich
abgedroschenen Gemeinplätzen spickte: zum Beispiel, daß es
immer Sklaven geben werde (was stimmt); daß es immer die
gleichen sein würden (worüber sich streiten läßt); daß man sich
mit seinem Stand abfinden und eine Zeit, die man dem Spiel, der
Meditation und den üblichen Vergnügungen widmen könnte,
nicht mit Klagen vertun solle. Aber ich glaube, er hat nicht die
Wahrheit gesagt, nämlich, daß Glenelgs Sklaven in ihren Herrn
verliebt waren, daß sie ohne ihn nicht leben konnten. Im Grunde
die gleiche Wahrheit, die uns in der Geschichte der O die
Bündigkeit und den unfaßbaren Anstand spüren läßt, den
fanatischen Sturmwind, der dauernd bläst.
Jean Paulhan von der Académie Française.
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I DIE LIEBENDEN VON ROISSY
Ihr Geliebter führt O eines Tages in einem Stadtviertel
spazieren, das sie sonst nie betreten, im Parc Monsouris, im Parc
Monceau. An der Ecke des Parks, einer Straßenkreuzung, wo
niemals Taxis stehen, sehen sie, nachdem sie im Park
spazierengega ngen und Seite an Seite am Rand einer
Rasenfläche gesessen waren, einen Wagen mit Zähluhr, der
einem Taxi gleicht. "Steig ein", sagt er. Sie steigt ein. Der
Abend ist nicht mehr fern, und es ist Herbst. Sie ist gekleidet
wie immer. Schuhe mit hohen Absätze n, ein Kostüm mit
Plisseerock, Seidenbluse, keinen Hut. Aber lange Handschuhe,
die über die Ärmel des Kostüms gezogen sind, und sie trägt in
ihrer ledernen Handtasche ihre Papiere, Puder und Lippenstift.
Das Taxi fährt geräuschlos an, ohne daß der Mann etwas zum
Chauffeur gesagt hätte. Er schließt die Schiebevorhänge rechts
und links an den Scheiben und hinten am Rückfenster; sie hat
ihre Handschuhe ausgezogen, weil sie glaubt, er wolle sie
küssen oder sie solle ihn streicheln. Aber er sagt: "Du kannst
dich nicht rühren, gib deine Tasche her." Sie gibt die Tasche, er
legt sie außerhalb ihrer Reichweite und fährt fort: "Und du hast
zu viel an. Mach die Strumpfhalter auf, rolle deine Strümpfe bis
zum Knie: hier hast du Strumpfbänder." Es geht nicht ganz
leicht, das Taxi fährt schneller, und sie fürchtet, der Chauffeur
könne sich umdrehen. Schließlich sind die Strümpfe gerollt, und
es stört sie, die Beine nackt und frei unter der Seide ihres Hemds
zu spüren. Außerdem rutschen die ausgehakten Strumpfhalter
hoch. "Nimm den Gürtel ab, sagt er, und zieh den Slip aus." Das
geht einfach, man braucht nur mit den Händen hinter die Hüften
fassen und sich ein bißchen hochstemmen. Er nimmt ihr Gürtel
und Slip aus der Hand, legt sie in die Tasche und sagt dann: "Du
darfst dich nicht auf dein Hemd und auf den Rock setzen, du
mußt beides hochziehen und dich direkt auf die Bank setzen."
-23-
Die Bank ist mit Kunstleder bezogen, es ist glitschig und kalt,
man schaudert, wenn man es an den Schenkeln spürt. Dann
befiehlt er ihr: "Zieh jetzt deine Handschuhe wieder an." Das
Taxi fährt noch immer, und sie wagt nicht zu fragen, warum
René sich nicht rührt und nichts mehr sagt, noch was es für ihn
bedeuten kann, daß sie reglos und stumm, so entblößt und so
ausgesetzt, so wohl behandschuht, in einem schwarzen Wagen
sitzt und nicht weiß, wohin sie fährt. Er hat ihr nichts befohlen
und nichts verboten, doch sie wagt weder die Beine
überzuschlagen noch die Knie zu schließen. Sie hat die beiden
behandschuhten Hände rechts und links auf den Sitz gestützt.
"Voilà", sagt er plötzlich. Voilà: das Taxi hält in einer
schönen Allee, unter einem Baum - es sind Platanen - vor einem
kleinen Palais, ähnlich den kleinen Palais am Faubourg Saint-
Germain, das man zwischen Hof und Garten mehr ahnt als sieht.
Die Straßenlaternen sind ein Stück entfernt, es ist dunkel im
Wagen, und draußen regnet es. "Halt still", sagt René. "Halt
ganz still." Er streckt die Hand nach dem Kragen ihrer Bluse
aus, öffnet die Schleife, dann die Knöpfe. Sie beugt den
Oberkörper ein wenig vor, sie glaubt, er wolle ihre Brüste
streicheln. Nein. Er tastet nur, faßt und durchschneidet mit
einem Taschenmesser die Träger des Büstenhalters und zieht ihn
ihr aus. Unter der Bluse, die er wieder geschlossen hat, sind jetzt
ihre Brüste frei und nackt, wie ihr Leib nackt und frei ist von
Taille bis zu den Knien.
"Hör zu", sagt er. "Es ist soweit. Ich lasse dich jetzt allein. Du
steigst aus und klingelst an der Tür. Du folgst der Person, die dir
öffnet, du tust alles, was man von dir verlangt. Wenn du nicht
sofort hineingehst, wird man dich holen, wenn du nicht sofort
gehorchst, wird man dich zwingen zu gehorchen. Deine Tasche?
Nein, du brauchst deine Tasche nicht mehr. Du bist weiter nichts
als das Mädchen, das ich anliefere. Doch, doch, ich werde dort
-24-
sein. Geh!"
Eine andere Version des gleichen Anfangs war brutaler und
simpler: die junge Frau war, ebenso gekleidet, von ihrem
Geliebten und einem seiner Freunde, den sie nicht kannte, im
Wagen mitgenommen worden. Der Unbekannte saß am Steuer,
der Geliebte neben der jungen Frau, und diesmal sprach der
Freund, der Unbekannte, und erklärte der jungen Frau, daß ihr
Geliebter den Auftrag habe, sie vorzubereiten, daß er ihr die
Hände auf den Rücken binden werde, oberhalb der Handschuhe,
ihre Strümpfe aushaken und herunterrollen, ihr den
Strumpfgürtel ausziehen, den Slip und den Büstenhalter, und ihr
die Augen verbinden werde. Daß sie dann im Schloß abgeliefert
werde. Wo man sie jeweils anweisen werde, was sie zu tun
habe. Nachdem sie wie besprochen entkleidet und gefesselt
worden war, half man ihr nach einer halbstündigen Fahrt aus
dem Wagen, führte sie einige Stufen hinauf, dann mit
verbundenen Augen durch ein paar Türen, und als die Binde
abgenommen wurde, fand sie sich allein in einem dunklen
Zimmer, wo ma n sie eine halbe Stunde warten ließ oder eine
Stunde oder zwei, ich weiß nicht, wie lange, aber es war eine
Ewigkeit. Als dann endlich die Tür geöffnet wurde und das
Licht anging, sah sie, daß sie in einem ganz gewöhnlichen und
behaglichen Raum gewartet ha tte, der dennoch eigenartig war:
mit einem dicken Teppich auf dem Boden, aber ohne ein
Möbelstück, rundum Wandschränke. Zwei Frauen hatten die Tür
geöffnet, zwei junge und hübsche Frauen, gekleidet wie hübsche
Zofen des achtzehnten Jahrhunderts: mit langen, leichten und
gebauschten Röcken, die die Füße bedeckten, mit engen
Miedern, die den Busen hochschoben und vorne geschnürt oder
gehakt waren, und mit Spitzen am Ausschnitt und an den
halblangen Ärmeln. Augen und Mund geschminkt. Jede trug ein
enges Halsband und enge Armbänder um die Handgelenke.
-25-
Ich weiß nun, daß sie O die Hände losbanden, die noch immer
hinter ihrem Rücken gefesselt waren, und ihr sagten, daß sie
sich ausziehen müsse und daß man sie baden und schminken
werde. Sie wurde also entkleidet und ihre Kleider wurden in
einem der Wandschränke verwahrt. Sie durfte sich nicht allein
baden, sie wurde frisiert wie beim Friseur, indem man sie in
einem dieser großen Sessel Platz nehmen ließ, die beim
Kopfwaschen nach hinten gekippt und wieder gerade gestellt
werden, wenn man, nach dem Einlegen, unter der Trockenhaube
sitzt. Das dauert immer mindestens eine Stunde. Es hat
tatsächlich über eine Stunde gedauert, sie war nackt auf diesem
Stuhl gesessen, und man verbot ihr, die Beine überzuschlagen
oder die K nie zu schließen. Und da sie vor einem großen
Spiegel saß, der die Wandfläche von oben bis unten bedeckte
und von keiner Konsole unterbrochen wurde, sah sie sich, weit
klaffend, so oft ihr Blick den Spiegel traf.
Als sie fertig geschminkt war, die Lider leicht umschattet, den
Mund sehr rot, Spitze und Hof der Brüste rosig, den Rand der
Schamlippen rötlich, den Flaum der Achselhöhlen und des
Schoßes, die Furche zwischen den Schenkeln und die Furche
unter den Brüsten und die Handflächen lange mit Parfüm
bestäubt, wurde sie in einen Raum geführt, wo ein dreiteiliger
Spiegel und ein vierter Spiegel an der Wand dafür sorgten, daß
sie sich genau sehen konnte. Sie wurde angewiesen, sich auf den
Puff in der Mitte zwischen den Spiegeln zu setzen und zu
warten. Der Puff war mit schwarzem Pelz bezogen, der sie ein
bißchen stach, und der Teppich war schwarz, die Wände rot. Sie
hatte rote Pantöffelchen an den Füßen. An einer Wand des
kleinen Boudoirs war ein großes Fenster, das auf einen schönen
dunklen Park hinausging. Es hatte zu regnen aufgehört, die
Bäume bewegten sich im Wind, der Mond lief hoch oben
zwischen den Wolken hin. Ich weiß nicht, wie lange sie in dem
roten Boudoir gewartet hat, auch nicht, ob sie wirklich allein
-26-
war, wie sie annahm, oder ob jemand sie durch eine verborgene
Öffnung in der Wand beobachtete. Dagegen weiß ich, daß eine
der beiden Frauen, als sie wiederkamen, ein Maßband trug, die
andere ein Körbchen. Ein Mann begleitete sie; er trug ein langes
violettes Gewand mit Ärmeln, die oben weit und am
Handgelenk eng waren, das Gewand öffnete sich beim Gehen
von der Taille an. Man sah, daß er darunter eine Art anliegender
Strumpfhosen trug, die Beine und Schenkel bedeckten, das
Geschlecht jedoch freiließen. Dieses Geschlecht sah O als erstes
beim ersten Schritt des Mannes, dann die Peitsche aus
Lederschnüren, die im Gürtel steckte, dann, daß der Mann eine
schwarze Kapuze übers Gesicht gezogen hatte - ein Netz aus
schwarzem Tüll verbarg sogar die Augen -, und schließlich, daß
er auch Handschuhe trug, ebenfa lls schwarz und aus feinem
Ziegenleder. Er sagte ihr, sie solle sitzenbleiben, dutzte sie
dabei, und befahl den Frauen, sich zu beeilen. Die mit dem
Zentimeterband nahm nun von Os Hals und Gelenken die Maße,
die zwar klein, aber doch gängig waren. Es war leicht, in dem
Korb, den die andere Frau trug, ein passendes Halsband und
Armreifen zu finden. Sie waren folgendermaßen gearbeitet: aus
mehreren Lederschichten (jede Schicht sehr dünn, das Ganze
nicht mehr als einen Finger dick), mit einem Schnappverschluß,
der automatisch einklickte wie ein Vorhängeschloß, wenn man
ihn zumachte, und nur mit einem kleinen Schlüssel wieder zu
öffnen war. An der dem Verschluß genau gegenüberliegenden
Stelle, in der Mitte der Lederschichten und beinah ohne Spiel,
war ein Metallring angebracht, der es erlaubte, das Armband
irgendwo zu befestigen, wenn man das wollte, denn es schloß,
wenn es auch gerade so viel Spielraum gab, um keine
Verletzung zu bewirken, zu eng am Gelenk an, und das
Halsband zu eng um den Hals, als daß man einen noch so
dünnen Riemen hätte durchziehen können. Man befestigte nun
Halsband und Armreifen an Hals und Gelenken, dann befahl der
Mann ihr, aufzustehen. Er setzte sich auf ihren Platz auf den
-27-
Pelzpuff und zog sie zwischen seine Knie, ließ die
behandschuhte Hand zwischen ihre Schenkel und über ihre
Brüste gleiten und erklärte ihr, daß sie noch an diesem Abend
vorgeführt werden solle, nach dem Essen, das sie allein
einnehmen werde. Sie nahm es wirklich allein ein, noch immer
nackt, in einer Art Kabine, in die eine unsichtbare Hand ihr die
Speisen durch einen Schalter zuschob. Nach dem Essen kamen
die beiden Frauen und holten sie ab. Im Boudoir schlossen sie
gemeinsam die beiden Ringe ihrer Armreifen hinter ihrem
Rücken zusammen, legten ihr einen langen Umhang um die
Schultern, der an ihrem Halsband befestigt wurde und der sie
ganz bedeckte, sich jedoch beim Gehen öffnete; sie konnte ihn
ja nicht zusammenhalten, weil ihre Hände auf dem Rücken
gefesselt waren. Sie durchschritten ein Vorzimmer, zwei Salons,
und kamen in die Bibliothek, wo vier Männer beim Kaffee
saßen. Sie trugen die gleichen wallenden Gewänder, wie der
erste, aber keine Masken. Doch O hatte nicht Zeit, ihre
Gesichter zu sehen und festzustellen, ob ihr Geliebter unter
ihnen sei (er war unter ihnen), denn einer der Vier richtete den
Strahl einer Lampe auf sie, die sie blendete. Alle Anwesenden
verhielten sich regungslos, die beiden Frauen rechts und links
von ihr und die Männer vor ihr, die sie musterten. Dann erlosch
die Lampe; die Frauen entfernten sich. Man hatte O aufs neue
die Augen verbunden. Nun mußte sie näherkommen, sie
schwankte ein bißchen und spürte, daß sie vor dem Kaminfeuer
stand, an dem die vier Männer saßen: sie fühlte die Hitze, sie
hörte die Scheite leise in der Stille knistern. Sie stand mit dem
Gesicht zum Feuer. Zwei Hände hoben ihren Umhang hoch,
zwei weitere glitten an ihren Hüften entlang, nachdem sie sich
überzeugt hatten, daß die Armreifen festgemacht waren: sie
trugen keine Handschuhe und eine von ihnen drang von beiden
Seiten zugleich in sie ein, so abrupt, daß sie aufschrie. Ein Mann
lachte. Ein anderer sagte: "Drehen Sie sich um, damit man die
Brüste und den Leib sieht." Sie mußte sich umdrehen, und die
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Hitze des Feuers schlug jetzt an ihre Lenden. Eine Hand ergriff
eine ihrer Brüste, ein Mund packte die Spitze der anderen.
Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und taumelte nach
rückwärts; sie wurde aufgefangen, von welchem Arm? während
jemand ihre Beine öffnete und sanft die Lippen auseinanderzog;
Haare strichen über die Innenseite ihrer Schenkel. Sie hörte
jemanden sagen, man müsse sie niederknien lassen. Was auch
geschah. Das Knien tat ihr sehr weh, zumal man ihr verbot, die
Knie zu schließen und ihre Hände so auf den Rücken gebunden
waren, daß sie sich vorbeugen mußte. Nun erlaubte man ihr, sich
zurücksinken zu lassen, bis sie fast auf den Fersen saß, wie es
die Nonnen tun. "Sie haben sie nie angebunden? -Nein, nie. -
Auch nicht gepeitscht? - Auch das nie. Sie wissen ja..." Diese
Antworten kamen von ihrem Geliebten. "Ich weiß, sagte die
andere Stimme. Wenn man sie nur gelegentlich anbindet, wenn
man sie nur ein bißchen peitscht, könnte sie Geschmack daran
finden, und das wäre falsch. Man muß über den Punkt
hinausgehen, wo es ihr Spaß macht, man muß sie zum Weinen
bringen." Einer der Männer befahl O jetzt, aufzustehen, er
wollte gerade ihre Hände losbinden, zweifellos, damit man sie
an einen Pfosten oder eine Mauer fesseln könnte, als ein anderer
protestierte, er wolle sie zuerst nehmen und zwar sofort - so daß
man sie wieder niederknien ließ, aber diesmal mußte sie, noch
immer mit den Händen auf dem Rücken, den Oberkörper auf
den Puff legen und die Hüften hochrecken. Der Mann packte mit
beiden Händen ihre Hüften und drang in ihren Leib ein. Er
überließ seinen Platz einem zweiten. Der dritte wollte sich an
der engsten Stelle einen Weg bahnen und ging so brutal vor, daß
sie aufschrie. Als er von ihr abließ, glitt sie, stöhnend und
tränennaß unter ihrer Augenbinde, zu Boden: nur um zu spüren,
daß Knie sich gegen ihr Gesicht preßten und auch ihr Mund
nicht verschont würde. Schließlich blieb sie, hilflos auf dem
Rücken, in ihrem Purpurmantel vor dem Feuer liegen. Sie hörte,
wie Gläser gefüllt und ausgetrunken, wie Sessel gerückt wurden.
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Im Kamin wurde Holz nachgelegt. Plötzlich nahm man ihr die
Augenbinde ab. Der große Raum mit den Büchern an den
Wänden war schwach erleuchtet durch eine Lampe auf einer
Konsole und durch den Schein des Feuers, das wieder
aufflammte. Zwei Männer standen und rauchten. Ein dritter saß,
eine Peitsche auf den Knien, und der vierte, der sich über sie
beugte und ihre Brust streichelte, war ihr Geliebter. Aber alle
vier hatten sie genommen, und sie hatte ihn nicht von den
anderen unterscheiden können. Man erklärte ihr, daß es immer
so sein werde, so lange sie sich im Schloß aufhalte, daß sie die
Gesichter der Männer nicht sehen werde, die sie vergewaltigen
oder foltern würden, niemals jedoch bei Nacht, und daß sie
niemals wissen werde, wer ihr das Schlimmste angetan hatte.
Desgleichen wenn sie gepeitscht würde, nur wolle man dann,
daß sie sehen könne, wie sie gepeitscht wurde, daß sie also zum
ersten Mal keine Augenbinde tragen werde, daß die Männer
dagegen ihre Masken anlegen würden und sie sie nicht
unterscheiden könne. Ihr Geliebter hatte sie aufgehoben und in
ihrem roten Umhang auf die Armlehne eines Sessels an der
Kaminecke gesetzt, damit sie hören sollte, was man ihr zu sagen
hatte und sehen sollte, was man ihr zeigen wollte. Sie hatte noch
immer die Hände auf dem Rücken. Man zeigte ihr den
Reitstock, der schwarz war, lang und dünn, aus feinem Bambus,
mit Leder bezogen, wie man sie in den Auslagen der großen
Ledergeschäfte sieht; die Lederpeitsche, die der erste der
Männer, den sie gesehen hatte, im Gürtel trug, sie war lang,
bestand aus sechs Riemen mit je einem Knoten am Ende; dann
eine dritte Peitsche aus sehr dünnen Schnüren, die an den Enden
mehrere Knoten trugen und ganz steif waren, als hätte man sie
in Wasser eingeweicht, was auch der Fall war, wie sie feststellen
konnte, denn man berührte damit ihren Schoß und spreizte ihre
Schenkel, damit sie besser fühlen könne, wie feucht und kalt die
Schnüre sich auf der zarten Haut der Innenseite anfühlten.
Blieben noch auf der Konsole stählerne Ketten und Schlüssel.
-30-
An einer Wand der Bibliothek lief in halber Höhe eine Galerie,
die von zwei Säulen getragen wurde. In eine Säule war ein
Haken eingelassen, in einer Höhe, die ein Mann auf
Zehenspitzen mit gestrecktem Arm erreichen konnte. Man sagte
O, die ihr Geliebter in die Arme genommen hatte, eine Hand
unter ihren Schultern und die andere, die sie verbrannte,
zwischen ihren Schenkeln, um sie zum Nachgeben zu zwingen,
man sagte ihr, daß man ihre gefesselten Hände nur löse, um sie
sogleich, mittels der Armreifen und einer der Stahlketten, an
diesen Pfeiler zu binden. Daß aber nur die Hände über ihrem
Kopf festgehalten würden, sie sich aber sonst frei bewegen
könne und die Schläge kommen sähe. Daß man im allgemeinen
nur Hüften und Schenkel peitsche, also von der Taille bis zu den
Knien, genauso, wie sie im Wagen, der sie hierhergebracht
hatte, vorbereitet worden sei, als sie sich nackt hatte auf die
Bank setzen müssen. Daß jedoch einer der vier anwesenden
Männer vielleicht Lust haben werde, ihre Schenkel mit dem
Reitstock zu zeichnen, was schöne, lange und tiefe Striemen
gebe, die man lange sehen werde. Es werde ihr nicht alles
zugleich angetan werden, sie werde schreien können, soviel sie
wolle, sich winden und weinen. Man werde sie Atem schöpfen
lassen, aber weitermachen, sobald sie wieder Kräfte gesammelt
habe, wobei die Wirkung nicht nach ihren Schreien oder Tränen
beurteilt werde, sondern nach den mehr oder minder lebhaften
und anhaltenden Spuren, die die Peitschen auf ihrer Haut
zurücklassen würden. Man wies sie darauf hin, daß diese
Methode, die Wirkung der Schläge zu beurteilen, nicht nur
gerecht sei und alle Versuche der Opfer, durch übertriebenes
Stöhnen Mitleid zu wecken, nichtig mache, sondern darüber
hinaus auch erlaube, die Peitsche außerhalb des Schlosses
anzuwenden, im Park, was häufig geschehe, oder in irgendeiner
Wohnung oder einem beliebigen Hotelzimmer, vorausgesetzt
natürlich, daß man einen Knebel verwende (den man ihr
sogleich zeigte), der nur den Tränen freien Lauf läßt, aber alle
-31-
Schreie erstickt und kaum ein Stöhnen erlaubt. An diesem
Abend jedoch sollte der Knebel nicht verwendet werden, im
Gegenteil. Sie wollten O brüllen hören, und so schnell wie
möglich. Der Stolz, den sie darein setzte, sich zu beherrschen
und zu schweigen, hielt nicht lange an: sie hörten sie sogar
betteln, man möge sie losbinden, einen Augenblick einhalten,
nur einen einzigen. Sie wand sich so konvulsivisch, um dem Biß
der Lederriemen zu entgehen, daß sie sich vor dem Pfosten
beinah um die eigene Achse drehte, denn die Kette, die sie
fesselte, war lang und daher nicht ganz straff. Die Folge war,
daß ihr Bauch und die Vorderseite der Schenkel und die Seiten
beinah ebenso ihr Teil abbekamen, wie die Lenden. Man
entschloß sich nun, einen Augenblick aufzuhören und erst
wieder anzufangen, nachdem ein Strick um ihre Taille und
zugleich um den Pfosten geschlungen worden war. Da man den
Strick fest anzog, damit der Körper in der Mitte gut am Pfosten
anlag, war der Oberkörper notwendig ein wenig zur Seite
gebeugt, so daß auf der anderen Seite das Hinterteil stärker
hervortrat. Von nun an verirrten die Hiebe sich nicht mehr, es
sei denn mit Absicht. Nach der Art und Weise zu urteilen, wie
ihr Geliebter sie ausgeliefert hatte, hätte O sich denken können,
daß ein Appell an sein Mitleid die beste Methode sein würde,
seine Grausamkeit zu verdoppeln, daß er größtes Vergnügen
daran finden würde, ihr diese unzweifelhaften Beweise seiner
Macht zu entreißen oder entreißen zu lassen. Tatsächlich war er
derjenige, der als erster bemerkte, daß die Lederpeitsche, unter
der sie zuerst gestöhnt hatte, sie weit weniger zeichnete, als die
eingeweichte Schnur der neunschwänzigen Katze und der
Reitstock, und daher erlaube, die Qual zu verlängern und
mehrmals von neuem anzufangen, fast unverzüglich, wenn man
Lust dazu hatte. Er bestand darauf, daß man nur noch diese
Peitsche verwendete. Verführt von diesem hingereckten
Hinterteil, das sich unter den Schlägen wand und sich in dem
Bemühen, ihnen auszuweichen, nur umso mehr aussetzte,
-32-
verlangte nun derjenige der Vier, der an den Frauen nur das
liebte, was sie mit den Männern gemeinsam haben, daß man ihm
zuliebe eine Pause einlegen solle, und er teilte die beiden
Hälften, die unter seinen Händen brannten, und drang nicht ohne
Mühe ein, wobei er die Überlegung anstellte, daß man diese
Pforte leichter zugänglich machen müsse. Man kam überein, daß
das zu machen sei und daß man entsprechende Maßnahmen
ergreifen werde.
Als man die junge Frau, die unter ihrem roten Mantel
taumelte und beinah ohnmächtig war, schließlich losband, sollte
sie, eh sie in die ihr zugewiesene Zelle geführt würde, im
einzelnen die Regeln hören, die sie während ihres Aufenthaltes
im Schloß und auch noch nach ihrer Rückkehr ins alltägliche
Leben (was übrigens nicht die Rückkehr in die Freiheit
bedeutete) befolgen müßte; man setzte sie in einen großen
Sessel am Feuer und klingelte. Die beiden jungen Frauen, die sie
empfangen hatten, brachten die Kleidung für ihren Aufenthalt
und die Dinge, die sie allen kenntlich machen würden, die schon
vor ihrer Ankunft Gäste des Schlosses gewesen waren oder es
nach ihrem Weggang sein würden. Das Kostüm war dem der
beiden Frauen ähnlich: über einem fischbeinverstärkten und in
der Taille rigoros geschnürten Mieder und über einem
gestärkten Batistunterrock ein langes Gewand mit weitem Rock
und einem Oberteil, das die Brüste, die das Korsett hochschob,
fast freiließ, kaum mit Spitzen verhüllte. Der Unterrock war
weiß, Mieder und Kleid aus meergrüner Seide, die Spitzen
wieder weiß. Als O angekleidet war und wieder im Sessel am
Feuer saß, noch blasser durch das blasse Grün, gingen die
beiden Frauen, die kein Wort gesprochen hatten. Einer der vier
Männer packte die eine im Vorbeigehen, bedeutete der anderen,
zu warten, führte die erste zu O hin, ließ sie sich umdrehen,
umfaßte mit einer Hand ihre Taille und hob ihr mit der anderen
die Röcke hoch, um O zu zeigen, so sagte er, warum sie dieses
-33-
Kostüm trugen und wie gut es durchdacht sei; er fügte hinzu,
man könne diesen Rock mittels eines einfachen Gürtels so hoch
schürzen, wie man wolle, wodurch mühelos zugänglich wurde,
was man auf diese Weise entblößte. Außerdem lasse man die
Frauen häufig im Schloß oder im Park so hochgeschürzt
herumgehen oder mit vorn, ebenfalls bis zur Taille,
hochgerafften Röcken. Man ließ O von der jungen Frau zeigen,
wie sie ihren Rock befestigen müsse: mehrmals aufgerollt (wie
eine Haarsträhne auf einem Lockenwickler), in einen engen
Gürtel gesteckt, genau vorn in der Mitte, wenn der Leib entblößt
werden sollte, oder genau in der Mitte des Rückens, um die
Lenden zu entblößen. Im einen wie im anderen Fall fielen
Unterrock und Rock in Kaskaden reicher Schrägfalten von der
Mitte zu Boden. Wie O hatte die junge Frau frische Striemen
quer über die Lenden. Sie ging hinaus.
Danach bekam O folgende Ansprache zu hören: "Sie stehen
hier ganz im Dienst Ihrer Gebieter. Tagsüber verrichten Sie die
Pflichten, die Ihnen aufgetragen werden, Hausarbeiten wie
Bücher abstauben oder ordnen oder Blumen arrangieren oder bei
Tisch aufwarten. Keine schwereren Arbeiten. Aber Sie werden
stets aufs erste Wort, auf das erste Zeic hen hin jede Tätigkeit
unterbrechen, um Ihren einzigen wirklichen Zweck zu erfüllen,
nämlich, uns zu Willen zu sein. Ihre Hände gehören Ihnen nicht,
auch nicht Ihre Brüste, vor allem nicht irgendein Zugang Ihres
Körpers, wir können sie nach Belieben visitieren und in sie
eindringen. Als ein Zeichen, das Ihnen ständig gegenwärtig
machen soll, oder doch so gegenwärtig wie möglich, daß Sie
kein Recht mehr haben, sich zu entziehen, werden Sie in unserer
Gegenwart niemals völlig die Lippen schließen, noch die Be ine
kreuzen oder die Knie zusammenpressen (Sie haben ja gesehen,
daß Ihnen dies sogleich nach Ihrer Ankunft verboten wurde).
Was für uns wie für Sie bedeutet, daß Ihr Mund, Ihr Schoß und
Ihre Lenden uns offen stehen. Sie werden vor uns niemals Ihre
-34-
Brüste berühren: sie sind durch das Korsett herausgedrängt,
damit sie uns gehören. Tagsüber werden Sie bekleidet sein, doch
Sie werden den Rock heben, wenn man es Ihnen befiehlt und
jeder kann - unmaskiert - mit Ihnen tun, was er will, nur nicht
Sie peitschen. Gepeitscht werden Sie nur zwischen
Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Aber außer den
Schlägen, die jeder Ihnen erteilen wird, der dazu Lust hat,
werden Sie am Abend ausgepeitscht zur Strafe für Verstöße
gegen die Hausregel, die Sie sich tagsüber zuschulden kommen
ließen: also, wenn Sie nicht willig genug waren, oder die Augen
zu demjenigen erhoben haben, der zu Ihnen gesprochen oder Sie
genommen hat: Sie dürfen niemals einem von uns ins Gesicht
schauen. Wenn das Kostüm, das wir bei Nacht tragen, das ich
jetzt hier trage, unser Geschlecht freiläßt, so nicht der
Bequemlichkeit halber, das ließe sich auch auf andere Weise
machen, sondern um Sie zu erniedrigen, um Ihre Augen zu
zwingen, sich darauf zu heften und auf nichts anderes, um Sie zu
lehren, darin Ihren Gebieter zu sehen, dem Ihre Lippen, vor
allem anderen, dienen sollen. Bei Tage, wenn wir normal
gekleidet sind wie jetzt, werden Sie sich an die gleichen
Vorschriften halten, nur müssen Sie dann, wenn man es von
Ihnen verlangt, bemüht sein, unsere Kleider zu öffnen und auch
ohne weitere Aufforderung wieder zu schließen, wenn wir mit
Ihnen fertig sind. Bei Nacht dagegen werden nur Ihre Lippen
und Ihre geöffneten Schenkel uns dienen können, denn Ihre
Hände werden auf dem Rücken gefesselt sein und Sie werden so
nackt sein, wie man Sie uns zugeführt hat; die Augen werden
Ihnen nur verbunden, wenn Sie mißhandelt werden sollen, und -
nachdem Sie jetzt Ihrer eigenen Auspeitschung zugesehen
haben, - wenn Sie ausgepeitscht werden. A propos, wenn Sie
während der Dauer Ihres Aufenthalts die Peitsche regelmäßig
alle Tage bekommen, so geschieht das nicht so sehr zu unserem
Vergnügen, als vielmehr zu Ihrer Belehrung. In Nächten, in
denen niemand nach Ihnen verlangt, wird daher ein Diener mit
-35-
dieser Aufgabe betraut und Ihnen in der Einsamkeit Ihrer Zelle
verabreichen, was Sie bekommen sollten und was wir selbst
Ihnen nicht geben wollten. Wie bei der Kette, die am Ring Ihres
Halsbandes angebracht wird und Sie täglich mehrere Stunden
lang mehr oder weniger unbeweglich auf Ihrem Bett festhalten
soll, ist die Absicht weit weniger, Ihnen Schmerz zuzufügen, Sie
zum Schreien oder Weinen zu bringen, als vielmehr, Sie durch
diese Schmerzen fühlen zu lassen, daß Sie unter Zwang stehen,
daß Sie ganz und gar fremdem Willen unterworfen sind. Wenn
Sie von hier weggehen, werden Sie einen Eisenring am
Goldfinger tragen, der Sie kenntlich macht: Sie werden dann
gelernt haben, denen zu gehorchen, die das gleiche Zeichen
tragen - und die bei seinem Anblick wissen werden, daß Sie
unter Ihrem Rock nackt sind, wie korrekt und unauffällig Ihre
Kleidung auch sein mag, und daß Sie es um ihretwillen sind.
Wer Sie ungefügig finden wird, wird Sie hierher zurückbringen.
Sie werden jetzt in Ihre Zelle geführt."
Während diese Worte an O gerichtet wurden, standen die
beiden Frauen, die sie angekleidet hatten, rechts und links des
Pfostens, an dem sie gepeitscht worden war, jedoch ohne ihn zu
berühren, als hätten sie Angst davor oder als hätte man es ihnen
verboten (und das stimmte wohl); als der Mann geendet hatte,
näherten sie sich O, die begriff, daß sie aufstehen und ihnen
folgen sollte. Sie stand also auf, raffte ihre Röcke, um nicht zu
stolpern, denn sie war an lange Kleider nicht gewöhnt und fühlte
sich nicht sicher auf den Pantöffelchen mit den überhöhten
Sohlen und den sehr hohen Absätzen, die nur von einem dicken
Seidenband vom gleichen Grün wie ihr Kleid am Fuß gehalten
wurden. Als sie sich bückte, wandte sie den Kopf. Die Frauen
warteten, die Männer beachteten sie nicht mehr. Ihr Geliebter
saß auf den Boden, an den Puff gelehnt, über den man sie zu
Beginn des Abends geworfen hatte, mit hochgezogenen Knien
und auf die Knie gelegten Ellbogen, und spielte mit der
-36-
Lederpeitsche. Beim ersten Schritt, den sie auf die Frauen zutat,
streifte ihn ihr Rock. Er hob den Kopf und lächelte ihr zu, rief
ihren Namen und stand ebenfalls auf. Er strich ihr sanft übers
Haar, glättete ihr mit den Fingerspitzen die Brauen, küßte zart
ihre Lippen. Ganz laut sagte er ihr, daß er sie liebe. O zitterte
heftig und hörte mit Schrecken, daß sie erwiderte: "Ich liebe
dich" und spürte mit Schrecken, daß es wahr war. Er zog sie an
sich, sagte mon chéri, mon coeur chéri, küßte ihren Hals und
den Ansatz der Wange; sie hatte ihren Kopf auf die Schulter
sinken lassen, die das violette Gewand bedeckte. Er wiederholte,
diesmal ganz leise, daß er sie liebe und sagte, ebenfalls ganz
leise: "Knie nieder, streichle mich und küsse mich." Er schob sie
weg, winkte den beiden Frauen, beiseite zu treten, damit er sich
an die Konsole lehnen könne. Er war groß, und die Konsole war
nicht sehr hoch, so daß seine langen Beine, in Strumpfhosen
vom gleichen Violett wie sein Hausmantel, leicht gebeugt
waren. Der offene Mantel spannte sich darunter wie ein
Vorhang und das Geschlecht mit seinem hellen Vlies wurde
vom Sims der Konsole hochgestützt. Die drei Männer traten
näher. O kniete auf dem Teppich, ihr grüner Rock umgab sie
wie eine Blütenkrone. Das Korsett schnürte sie ein, die Brüste,
deren Spitzen man sah, waren mit den Knien ihres Geliebten auf
gleicher Höhe. "Mehr Licht", sagte einer der Männer. Als man
den Strahl der Lampe so gerichtet hatte, daß er grell auf Renés
Geschlecht fiel und auf das Gesicht seiner Geliebten, das dicht
davor war, und auf ihre Hände, die ihn von unten streichelten,
befahl René plötzlich: "Sage immer wieder ›Ich liebe Sie‹." O
sagte: "Ich liebe Sie", in solcher Verzückung, daß ihre Lippen
kaum wagten, die Spitze des Glieds zu berühren, die noch von
ihrer zarten fleischigen Hülle bedeckt war. Die drei rauchenden
Männer kommentierten Os Gesten, die Bewegung ihres Mundes,
der sich um Renés Geschlecht geschlossen hatte und es festhielt,
an ihm auf und abglitt, ihr aufgelöstes Gesicht, das Tränen
überströmten, sooft das mächtige Glied auf den Grund ihrer
-37-
Kehle stieß und dabei die Zunge zurückdrängte, sie würgte.
Schon fast geknebelt durch das harte Fleisch, das ihren Mund
füllte, murmelte sie noch immer: "Ich liebe Sie." Die eine der
beiden Frauen hatte sich rechts, die andere links von René
gestellt, der sich mit den Armen auf ihre Schultern stützte. O
hörte die Kommentare der Zuschauer, aber sie wollte nur die
Seufzer ihres Geliebten hören, konzentrierte sich ganz darauf,
ihn zu liebkosen, mit unendlichem Respekt, mit unendlicher
Behutsamkeit. O fühlte, daß ihr Mund schön war, weil es ihrem
Geliebten gefiel, in ihn einzudringen, weil er die Liebkosungen
dieses Mundes zur Schau stellte, weil es ihm endlich gefiel, sich
in ihn zu ergießen. Sie empfing ihn, wie man einen Gott
empfängt, hörte ihn schreien, hörte die anderen lachen, und als
sie ihn empfangen hatte, sank sie zusammen, das Gesicht auf
dem Boden. Die beiden Frauen hoben sie auf, und dieses Mal
brachte man sie weg.
Die Pantöffelchen klapperten auf den roten Fliesen der
Korridore, an denen sich die Türen reihten, glatt und diskret, mit
winzigen Schlüssellöchern wie die Zimmertüren in den großen
Hotels. O wagte nicht zu fragen, ob jedes dieser Zimmer
bewohnt sei und von wem. Die eine ihrer Begleiterinnen, deren
Stimme sie noch nicht gehört hatte, sagte zu ihr: "Sie sind im
roten Flügel und Ihr Diener heißt Pierre. - Welcher Diener?
sagte O, gerührt von der Sanftheit dieser Stimme, und wie
heißen Sie? - Ich heiße Andrée. - Und ich Jeanne", sagte die
zweite. Die erste fuhr fort: "Der Diener, der die Schlüssel hat
und Sie fesseln und losbinden wird, der Sie peitschen wird,
wenn Sie bestraft werden sollen und wenn niemand für Sie Zeit
hat. - Ich war im vergangenen Jahr im roten Flügel, sagte
Jeanne, Pierre war damals schon da. Er kam oft nachts; die
Diener haben die Schlüssel und in den Zimmern, die zu ihrem
Bereich gehören, haben sie das Recht, über uns zu verfügen."
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O wollte fragen, wie dieser Pierre sei. Sie kam nicht dazu. An
der Biegung des Korridors hieß man sie vor einer Tür
stehenbleiben, die sich in nichts von den anderen Türen
unterschied; auf einer Bank zwischen dieser Tür und der
nächsten sah sie einen Menschen mit rotem Gesicht sitzen, der
ihr wie ein Bauer vorkam, gedrungen, mit fast kahlrasiertem
Kopf, kleinen, tiefliegenden Augen und Fleischwülsten im
Nacken. Er war gekleidet wie ein Operettenlakai: ein Hemd mit
Spitzenjabot schaute aus der schwarzen Weste hervor, die ein
roter Spenzer bedeckte. Er trug schwarze Kniehosen, weiße
Strümpfe und Lackpumps. Auch in seinem Gürtel steckte eine
Peitsche mit Lederschnüren. Seine Hände waren mit roten
Haaren bedeckt. Er zog einen Hauptschlüssel aus der
Westentasche, schloß die Tür auf und ließ die drei Frauen
eintreten mit den Worten: "Ich schließe wieder ab, ihr läutet,
wenn ihr fertig seid."
Die Zelle war winzig und bestand genau gesagt aus zwei
Räumen. Nachdem die Tür zum Korridor wieder geschlossen
war, stand man in einem Vorraum, der zur eigentlichen Zelle
führte; an der gleichen Wand ging vom Schlafraum eine zweite
Tür ins Badezimmer. Den Türen gegenüber war ein Fenster.
Ganz an der linken Wand, zwischen den Türen und dem Fenster,
stand das Kopfende eines großen, quadratischen, sehr niedrigen
Bettes, das mit Pelzwerk bedeckt war. Kein weiteres
Möbelstück, kein Spiegel. Die Wände waren blutrot, der
Teppich schwarz. Andree wies O darauf hin, daß das Bett
weniger ein Bett war, als vielmehr eine gepolsterte Plattform,
und der schwarze, langhaarige Bezugsstoff eine Pelzimitation.
Das Kopfkissen, flach und hart wie die Matratze, war aus dem
gleichen Gewebe, ebenso die zweiseitig bezogene Decke. Als
einziger Gegenstand hing an der Wand, etwa ebenso hoch über
dem Bett wie der Haken in dem Pfosten über dem Boden der
Bibliothek war, ein dicker Ring aus glänzendem Stahl. Eine
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lange Stahlkette war hindurchgeführt, die gerade aufs Bett
herunterhing; ihre aufeinanderliegenden Glieder bildeten ein
kleines Häufchen, das andere Ende war in Reichweite an einem
Haken mit Vorhängeschloß befestigt, als hätte man eine Gardine
gezogen und in einen Halter geklemmt.
"Wir sollen Ihnen beim Baden helfen, sagte Jeanne. Ich werde
Ihnen das Kleid ausziehen."
Das einzige Ungewöhnliche im Badezimmer war eine Toilette
à la turque in der Ecke neben der Tür und die Tatsache, daß die
Wände vollständig mit Spiegeln verkleidet waren. Andree und
Jeanne ließen O erst hineingehen, als sie nackt war, hängten ihr
Kleid in den Wandschrank neben dem Waschbecken, wo bereits
ihre Pantöffelchen und der rote Umhang verwahrt waren, und
blieben, sogar als sie sich auf den Porzellansockel kauern mußte,
so daß O sich dabei inmitten eine r Vielzahl von Spiegelbildern
genauso zur Schau gestellt fand, wie in der Bibliothek, als
unbekannte Hände ihr Gewalt antaten. "Warten Sie nur, bis
Pierre dabei ist, sagte Jeanne, dann werden Sie sehen. - Wieso
Pierre? - Wenn er kommt, um sie anzuketten, läßt er sie
vielleicht niederkauern." O fühlte, wie sie blaß wurde. "Aber
warum? sagte sie. - Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben,
erwiderte Jeanne, aber Sie haben Glück. - Wieso Glück? - Ihr
Geliebter hat Sie doch hierhergebracht? - Ja, sagte O. - Sie
werden viel strenger behandelt werden. - Ich verstehe nicht... -
Sie werden sehr bald verstehen. Ich läute Pierre. Wir holen Sie
morgen früh wieder ab."
Andrée lächelte beim Hinausgehen und Jeanne folgte ihr erst,
nachdem sie die Spitzen von Os Brüsten liebkost hatte, die
sprachlos am Ende des Bettes stand. Mit Ausnahme des
Halsbandes und der ledernen Armreifen, die das Wasser gehärtet
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hatte, als sie badete, und die daher noch mehr drückten, war sie
nackt. "So, meine Schöne", sagte der Diener und trat ein. Und er
packte ihre beiden Hände. Er ließ die Ringe ihrer Armreifen
ineinandergleiten, so daß ihre Handgelenke eng
beisammenlagen, und fügte dann diese beiden Ringe in den
Ring des Halsbandes. Sie stand also da, die gefalteten Hände in
Höhe des Halses, wie beim Gebet. Nun mußte sie nur noch mit
der Kette, die auf dem Bett lag und durch den oberen Ring lief,
an die Wand gekettet werden. Der Diener öffnete den Haken,
der das andere Ende festhielt und zog, um die Kette kürzer zu
machen. O mußte ans Kopfende des Bettes treten und sich
niederlegen. Die Kette klirrte durch den Ring und spannte sich
so straff, daß die junge Frau sich auf dem Bett nur von der
Wand zum Bettrand bewegen oder rechts und links direkt neben
ihrem Lager aufrecht stehen konnte. Da die Kette das Halsband
nach hinten zog und ihre Hände einen Zug nach vom bewirkten,
entstand ein Gleichgewicht, die gefesselten Hände legten sich an
die linke Schulter, der auch der Kopf sich zuneigte. Der Diener
zog die schwarze Decke über O, aber erst, nachdem er ihre
Beine bis zur Brust hochgebogen hatte, um den Raum zwischen
ihren Schenkeln zu examinieren. Er berührte sie nicht weiter,
sagte kein Wort, löschte das Licht - eine Wandlampe zwischen
den Türen - und ging hinaus.
O lag auf der linken Seite, allein im Dunkeln und in der Stille,
warm zwischen den beiden Lagen aus Pelzstoff, und
zwangsweise regungslos, und sie fragte sich, warum soviel
Leichtigkeit sich in ihr mit dem Grauen mischte oder warum das
Grauen ihr so leicht war. Das Schlimmste war, so fand sie, daß
man ihr die Hände weggenommen hatte; nicht, daß ihre Hände
sie hätten verteidigen können (wollte sie sich überhaupt
verteidigen?), aber wären sie frei gewesen, sie hätten wenigstens
die Gesten andeuten, hätten versuchen können, die Hände
wegzustoßen, die sich ihrer bemächtigten, das Fleisch, das sie
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durchbohrte, versuchen können, sich zwischen ihre Lenden und
die Peitsche zu schieben. Man hatte sie von ihren Händen
befreit; ihr Körper unter der Pelzdecke war ihr selbst
unerreichbar; wie seltsam war es, nicht die eigenen Knie
berühren zu können, nicht die Mulde ihres Schoßes. Die
brennenden Lippen zwischen ihren Beinen waren ihr verwehrt
und sie brannten vielleicht nur, weil sie wußte, daß sie jedem
offen waren: dem Diener Pierre, wenn es ihm belieben würde,
hereinzukommen. Es erstaunte sie, daß die Erinnerung an die
Peitsche, die sie bekommen hatte, sie so kühl ließ, während der
Gedanke, daß sie zweifellos niemals wissen würde, welcher der
vier Männer sich zweimal mit Gewalt in ihre Lenden Eingang
verschafft hatte, und ob es beide Male der gleiche Mann war,
und ob es ihr Geliebter gewesen war, sie erregte. Sie drehte sich
mehr auf den Bauch, dachte, daß ihr Geliebter die Furche
zwischen ihren Lenden liebte, in die er vorher (falls er es an
diesem Abend getan hatte) niemals eingedrungen war. Sie
wünschte sich, daß er es gewesen wäre; würde sie ihn fragen?
Ah! Niemals. Sie sah die Hand wieder, die ihr im Wagen
Strumpfgürtel und Slip abgenommen und die Strumpfbänder
gereicht hatte, damit sie die Strümpfe bis zum Knie rollen
konnte. So lebhaft war dieses Bild, daß sie nicht mehr an ihre
gefesselten Hände dachte und die Kette knirschte. Und wie kam
es, daß die Erinnerung an die Marter sie nicht beschwerte, der
bloße Gedanke, die bloße Erwähnung, der bloße Anblick einer
Peitsche dagegen bewirkte, daß ihr Herz heftig klopfte und ihre
Augen sich vor Entsetzen schlossen? Sie hielt sich nicht bei der
Überlegung auf, ob das nur Entsetzen sei; Panik ergriff sie; man
würde ihre Kette ganz kurz anziehen, bis sie auf dem Bett stand,
und man würde sie peitschen, ihr Bauch würde an die Wand
gepreßt sein und man würde sie peitschen, peitschen, das Wort
kreiste unablässig in ihrem Kopf. Pierre würde sie auspeitschen,
Jeanne hatte es gesagt. Sie haben Glück, hatte Jeanne
wiederholt, man wird Sie viel strenger behandeln. Was hatte sie
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damit sagen wollen? O spürte nichts mehr, nur das Halsband,
die Armreifen und die Kette, ihr Körper trieb dem Nichts
entgegen, sie war dem Verstehen nahe. Sie schlief ein.
In den letzten Stunden der Nacht, wenn sie am dunkelsten und
kältesten ist, kurz vor Sonnenaufgang, erschien Pierre wieder. Er
knipste das Licht im Badezimmer an und ließ die Tür offen, so
daß ein helles Viereck auf die Mitte des Bettes fiel, dort, wo Os
schlanker und zusammengerollter Körper ein wenig die Decke
bauschte, die er leise zurückschlug. Da O auf der linken Seite
lag, mit dem Gesicht zum Fenster und leicht angezogenen
Knien, bot sich seinem Blick ihre sehr weiße Kruppe auf dem
schwarzen Pelz. Er zog das Kissen unter ihrem Kopf weg und
sagte höflich: "Würden Sie bitte aufstehen" und als sie sich an
der Kette auf die Knie hochgezogen hatte, half er ihr, indem er
sie an den Ellbogen stützte, bis sie aufrecht und mit dem Rücken
zu ihm an der Wand stand. Im Lichtschein, den das schwarze
Bett nur schwach reflektierte, war ihr Körper sichtbar, nicht zu
sehen jedoch waren die Gesten des Mannes. Sie erriet, sie sah
nicht, daß er die Kette aushakte, um sie an einem anderen
Kettenglied einzuhängen, bis sie wieder straff war und O spürte,
wie sie sich spannte. Ihre nackten Füße standen mit ganzer
Sohle auf dem Bett. O sah auch nicht, daß Pierre in seinem
Gürtel nicht nur die Lederpeitsche trug, sondern den schwarzen
Reitstock, mit dem man sie nur zweimal und ziemlich leicht
geschlagen hatte, als sie am Pfosten gestanden war. Pierres linke
Hand preßte sich gegen ihre Taille, die Matratze gab ein wenig
nach, weil er den rechten Fuß daraufgesetzt hatte, um festen
Stand zu fassen. Im gleichen Augenblick, als sie etwas durch die
Dunkelheit pfeifen hörte, fühlte O ein furchtbares Brennen quer
über die Lenden und brüllte auf. Pierre prügelte sie mit aller
Kraft. Er wartete nicht, bis sie zu schreien aufgehört hatte und
schlug noch viermal zu, wobei er darauf achtete, jeden neuen
Hieb ein wenig über oder unter dem vorhergehenden zu
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plazieren, damit die Striemen ordentlich würden. Als er
aufgehört hatte, schrie sie noch immer und die Tränen liefen ihr
in den aufgerissenen Mund. "Würden Sie sich bitte umdrehen",
sagte er, und da sie in ihrer Verzweiflung nicht sogleich
gehorchte, packte er sie um die Hüften, ohne den Reitstock
loszulassen, der ihre Taille streifte. Als sie mit dem Gesicht zu
ihm stand, trat er einen Schritt zurück, ließ dann mit aller Kraft
den Reitstock auf die Vorderseite ihrer Schenkel sausen. Das
Ganze hatte fünf Minuten gedauert. Als er hinausging, nachdem
er das Licht wieder gelöscht und die Tür zum Badezimmer
geschlossen hatte, schwankte O stöhnend an ihrer Kette im
Dunkeln an der Wand hin und her. Bis sie still wurde und
regungslos an der Wand lehnte, deren Perkalintapete kühl an
ihrer zerfetzten Haut lag, war auch der Tag schon erwacht. Das
große Fenster, dem sie zugewandt stand, ging nach Osten und
reichte von der Decke bis zum Boden; es hatte keine Vorhänge,
nur der gleiche rote Soff, der die Wände bedeckte, rahmte es zu
beiden Seiten und brach sich in steifen Falten in den
Gardinenhaltern. O sah ein blasses Morgenlicht heraufziehen,
das seine Nebelschleier über die Asternstauden draußen unter
dem Fenster zog und schließlich eine Pappel erkennen ließ.
Gelbliche Blätter fielen von Zeit zu Zeit kreiselnd zu Boden,
obwohl sich kein Windhauch regte. Vor dem Fenster, hinter dem
malvenfarbenen Asternbeet, lag eine Rasenfläche, am Ende des
Rasens sah man eine Allee. Es war jetzt heller Tag und schon
lange machte O keine Bewegung mehr. Ein Gärtner erschien in
der Allee, er schob eine Karre vor sich her. Man hörte das
Eisenrad auf dem Kies knirschen. Wenn er herangekommen
wäre, um die welken Blätter vor den Astern aufzukehren, dann
hätte er - so groß war das Fenster und so klein und hell das
Zimmer - O nackt an ihrer Kette und mit den Spuren des
Reitstocks auf den Schenkeln sehen können. Die Wundränder
waren angeschwollen und bildeten dicke Wülste, dunkler als das
Rot der Wände. Wo schlief ihr Geliebter, der so gern am stillen
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Morgen schlief? In welchem Zimmer, in welchem Bett? Wußte
er, welcher Marter er sie ausgesetzt hatte? Hatte er selbst sie
anbefohlen? O dachte an die Gefangenen, wie man sie auf den
Kupferstichen alter Geschichtsbücher sieht, diese Gefangenen,
die vor so vielen Jahren oder Jahrhunderten ebenfalls angekettet
und ausgepeitscht worden waren und jetzt tot waren. Sie
wünschte sich nicht den Tod, aber wenn die Marter der Preis
war, den sie entrichten mußte, damit ihr Geliebter sie auch in
Zukunft lieben würde, so wünschte sie sich nur, es möge ihm
eine Befriedigung sein, daß sie diese Marter erlitten hatte, und
sie wartete, ganz sanft und still, bis man sie ihm wieder zuführen
würde.
Keine der Frauen hatte Schlüssel, weder zu den Türen noch
für die Ketten, Armreife oder Halsbänder, aber alle Männer
trugen an einem Ring die dreierlei Schlüssel, die jeweils alle
Türen öffneten, alle Schnappschlösser, alle Halsbänder. Die
Diener hatten diese Schlüssel ebenfalls. Aber am Morgen
schliefen die Diener, die während der Nacht Dienst gehabt
hatten, und einer der Gebieter oder ein anderer Diener kam und
öffnete die Schlösser. Der Mann, der Os Zelle betrat, trug eine
Lederjacke, Reithosen und hohe Stiefel. Sie erkannte ihn nicht.
Er machte zuerst die Kette von der Mauer los und O konnte sich
aufs Bett legen. Eh er ihr die Hände losband, ließ er seine Hand
zwischen ihren Schenkeln durchgleiten, wie es der maskierte
und behandschuhte Mann getan hatte, den sie als ersten in dem
kleinen, roten Salon gesehen hatte. Vielleicht war es der gleiche.
Er hatte ein knochiges, hageres Gesicht, den starren Blick,
den man auf den Porträts der alten Hugenotten sieht, und sein
Haar war grau. O hielt seinen Blick eine Weile aus, die ihr
unendlich erschien, und erstarrte plötzlich, als sie sich erinnerte,
daß es verboten war, die Gebieter oberhalb des Gürtels
anzusehen. Sie schloß die Augen, jedoch zu spät, und hörte ihn
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lachen und sagen: "Notieren Sie eine Züchtigung nach dem
Abendessen." Er sprach zu Andrée und Jeanne, die mit ihm
hereingekommen waren und wartend zu beiden Seiten des
Bettes standen. Darauf verschwand er. Andrée hob das
Kopfkissen vom Boden auf und die Decke, die Pierre ans
Bettende zurückgeschlagen hatte, als er gekommen war, um O
auszupeitschen. Jeanne zog ein Rolltischchen heran, das auf
dem Korridor bereitstand und mit Kaffee, Milch, Zucker, Brot,
Butter und Hörnchen gedeckt war. "Essen Sie schnell", sagte
Andree, es ist neun Uhr, danach können Sie bis Mittag schlafen,
und wenn Sie die Glocke hören, müssen Sie sich zum Essen
fertigmachen. Sie müssen sich baden und frisieren und ich
werde kommen um Sie zu schminken und Ihnen das Korsett zu
schnüren. - Sie werden erst am Nachmittag Dienst haben, sagte
Jeanne, in der Bibliothek: den Kaffee servieren, die Liköre, und
das Feuer unterhalten. - Und Sie? fragte O. - Ach, wir müssen
uns während der ersten vierundzwanzig Stunden Ihres
Aufenthaltes um Sie kümmern, danach werden Sie allein sein
und nur noch mit Männern zusammenkommen. Wir werden
nicht mehr mit Ihnen sprechen dürfen und Sie nicht mit uns. -
Bleiben Sie, sagte O, bleiben Sie noch und sagen Sie mir..." aber
sie konnte nicht zu Ende sprechen, die Tür ging auf. Es war ihr
Geliebter, und er war nicht allein. Es war ihr Geliebter, gekleidet
wie immer nach dem Aufstehen, wenn er sich die erste Zigarette
anzündete: im gestreiften Pyjama und Morgenrock aus blauem
Wollstoff, dem Morgenrock mit den Revers aus gesteppter
Seide, den sie vor einem Jahr gemeinsam ausgesucht hatten.
Seine Pantoffel waren abgetreten, er mußte sich neue kaufen.
Die beiden Frauen verschwanden ohne einen Laut, man hörte
nur das Knistern der Seide, als sie die Röcke rafften (alle Röcke
schleppten ein wenig nach) - auf dem Teppich machten die
Pantöffelchen kein Geräusch. O, die in der linken Hand eine
Tasse Kaffee hielt und in der anderen ein Hörnchen und halb im
Schneidersitz an der Bettkante hockte, ein Bein baumelnd, das
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andere untergeschlagen, blieb regungslos sitzen, die Tasse
zitterte plötzlich in ihrer Hand und das Hörnchen fiel zu Boden.
"Heb es auf", sagte René. Das war sein erstes Wort. Sie stellte
die Tasse auf den Tisch, hob das angebrochene Hörnchen auf
und legte es neben die Tasse. Ein großer Krümel war auf dem
Teppich liegengeblieben, neben ihrem nackten Fuß. René bückte
sich selber und hob ihn auf. Dann setzte er sich neben O, beugte
sie zurück und küßte sie. Sie fragte ihn, ob er sie liebe. Er
antwortete: "Ah! Ich liebe dich!" dann stand er auf und ließ auch
O aufstehen, strich zart mit den kühlen Handfläche n, dann mit
den Lippen an den Wundrändern entlang. O wußte nicht, ob sie
den Mann ansehen dürfe, der mit René gekommen war und jetzt
mit dem Rücken zu ihnen an der Tür stand und rauchte. Das
Folgende sollte ihre Zweifel nicht beseitigen. "Komm hierher,
laß dich ansehen", sagte ihr Gebieter, zog sie ans Bettende,
bestätigte seinem Begleiter, daß er recht gehabt habe und fügte
hinzu, es sei nur billig, wenn er O, falls er Lust dazu habe, als
erster nehme. Der Unbekannte, den sie noch immer nicht
anzusehen wagte, ließ seine Hand über ihre Brüste und an den
Lenden entlang gleiten und sagte, sie solle die Beine öffnen.
"Gehorche", sagte René zu ihr. Sie stand aufrecht, mit dem
Rücken an René gelehnt, der ebenfalls stand. Seine rechte Hand
streichelte ihre Brust, die linke hielt sie an der Schulter fest. Der
Unbekannte hatte sich auf den Bettrand gesetzt. Er hatte die
Lippen ergriffen, die den Eingang ihres Schoßes schützten, und
sie langsam auseinandergezogen. Als René sah, was der andere
von O wollte, schob er sie nach vorn und sein rechter Arm legte
sich um ihre Taille, packte sie fester. Dieser Liebkosung, die sie
nie hinnahm, ohne sich zu wehren und ohne tiefe Scham zu
empfinden, der sie sich immer so schnell wie möglich entzog, so
schnell, daß sie kaum davon berührt wurde, die ihr als Sakrileg
erschien - denn es erschien ihr als Sakrileg, daß ihr Geliebter vor
ihr kniete, während doch sie vor ihm knien sollte - dieser
Liebkosung, das spürte sie plötzlich, würde sie sich jetzt nicht
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verschließen können, und sie sah sich verloren. Denn sie
stöhnte, als die fremden Lippen sich auf das schwellende Fleisch
preßten, an den Rand des Kelches und sie jäh entflammten, sich
dann nur lösten, damit die warme Zunge sie noch heftiger
entflammen konnte. Sie fühlte die verborgene Spitze hart und
steif werden unter einem langen, saugenden Biß der Zähne und
Lippen, einem langen und sanften Biß, unter dem sie keuchte.
Ihr Fuß glitt aus, sie fand sich wieder auf dem Rücken
ausgestreckt, Renés Mund auf ihrem Mund, seine beiden Hände
preßten ihre Schultern aufs Bett, während zwei andere Hände
ihre Beine öffneten und hochhoben. Ihre eigenen Hände, die
unter ihren Lenden lagen (als René sie auf den Unbekannten
zuschob, hatte er ihre Handgelenke gefesselt, indem er die Ringe
der Armbänder ineinanderschob), wurden vom Geschlecht des
Mannes gestreift, das sich zwischen ihren Schenkeln rieb,
hochglitt und plötzlich in die Tiefe ihres Schoßes stieß. Beim
ersten Stoß schrie sie wie unter der Peitsche, dann bei jedem
Stoß, und ihr Geliebter grub die Zähne in ihre Lippen. Mit einer
brüsken Bewegung riß der Mann sich aus ihr, fiel wie vom Blitz
getroffen zu Boden und schrie, auch er. René band O die Hände
los, richtete sie auf und ließ sie unter die Decke schlüpfen. Der
Mann stand auf, René ging mit ihm zur Tür. Blitzartig sah O
sich verworfen, vernichtet, verdammt. Sie hatte unter den
Lippen des Fremden gestöhnt, wie ihr Geliebter sie niemals
stöhnen gehört hatte, geschrien unter dem zustoßenden Glied
des Fremden, wie sie bei ihrem Geliebten nie geschrien hatte.
Sie war entwürdigt und hatte Strafe verdient. Wenn er sie
verließe, wäre das nur gerecht. Aber nein, die Tür schloß sich, er
blieb bei ihr, kam zu ihr, legte sich an ihrer Seite unter die
Decke, glitt in ihren feuchten und brennenden Schoß, hielt sie in
dieser Umarmung fest und sagte: "Ich liebe dich. Wenn ich dich
auch den Dienern überlassen haben werde, komme ich eines
Nachts und lasse dich bis aufs Blut peitschen." Die Sonne hatte
den Nebel durchstoßen und überflutete das Zimmer. Aber erst
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die Mittagsglocke weckte die beiden.
O wußte nicht, was sie tun sollte. Ihr Geliebter war hier, so
nah, so zärtlich hingestreckt, wie in dem Zimmer mit der
niedrigen Decke, wo er beinah jede Nacht bei ihr schlief, seit sie
zusammen wohnten. Dort stand ein großes Mahagonibett im
Windsor-Stil, aber ohne Betthimmel, am Kopfende waren die
Stäbe höher als unten. Er schlief stets an ihrer linken Seite und
sooft er aufwachte, oft mitten in der Nacht, streckte er die Hand
nach ihren Schenkeln aus. Deshalb schlief sie immer nackt oder
wenn sie einen Pyjama trug, zog sie nur die Jacke an; er auch.
Sie nahm diese Hand und küßte sie, wagte nicht, ihn etwas zu
fragen. Aber er sprach. Er sagte ihr, während er zwei Finger
zwischen das Lederband und ihren Hals schob und sie festhielt,
daß er beabsichtige, sie in Zukunft nach seinem Gutdünken mit
seinen Freunden zu teilen oder mit Männern, die er zwar nicht
kannte, die jedoch zu den Gästen des Schlosses gehörten, so wie
er sie gestern Abend mit ihnen geteilt hatte. Daß sie von ihm,
und von ihm allein, abhinge, auch dann, wenn sie von anderen
Befehle entgegennähme, ob er nun anwesend sei oder nicht,
denn er habe grundsätzlich Anteil an allem, was man von ihr
fordern oder mit ihr tun mochte, und daß er sie besitze und
genieße durch die Männer, denen er sie ausliefere, einfach aus
dem Grund, weil er sie ihnen ausgeliefert habe. Sie müsse sich
ihnen unterwerfen und sie mit dem gleichen Respekt
empfangen, mit dem sie ihn empfing, als wären sie seine
Ebenbilder. Auf diese Weise würde er sie besitzen, wie ein Gott
seine Geschöpfe besitzt, der sich in Gestalt eines Ungeheuers
ihrer bemächtigt oder eines Vogels oder eines unsichtbaren
Geistes oder in der Ekstase. Er wolle sich nicht von ihr trennen.
Sie werde ihm umso mehr bedeuten, je mehr er sie ausliefere.
Die Tatsache, daß er sie anderen gebe, sei für ihn ein Beweis,
daß sie ihm gehöre und sollte es auch für sie sein. Er gebe sie
fort, um sie sogleich wieder an sich zu nehmen, nehme sie
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reicher zurück, wie einen gewöhnlichen Gegenstand, der
göttlichem Gebrauch gedient hatte und dadurch geheiligt wurde.
Schon seit langem habe er sich gewünscht, sie zu prostituieren
und er stelle mit Freude fest, daß die Lust, die er dabei empfand,
größer sei als er gehofft habe und ihn noch fester an sie binde,
wie sie auch O noch fester an ihn binden werde, umso fester, je
mehr sie gedemütigt, je mehr sie gequält werde. Da sie ihn liebe,
müsse sie auch alles lieben, was ihr durch ihn zugefügt werde. O
hörte ihm zu und bebte vor Glück, weil er sie liebte, bebte in
freudigem Einverständnis. Er erriet es zweifellos, denn er fuhr
fort: "Eben weil es dir leicht fällt, in alles einzuwilligen,
verlange ich von dir etwas, worin du unmöglich einwilligen
kannst, auch wenn du es im vorhinein akzeptierst, auch wenn du
jetzt ja sagst und glaubst, gehorchen zu können. Es wird dir
unmöglich sein, dich nicht dagegen aufzulehnen. Man wird
deinen Gehorsam erzwingen, nicht nur wegen des
unvergleichlichen Vergnügens, das ich oder andere darin finden,
sondern damit du dir bewußt wirst, was man aus dir gemacht
hat." O wollte erwidern, daß sie seine Sklavin sei und ihre
Fesseln mit Wonne trage. Er ließ sie nicht zu Wort kommen.
"Man hat dir gestern gesagt, du dürftest, solange du in diesem
Schloß bist, keinem Mann ins Gesicht schauen und mit keinem
sprechen. Du darfst das auch bei mir nicht mehr. Nur schweigen
und gehorchen. Ich liebe dich. Steh auf. Du wirst von nun an
hier in Gegenwart eines Mannes den Mund nur noch öffnen, um
zu schreien oder ihm zu Willen zu sein." O stand auf, René blieb
auf dem Bett liegen. Sie badete, frisierte sich, das laue Wasser
ließ sie erzittern, als ihre wundgeschlagenen Lenden
hineintauchten und sie mußte sich trocknen, ohne zu reiben, um
das Brennen nicht zu verschlimmern. Sie schminkte sich den
Mund, aber nicht die Augen, puderte sich, und kam, noch immer
nackt, mit gesenktem Blick in die Zelle zurück. René betrachtete
Jeanne, die hereingekommen war und am Kopfende des Bettes
stand, auch sie mit niedergeschlagenen Augen, auch sie stumm.
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Er befahl ihr, O anzukleiden. Jeanne nahm das Korsett aus
grüner Seide, den weißen Unterrock, das Kleid, die grünen
Pantöffelchen, und nachdem sie O das Korsett auf der
Vorderseite zugehakt hatte, fing sie an, es hinten zu schnüren.
Das Korsett war stark mit Fischbein versteift, lang und starr wie
zur Zeit der Wespentaillen, mit eingearbeiteten Schalen, in
denen die Brüste lagen. Je fester man anzog, umso höher
schoben sich die Brüste, die Schalen drückten sie von unten
hoch und preßten die Spitzen heraus. Zugleich verengte sich die
Taille, wodurch der Leib hervortrat und die Lenden stark betont
wurden. Seltsamerweise war dieser Panzer sehr bequem und bis
zu einem gewissen Grad erholsam. Er stützte den Körper,
machte aber, wenn auch nicht recht klar wurde, wodurch,
vielleicht durch die Kontrastwirkung, besonders deutlich, wie
ungeschützt, wie zugänglich die Stellen waren, die er nicht
umschloß. Der weite Rock und das Mieder, das trapezförmig
vom Halsansatz bis zu den Brustspitzen und über die ganze
Breite des Busens ve rlief, schien die Frau, die es trug, weniger
zu bedecken, als vielmehr herausfordernd zu entblößen, zur
Schau zu stellen. Nachdem Jeanne die Litze mit einem
doppelten Knoten verschnürt hatte, nahm O ihr Kleid vom Bett.
Es war in einem Stück, der Unterrock war am Rock festgenäht,
wie ein auswechselbares Futter, und das Mieder, das vorne
übereinanderging und hinten geschnürt wurde, legte sich der
mehr oder weniger schlanken Form des Oberkörpers an, je
nachdem, ob das Korsett mehr oder weniger stark geschnürt
war. Jeanne hatte es sehr eng geschnürt und O sah sich im
Spiegel des Badezimmers, durch die offengebliebene Tür,
schlank und zerbrechlich in der dicken, grünen Seide, die sich
um ihre Hüften bauschte wie ein Reifrock. Die beiden Frauen
standen nebeneinander. Jeanne streckte den Arm aus, um eine
Falte am Ärmel des grünen Kleides zu richten und ihre Brüste
bewegten sich unter der Spitze, die ihr Mieder säumte, Brüste
mit langen Spitzen und einem bräunlichen Hof. Ihr Kleid war
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aus gelbem Faille. René, der zu den beiden Frauen getreten war,
sagte zu O: "Schau." - Und zu Jeanne: "Heb dein Kleid hoch."
Mit beiden Händen raffte sie die raschelnde Seide und das
Batistfutter und enthüllte einen gebräunten Leib, glatte Schenkel
und Knie und ein geschlossenes schwarzes Dreieck. René
streckte die Hand danach aus und bewegte sich langsam darin,
während er mit der anderen Hand die Spitze einer Brust reizte.
"Damit du siehst", sagte er zu O. O sah es. Sie sah seine
spöttische, aber aufmerksame Miene, seine Augen, die Jeannes
halbgeöffneten Mund belauerten und den zurückgebogenen
Hals, den das Lederband einschnürte. Welche Lust verschaffte
sie ihm, die nicht auch diese Frau, jede andere, ihm genauso
verschaffen konnte? "Hast du daran noch nie gedacht?" sagte er.
Nein, sie hatte nie daran gedacht. Sie lehnte kraftlos an der
Wand zwischen den beiden Türen, ganz aufrecht, mit hängenden
Armen. Er brauchte ihr nicht mehr zu befehlen, daß sie
schweigen solle. Wie hätte sie sprechen können? Vielleicht
rührte ihn ihre Verzweiflung. Er ließ Jeanne los und nahm sie in
die Arme, nannte sie seine Liebe und sein Leben, wiederholte,
daß er sie liebe. Die Hand, mit der er ihre Brust und ihren Hals
liebkoste, war noch feucht von Jeannes Schoß. Was tat das? Die
Verzweiflung, die sie durchflutet hatte, wich von ihr; er liebte
sie, ah, er liebte sie. Er hatte das Recht, sich an Jeanne oder an
anderen Frauen zu vergnügen, er liebte sie. "Ich liebe dich",
sagte sie ihm ins Ohr, "ich liebe dich", so leise, daß er es kaum
hörte. "Ich liebe dich." Er ging erst von ihr, als er sah, daß sanfte
Zärtlichkeit sie erfüllte, ihre Augen strahlten, daß sie glücklich
war.
Jeanne nahm O bei der Hand und zog sie auf den Korridor
hinaus. Wieder klapperten ihre Pantöffelchen auf den Fliesen
und wieder fanden sie auf der Bank zwischen den Türen einen
Diener. Er war wie Pierre gekleidet, aber es war nicht Pierre. Er
war ein großer, dürrer Mensch mit schwarzem Haar. Er ging vor
-52-
den Frauen her und führte sie in ein Vorzimmer, wo an einer
schmiedeeisernen Tür, die sich von großen, gelben Portieren
abhob, zwei weitere Diener warteten, zu deren Füßen weiße,
lohfarben gefleckte Hunde lagen. "Das ist das Allerheiligste",
flüsterte Jeanne. Aber der Diener, der vor ihnen ging, hatte sie
gehört und drehte sich um. O sah voll Entsetzen, wie Jeanne
ganz blaß wurde und ihre Hand losließ, das Kleid losließ, das sie
mit der anderen Hand leicht gerafft hatte, und auf die Knie fiel,
auf die schwarzen Fliesen - denn das Vorzimmer war mit
schwarzem Marmor ausgelegt. Die beiden Diener neben der
Gittertür lachten. Einer von ihnen trat zu O hin und bat sie, ihm
zu folgen, öffnete die Tür, die Tür gegenüber, durch die sie
hereingekommen waren, und verschwand. Sie hörte Lachen und
Hin- und Hergehen, dann schloß die Tür sich hinter ihr. Nie,
niemals erfuhr sie, was sich zugetragen hatte, ob Jeanne bestraft
worden war, weil sie gesprochen hatte und worin diese Strafe
bestand, oder ob sie nur eine Laune des Dieners zu befriedigen
hatte, ob sie mit ihrem Kniefall ein Gebot befolgte oder ihn
milde stimmen wollte und ob es ihr gelungen war. O
beobachtete während dieses ersten Aufenthaltes im Schloß, der
zwei Wochen dauerte, daß trotz der Strenge des
Schweigegebotes nur selten jemand versuchte, dieses Gebot
während der Gänge im Haus oder während der Mahlzeiten
einzuhalten, besonders bei Tage in alleiniger Gegenwart der
Diener, als verleihe die Kleidung eine Sicherheit, die das
Nacktsein und die Ketten bei Nacht und die Anwesenheit der
Gebieter zunichte machte. Sie beobachtete ferner, daß die
kleinste Geste, die man als Annäherungsversuch an einen der
Gebieter auslegen konnte, selbstredend ganz unvorstellbar war,
daß dies jedoch den Dienern gegenüber nicht galt. Die Diener
erteilten niemals einen Befehl, wenn auch die Höflichkeit ihrer
Aufforderungen ebenso unerbittlich war wie ein Befehl. Sie
hatten offenbar Anweisung, Verstöße gegen die Hausregel auf
der Stelle zu bestrafen, wenn sie die einzigen Zeugen waren. So
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erlebte O dreimal, einmal auf dem Korridor, der in den roten
Flügel führte und zweimal im Refektorium, wohin man sie
soeben geführt hatte, wie Mädchen, die beim Sprechen ertappt
worden waren, zu Boden geworfen und gepeitscht wurden. Man
konnte also auch, ungeachtet dessen, was ihr am ersten Abend
gesagt worden war, am hellen Tage ausgepeitscht werden; was
in Gegenwart der Diener geschah, fiel nicht unter dieses Gesetz
und konnte nach Gutdünken geahndet werden. Das Tageslicht
verlieh ihren Kostümen etwas Ausgefallenes und Drohendes.
Einige trugen schwarze Strümpfe und statt der roten Jacke und
des weißen Jabots ein weiches Hemd aus roter Seide, das am
Hals gerafft war, mit weiten Ärmeln, die am Handgelenk eng
anlagen. Am Mittag des achten Tages hatte einer dieser Diener,
schon mit der Peitsche in der Hand, das Mädchen auf dem
Hocker neben O aufgerufen, eine üppige, blonde Magdalena mit
einem Busen wie Milch und Rosen, die ihr zugelächelt und ein
paar Worte so hastig zugeflüstert hatte, daß O sie nicht verstand.
Noch eh der Diener sie berührt hatte, lag sie zu seinen Füßen,
ihre schneeweißen Hände streichelten unter der schwarzen Seide
das noch ruhende Geschlecht, sie legte es frei und führte es an
ihren geöffneten Mund. Sie wurde dieses Mal nicht gepeitscht.
Und da dieser Diener damals als einziger im Speisesaal die
Aufsicht führte, und die Augen schloß, während er sich die
Buße gefallen ließ, tuschelten die übrigen Mädchen. Man konnte
also die Diener bestechen. Aber wozu? Wenn es eine Vorschrift
gab, der O sich nicht mit Leichtigkeit beugen konnte, der sie
sich niemals völlig beugte, so war es die Vorschrift, daß sie den
Männern nicht ins Gesicht schauen dürfe - und da diese
Vorschrift auch den Dienern gegenüber galt, fühlte O sich
ständig in Gefahr, so sehr verzehrte sie die Neugier auf
Gesichter. Tatsächlich wurde sie von dem einen oder anderen
gepeitscht, allerdings nicht jedesmal, wenn man sie ertappte
(denn die Diener nahmen es mit den Regeln nicht so genau, sie
legten wohl großen Wert auf die Faszination, die sie ausübten
-54-
und wollten sich nicht durch zu unnachsichtige und zu grausame
Strenge um die Blicke bringen, die von ihren Augen und ihrem
Mund abglitten, um sich wieder auf ihr Geschlecht zu heften,
auf die Peitsche, ihre Hände, um das Spiel von neuem zu
beginnen), sondern zweifellos nur dann, wenn sie Lust hatten, O
zu demütigen. So grausam sie in solchem Fall auch behandelt
wurde, sie hatte nie den Mut oder die Feigheit besessen, sich
ihnen zu Füßen zu werfen, sie fügte sich ihnen, aber sie flehte
sie niemals an. Was das Gebot des Schweigens betraf, so fiel es
ihr so leicht, es einzuhalten - nicht nur ihrem Geliebten
gegenüber - daß sie es nicht ein einzigesmal übertrat, nur durch
Zeichen antwortete, wenn ein anderes Mädchen einen
unbewachten Augenblick nutzte, um sie anzusprechen. Das
geschah meist während der Mahlzeiten, die in dem Saal
stattfanden, in den man sie soeben geführt hatte. Die Wände
waren schwarz, die Fliesen ebenfalls, der lange Tisch aus
dickem, schwarzem Glas, und jedes Mädchen hatte als
Sitzgelegenheit einen runden, mit schwarzem Leder bezogenen
Hocker. Wenn man sich darauf niederließ, mußte man die Röcke
heben und als ihre Schenkel das glatte, kalte Leder berührten,
wurde O an den Sitz des Autos erinnert, auf den sie sich so hatte
setzen müssen, nachdem ihr Geliebter ihr befohlen hatte,
Strümpfe und Slip auszuziehen. Und umgekehrt wurde sie später
jedesmal, wenn sie - gekleidet wie alle Welt, aber mit nackten
Lenden unter ihrem unauffälligen Schneiderkostüm oder ihrem
gewöhnlichen Kleid - Rock und Unterkleid hob, um sich neben
ihrem Geliebten oder einem anderen Mann auf den blanken
Autositz oder auf die Bank eines Cafes zu setzen, an das Schloß
erinnert, an ihre nackten Brüste, die das seidene Mieder zur
Schau stellte, an die Hände und Lippen, denen alles erlaubt war,
und an das schreckliche Schweigen. Dennoch war nichts ihr eine
so große Hilfe gewesen, wie dieses Schweigen, höchstens noch
die Ketten. Die Ketten und das Schweigen, die sie an sich selbst
hatten fesseln sollen, sie ersticken, sie erwürgen, hatten sie im
-55-
Gegenteil von sich selbst befreit. Was wäre aus ihr geworden,
wenn man ihr die Sprache gelassen hätte und die
Bewegungsfreiheit ihrer Hände, wenn ihr eine Wahl geblieben
wäre, während ihr Geliebter sie vor seinen Augen anderen
preisgab? Gewiß, sie sprach während der Folterungen, aber
konnte man dieses Gemisch aus Klagen und Schreien noch
sprechen nennen? Überdies brachte man sie oft zum
Verstummen, indem man sie knebelte. Die Blicke, die Hände,
die Körper, die sie besudelten, die Peitschen, die sie
zerfleischten, versetzten sie in einen rauschhaften Zustand der
Selbstvergessenheit, der wieder in die Liebe mündete, sie
vielleicht sogar in die Nähe des Todes führte. Sie war niemand
und zugleich jedes der anderen Mädchen, die wie sie geöffnet
und brutal genommen wurden, vor ihren Augen, denn sie sah
dabei zu, wenn sie nicht sogar dabei helfen mußte. An ihrem
zweiten Tag, noch nicht vierundzwanzig Stunden nach ihrer
Ankunft, wurde sie also nach dem Essen in die Bibliothek
geführt, um sich dort um den Kaffee und das Feuer zu kümmern.
Sie wurde begleitet von Jeanne, die der schwarz behaarte Diener
wieder zurückgebracht hatte, und von einem Mädchen namens
Monique. Der gleiche Diener führte sie auch in die Bibliothek,
wo er neben der Säule stehen blieb, an der O angebunden
gewesen war. Die Bibliothek war noch leer. Die Fenstertüren
gingen nach Westen und die Herbstsonne, die langsam über
einen friedlichen, hohen Himmel zog, an dem kaum eine Wolke
stand, erhellte auf einer Kommode einen riesigen Strauß
schwefelgelber Chrysanthemen, die nach Erde und welkem
Laub rochen. "Hat Pierre Sie gestern gezeichnet? fragte der
Diener. O nickte. - Dann müssen Sie es zeigen, raffen Sie bitte
Ihren Rock." Er wartete, bis sie ihren Rock hinten hochgerollt
hatte, wie es ihr am Vorabend von Jeanne gezeigt worden war,
und bis Jeanne ihr geholfen hatte, ihn festzumachen. Dann sagte
er, sie solle das Feuer anzünden. Inmitten der Kaskade aus
grüner Seide und weißem Batist waren Os Lenden bis zur Taille
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sichtbar, ihre Schenkel und die schlanken Beine. Die fünf
Striemen waren schwarz. Das Holz lag schon auf dem Rost
geschichtet, O brauchte nur ein Streichholz an das Stroh unter
den Reisern zu halten, die sogleich Feuer fingen. Die Zweige
des Apfelbaums brannten zuerst, dann die Eichenscheite, aus
denen hohe, prasselnde und helle Flammen schlugen, die im
Sonnenlicht fast unsichtbar waren, aber stark dufteten. Ein
zweiter Diener trat ein und stellte auf die Konsole, von der die
Lampe entfernt worden war, ein Tablett mit Tassen und Kaffee
und ging wieder. O ging zur Konsole, Monique blieb auf der
einen, Jeanne auf der anderen Seite des Kamins stehen. In
diesem Augenblick traten zwei Männer ein, während der erste
Diener hinausging. O glaubte an der Stimme einen der Männer
zu erkennen, die am Vorabend mit Gewalt in sie eingedrungen
waren, den Mann, der verlangt hatte, daß man Os Lenden
leichter zugänglich machen solle. Sie musterte ihn verstohlen,
während sie den Kaffe in die schwarzgoldenen Täßchen goß, die
Monique zusammen mit dem Zucker herumreichte. Es war also
dieser schlanke, blonde Junge gewesen, der wie ein Engländer
aussah. Er sprach wieder, und nun war sie sicher. Auch der
andere war blond, jedoch untersetzt, mit plumpen Zügen. Beide
saßen in den großen Ledersesseln, die Beine am Feuer, rauchten
ruhig und lasen ihre Zeitungen, sie nahmen von den Frauen so
wenig Notiz, als wären sie nicht da. Von Zeit zu Zeit hörte man
Papier rascheln, Glut zerbröckeln. Von Zeit zu Zeit legte O ein
neues Scheit aufs Feuer. Sie saß auf einem Kissen am Boden,
neben dem Holzkorb. Monique und Jeanne ihr gegenüber,
ebenfalls am Boden. Ihre ausgebreiteten Röcke flössen
ineinander. Moniques Kleid war dunkelrot. Plötzlich, aber erst
nach Ablauf einer Stunde, rief der blonde Junge Jeanne herbei,
dann Monique. Er befahl ihnen, den Hocker zu bringen (den
gleichen, über den man am Vorabend O bäuchlings geworfen
hatte). Monique wartete nicht erst auf weitere Befehle, sie kniete
nieder, beugte sich vornüber, daß ihre Brust sich gegen den
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Pelzbezug preßte, und hielt sich mit beiden Händen an den
Ecken des Hockers fest. Als Jeanne auf Befehl des jungen
Mannes Moniques roten Rock hochschlug, bewegte sie sich
nicht. Nun mußte Jeanne ihm, nach seinen Anweisungen, die er
ihr in denkbar brutalen Ausdrücken erteilte, die Kleider öffnen
und mit beiden Händen diesen Degen aus Fleisch umfassen, der
O mindestens einmal so grausam durchbohrt hatte. Er schwoll
an, wurde steif zwischen den geschlossenen Handflächen und O
sah diese gleichen Hände, Jeannes winzige Hände, Moniques
Schenkel teilen, in deren Höhlung der junge Mann eindrang,
langsam und in kleinen Stößen, die das Mädchen stöhnen ließen.
Der andere Mann, der wortlos zusah, winkte O zu sich, und
ohne den Blick abzuwenden, stieß er sie über eine Armlehne
seines Sessels, so daß ihr hochgeschürzter Rock ihm ihre
Lenden in ganzer Länge darbot, und griff mit einer Hand in
ihren Schoß. So fand sie René, als er eine Minute später
hereinkam. "Bleiben Sie nur so", sagte er und setzte sich auf das
Kissen am Boden, wo O, eh sie weggerufen wurde, am Feuer
gesessen war. Er betrachtete sie aufmerksam und lächelte, sooft
die Hand, die sie festhielt, in ihr wühlte, wieder zupackte, sich
immer tiefer in ihren Schoß grub und in ihre nachgebenden
Lenden, und ihr ein Stöhnen entriß, das sie nicht unterdrücken
konnte. Monique war längst wieder aufgestanden, Jeanne
schürte an Os Stelle das Feuer, sie brachte René, der ihr die
Hand küßte, ein Glas Whisky, und er trank es aus, ohne die
Augen von O abzuwenden. Der Mann, der sie noch immer
gepackt hielt, sagte: "Gehört sie Ihnen? - Ja, antwortete René. -
Jacques hat recht, fuhr der andere fort, sie ist zu eng, man muß
sie ausweiten. - Aber nicht zu sehr, sagte Jacques. - Wie Sie
wünschen, sagte René und stand auf, Sie können das besser
beurteilen, als ich." Und er läutete.
Während der folgenden Tage trug O von Sonnenuntergang,
dem Ende ihrer Dienstzeit in der Bibliothek, bis zu der
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Nachtstunde - acht oder zehn Uhr - zu der man sie wieder
dorthin führte, - sie in Ketten und nackt unter ihrem roten
Umhang hinführte - einen Zapfen aus Hartgummi von der Form
eines aufgerichteten Penis, der von drei Kettchen an einem
Ledergürtel um ihre Hüften so festgehalten wurde, daß die
innere Bewegung ihrer Muskeln ihn nicht herausstoßen konnte.
Eine der Kettchen folgte der Furche zwischen ihren Lenden, die
beiden anderen dem Ansatz der Schenkel zu beiden Seiten ihres
Schoßes, so daß man, wenn man wollte, ungehindert dort
eindringen konnte. Als René geklingelt hatte, hatte er den
Behälter bringen lassen, der in einem Fach ein Sortiment von
Kettchen und Gürteln enthielt und im anderen eine Auswahl von
Zapfen, von den dünnsten bis zu ganz dicken. Allen war
gemeinsam, daß sie an der Basis sehr breit waren, damit sie
keinesfalls ins Körperinnere rutschten und der fleischige Ring,
den sie aufzwingen und dehnen sollten, sich nicht wieder
zusammenziehen konnte. So wurde sie aufgespreizt, zunehmend
von Tag zu Tag, denn Jacques, der sie täglich niederknien oder
besser sich zu Boden werfen ließ, um darüber zu wachen, daß
Jeanne oder Monique oder irgendeine andere, die gerade zur
Hand war, den von ihm gewählten Zapfen befestigte, wählte
jedesmal einen dickeren. Noch beim Abendessen, das die
Mädchen gemeinsam im gleichen Speisesaal einnahmen,
gebadet, nackt und geschminkt, trug O ihn, und an den Kettchen
und dem Gürtel konnten alle sehen, daß sie ihn trug. Er wurde
ihr erst abgenommen, und zwar von Pierre, wenn der Diener sie
für die Nacht an der Wand ankettete, falls niemand nach ihr
verlangte, oder wenn er ihr die Hände auf den Rücken fesselte,
um sie zur Bibliothek zu führen. Es verging kaum eine Nacht,
ohne daß jemand sich dieses Zugangs bedient hätte, der auf
diese Weise bald ebenso bequem war, wenn auch noch immer
enger, als der andere. Nach Ablauf einer Woche war keine
Vorrichtung mehr nötig und ihr Geliebter sagte O, er sei
glücklich, daß sie nun zweifach zugänglich sei und er werde
-59-
dafür sorgen, daß sie es auch bleibe. Zugleich kündigte er ihr an,
daß er verreise und daß sie ihn während der letzten sieben Tage,
die sie im Schloß verbringen sollte, eh er sie abholen und nach
Paris zurückbringen werde, nicht mehr zu sehen bekäme. "Aber
ich liebe dich, fügte er hinzu, ich liebe dich, vergiß mich nicht."
Ah! wie hätte sie ihn vergessen können? Er war die Hand, die
ihr die Augen verband, die Peitsche des Dieners Pierre, er war
die Kette über ihrem Bett und der Unbekannte, der seine Zähne
in ihren Schoß grub, und alle Stimmen, die ihr Befehle erteilten
waren seine Stimme. Wurde sie abgestumpft? Nein. Man hätte
meinen sollen, durch die ständige Erniedrigung würde sie sich
daran gewöhnen, erniedrigt zu werden, durch die ständigen
Berührungen daran, berührt zu werden, vielleicht sogar an die
Peitsche, wenn sie ständig gepeitscht wurde. Eine schreckliche
Übersättigung mit Schmerz und Wollust hätten sie allmählich
bis an die Schwelle einer Fühllosigkeit treiben müssen, die dem
Schlaf oder der Bewußtlosigkeit ähnlich war. Aber im
Gegenteil. Vielleicht lag es an dem Korsett, das sie stützte, an
den Ketten, die sie in sklavischer Unterwerfung hielten, an der
Stille ihrer Zelle, und am ständigen Anblick der Mädchen, die
wie sie ausgeliefert waren, am Anblick dieser stets allen
zugänglichen Körper. Auch am Anblick ihres eigenen Körpers
und daran, daß sie ständig an ihn denken mußte. Täglich, und
wie einem Ritual folgend, von Speichel und Sperma beschmutzt,
von Schweiß, der sich mit ihrem eigenen Schweiß mischte,
empfand sie sich buchstäblich als Gefäß der Unreinheit, von
dem die Heilige Schrift redet. Und doch, genau wie diejenigen
Teile ihres Körpers, die am meisten geschändet wurden, noch
empfindungsfähiger geworden waren, so schienen sie ihr auch
schöner geworden, veredelt: ihr Mund, der das Geschlecht eines
Unbekannten umschloß, die Spitzen ihrer Brüste, die ständig
von fremden Händen berührt wurden, die Zugänge ihres Leibes
zwischen ihren gespreizten Schenkeln, Wege, die jeder
benutzen, jeder nach Laune zerwühlen konnte. Unglaublich, daß
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sie an Würde gewonnen haben sollte, weil sie prostituiert wurde,
und doch stimmte es. Sie strahlte Würde aus, man sah an ihrem
Gang die Ruhe, an ihrem Gesicht die Heiterkeit und das leise
innere Lächeln, das man in den Augen derer, die für die Welt tot
sind, mehr ahnt als sieht.
Als René ihr sagte, daß er sie verlassen werde, war die Nacht
bereits hereingebrochen. O war nackt in der Zelle und wartete,
bis man sie in den Speisesaal führen würde. Ihr Gebieter
hingegen war gekleidet wie immer, mit einem Anzug, den er
täglich in der Stadt trug. Als er sie in die Arme nahm, rieb der
Tweed seiner Jacke sich an der Spitze ihrer Brüste. Er küßte sie,
legte sie aufs Bett, legte sich zu ihr und nahm sie zärtlich und
sanft, kam und ging durch die beiden Wege, die sich ihm boten,
um sich endlich in ihrem Mund zu ergießen, den er danach von
neuem küßte. "Eh ich weggehe, möchte ich dich peitschen
lassen, und diesmal bitte ich dich darum. Bist du einverstanden?
- Sie war einverstanden. - Ich liebe dich, ich liebe dich,
wiederholte er, klingle nach Pierre." Sie klingelte. Pierre fesselte
ihr die Hände über dem Kopf an der Kette. Als sie so
festgebunden war, küßte ihr Geliebter sie nochmals, er stand
neben ihr auf dem Bett, wiederholte noch einmal, daß er sie
liebe, stieg dann vom Bett und machte Pierre ein Zeichen. Er sah
zu, wie sie sich vergeblich wand, hörte ihr Stöhnen zu Schreien
werden. Als ihre Tränen flössen, schickte er Pierre weg. Sie fand
die Kraft, ihm noch einmal zu sagen, daß sie ihn liebe. Er küßte
ihr tränennasses Gesicht, ihren keuchenden Mund, band sie los,
legte sie aufs Bett und ging.
Wenn man sagt, daß O von der Sekunde an, in der ihr
Geliebter sie verließ, nur noch auf seine Rückkehr gewartet
habe, so sagt man wenig: sie war nur noch Erwartung und
Nacht. Bei Tage war sie wie eine gemalte Statue mit sanfter
Haut und gefügigem Mund, die - jetzt hielt sie auch diese Regel
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strikt ein - stets die Augen gesenkt hielt. Sie machte das Feuer
an und unterhielt es, servierte Kaffee und Getränke, zündete
Zigaretten an, arrangierte Blumen und faltete Zeitungen wie ein
junges Mädchen im Salon ihrer Eltern, und wirkte dabei so
rührend mit ihrem entblößten Busen und dem Lederhalsband,
dem engen Korsett und den Handschellen aus Leder, daß die
Männer, die sie bediente, ihr nur zu befehlen brauchten, sie solle
dabeistehen, wenn eines der anderen Mädchen vergewaltigt
wurde, um sogleich auch nach O selbst zu verlangen; zweifellos
mißhandelte man sie darum nur um so mehr. Machte sie etwas
falsch? Oder hatte ihr Geliebter sie allein gelassen, damit die
anderen, denen er sie auslieferte, um so freier über sie verfügen
konnten? Wie dem auch sei, als sie am zweiten Tag nach seiner
Abreise bei Anbruch der Nacht sich soeben entkleidet hatte und
im Spiegel ihres Badezimmers die schon fast verblaßten
Striemen von Pierres Reitstock auf der Vorderseite ihrer
Schenkel betrachtete, trat der Diener ein. Es waren noch zwei
Stunden bis zum Abendessen. Er sagte ihr, daß sie nicht im
Speisesaal essen werde und daß sie sich fertigmachen solle,
wobei er auf den türkischen Sitz in der Ecke wies, auf den sie
sich nun in Gegenwart Pierres kauern mußte, wie Jeanne ihr
bereits gesagt hatte. Die ganze Zeit, während sie dort saß,
schaute er sie an, sie sah ihn in den Spiegeln und sah sich selbst,
unfähig das Wasser zurückzuhalten, das aus ihrem Körper floß.
Er wartete, bis sie danach ihr Bad genommen und sich
geschminkt hatte. Sie wollte ihre Pantöffelchen und den roten
Umhang holen, doch er sagte, indem er ihr die Hände auf den
Rücken band, daß es sich nicht lohne und daß sie einen
Augenblick auf ihn warten solle. Sie setzte sich an eine Ecke des
Bettes. Draußen ging ein Unwetter nieder, kalter Wind und
Regen, und die Pappel neben dem Fenster krümmte und streckte
sich unter den Sturmböen. Vergilbte, durchweichte Blätter
klatschten dann und wann an die Scheiben. Es war so dunkel
wie mitten in der Nacht, obwohl es noch nicht sieben Uhr
-62-
geschlagen hatte, aber der Herbst war schon vorgerückt und die
Tage wurden kürzer. Als Pierre wiederkam, hielt er die gleiche
Binde in der Hand, mit der ihr am ersten Abend die Augen
verbunden worden waren. Dazu eine lange, klirrende Kette,
ähnlich der Kette an der Wand. Es schien O, als zögerte er, ob er
ihr zuerst die Kette anlegen solle oder zuerst die Augenbinde.
Sie schaute dem Regen zu, es war ihr gleichgültig, was man von
ihr wollte, sie dachte nur, daß René gesagt hatte, er werde
wiederkommen, daß noch fünf Tage und fünf Nächte vergehen
müßten, und daß sie nicht wußte, wo er war, ob er allein war
und wenn nicht, wer bei ihm sein mochte. Aber er würde
wiederkommen. Pierre hatte die Kette aufs Bett gelegt, und ohne
O in ihren Träumen zu stören, befestigte er die schwarze
Augenbinde, die sich ein wenig über den Augenhöhlen
erweiterte, jedoch dicht auf den Lidern lag: unmöglich,
durchzuspähen, unmöglich, die Lider zu heben. Wohltätige
Nacht, die ihrer eigenen Nacht glich und die O niemals mit
solcher Freude begrüßt hatte, wohltätige Ketten, die sie von sich
selbst befreiten. Pierre befestigte die Kette an dem Ring ihres
Halsbandes und bat sie, mit ihm zu kommen. Sie stand auf,
spürte, daß sie vorwärtsgezogen wurde und setzte sich in
Bewegung. Ihre nackten Füße wurden eisig auf den Fliesen, sie
begriff, daß sie den Korridor des roten Flügels entlangging, dann
wurde der Boden, der noch immer kalt war, rauher: sie ging auf
einem Steinbelag, Sandstein oder Granit. Zweimal hieß der
Diener sie stehenbleiben, sie hörte das Geräusch eines
Schlüssels, der eine Tür öffnete, dann wieder versperrte.
"Vorsicht, Stufen", sagte Pierre und sie stieg eine Treppe
hinunter, einmal strauchelte sie. Pierre fing sie um die Taille auf.
Er hatte sie noch nie berührt, außer um sie anzuketten oder zu
schlagen, jetzt aber legte er sie auf die kalten Stufen, an denen
sie sich mit den gefesselten Händen festhielt, so gut es ging, um
nicht zu rutschen und stürzte sich auf ihre Brüste. Sein Mund
wanderte von der einen zur anderen und während er sie an sich
-63-
preßte, spürte sie, wie er sich langsam spannte. Er hob sie erst
auf, nachdem er sich an ihr genüge getan hatte. Naß und vor
Kälte zitternd stieg sie schließlich die letzten Stufen hinab, hörte
wieder eine Tür aufgehen und spürte, nachdem sie durch diese
Tür gegangen war, sogleich einen dicken Teppich unter den
Füßen. Die Kette wurde nochmals leicht angezogen, dann
banden Pierres Hände ihre Hände los, nahmen ihr die
Augenbinde ab: sie war in einem runden, gewölbten Raum, der
sehr klein und niedrig war, Mauern und Deckengewölbe aus
Stein und ohne jeden Bewurf, man sah die Fugen zwischen den
Quadern. Die Kette, die an ihrem Hals befestigt war, hing, in
einer Ringschraube eingehakt, in etwa einem Meter Höhe an der
Mauer, der Tür gegenüber, und ließ ihr nur soviel
Bewegungsfreiheit, daß sie zwei Schritte nach vorn machen
konnte. Es war kein Bett da, nichts, was einem Bett ähnlich sah,
keine Decke, nur drei oder vier marokkanische Kissen, aber
außerhalb ihrer Reichweite und nicht für sie bestimmt. Innerhalb
ihrer Reichweite hingegen stand in der Nische, durch die das
spärliche Licht in den Raum sickerte, ein Holztablett mit
Wasser, Obst und Brot. Die Wärme der Heizkörper, die nah am
Boden in das Mauerwerk eingebaut waren und rundum eine Art
brennender Fußleiste bildeten, kam nicht auf gegen den Geruch
nach Schlamm und Erde, den Geruch, der in den ehemaligen
Kerkern herrscht, in den alten Schlössern, in einem
unbewohnten Bergfried. In diesem warmen Halbdunkel, in das
kein Laut drang, hatte O bald jeden Sinn für Zeit verloren. Es
gab weder Tag noch Nacht, das Licht ging nie ganz aus. Pierre
oder ein anderer Diener stellten gleichgültig frisches Wasser,
Obst und Brot auf das Tablett, wenn es leer war, und führten sie
ins Bad in ein benachbartes Gelaß. Sie sah niemals die Männer,
die hereinkamen, weil jedesmal erst ein Diener ihr die Augen
verband und die Binde erst abnahm, wenn sie wieder allein war.
Sie verlor auch das Gefühl dafür, wieviele es waren und weder
ihre sanften Hände noch ihre Lippen, die blind ihre Zärtlichkeit
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erwiesen, konnten jemals erkennen, wen sie berührten.
Manchmal waren es mehrere, meist nur einer allein, aber
jedesmal mußte sie, eh jemand sich ihr näherte, mit dem Gesicht
zur Mauer niederknien, man hakte den Ring ihres Halsbandes in
die gleiche Öse, an der die Kette hing und peitschte sie aus. Sie
stemmte die Handflächen gegen die Mauer und legte das
Gesicht auf den Handrücken, um es sich nicht am Stein zu
zerkratzen; aber sie rieb sich Knie und Brüste daran wund. Sie
konnte auch die Martern nicht mehr zählen und ihre Schreie, die
das Gewölbe erstickte. Sie wartete. Plötzlich stand die Zeit nicht
mehr still. In ihrer samtenen Nacht nahm sie wahr, daß ihr die
Kette abgenommen wurde. Drei Monate lang, drei Tage lang
hatte sie gewartet, oder zehn Tage oder zehn Jahre. Sie spürte,
daß man sie in einen dicken Stoff hüllte, und daß jemand sie
unter den Armen und den Kniekehlen faßte, hochhob und
wegtrug. Sie fand sich in ihrer Zelle unter ihrer schwarzen
Pelzdecke wieder, es war früher Nachmittag, ihre Augen waren
offen, ihre Hände frei, und René saß neben ihr und streichelte
ihr das Haar. "Du mußt dich anziehen, sagte er, wir gehen." Sie
nahm ein letztes Bad, er bürstete ihr das Haar, reichte ihr Puder
und Lippenstift. Als sie in die Zelle zurückkam, lagen ihr
Kostüm, die Bluse, das Unterkleid, ihre Strümpfe und Schuhe
auf dem Fußende des Bettes, auch ihre Tasche und die
Handschuhe. Sogar der Mantel war da, den sie über dem
Kostüm trug, wenn es anfing, kälter zu werden, und ein
Seidentuch, um den Hals zu schützen, aber weder Strumpfgürtel
noch Slip. Sie rollte die Strümpfe bis zum Knie, zog sich
langsam an, bis auf die Kostümjacke, denn es war sehr warm in
der Zelle. In diesem Augenblick trat der Mann ein, der ihr am
ersten Abend erklärt hatte, was man von ihr verlangen werde. Er
nahm ihr das Halsband und die Armreifen ab, die sie zwei
Wochen lang gefangen gehalten hatten. Fühlte sie sich jetzt
befreit? Oder fehlte ihr etwas? Sie sagte nichts, wagte kaum, mit
den Händen ihre Gelenke zu berühren, wagte nicht, an ihren
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Hals zu fassen. Der Mann hielt ihr nun eine kleine Holzkette mit
lauter gleichen Ringen hin und bat sie, daraus einen Ring zu
wählen, der an ihren linken Ringfinger paßte. Es waren
sonderbare Eisenringe, innen mit Gold gerandet; der breite,
schwere Reif, ähnlich der Fassung eines Siegelrings, aber
hochgewölbt, trug in Nielloarbeit ein goldenes Rad mit drei
Speichen, die spiralenförmig gebogen waren, wie beim
Sonnenrad der Kelten. Der zweite Ring ließ sich mit ein wenig
Mühe anstecken und paßte genau. Er war schwer an ihrer Hand,
und das Gold glänzte wie aus einem Versteck hinter dem matten
Grau des polierten Eisens. Warum das Eisen, warum das Gold,
und das Zeichen, das sie nicht zu deuten wußte? Es war nicht
möglich, in diesem rotbespannten Raum zu sprechen, wo noch
die Kette an der Wand über dem Bett hing, wo die noch
verknüllte schwarze Decke am Boden lag, wo der Diener Pierre
hereinkommen konnte, hereinkommen würde, eine absurde
Erscheinung in seinem Opernkostüm, im wattigen
Novemberlicht. Sie irrte sich, Pierre kam nicht herein. René ließ
sie die Jacke anziehen und die langen Handschuhe, die über die
Ärmel reichten. Sie nahm ihren Schal, die Tasche, und hängte
den Mantel über den Arm. Die Absätze ihrer Schuhe machen auf
den Fliesen des Korridors weniger Geräusch, als die
Pantöffelchen gemacht hatten, die Türen waren geschlossen, das
Vorzimmer war leer. O hielt die Hand ihres Geliebten. Der
Unbekannte, der sie geleitete, öffnete das Gitter des
"Allerheiligsten", wie Jeanne es genannt hatte und vor dem jetzt
weder Diener noch Hunde wachten. Er hob eine der grünen
Samtportieren und ließ beide durchgehen. Der Vorhang fiel
wieder. Man hörte, wie das Gitter geschlossen wurde. Sie waren
allein in einem weiteren Vorraum, der zum Park führte. Man
brauchte nur noch die Stufen der Freitreppe hinunterzuge hen,
vor der O den Wagen wiedersah, den sie schon kannte. Sie
setzte sich neben ihren Geliebten, der am Steuer saß und den
Wagen startete. Als sie aus dem Park waren, dessen Einfahrtstor
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weit offen stand, fuhr er noch einige hundert Meter weiter, hielt
dann an, um sie zu küssen. Es war genau am Eingang eines
kleinen, friedlichen Dörfchens, das sie danach durchführen. O
konnte den Namen auf dem Ortsschild lesen: Roissy.
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II SIR STEPHEN
Das Appartement, das O bewohnte, lag auf der Ile Saint-
Louis, unter dem Giebelwerk eines alten Hauses, das nach
Süden, über die Seine, blickte. Es waren große, niedrige
Mansardenzimmer, die beiden Vorderzimmer hatten je einen
Balkon, der in die Dachschräge eingebaut war. Eines war Os
Schlafzimmer; das andere, wo eine vom Boden bis zur Decke
reichende Bücherwand den Kamin rahmte, diente als Salon, als
Arbeitsraum und wenn man wollte, konnte man hier auch
schlafen: den beiden Fenstern gegenüber stand ein großes Sofa,
und vor dem Kamin ein großer, antiker Tisch. Hier wurde auch
zu Abend gegessen, wenn das winzige Speisezimmer, das mit
dunkelgrünem Serge tapeziert war und auf den Hof ging, die
Gäste nicht fassen konnte. Ein weiteres Zimmer, das ebenfalls
auf den Hof ging, diente René als Schrank- und Ankleideraum.
O teilte mit ihm das gelbe Badezimmer; die ebenfalls gelbe
Küche war winzig klein. Eine Aufwartefrau kam jeden Tag. Die
Böden der Zimmer auf der Hofseite waren mit roten Fliesen
ausgelegt, mit diesen altmodischen, sechseckigen Platten, die
vom zweiten Stockwerk aufwärts die Stufen und Treppengänge
der alten Pariser Häuser bedecken. Als O sie wiedersah, spürte
sie einen Stich im Herzen: es waren die gleichen Fliesen, wie in
den Korridoren von Roissy. Ihr Zimmer war klein, die rosa und
schwarzen Chintzvorhänge waren zugezogen, das Feuer loderte
hinter dem Kamingitter, das Bett war bereit, die Decke
zurückgeschlagen.
"Ich habe dir ein Nylonnachthemd gekauft, sagte René, du
hast noch keines." Wirklich lag am Bettrand, auf der Seite, auf
der O schlief, ein weißes, plissiertes Nylonhemd ausgebreitet,
hauchzart wie die Gewänder der ägyptischen Statuen und beinah
durchsichtig. Es wurde um die Taille, über einer Steppbordüre
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aus Gummifäden, mit einem schmalen Gürtel gehalten und der
Nylonjersey war so leicht, daß die Wölbung der Brüste ihn rosig
färbte. Alles, mit Ausnahme der Vorhänge und der
gleichfarbigen Stoffbespannung zu Häupten des Bettes und der
beiden kleinen Sessel, die mit demselben Chintz bezogen waren,
alles in diesem Zimmer war weiß: die Wände, die Steppdecke
auf dem Sprossenbett aus Mahagoni, und die Bärenfelle auf dem
Boden. O saß jetzt in ihrem weißen Hemd vor dem Feuer und
hörte ihrem Geliebten zu. Als erstes sagte er ihr, sie dürfe nicht
glauben, daß sie von jetzt an wieder frei sei. Es stehe ihr
allerdings frei, ihn nicht mehr zu lieben und ihn auf der Stelle zu
verlassen. Wenn sie ihn aber liebe, sei sie in nichts mehr frei.
Sie hörte ihm wortlos zu, dachte, wie glücklich sie darüber sei,
daß er sich, auf welche Weise auch immer, beweisen wolle wie
sehr sie ihm gehöre, und daß es ein wenig naiv von ihm sei,
anzunehmen, diese Hörigkeit bedürfe überhaupt eines Beweises.
Aber vielleicht nahm er das gar nicht an und wollte nur darüber
sprechen, weil es ihm Freude machte? Sie schaute ins Feuer,
während er zu ihr redete, sie schaute nicht zu ihm auf, wagte
nicht, seinem Blick zu begegnen. Er hatte sich nicht gesetzt, er
ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich sagte er, daß sie vor allem
die Knie öffnen und die Arme hängen lassen solle, wenn sie ihm
zuhöre; denn sie hatte mit geschlossenen Knien dagesessen und
hatte die Arme um die Knie geschlungen. Sie zog also ihr Hemd
hoch und ließ sich auf Knie und Fersen nieder, wie die
Karmeliterinnen oder die Japanerinnen, und wartete. Jetzt, wo
ihre Knie gespreizt waren, spürte sie zwischen ihren
halbgeöffneten Schenkeln das leichte, spitze Kratzen des weißen
Fells; René war noch nicht genug zufrieden: sie hatte die Beine
nicht weit genug geöffnet. Die Befehle "öffne" und "öffne die
Beine", von René ausgesprochen, besaßen eine so verwirrende
Macht, daß sie sie niemals ohne eine Art geistigen Kniefalls
hörte, frommer Unterwerfung, als hätte nicht er, sondern ein
Gott sie gesprochen. Sie blieb also unbeweglich sitzen und ließ
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die Hände mit den Innenflächen nach oben zu beiden Seiten
ihrer Knie ruhen, zwischen denen der Jersey ihres Hemdes, das
sich um sie breitete, in die ursprünglichen Pliseefalten fiel. Was
ihr Geliebter von ihr verlangte, war ganz einfach: daß sie ständig
und auf der Stelle zugänglich sein solle. Es genügte ihm nicht,
zu wissen, daß sie es war: sie mußte es ohne jedes Hindernis
sein, und ihre ganze Haltung wie auch ihre Kleidung sollten für
die Eingeweihten gewissermaßen Symbole dieser
Zugänglichkeit sein. Das bedeutet, fuhr er fort, zweierlei.
Erstens, was sie schon wußte und worauf man sie am Abend
ihrer Ankunft im Schloß hingewiesen hatte: die Knie, die sie
niemals überschlagen durfte, die Lippen, die immer halboffen
bleiben mußten. Sie glaubte wohl, das sei praktisch nichts (sie
glaubte es tatsächlich), sie werde jedoch das Gegenteil
feststellen, daß die Einhaltung dieser Disziplin ständige
angespannte Aufmerksamkeit erfordere, die sie nicht nur in
seiner Gegenwart und vielleicht in Gegenwart einiger anderer,
die ihr Geheimnis kannten, an ihren wahren Zustand erinnern
werde, sondern bei der gewöhnlichsten Beschäftigung und unter
Menschen, die nichts ahnten. Was ihre Kleidung betreffe, so sei
es ihre Sache, sie so zu wählen oder notfalls zu erfinden, daß
dieser Entkleidungsakt, den er in dem Wagen nach Roissy mit
ihr hatte vornehmen müssen, in Zukunft nicht mehr notwendig
sei: morgen werde sie in ihren Schränken Musterung halten,
unter ihren Kleidern, in den Schubladen unter ihrer Wäsche, und
ihm ausnahmslos alles abliefern, was sie darin an
Strumpfgürteln und Höschen finde; ebenso alle Büstenhalter, die
so gearbeitet waren, wie der, dessen Träger er erst hatte
abschneiden müssen, ehe er ihn ihr ausziehen konnte;
Unterkleider, die soweit heraufreichten, daß sie ihre Brüste
bedeckten, Blusen und Kleider, die nicht vorn zu öffnen waren,
alle Röcke, die so eng waren, daß man sie nicht mit einer
einzigen Bewegung hochschlagen konnte. Sie solle sich andere
Büstenhalter machen lassen, andere Blusen, andere Kleider.
-70-
Dann würde sie ja von jetzt an mit nackten Brüsten unter ihrer
Bluse oder ihrem Pullover zur Korsettschneiderin gehen. Sollte
es jemandem auffallen, so werde sie es nach Gutdünken erklären
oder nicht erklären, ganz wie sie wolle, das gehe nur sie allein
an. Mit den übrigen Anweisungen, die er ihr noch zu erteilen
habe, wolle er noch ein paar Tage warten, und er wünsche, daß
sie, wenn sie ihm zuhören werde, entsprechend gekleidet sei. In
der kleinen Schublade ihres Schreibtisches werde sie soviel
Geld finden, wie sie brauche. Als er zu Ende gesprochen hatte,
flüsterte sie "ich liebe dich" ohne die geringste Bewegung zu
machen. Er legte frisches Holz aufs Feuer, zündete die
Nachttischlampe aus rosa Opalin an. Er sagte, O solle sich zu
Bett legen und auf ihn warten, er werde bei ihr schlafen. Als er
zurückkam, streckte O die Hand aus, um die Lampe zu löschen:
die linke Hand, und das letzte was sie sah, eh alles ins Dunkel
versank, war der matte Glanz ihres Eisenrings. Sie lag halb auf
der Seite: da rief ihr Geliebter leise ihren Namen, er packte sie
am Schoß und zog sie an sich.
Am nächsten Tag, kurz nachdem O allein in dem grünen
Eßzimmer zu Mittag gegessen hatte - René war zeitig
weggegangen und würde erst am Abend zurückkommen, um sie
zum Essen abzuholen - klingelte das Telephon. Der Apparat
stand im Schlafzimmer neben dem Bett, unter der
Nachttischlampe. O setzte sich auf den Boden und nahm den
Hörer ab. Es war René, der wissen wollte, ob die Aufwartefrau
schon weg sei. Ja, sie sei gerade gegangen, nachdem sie das
Essen serviert hatte, und werde erst morgen früh
wiederkommen. Hast du schon mit dem Aussortieren deiner
Kleider angefangen? sagte René. - Ich wollte gerade anfangen,
habe gebadet und bin erst um Mittag fertig geworden. - Bist du
angekleidet? - Nein, ich habe mein Nachthemd und den
Morgenrock an. - Leg den Hörer weg, zieh den Morgenrock und
das Nachthemd aus." O gehorchte, so eifrig, daß der Hörer vom
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Bett rutschte, wo sie ihn hingelegt hatte, auf den weißen
Teppich fiel und sie glaubte, die Verbindung sei unterbrochen.
Nein, sie war nicht unterbrochen. "Bist du nackt? hörte sie René
wieder. - Ja, sagte sie, von wo rufst du an?" Er beantwortete ihre
Frage nicht, sondern fuhr fort: "Hast du deinen Ring
angelassen?" Sie hatte den Ring angelassen. Er befahl ihr, so zu
bleiben, wie sie war, bis er zurückkommen werde, und den
Koffer mit den Kleidungsstücken zu packen, die sie nicht mehr
tragen sollte. Dann legte er auf. Es war ein Uhr vorbei und das
Wetter war schön. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Nachthemd und
den Morgenrock aus Cordsamt, blaßgrün wie die Schalen
frischer Mandeln, beide lagen noch auf dem Teppich, wie O sie
hatte herabgleiten lassen. Sie hob sie auf und trug sie ins
Badezimmer, hängte sie in einen Wandschrank. Als sie an einem
Spiegel vorbeiging, der an einer Tür angebracht war und mit
einem Wandspiegel und einer zweiten, ebenfalls mit Spiegelglas
belegten Tür einen dreiteiligen Spiegel bildete, sah sie plötzlich
ihr Bild: sie hatte nichts am Leib als ihre Lederpantöffelchen,
vom gleichen Grün wie ihr Morgenrock, kaum dunkler als die
Pantöffelchen, die sie in Roissy getragen hatte - und ihren Ring.
Sie trug weder Halsband noch Lederarmreifen, und sie war
allein, ihr eigener Zuschauer. Dennoch hatte sie sich noch
niemals so völlig einem fremden Willen ausgeliefert, so völlig
als Sklavin gefühlt, und war noch nie so glücklich darüber
gewesen. Als sie sich bückte, um eine Schublade zu öffnen, sah
sie ihre Brüste sich leicht bewegen. Es dauerte beinah zwei
Stunden, bis sie alle Kleidungsstücke, die in den Koffer gepackt
werden mußten, auf dem Bett ausgelegt hatte. Bei den Slips gab
es keinen Zweifel, O schichtete sie zu einem Häufchen neben
einer der Sprossen. Die Büstenhalter ebenfalls, es blieb nicht
einer übrig: sie waren alle über dem Rücken gekreuzt und
schlossen an der Seite. Aber sie sah schon, wie sie das gle iche
Modell anfertigen lassen könnte, nur mit dem Verschluß vorn,
genau unter der Furche zwischen den Brüsten. Auch die
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Strumpfgürtel machten keine Schwierigkeiten, aber sie zögerte,
das Taillenmieder aus rosen Seidenbroché dazuzulegen, das am
Rücken geschnürt wurde und dem Korsett, das sie in Roissy
getragen hatte, so ähnlich war. Sie legte es beiseite, auf die
Kommode. René würde entscheiden. Er würde auch wegen der
Pullover entscheiden, die alle über den Kopf gezogen wurden
und am Hals eng anlagen, also nicht zu öffnen waren. Aber man
konnte sie von der Taille her hochziehen und so die Brüste
freimachen. Sämtliche Unterkleider dagegen häuften sich auf
dem Bett. In der Kommodenschublade blieb nur ein Halbrock
aus schwarzem Faille mit Plisseesaum und kleine n Valencienne-
Spitzen, der unter einen schwarzen, sehr leichten und fast
durchsichtigen Wollrock mit Sonnenplissee gehörte. Sie würde
neue Unterröcke brauchen, hellfarbig und kurz. Sie stellte fest,
daß sie entweder ganz auf enge Kleider verzichten oder
Mantelkleider wählen müßte, die von oben bis unten
durchgeknöpft waren, mit einem Futter, das sich zugleich mit
dem Kleid öffnete. Bei den Unterröcken und Kleidern war die
Sache einfach, aber was würde die Wäschenäherin sagen, wenn
sie ihre Bestellung aufgeben würde? Sie würde ihr erklären, daß
sie ein loses Futter haben wolle, weil sie leicht friere. Es
stimmte sogar, daß sie leicht fror, und sie fragte sich plötzlich,
wie sie so mangelhaft geschützt im Winter die Kälte im Freien
ertragen werde. Als sie schließlich fertig war und von ihrer
Garderobe nur die Hemdkleider blieben, die alle vorn geknöpft
wurden, der schwarze Plisseerock, die Mäntel natürlich, und das
Kostüm, mit dem sie aus Roissy zurückgekommen war, machte
sie Tee. In der Küche stellte sie den Thermostat der Heizung
höher; die Aufwartefrau hatte den Holzkorb für das Feuer im
Salon nicht gefüllt und O wußte, daß ihr Gelieber sie am Abend
im Salon am Feuer vorfinden wollte. In einen großen Sessel
gekauert, den Tee neben sich, erwartete sie also seine Rückkehr,
aber dieses Mal wartete sie, wie er es befohlen hatte, nackt.
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Auf die erste Schwierigkeit stieß sie in ihrem Beruf.
Schwierigkeit ist viel gesagt. Erstaunen wäre richtiger. O
arbeitete in der Modeabteilung einer Photoagentur. Das heißt,
sie machte im Studio, wo sie stundenlang posieren mußten,
Aufnahmen von besonders exotischen und besonders hübschen
Mädchen, die von den Modehäusern zur Vorführung ihrer
Modelle ausgesucht wurden. Man wunderte sich, daß O ihren
Urlaub so weit in den Herbst hine in ausgedehnt hatte und daher
ausgerechnet in der Zeit abwesend war, in der die meiste Arbeit
anfiel, kurz vor Erscheinen der neuen Mode. Aber das hätte man
noch hingenommen. Man wunderte sich vor allem, daß sie so
verändert war. Auf den ersten Blick konnt e niemand sagen,
woran es lag, aber jeder empfand es sofort und je länger man sie
beobachtete, umso mehr war man davon überzeugt. Sie hielt
sich gerader, ihr Blick war klarer geworden, aber das
Auffallendste war ihre Fähigkeit, völlig regungslos zu verharren
und die Gehaltenheit aller Gesten. Sie war schon immer
nüchtern gekleidet gewesen, wie alle Mädchen, die einem Beruf
nachgehen, der einem Männerberuf gleicht, aber so geschickt sie
sich auch anstellte, die anderen Mädchen, die das Objekt ihrer
Arbeit bildeten und deren Beruf eben Kleider und Schmuck
waren, hatten schnell bemerkt, was anderen Augen entgangen
war. Die Pullover, die auf der bloßen Haut getragen wurden und
so zärtlich die Brüste modellierten, - René hatte schließlich die
Pullover gestattet - die Plisseeröcke, die so schwerelos um sie
schwangen, wirkten fast wie eine dezente Uniform, da O kaum
etwas anderes trug. "Junge Mode", sagte eines Tages mit
spöttischer Miene ein blondes, grünäugiges Mannequin zu ihr,
ein Mädchen mit den hohen Backenknochen und dem dunklen
Teint der Slawen. "Aber, fuhr sie fort, Strumpfbänder sollten Sie
nicht tragen, Sie werden sich die Beine verderben." O hatte sich
nämlich unvorsichtigerweise in ihrer Gegenwart ein wenig
schnell rittlings auf die Armlehne eines großen Lederfauteuils
gesetzt; dabei war ihr Rock hochgeflogen. Das große Mädchen
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hatte das Weiß des nackten Schenkels über dem gerollten
Strumpf gesehen, der das Knie gerade noch bedeckte, aber dann
aufhörte. O hatte sie so neugierig lächeln sehen, daß sie sich
fragte, was die andere sich spontan vorgestellt oder vielleicht
erraten habe. Sie zog ihre Strümpfe hoch, erst den einen, dann
den anderen, um sie straffer zu spannen, was schwierig ist, wenn
sie nicht bis zur Mitte der Schenkel reichen, und nicht von
einem Strumpfgürtel gehalten werden, und erwiderte Jacqueline,
wie um sich zu rechtfertigen: "Es ist praktisch. - Praktisch für
wen? sagte Jacqueline. - Ich mag keine Strumpfgürtel",
erwiderte O. Aber Jacqueline hörte nicht zu, sie betrachtete den
Eisenring.
In den folgenden Tagen machte O etwa fünfzig Aufnahmen
von Jacqueline. Sie waren mit keinem Photo zu vergleichen, das
sie bisher gemacht hatte. Vielleicht hatte sie noch nie ein solches
Modell gehabt. Auf jeden Fall hatte sie noch nie soviel aus
einem Gesicht oder einem Körper herausgeholt. Dabei handelte
es sich doch nur darum, die Seiden, die Pelze, die Spitzen noch
schöner wirken zu lassen durch die plötzliche Schönheit einer
im Spiegel überraschten Fee, die Jacqueline in der einfachsten
Bluse wie im prächtigsten Nerz ausstrahlte. Ihr Haar war kurz,
dicht und blond, kaum gewellt, auf einen Wink hin neigte sie
den Kopf ein wenig auf ihre linke Schulter und legte die Wange
an den hochgestellten Kragen ihres Pelzes, wenn sie gerade
einen Pelz trug. O überraschte sie einmal in dieser Haltung,
lächelnd und zärtlich, das Haar leicht gebauscht wie von einer
sanften Brise, die zarte, feste Wange an einen Nerz geschmiegt,
der blaugrau und weich war, wie die frische Asche eines
Holzfeuers. Sie hatte die Lippen leic ht geöffnet, die Augen halb
geschlossen. Unter der eisigen Glanzschicht des Photos konnte
man sie für eine glückliche Ertrunkene halten, bleich, so bleich.
O hatte den Probeabzug in einem leichten Grauton anfertigen
lassen. Sie hatte eine weitere Aufnahme von Jacqueline
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gemacht, die sie noch mehr verwirrte: gegen das Licht, mit
nackten Schultern, den feinen, kleinen Kopf und das Gesicht in
ein schwarzes, grobmaschiges Schleierchen gehüllt, darüber
einen absurden, doppelten Reiherbusch, dessen staubfeine
Federn die Gestalt wie eine Rauchwolke krönten; sie trug eine
phantastische Robe aus schwerer, broschierter Seide, rot wie das
Hochzeitskleid einer Braut aus dem Mittelalter, es reichte bis
zum Boden, war von den Hüften an weit, in der Taille eng, und
das Mieder zeichnete die Brust nach.
Es war das, was die Modeschöpfer als großes Abendkleid
bezeichnen und was kein Mensch jemals trägt. Die sehr
hochhackigen Sandaletten waren ebenfalls aus roter Seide. Und
die ganze Zeit, während Jacqueline so vor O stand, in diesem
Kleid und diesen Sandaletten und diesem Schleier, der wie die
Andeutung einer Gesichtsmaske war, vervollständigte,
veränderte O in Gedanken das Modell: es fehlte nur ein wenig -
die Taille enger geschnürt, die Brüste weiter sichtbar - und es
war das gleiche Kleid wie in Roissy, das gleiche Kleid, das
Jeanne getragen hatte, die gleiche schwere, glatte, spröde Seide,
die man mit beiden Händen rafft, wenn es heißt... Und wirklich,
Jacqueline raffte das Kleid mit beiden Händen, um von dem
Podium herunterzusteigen, auf dem sie eine Viertelstunde lang
posiert hatte. Das gleiche Knistern, das gleiche Rascheln wie
welkes Laub. Kein Mensch trägt Galaroben? Oh doch. Auch
Jacqueline trug ein enganliegendes Goldkollier um den Hals,
zwei goldene Armbänder um die Gelenke. O ertappte sich bei
dem Gedanken, daß sie noch schöner sein würde mit dem
Lederhalsband, mit ledernen Armspangen. Und dieses Mal tat
sie etwas, was sie noch nie getan hatte: sie folgte Jacqueline in
die große Garderobe neben dem Studio, wo die Mannequins sich
ankleideten und schminkten und ihre Kleider und
Schminkutensilien zurückließen, wenn sie nachhause gingen.
Sie blieb an die Türfüllung gelehnt stehen, den Blick auf den
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Frisierspiegel gerichtet, vor dem Jacqueline noch immer in ihrer
Robe saß. Der Spiegel war so groß - er bedeckte die ganze
Wand und der Frisiertisch war nur eine einfache, schwarze
Glasplatte - daß sie zugleich Jacqueline und ihr eigenes
Spiegelbild sah und das Spiegelbild der Garderobiere, die den
Reiherschmuck und das Tüllnetz abnahm. Jacqueline löste selbst
das Halsband, ihre nackten Arme waren erhoben wie zwei
Henkel; ein Schweißfilm glänzte in ihren Achselhöhlen, die
epiliert waren (warum? sagte O sich, wie schade, sie ist so
blond) und O nahm den herben und zarten, ein wenig
pflanzenhaften Geruch wahr und fragte sich, welches Parfüm
Jacqueline wohl trage - welches Parfüm man Jacqueline tragen
lassen sollte. Dann nahm Jacqueline ihre Armreifen ab, legte sie
auf die Glasplatte, wo sie eine Sekunde lang klirrten, wie
Ketten. Ihr Haar war so hell, daß die Haut, getönt wie der feine
Sand an einem Strand, von dem die Flut sich gerade
zurückgezogen hat, dagegen dunkler wirkte. Auf dem Photo
würde die rote Seide schwarz sein. Genau in diesem Augenblick
hoben sich die dichten Wimpern, die Jacqueline nur ungern
tuschte, und O begegnete im Spiegel einem so direkten, so
unverwandten Blick, daß sie nicht fähig war, die Augen
abzuwenden und spürte, wie sie langsam errötete. Das war alles.
"Entschuldigen Sie", sagte Jacqueline, "ich muß mich
umziehen." "Verzeihung", murmelte O und schloß die Tür hinter
sich. Am nächsten Tag nahm sie die Probeabzüge der
Aufnahmen, die sie gemacht hatte, mit nach Hause, sie wußte
selbst nicht, ob sie die Bilder ihrem Geliebten, mit dem sie
auswärts essen sollte, zeigen wollte oder nicht. Während sie sich
vor der Frisiertoilette ihres Schlafzimmers schminkte,
betrachtete sie die Aufnahmen und unterbrach sich, um mit dem
Finger die Linie einer Braue, die Spur eines Lächelns
nachzuziehen. Aber als sie den Schlüssel in der Tür hörte, ließ
sie die Bilder in die Schublade gleiten.
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O hatte seit zwei Wochen eine vollständig neue Garderobe
und hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, als sie eines
Abends bei ihrer Heimkehr aus dem Studio eine Nachricht ihres
Geliebten vorfand, der sie bat, um acht Uhr bereit zu sein, weil
sie mit ihm und einem seiner Freunde essen solle. Ein Wagen
werde sie abholen, der Chauffeur werde in die Wohnung
kommen. Ein Zusatz bestimmte, sie solle ihre Pelzjacke
mitnehmen, sich ganz in Schwarz kleiden (ganz war
unterstrichen) und darauf achten, daß sie genauso geschminkt
und parfümiert sei wie in Roissy. Es war sechs Uhr, ganz in
Schwarz und zum Abendessen - und es war Mitte Dezember, es
war kalt - das bedeutet schwarze Seidenstrümpfe, schwarze
Handschuhe, und zu ihrem fächerförmig plissierten Rock
entweder einen dicken Pullover mit Paillettenstickerei oder ihre
Failleweste. Sie wählte die Failleweste. Sie war wattiert und mit
großen Stichen abgesteppt, vom Hals bis zur Taille anliegend
und mit Agraffen geschlossen, wie die Wämser der Männer im
sechzehnten Jahrhundert, und die Brust war durch einen
eingearbeiteten Büstenhalter deutlich abgezeichnet. Das Futter
war aus dem gleichen Faille, und die kurzen Schöße endeten an
der Hüfte. Der einzige Putz waren die großen, vergoldeten
Agraffen, so auffallend wie die Schnallen an den Schneestiefeln
der Kinder, die sich klickend über breiten, flachen Ösen öffnen
und schließen. O legte ihre Kleider zurecht, stellte die
schwarzen Wildlederpumps mit der überhöhten Sohle und den
Bleistiftabsätzen vor das Bett, und kam sich dann höchst
wunderlich vor, als sie sich nach dem Bad, frei und allein in
ihrem Badezimmer, sorgfältig schminkte und parfümierte, genau
wie in Roissy. Gewöhnlich benutzte sie andere Schminken. In
der Schublade ihres Frisiertisches fand sie fetthaltiges
Wangenrot - sie legte nie Rouge auf - mit dem sie den Hof ihrer
Brüste tönte. Es war ein Rouge, das man kaum sah, wenn es
aufgetragen wurde, das jedoch später nachdunkelte. Sie glaubte
zuerst, sie habe zuviel genommen, wischte es mit Alkohol
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wieder ab - es ließ sich sehr schwer abwischen - und begann von
neuem: die Spitzen ihrer Brüste erblühten in tiefem Rosenrot.
Vergebens versuchte sie, damit die Lippen zu schminken, die
das Vlies ihres Schoßes verbarg, es haftete nicht. Schließlich
fand sie unter den Lippenstiften, die sie in der gleichen
Schublade verwahrte, einen dieser kußechten Stifte, die sie nicht
gern benutzte, weil sie zu trocken waren und zu sehr hafteten.
Für diesen Zweck war er geeignet. Sie richtete ihr Haar, ihr
Gesicht, danach parfümierte sie sich. René hatte ihr in einem
Zerstäuber, der einen dichten Nebel versprühte, ein Parfüm
geschenkt, dessen Namen sie nicht kannte. Es roch nach
trockenem Holz und Sumpfpflanzen, herb und ein bißchen wild.
Der Nebel schmolz und rieselte auf ihre Haut, auf dem Flaum
ihrer Achselhöhlen und ihres Schoßes, haftete in winzigen
Tröpfchen. O hatte in Roissy Geduld gelernt: sie parfümierte
sich dreimal, ließ jedesmal das Parfüm auf der Haut trocknen.
Sie zog zuerst ihre Strümpfe und die hochhackigen Schuhe an,
dann Unterrock und Rock, dann die Weste. Sie streifte die
Handschuhe über, nahm ihre Tasche. In der Tasche waren ihre
Puderdose, das Rouge, ein Kamm, der Schlüssel, und zehn
Francs. Schon behandschuht nahm sie den Pelz aus dem
Schrank und schaute auf die Uhr neben dem Bett: es war ein
Viertel vor acht Uhr. Sie setzte sich schräg auf die Bettkante und
wartete, die Augen auf den Wecker gerichtet, regungslos auf das
Anschlagen der Glocke. Als sie es endlich hörte und aufstand,
begegnete sie im Spiegel des Frisiertisches, eh sie die Lampe
löschte, ihrem Blick: er war furchtlos, sanft und gefügig.
Als sie die Tür des kleinen italienischen Restaurants aufstieß,
vor dem der Wagen sie abgesetzt hatte, sah sie sogleich René an
der Bar sitzen. Er lächelte ihr zärtlich zu, faßte ihre Hand, dann
drehte er sich zu einem sportlichen, grauhaarigen Mann um und
stellte ihr, in englischer Sprache, Sir Stephen H. vor. O wurde
ein Hocker zwischen den beiden Männern angeboten und als sie
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sich setzen wollte, flüsterte René ihr zu, sie solle achtgeben, daß
sie ihr Kleid nicht verknittere. Er half ihr, den Rock über den
Hocker gleiten zu lassen und sie spürte das kalte Leder unter
ihrer Haut und den metallgefaßten Rand direkt in der Höhlung
ihrer Schenkel, weil sie sich zuerst nur halb hinzusetzen wagte,
aus Furcht, sie könne sonst der Versuchung erliegen, die Beine
zu kreuzen. Ihr Rock war um sie ausgebreitet. Ihr rechter Absatz
war in eine Quersprosse des Hockers gehakt, die Spitze ihres
linken Fußes berührte den Boden. Der Engländer, der sich
wortlos vor ihr verbeugt hatte, ließ die Augen nicht mehr von
ihr; sie sah, daß er ihre Knie musterte, ihre Hände und
schließlich ihre Lippen - aber so ruhig und mit so genauer und
gelassener Aufmerksamkeit, daß O sich abgeschätzt vorkam,
begutachtet auf ihre Eignung als das Instrument, das sie, wie sie
sehr wohl wußte, auch war, und wie von diesem Blick dazu
gezwungen, sozusagen wider Willen, zog sie ihre Handschuhe
aus: sie wußte, daß er sprechen würde, sobald ihre Hände nackt
wären - weil ihre Hände eigenartig geformt waren, eher wie die
Hände eines Knaben, nicht wie die einer Frau, und weil sie am
linken Ringfinger den Eisenreif mit der dreiarmigen Goldspirale
trug. Aber nein, er sagte nichts, er lächelte: er hatte den Ring
gesehen. René trank einen Martini, Sir Stephen Whisky. Er
trank langsam sein Glas aus, wartete, bis René mit seinem
zweiten Martini fertig war und O mit dem Grapefruitsaft, den
René für sie bestellt hatte, und erklärte dann, wenn O ihm die
Freude machen wolle, sich René und ihm anzuschließen, so
könnten alle drei zu Abend essen im Restaurant im Souterrain,
das kleiner und ruhiger sei, als der Saal, der sich im Erdgeschoß
an die Bar anschloß. "Natürlich", sagte O, die bereits Tasche
und Handtasche von der Theke nahm, wo sie beides abgelegt
hatte. Sir Stephen half ihr vom Hocker, er hielt ihr seine rechte
Hand hin, in die sie die ihre legte, und jetzt richtete er zum
ersten Mal direkt das Wort an sie und bemerkte, ihre Hände
müßten dafür geschaffen sein, Eisen zu tragen, so gut stehe ihr
-80-
das Eisen. Aber da er es in Englisch sagte, erhielten die Worte
einen leichten Doppelsinn und es war nicht ganz klar, ob er nur
das Metall oder auch, und vor allem, Ketten meinte.
Im Restaurant im Souterrain, das ein gewöhnlicher Keller mit
gekalkten Wänden war, aber frisch und freundlich, standen
wirklich nur vier Tische. Nur an einem davon saßen Gäste, die
mit ihrer Mahlzeit schon fast zu Ende waren. An die Wände war
in Freskomanier eine gastronomische und bebilderte Karte
Italiens gemalt, die Farben glichen den Farben von Eissorten,
Vanille, Himbeer, Pistazien; O dachte daran, daß sie sich zum
Nachtisch Eis bestellen wollte, mit zerstoßenen gebrannten
Mandeln und crème fraîche. Denn sie fühlte sich glücklich und
leicht, Renés Knie berührte unter dem Tisch ihr Knie, und wenn
er sprach, so wußte sie, daß er für sie sprach. Auch er
betrachtete ihre Lippen. Sie bekam ihr Eis, aber keinen Kaffee.
Sir Stephen lud O und René zum Mokka zu sich ein. Sie hatten
alle drei sehr leicht gegessen und O hatte bemerkt, daß die
beiden Männer absichtlich wenig tranken und ihr selbst noch
weniger zu trinken gaben: eine Flasche Chianti für drei
Personen. Auch hatten sie schnell gegessen: es war kaum neun
Uhr. "Ich habe den Chauffeur weggeschickt, sagte Sir Stephen,
würden Sie bitte chauffieren, René. Es ist am einfachsten, wenn
wir direkt zu mir fahren." René setzte sich ans Steuer, O neben
ihn, Sir Stephen neben O. Der Wagen war ein riesiger Buick, sie
hatten auf dem Vordersitz bequem zu dritt Platz.
Es ging über die Alma-Brücke, den Cours de la Reine, der
hell war, weil die Bäume kein Laub trugen, den Place de la
Concorde, flimmernd und trocken unter dem düsteren
Winterhimmel, der voll Schnee hing. O hörte ein leises Klicken
und spürte die warme Luft an ihren Beinen entlangstreichen: Sir
Stephen hatte die Heizung eingeschaltet. René folgte noch
immer der Seine auf dem rechten Ufer, bog dann zum Pont
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Royal ein, um aufs linke Ufer zu kommen: zwischen den
steinernen Zwingen wirkte das Wasser unbeweglich, selbst wie
Stein, und ganz schwarz. O dachte an schwarze Hämatiten. Als
sie fünfzehn Jahre alt war, trug ihre beste Freundin, die dreißig
und in O verliebt war, einen Ring mit einem brillantengefaßten
Hämatiten. O hatte sich ein Kollier aus diesen schwarzen
Steinen und ohne Brillanten gewünscht, ein Kollier, das eng am
Hals anlag, den Hals einschnürte. Aber hätte sie die Halsbänder,
die man ihr jetzt schenkte - nein, man schenkte sie ihr nicht -
eingetauscht für das Kollier aus Hämatiten, für die Hämatiten
ihrer Träume? Sie sah das schäbige Zimmer wieder, hinter dem
Carrefour Turbigo, wohin Marion sie geführt hatte, und wie sie
selbst, nicht Marion, ihre beiden dicken Schulmädchenzöpfe
löste, als Marion sie entkleidet und auf das Eisenbett gelegt
hatte. Sie war schön, Marion, wenn man sie streichelte und es
stimmt, daß Augen zu Sternen werden können; die ihren wurden
zu blauen, zuckenden Sternen. René stoppte den Wagen. O
kannte die kleine Straße nicht, es war eine der
Verbindungsstraßen zwischen der Rue de l'Université und der
Rue de Lille.
Sir Stephens Wohnung lag in einem Vorhof, im Flügel eines
ehemaligen Palais, und die Zimmer waren in einer Flucht
angelegt. Das Zimmer am Ende war auch das größte und
gemütlichste, es war im englischen Stil eingerichtet, dunkle
Mahagonimöbel und blasse Seiden, gelb und grau. "Sie
brauchen sich nicht um das Feuer zu kümmern, sagte Sir
Stephen zu O, aber dieses Sofa ist für Sie. Nehmen Sie bitte
Platz, René wird den Kaffee mache n, ich möchte Sie nur bitten,
mir zuzuhören." Das große damastbezogene Sofa stand
rechtwinklig zum Kamin, mit der Vorderseite zu den Fenstern,
die auf einen Garten blickten, mit dem Rücken zu den Fenstern,
die auf der anderen Seite des Zimmers zum Hof gingen. O zog
ihren Pelz aus und legte ihn auf die Rückenlehne des Sofas. Als
-82-
sie sich umdrehte, sah sie ihren Geliebten und ihren Gastgeber
im Stehen warten, daß sie Sir Stephens Aufforderung Folge
leiste. Sie legte ihre Tasche zu dem Pelz, zog die Handschuhe
aus. Wann würde sie endlich lernen, falls sie es überhaupt
jemals lernen würde, beim Hinsetzen ihre Röcke mit einer so
beiläufigen Geste zu raffen, daß es niemandem auffiele und daß
sie selbst nicht an ihr Nacktsein, an ihr Ausgeliefertsein denken
müßte? Jedenfalls nicht, solange René und dieser Fremde sie
schweigend anstarrten, wie sie es jetzt taten. Schließlich fügte
sie sich. Sir Stephen schürte das Feuer. René trat plötzlich hinter
das Sofa, packte O beim Hals und am Haar, zog ihren Kopf auf
die Lehne zurück und küßte sie nun auf den Mund, so lange und
so tief, daß sie fast erstickte und fühlte, wie ihr Schoß brannte
und schmolz. Er ließ nur los, um ihr zu sagen, daß er sie liebe
und sie sogleich wieder zu packen. Os Hände ruhten, lose nach
hinten hängend, kraftlos, die Innenflächen nach oben, auf dem
schwarzen Rock, der sich wie eine Blütenkrone um sie breitete;
Sir Stephen war nähergekommen, und als René sie endlich
losließ und sie die Augen wieder öffnete, begegnete sie dem
grauen und steten Blick des Engländers. So verwirrt sie auch
war, noch keuchend vor Glück, sah sie doch, daß er sie
bewunderte, daß er sie begehrte. Wer hätte diesem feuchten und
halbgeöffneten Mund widerstehen können, diesen geschwellten
Lippen, diesem weißen Hals, der auf den schwarzen Kragen
ihrer Pagenweste zurückgebogen war, diesen groß und klar
gewordenen Augen, die sich nicht abwandten? Doch Sir Stephen
erlaubte sich nur eine einzige Geste: er strich zart mit dem
Finger über ihre Brauen, dann über ihre Lippen. Dann setzte er
sich ihr gegenüber auf die andere Seite des Kamins, und als
auch René sich einen Sessel genommen hatte, sprach er. "Ich
glaube, sagte er, René hat Ihnen nie von seiner Familie erzählt.
Aber vielleicht wissen Sie, daß seine Mutter vor ihrer Ehe mit
seinem Vater mit einem Engländer verheiratet war, der selbst
einen Sohn aus erster Ehe hatte. Ich bin dieser Sohn, und sie hat
-83-
mich erzogen, bis zu dem Tag, als sie meinen Vater verließ. Ich
bin mit René also nicht verwandt, und doch sind wir in
gewissem Sinne Brüder. Daß René Sie liebt, weiß ich. Ich hätte
es gesehen, auch wenn er es mir nicht gesagt hätte, auch wenn er
nicht die geringste Geste gemacht hätte: man braucht nur zu
sehen, wie er Sie anschaut. Ich weiß auch, daß Sie in Roissy
waren und ich vermute, daß Sie dorthin zurückkehren werden.
Grundsätzlich gibt der Ring, den Sie tragen, mir, wie allen, die
dieses Zeichen kennen, das Recht, über Sie zu verfügen. Aber es
würde sich für Sie immer nur um eine vorübergehende Bindung
handeln. Was wir von Ihnen erwarten, ist schwerwiegender. Ich
sage wir, weil Sie sehen, daß René schweigt: er will, daß ich
auch in seinem Namen zu Ihnen spreche. Wenn wir Brüder sind,
so bin ich der ältere, ich bin zehn Jahre älter als er. Es besteht
zudem zwischen uns eine so althergebrachte und so absolute
Gemeinschaft, daß alles, was mir gehört, stets auch ihm gehört
hat und alles, was ihm gehört, auch mir. Sind Sie einverstanden,
ebenfalls dazuzugehören? Ich bitte Sie darum, und ich möchte
Ihre Einwilligung haben, weil sie Sie fester bindet, als Ihr
Gehorsam, von dem ich weiß, daß er außer Frage steht. Eh Sie
antworten, bedenken Sie, daß ich nichts anderes bin und nichts
anderes sein kann, als das zweite Ich Ihres Geliebten: Sie
werden auch in Zukunft nur einen Gebieter haben. Schrecklicher
allerdings, als die Männer, denen sie in Roissy ausgeliefert
waren, denn ich werde alle Tage da sein, und außerdem liebe ich
feste Gewohnheiten und Riten "and besides, I am fond of habits
and rites..."
Sir Stephens gelassene Stimme klang in eine absolute Stille.
Selbst die Flammen im Kamin brannten lautlos. O war auf das
Sofa gespießt wie ein Schmetterling an einer Nadel, einer langen
Nadel aus Worten und Blicken, die sie in der Mitte des Körpers
durchbohrte und ihre nackten und bereiten Lenden an die laue
Seide preßte. Sie wußte nicht, wo ihre Brüste waren, ihr Nacken,
-84-
ihre Hände. Sie zweifelte jedoch nicht, daß die Gewohnheiten
und Riten der Besitzergreifung, von denen man ihr gesprochen
hatte, unter anderen Teilen ihres Körpers auch ihre langen, unter
dem schwarzen Rock verborgenen und bereits halb geöffneten
Schenkel zum Ziel haben würden. Die beiden Männer waren ihr
zugewandt. René rauchte, hatte jedoch neben sich eine
rauchverzehrende, schwarzbeschirmte Lampe angezündet, und
die bereits durch das Holzfeuer gereinigte Luft roch nach der
Frische der Nacht. "Werden Sie mir antworten oder wollen Sie
erst noch mehr wissen?" fragte Sir Stephen. - Wenn du
einwilligst, sagte René, erkläre ich dir Sir Stephens Neigungen. -
"Forderungen", korrigierte Sir Stephen. Das Schwerste, sagte
sich O, war nicht, einzuwilligen, und sie wußte, daß keinem der
beiden, so wenig wie ihr selbst, auch nur eine Sekunde der
Gedanke kam, sie könne sich weigern. Das Schwerste war,
überhaupt zu sprechen. Ihre Lippen brannten und ihr Mund war
trocken, ohne Speichel, ein Gefühl aus Furcht und Verlangen
schnürte ihr die Kehle zu und ihre Hände, die sie jetzt wieder
spürte, waren kalt und feucht. Hätte sie wenigstens die Augen
schließen dürfen! Aber nein. Zwei Blicke, denen sie sich nicht
entziehen konnte - gar nicht entziehen wollte - hielten den ihren
fest. Sie führten O wieder hin zu dem, was sie glaubte, für lange
Zeit, vielleicht für immer in Roissy gelassen zu haben. Denn seit
ihrer Rückkehr hatte René sich auf die bloße Berührung ihres
Körpers beschränkt und niemand hatte von dem Recht Gebrauch
gemacht, das ihr Ring, Symbol der Hörigkeit, jedem einräumte,
der sein Geheimnis kannte. Entweder war sie mit niemandem
zusammengekommen, der es gekannt hatte oder die
betreffenden hatten geschwiegen - als einzigen Menschen
verdächtigte sie Jacqueline (aber wenn Jacqueline in Roissy
gewesen war, warum trug dann nicht auch sie den Ring? Zudem,
würde Jacqueline als Eingeweihte irgendein Recht über O
haben, das O nicht auch über Jacqueline hätte?). Würde Sie
sprechen können, wenn sie sich bewegte? Aber sie konnte sich
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nicht aus eigenem Antrieb bewegen - ein Befehl hätte sie sofort
auf die Beine gebracht, doch diesmal sollte sie nicht einem
Befehl gehorchen, sie sollte allen Befehlen zuvorkommen, sich
selbst zur Sklavin machen, sich sklavisch ausliefern. Das
nannten sie ihr Einverständnis. Sie erinnerte sich, zu René nie
etwas anderes gesagt zu haben als "ich liebe dich" und "ich
gehöre dir". Anscheinend sollte sie heute sprechen, sollte in
allen Einzelheiten und ausdrücklich akzeptieren, was sie bisher
einzig durch ihr Schweigen akzeptiert hatte. Endlich richtete sie
sich auf, öffnete die obersten Schließen ihrer Tunika bis zum
Ansatz der Brüste, als ob das, was sie zu sagen hatte, sie
erstickte. Dann stand sie ganz auf. Ihre Knie und Hände
zitterten. "Ich gehöre dir, sagte sie schließlich zu René, ich
werde sein, was du willst, das ich sein soll. - Nein, sagte er: uns;
sprich mir nach: ich gehöre euch, ich werde sein, was ihr wollt,
daß ich sein soll." Sir Stephens harte graue Augen ließen sie
nicht los, sowenig wie Renés Augen, in denen sie sich verlor,
während sie langsam die Sätze nachsprach, die er ihr vorsagte,
und dabei das ganze, wie bei einer Grammatikübung, in die erste
Person übertrug. "Du erkennst mir und Sir Stephen das Recht
zu..." sagte René und O wiederholte so klar sie konnte: "Ich
erkenne dir und Sir Stephen das Recht zu..." Das Recht, über
ihren Körper zu verfügen, wo immer und wie immer sie wollten,
das Recht, sie wie eine Sklavin auszupeitschen für das geringste
Vergehen oder zu ihrem Vergnügen, das Recht, Flehen und
Schreie, falls man sie zum Schreien brächte, nicht zu beachten.
"Sir Stephen wünscht, sagte René, daß ich dich ihm übereigne,
daß du selbst dich ihm übereignest und daß ich dir seine
Forderungen im einzelnen darlege." O hörte ihrem Geliebten zu
und die Worte, die er zu ihr in Roissy gesprochen hatte, kamen
ihr wieder ins Gedächtnis: es waren fast die gleichen gewesen.
Aber als sie damals diesen Worten gelauscht hatte, war sie an
ihn gepreßt gewesen, geschützt von einer Unwahrscheinlichkeit,
die an Traum grenzte, von dem Gefühl, daß sie in einer anderen
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Existenz lebte, daß sie vielleicht überhaupt nicht lebte. Traum
oder Alptraum, Kerkerszenerie, Galagewänder, maskierte
Personen, alles distanzierte sie von ihrem eigenen Leben, sogar
die Zeit war aufgehoben. Sie fühlte sich dort, wie man sich in
der Nacht fühlt, mitten in einem Traum, den man wiedererkennt
und der immer wiederkehrt: überzeugt, daß er existiert und
überzeugt, daß er enden wird, und man sehnt dieses Ende herbei
aus Furcht, ihn nicht länger ertragen zu können und wünscht
zugleich, daß er weitergehe, um die Lösung zu erfahren. Nun
war die Lösung erfolgt, die sie nicht mehr erwartet hatte in einer
Form, die sie am wenigstens erwartet hätte (vorausgesetzt, so
sagte sie sich jetzt, daß dies wirklich die Lösung war, daß sich
nicht eine andere dahinter verbarg und vielleicht eine dritte
hinter dieser nächsten). Diese Lösung bedeutete, daß sie aus der
Erinnerung in die Gegenwart stürzte, bedeutete auch, daß alles
das, was nur in einem geschlossenen Kreis, in einem
geschlossenen Universum Wirklichkeit besessen hatte, nun
plötzlich auf alle Zufälle und Gewohnheiten ihres täglichen
Lebens übergreifen würde, sich an ihr und in ihr nicht mehr mit
Symbolen begnügen - die nackten Lenden, die Mieder zum
Aufhaken, den Eisenring - sondern Erfüllung fordern würde.
Sicher, René hatte sie nie geschlagen und der Unterschied
zwischen der Zeit vor Roissy und der Zeit nach ihrer Rückkehr
hatte nur darin bestanden, daß er jetzt nicht wie vorher nur in
ihren Schoß, sondern auch in ihren Mund eindrang. Sie hatte in
Roissy nie erfahren, ob die Peitschenhiebe, die sie so regelmäßig
erhielt, auch nur ein einziges Mal von ihm verabreicht worden
waren (als sie sich die Frage stellen konnte, als sie selbst und
alle Beteiligten maskiert gewesen waren), aber sie glaubte es
nicht. Sicher war sein Genuß beim Anblick ihres gefesselten und
ausgelieferten Körpers, der sich vergeblich wand, bei ihren
Schreien, so stark, daß er den Gedanken nicht ertrug, sich durch
eine aktive Teilnahme von diesem Genuß ablenken zu lassen. Ja,
er bestätigte es jetzt, als er, ohne sich aus dem tiefen Sessel zu
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rühren, in dem er mit gekreuzten Beinen mehr lag als saß, ihr so
sanft, so zärtlich sagte, wie sehr es ihn beglücke, sie Sir
Stephens Wünschen und Befehlen auszuliefern, daß sie selbst
sich ihnen ausliefere. Sollte Sir Stephen wünschen, daß sie die
Nacht bei ihm verbringe oder auch nur eine Stunde, daß sie ihn
außerhalb von Paris begleite oder in Paris mit ihm ein
Restaurant oder Theater besuche, dann werde er sie anrufen oder
ihr seinen Wagen schicken - sofern René nicht selbst sie abholen
käme. Heute, jetzt, sei es an ihr zu sprechen. War sie
einverstanden? Aber sie konnte nicht sprechen. Dieser Wille,
den sie plötzlich äußern sollte, war der Wille zur Selbstaufgabe,
das Ja zu allem, wozu sie zwar ja sagen wollte, wozu ihr Körper
jedoch nein sagte, zumindest was die Peitsche anging. Denn was
das übrige anging, so wollte sie ehrlich gegen sich selbst sein:
das Verlangen, das sie in Sir Stephens Augen las, verwirrte sie
in einem Maß, daß keine Selbsttäuschung zuließ und obgleich
sie zitterte, vielleicht gerade weil sie zitterte, wußte sie, daß sie
die Berührung seiner Hände oder seiner Lippen mit größerer
Ungeduld erwartete, als er. Zweifellos lag es an ihr, diese
Erwartung zu verkürzen. So sehr sie es sich wünschte und allen
Mut zusammenahm, verließen sie doch die Kräfte. Als sie
endlich antworten wollte, sank sie zu Boden und ihr weiter Rock
entfaltete sich rings um sie. Sir Stephen bemerkte mit gepreßter
Stimme, daß auch die Furcht ihr gut stehe. Er wandte sich nicht
an sie, sondern an René. O hatte den Eindruck, daß er auf sie
zugehen wollte, sich aber mit Gewalt zurückhielt. Sie sah ihn
jedoch nicht an, ließ René nicht aus den Augen aus Furcht, er
könnte in den ihren lesen, was er vielleicht als Verrat betrachte.
Dabei war es kein Verrat, denn vor die Wahl gestellt zwischen
dem Begehren, Sir Stephen zu gehören und ihrer Zugehörigkeit
zu René hätte sie keinen Augenblick gezögert. Sie hatte sich
diesem Begehren nur überlassen, weil René es ihr erlaubt, bis zu
einem gewissen Grad sogar zu verstehen gegeben hatte, daß er
es von ihr fordere. Dennoch zweifelte sie, ob ein allzu schneller
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und allzu gefügiger Gehorsam ihn nicht doch kränken würde.
Das geringste Zeichen von ihm hätte diesen Zweifel getilgt.
Aber es gab kein Zeichen, er beschränkte sich darauf, zum
dritten Mal eine Antwort von ihr zu fordern. Sie stammelte: "Ich
füge mich allem, was ihr wollt." Senkte den Blick auf ihre
Hände, die in ihren Kniekehlen ruhten, gestand dann flüsternd:
"Ich möchte wissen, ob ich gepeitscht werde..." In dem langen
Schweigen, das darauf folgte, konnte sie ihre Frage zwanzigmal
bereuen. Schließlich sagte Sir Stephens Stimme langsam:
"Manchmal." O hörte dann, wie ein Streichholz angerissen und
Gläser aneinandergestoßen wurden: sicher goß einer der beiden
Männer sich Whisky nach. René kam O nicht zu Hilfe. René
schwieg. "Selbst wenn ich jetzt einwillige, murmelte sie, selbst
wenn ich es jetzt verspreche, ich könnte es nicht ertragen. - Sie
sollen es nur hinnehmen und sich damit abfinden, daß Ihre
Schreie und Klagen vergeblich sein werden", fuhr Sir Stephen
fort. - "Oh, bitte, sagte O, jetzt no ch nicht", denn Sir Stephen
stand auf. Auch René stand auf, neigte sich zu ihr, nahm sie an
den Schultern. "Antworte, sagte er, bist du einverstanden?"
Endlich sagte sie ja. Er zog sie sanft in die Höhe, setzte sich auf
das Sofa und ließ sie neben sich knien; vor das Sofa, auf das sie
Oberkörper und Kopf legte, mit gebreiteten Armen und
geschlossenen Augen. Ein Bild kam ihr in den Sinn, das sie vor
einigen Jahren gesehen hatte, ein Kupferstich, der eine Frau
zeigte, die vor einem Stuhl kniete, in einem gekachelten
Zimmer, wo ein Kind und ein Hund in einer Ecke spielten; sie
hatte die Röcke geschürzt und neben ihr stand ein Mann, der ein
Bündel Ruten schwang. Alle Personen waren nach der Mode des
ausgehenden 17. Jahrhunderts gekleidet und der Stich trug einen
Titel, der ihr abstoßend erschienen war: die häusliche
Züchtigung. René preßte ihr mit einer Hand beide Armgelenke
zusammen, während er mit der anderen ihren Rock hob, so
hoch, daß sie spürte, wie die plissierte Gaze über ihre Wangen
streifte. Er strich ihr über die Lenden und machte Sir Stephen
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auf die beiden Grübchen aufmerksam und auf die zarte Kerbe
zwischen ihren Schenkeln. Dann preßte er ihr die gleiche Hand
in Taillenhöhe in den Rücken, um die Lenden besser
hervortreten zu lassen und befahl ihr, die Knie weiter zu öffnen.
Sie gehorchte stumm. Die Art, wie René ihren Körper anpries,
die Antworten Sir Stephens, die Brutalität der Ausdrücke, die
beide Männer gebrauchten, lösten in ihr ein so heftiges und
unerwartetes Gefühl der Scham aus, daß der Wunsch, Sir
Stephen zu gehören, erlosch und sie die Peitsche ersehnte wie
eine Erlösung, den Schmerz und die Schreie wie eine
Rechtfertigung. Aber Sir Stephens Hände öffneten ihren Leib,
zwängten sich zwischen ihre Lenden, ließen ab, packten wieder
zu, immer wieder, bis sie stöhnte, beschämt über ihr Stöhnen
und vernichtet. "Ich überlasse dich Sir Stephen, sagte René,
bleib, wie du bist, er wird dich wegschicken, wann es ihm paßt."
Wie oft war sie in Roissy auf den Knien gelegen, jedem
ausgeliefert; aber damals hatten immer Armreife ihre Hände
gefesselt, glückliche Gefangene, die man zu allem zwang, die
man um nichts bat. Hier dagegen war sie aus freiem Willen
halbnackt, wo doch eine einzige Bewegung, die gleiche, die zum
Aufstehen genügt hätte, auch genügt hätte, sie zu bedecken. Ihr
Versprechen band sie genauso, wie die Lederfesseln und Ketten.
War es nur ihr Versprechen? War es nicht, bei aller Demütigung
oder gerade wegen dieser Demütigung, auch ein süßes Gefühl,
nur zu gelten, weil sie sich erniedrigte, sich willig beugte, sich
willig öffnete? René war, von Sir Stephen zur Tür begleitet,
weggegangen; sie wartete also allein und reglos, fühlte sich in
ihrer Einsamkeit noch ausgesetzter und in der Erwartung noch
dirnenhafter, als im Beisein der Männer. Die graugelbe Seide
des Sofas war glatt unter ihrer Wange, durch das Nylon ihrer
Strümpfe spürte sie den hochflorigen Teppich und an ihrem
linken Schenkel die Wärme des Kaminfeuers, auf das Sir
Stephen noch drei Scheite gelegt hatte, die prasselnd flammten.
Eine alte Wanduhr über einer Kommode tickte so leis, daß man
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sie nur hören konnte, wenn alles still war. O lauschte ihr
aufmerksam und dachte dabei, wie absurd es sei, in diesem
kultivierten und diskreten Salon in ihrer jetzigen Stellung zu
verharren. Durch die ge schlossenen Vorhänge hörte man das
schläfrige Brummen des mitternächtlichen Paris. Würde sie
morgen bei Tag den Platz wiedererkennen, wo ihr Kopf auf dem
Sofakissen gelegen war? Würde sie jemals am hellen Tag
wieder in diesen Salon kommen und in der gleichen Weise
behandelt werden? Sir Stephen blieb lange aus und O, die sich
mit solcher Gelassenheit für die Lust der Unbekannten von
Roissy bereitgehalten hatte, wurde bei dem Gedanken, daß er in
einer Minute, in zehn Minuten die Hände auf sie legen würde,
die Kehle eng. Aber es kam nicht ganz so, wie sie erwartet hatte.
Sie hörte, wie Sir Stephen die Tür wieder öffnete, durchs
Zimmer ging. Er blieb einige Zeit mit dem Rücken zum Feuer
stehen, sah O an und befahl ihr dann mit sehr leiser Stimme,
aufzustehen und sich wieder zu setzen. Überrascht und fast
betreten gehorchte sie. Er brachte ihr höflich ein Glas Whisky
und eine Zigarette, die sie ebenfalls ablehnte. Sie sah jetzt, daß
er einen Morgenrock trug, einen sehr streng geschnittenen
Mantel aus grauem Wollstoff, vom gleichen Grau wie sein Haar.
Seine Hände waren lang und knochig, die Nägel flach, kurz
geschnitten, sehr weiß. Er fing Os Blick auf und sie errötete:
diese harten und hartnäckigen Hände, die von ihrem Körper
Besitz ergriffen hatten, fürchtete und ersehnte sie jetzt. Aber er
kam nicht näher. "Ich möchte, daß Sie sich ganz ausziehen,
sagte er. Aber zuerst legen Sie nur die Jacke ab, nicht
aufstehen." O löste die großen, vergoldeten Schließen, streifte
das knappe Jäckchen von den Schultern und legte es ans andere
Sofaende zu ihrem Pelz, ihren Handschuhen und ihrer Tasche.
"Streicheln Sie die Spitzen ihrer Brüste", sagte Sir Stephen und
fügte hinzu: "Sie müssen eine dunklere Schminke auflegen, die
Ihre ist zu hell." Verblüfft strich O mit den Fingerspit zen über
ihre Brustwarzen, die hart wurden und sich aufrichteten und
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wölbte dann ihre Hände darüber. "Ah! nein", sagte Sir Stephen.
Sie zog die Hände zurück und ließ sich gegen die Rückenlehne
des Sofas sinken: ihre Brüste waren schwer für den schmalen
Oberkörper und spreizten sich sanft zu den Achseln hin. Ihr
Nacken ruhte auf der Lehne, ihre Hände lagen rechts und links
von ihr. Warum neigte Sir Stephen nicht den Mund über sie,
streckte nicht die Hand nach den Spitzen aus, von denen er
gewünscht hatte, daß sie sich aufrichteten und die O nun, so
reglos sie auch verharrte, bei jedem Atemzug erzittern fühlte.
Aber er war näher gekommen, saß schräg auf der Armlehne des
Sofas, rührte sie jedoch nicht an. Er rauchte, und mit einer
Handbewegung, von der O nicht zu sagen vermocht hätte, ob sie
absichtlich war oder nicht, stäubte er ein wenig fast glühende
Asche zwischen ihre Brüste. Sie hatte das Gefühl, daß er sie
beleidigen wollte durch seine Verachtung, durch sein
Schweigen, durch die Nonchalance seiner Haltung. Und doch
hatte er sie vorhin begehrt, begehrte er sie jetzt noch, sie sah,
wie er sich spannte unter dem weichen Stoff seines
Morgenrocks. Warum nahm er sie nicht und wäre es auch nur,
um sie zu verletzen? O haßte sich wegen ihres eigenen
Begehrens und haßte Sir Stephen wegen seiner
Selbstbeherrschung. Sie wollte, daß er sie liebte, das war die
Wahrheit; daß er darauf brannte, ihre Lippen zu berühren und
ihren Leib zu durchdringen, daß er sie, wenn nötig, verwüstete,
aber daß er ihr gegenüber nicht seine Ruhe bewahren könne,
seine Lust beherrschen. In Roissy war es ihr gleichgültig
gewesen, ob die Männer, die sich ihrer bedienten, irgendein
Gefühl für sie aufbrachten: sie waren die Instrumente, durch die
ihr Geliebter Lust an ihr empfand, durch die sie wurde, wie er
sie haben wollte, glatt poliert wie ein Kiesel. Die Hände dieser
Männer waren seine Hände, ihre Befehle waren seine Befehle.
Hier nicht. René hatte sie Sir Stephen übergeben, aber es war
klar, daß er sie mit ihm teilen wollte, nicht um selbst me hr von
ihr zu haben, sondern um mit Sir Stephen das zu teilen, was er
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heute am meisten liebte, so wie die beiden zweifellos in ihrer
Jugend eine Reise geteilt hatten, ein Schiff, ein Pferd. Sie selbst
war bei dieser Teilung weniger im Spiel, als Sir Stephe n, jeder
würde in ihr das Zeichen des anderen suchen, die Spur, die der
andere zurückgelassen hatte. Vorhin, als sie halbnackt vor ihm
gekniet war und Sir Stephen mit beiden Händen ihre Schenkel
geöffnet hatte, hatte René Sir Stephen erklärt, warum Os Lenden
so bequem waren und wie froh er sei, daß man sie so vorbereitet
hatte; er wisse ja, wie angenehm es Sir Stephen sei, über diesen,
von ihm bevorzugten Weg beliebig verfügen zu können. Er hatte
hinzugefügt, wenn Sir Stephen das wünsche, werde er ihm die
alleinige Benutzung überlassen. "Ah! gern", hatte Sir Stephen
gesagt, aber hinzugefügt, daß er O wohl trotz allem verwunden
würde. "O gehört Ihnen, hatte René geantwortet, O wird
glücklich sein, von Ihnen verwundet zu werden." Und er hatte
sich über sie gebeugt und ihre Hände geküßt. Schon der
Gedanke, daß René auf einen Teil ihres Körpers verzichten
könnte, hatte O in Bestürzung versetzt. Es bedeutete für sie, daß
ihrem Geliebten an Sir Stephen mehr lag, als an ihr. Er hatte ihr
immer wieder gesagt, daß er in ihr das Objekt liebe, zu dem er
sie gemacht hatte, die absolute Verfügungsgewalt über sie, die
Freiheit, mit der er über sie bestimmen konnte, wie man über ein
Möbel bestimmt, das man zuweilen ebensogern oder noch lieber
verschenkt, wie für sich behält. Dennoch spürte sie jetzt, daß sie
ihm nie ganz geglaubt hatte. Für das, was man kaum anders als
Unterwürfigkeit gegenüber Sir Stephen nennen konnte, sah sie
noch einen weiteren Beweis in dem Umstand, daß René, der sie
so leidenschaftlich gern den Körpern und den Schlägen anderer
ausgesetzt sah, der mit so beharrlicher Zärtlichkeit, mit so
unerschöpflicher Dankbarkeit beobachtete, wie ihr Mund sich
öffnete, um zu stöhnen oder zu schreien, wie ihre Augen sich
über Tränen schlossen, daß dieser gleiche René fortgegangen
war, nachdem er sie Sir Stephen zur Ansicht präsentiert, sie
geöffnet hatte, wie man einem Gaul das Maul öffnet, zum
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Beweis, daß er noch jung ist, weil er sicher sein wollte, daß Sir
Stephen sie hinlänglich schön oder doch hinlänglich bequem
fand, um sie gnädigst zu akzeptieren. Dieses vielleicht
kränkende Verhalten änderte nichts an Os Liebe zu René. Sie
war glücklich, ihm so viel zu bedeuten, daß es ihm Freude
machte, sie zu kränken, so wie die Gläubigen Gott dafür danken,
daß er sie erniedrigt. Aber in Sir Stephen ahnte sie einen festen
und eisigen Willen, den das Verlangen nicht beugen würde und
dem sie, so rührend und fügsam sie auch sein mochte, nicht das
geringste bedeutete. Warum hätte sie sonst so große Furcht
empfunden? Die Peitsche am Gürtel der Knechte in Roissy, die
Ketten, die sie fast ständig tragen mußte, waren ihr nicht so
schrecklich erschienen, wie der ruhige Blick, den Sir Stephen
auf ihre Brüste heftete, ohne sie zu berühren. Sie wußte, daß die
zarten Schultern, der schmale Leib, ihre glatte und gespannte
Fülle besonders zerbrechlich erscheinen ließen. Sie konnte nicht
verhindern, daß sie zitterten, sie hätte zu atmen aufhören
müssen. Die Hoffnung, daß Sir Stephen so viel Zerbrechlichkeit
rühren würde, war eitel, sie wußte genau, daß das Gegenteil der
Fall war: ihre wehrlose Sanftheit war eine Herausforderung an
die Zärtlichkeit, aber auch an die Grausamkeit, an die Lippen,
aber auch an die Nägel. Einen Augenblick lang gab sie sich
einer Illusion hin: Sir Stephens rechte Hand, die seine Zigarette
hielt, streifte mit dem Mittelfinger ihre Brustspitze, die
gehorchte und noch steifer wurde. O bezweifelte nicht, daß dies
für Sir Stephen eine Art Spiel war, weiter nichts, oder ein Test,
wie man die Güte und das einwandfreie Funktionieren einer
Maschine testet. Ohne von der Lehne seines Sessels aufzustehen
befahl Sir Stephen ihr, den Rock auszuziehen. Os feuchte Hände
glitten an dem Verschluß ab und sie mußte mehrmals versuchen,
nach ihrem Rock den Unterrock aus schwarzem Taft
aufzuhaken. Als sie ganz nackt war - die hochhackigen
Lacksandalen und die schwarzen, bis zum Knie
heruntergerollten Nylonstrümpfe betonten noch die Schlankheit
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ihrer Beine und die Weiße ihrer Schenkel - griff Sir Stephen, der
ebenfalls aufgestanden war, mit einer Hand in ihren Schoß und
schob sie vor das Sofa. Er ließ sie mit dem Rücken zum Sofa
hinknien und befahl ihr, die Schenkel leicht zu öffnen, die
Schultern anzulehnen, nicht die Taille. Ihre Hände lagen um die
Fußgelenke, ihr Schoß war halb geöffnet und über den noch
immer drängenden Brüsten war ihr Hals nach hinten gebogen.
Sie wagte nicht, Sir Stephen ins Gesicht zu schauen, bemerkte
aber, wie seine Hände den Gürtel des Schlafrocks lösten. Er
spreizte die Beine, so daß O zwischen ihnen kniete, ergriff ihren
Nacken und drang in ihren Mund ein. Er suchte nicht die
entlanggleitende Berührung ihrer Lippen, sondern stieß auf den
Grund ihrer Kehle vor. O fühlte, wie dieser Knebel aus Fleisch,
der sie erstickte und dessen langsame und stete Bewegung ihr
Tränen in die Augen trieb, in ihr anschwoll und hart wurde. Um
besser in sie eindringen zu können, hatte Sir Stephen sich
schließlich so auf das Sofa gekniet, daß ihr Gesicht zwischen
seinen Schenkeln war und seine Lenden manchmal Os Brüste
berührten, die spürte, wie ihr unnützer und verschmähter Schoß
sie verbrannte. So lange Sir Stephen auch in ihr blieb, er genoß
seine Lust nicht bis zum Ende, sondern zog sich schweigend aus
ihr zurück und stand auf, ohne den Morgenrock wieder zu
schließen. "Sie sind lüstern, O, sagte er zu ihr. Sie lieben René,
aber Sie sind lüstern. Ist René sich darüber klar, daß Sie allen
Männern gehören wollen, die Sie begehren und daß René, wenn
er Sie nach Roissy schickt oder anderen ausliefert, Ihnen nur
Alibis für Ihre eigene Lüsternheit verschafft? - Ich liebe René,
erwiderte O. - Sie lieben René, aber sie wollen mir gehören,
unter anderen", fuhr Sir Stephen fort. Ja, sie wollte ihm gehören.
Wie aber, wenn René, falls er es erführe, sich ändern würde? Sie
konnte nichts anderes tun als schweigen, die Augen senken,
allein ein Blick in Sir Stephens Augen wäre einem Geständnis
gleichgekommen. Jetzt neigte Sir Stephen sich zu ihr hinunter,
ergriff ihre Schultern und ließ O auf den Teppich gleiten. Sie lag
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auf dem Rücken mit hochgezogenen Beinen. Sir Stephen, der
sich aufs Sofa gesetzt hatte, dorthin, wo sie noch vor einem
Augenblick gelehnt war, packte ihr rechtes Knie und zog es zu
sich heran. Da sie dem Kamin zugekehrt lag, beleuchtete das
nahe Feuer grell die doppelte, klaffende Spalte ihres Schoßes
und ihrer Lenden. Ohne sie loszulassen befahl Sir Stephen ihr
abrupt, sie solle sich selbst berühren, aber dabei die Schenkel
nicht wieder schließen. In ihrer Verblüffung streckte sie
gehorsam die rechte Hand nach ihrem Schoß aus und ihre Finger
berührten den bereits brennenden, von seinem schützenden
Vlies entblößten Fleischkamm, wo die zarten Lippen ihres
Leibes sich trafen. Doch dann fiel ihre Hand zurück und sie
stammelte: "Ich kann nicht." Sie konnte wirklich nicht. Sie hatte
sich immer nur verstohlen in der Wärme und Dunkelheit ihres
Bettes berührt, wenn sie allein schlief, ohne jemals dabei die
letzte Befriedigung zu suchen. Sie fand sie zuweilen später im
Traum und erwachte enttäuscht darüber, wie heftig und flüchtig
zugleich sie gewesen war. Sir Stephens Blick ließ sie nicht los.
Sie konnte ihn nicht ertragen, sagte nur immer wieder "ich kann
nicht" und schloß die Augen. Mit quälender Hartnäckigkeit
erschien vor ihr ein Bild, das ihr noch immer Schwindel und
Ekel verursachte, das Bild der fünfzehnjährigen Marion, die im
Lederfauteuil eines Hotelzimmers lag, ein Bein über der
Stuhllehne und den Kopf halb über die andere Lehne hängend.
Marion, die sich selbst reizte und dabei stöhnte. Sie hatte ihr
erzählt, daß sie das einmal im Büro getan habe, als sie sich
allein glaubte und daß der Chef unversehens hereingekommen
war und sie überraschte. O erinnerte sich an dieses Büro, ein
kahles Zimmer mit hellgrünen Wänden, das von Norden durch
staubige Fenster das Tageslicht erhielt. Vor dem Schreibtisch
stand ein Besuchersessel. "Bist du weggelaufen? hatte O gefragt.
- Nein, hatte Marion geantwortet, er hat mich aufgefordert, es
nochmals zu tun, zuvor hatte er die Tür abgeschlossen, mir
befohlen, meinen Slip auszuziehen und den Sessel ans Fenster
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gerückt." O war voller Bewunderung gewesen für das, was sie
Marions Mut nannte, und voll Abscheu, und sie hatte energisch
abgelehnt, sich vor Marion zu berühren und geschworen, daß sie
das nie, niemals vor den Augen eines anderen tun würde.
Marion hatte gelacht und gesagt: "Warte nur, bis dein Geliebter
es von dir verlangt." Hätte sie gehorcht? Bestimmt, aber mit
welcher Angst, in Renés Augen den gleichen Abscheu erwachen
zu sehen, den sie vor Marion empfunden hatte. Was absurd war.
Und bei Sir Stephen war es noch absurder, denn was machte sie
sich aus dem Abscheu Sir Stephens? Nein, sie konnte einfach
nicht. Zum dritten Mal flüsterte sie: "Ich kann nicht." So leis sie
es sagte, er hörte es, ließ sie los, stand auf, schloß seinen
Morgenrock und befahl O, aufzustehen. "Ist das Ihr Gehorsam?"
sagte er. Dann packte er mit der linken Hand ihre beiden
Armgelenke, mit der rechten ohrfeigte er sie aus Leibeskräften.
Sie schwankte und wäre gefallen, wenn er sie nicht gehalten
hätte. "Knien Sie nieder, sagte er; und dann: ich fürchte, René
hat Sie sehr schlecht erzogen." - "Ich habe René immer
gehorcht, stammelte sie. - Sie verwechseln Liebe mit Gehorsam.
Mir werden Sie gehorchen ohne mich zu lieben und ohne daß
ich Sie liebe." Während sie zuhörte wurde sie von einer
ungewohnten Auflehnung erfaßt, sie verleugnete insgeheim die
Worte, die sie gehört hatte, sie verleugnete das Versprechen des
absoluten Gehorsams und der sklavischen Unterwerfung, sie
verleugnete ihre eigenes Einverständnis, ihr eigenes Begehren,
ihre Nacktheit, ihren Schweiß, ihre zitternden Beine, die Ringe
unter ihren Augen. Sie biß vor Wut die Zähne zusammen und
wehrte sich, als er sie zwang, sich nach vorn zu beugen, sich
hinzulegen, die Ellbogen am Boden und den Kopf zwischen den
Armen, als er sie an den Hüften hochhob und mit Gewalt in ihre
Lenden eindrang, um sie zu verwunden, wie René gesagt hatte,
dass er sie nie verwunden würde. Beim ersten Mal schrie sie
nicht. Er stieß wieder zu, brutaler, und sie schrie. Und sooft er
sich zurückzog, dann wieder eindrang, ihr eine neue Wunde
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schlug, schrie sie. Sie schrie aus Auflehnung, nicht nur aus
Schmerz, darüber war er sich klar. Auch sie wußte - und darum
war sie auf alle Fälle die Besiegte - daß es ihm Freude machte,
sie zum Schreien zu zwingen. Als er fertig war und ihr befohlen
hatte, wieder aufzustehen, erklärte er ihr, alles, was er in sie
ergossen habe, werde langsam wieder aus ihr ausfließen, gefärbt
vom Blut der Verletzung, die er ihr zugefügt habe, daß diese
Wunde nicht heilen werde, solang ihre Lenden nicht fü r ihn
bereit wären und daß er sich weiterhin den Zugang mit Gewalt
erzwingen wolle. Er habe nicht die Absicht, auf den Weg zu
verzichten, dessen Benutzung René ihm allein zugestanden
habe, sie brauche sich keiner Hoffnung auf Schonung
hinzugeben. Er erinne rte sie daran, daß sie selbst sich
einverstanden erklärt habe, Renés und seine Sklavin zu sein; er
halte es jedoch für wenig wahrscheinlich, daß sie, bei aller
Kenntnis der Sachlage, wisse, worauf sie sich eingelassen habe.
Wenn sie es begriffen habe, werde es für eine Flucht zu spät
sein. O hörte ihm zu und sagte sich, wenn sie sich lange genug
widersetzte, würde es vielleicht auch für ihn zu spät sein, würde
er für sein Werk entflammen und sie ein bißchen lieben. Denn
ihr ganzer innerer Widerstand und die zaghafte Weigerung, die
sie zu äußern wagte, hatten nur einen Grund: sie wollte für Sir
Stephen genauso viel bedeuten wie für René, er sollte für sie
mehr als nur physisches Verlangen empfinden. Nicht, daß sie in
ihn verliebt gewesen wäre, aber sie sah sehr wohl, daß René Sir
Stephen mit der ganzen Hingabe eines Knaben an einen Älteren
liebte, und sie fühlte, daß er bereit wäre, Sir Stephen zuliebe so
viel von ihr zu opfern, wie dieser verlangen würde, sie wußte
mit sicherem Instinkt, daß Renés Haltung ihr gegenüber die
Kopie von Sir Stephens Haltung darstellen würde. Sollte Sir
Stephen sie verachten, so würde René, trotz der Liebe, die er für
sie empfand, von dieser Verachtung angesteckt werden,
während er nie daran gedacht hätte, sich von der Haltung der
Männer in Roissy beeinflussen zu lassen. Denn in Roissy war er
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ihr gegenüber der Gebieter gewesen und die Haltung der
Männer, denen er sie ausgeliefert hatte, hing von der seinen ab.
Hier aber war er nicht mehr der Gebieter, im Gegenteil. Sir
Stephen war Renés Gebieter, ohne daß René sich dessen klar
bewußt war, das heißt, René bewunderte ihn und wollte ihn
nachahmen, mit ihm wetteifern, und deshalb teilte er alles mit
ihm, deshalb hatte er ihm O ausgeliefert: dieses Mal war sie
ausgeliefert in des Wortes voller Bedeutung. René würde sie
ohne Zweifel auch weiterhin lieben, in dem Maß, wie Sir
Stephen sie liebenswert finden, sie lieben würde. Es war klar,
daß Sir Stephen von nun an ihr Gebieter sein würde und zwar,
was auch immer René glauben mochte, ihr einziger Gebieter,
und ihr Verhältnis würde das Verhältnis zwischen Herrn und
Sklavin sein. Sie erwartete kein Mitleid, aber konnte sie nicht
hoffen, ihm ein bißchen Liebe abzuzwingen? Sir Stephen ruhte
in halb liegender Stellung in seinem großen Sessel am Kamin,
wie vor Renés Weggang, O hatte er nackt dastehen lassen und
ihr befohlen, seine Anweisungen zu erwarten. Sie hatte wortlos
gewartet. Dann war er aufgestanden und hatte ihr befohlen, ihm
zu folgen. Noch immer nackt, nur mit den hochhackigen
Sandaletten und Strümpfen bekleidet, war sie hinter ihm die
Treppe von der Diele im Erdgeschoß zum ersten Stock
hinaufgestiegen und in ein kleines Schlafzimmer gekommen, so
klein, daß nichts darin Platz hatte als ein Bett in einer Ecke, eine
Frisierkommode und ein Stuhl zwischen Bett und Fenster.
Dieses kleine Zimmer führte zu einem größeren, das Sir
Stephens Schlafzimmer war, beide hatten ein gemeinsames
Badezimmer. O wusch und trocknete sich - das Handtuch färbte
sich ein wenig rot - zog Sandaletten und Strümpfe aus und legte
sich zwischen die kühlen Laken. Die Vorhänge waren nicht
zugezogen, aber es war dunkle Nacht. Eh er die Verbindungstür
schloß, trat Sir Stephen zu O und küßte ihr die Fingerspitzen,
wie in der Bar, als sie von ihrem Hocker gestiegen war und er
ihr das Kompliment wegen ihres Eisenringes gemacht hatte. Er,
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dessen Hände und Geschlecht in sie eingedrungen waren und
ihre Lenden und ihren Mund verwüstet hatten, wollte mit seinen
Lippen nur die Spitzen ihrer Finger berühren. O weinte und
schlief beim Morgengrauen ein.
Am nächsten Tag, kurz vor Mittag, hatte Sir Stephens
Chauffeur O nachhause gebracht. Sie war um zehn Uhr
aufgewacht, eine alte Mulattin hatte ihr eine Tasse Kaffee
serviert, ein Bad bereitet und ihre Kleider gebracht, bis auf
Pelzjacke, Handschuhe und Tasche, die sie auf dem Sofa im
Salon fand, als sie hinunterkam. Der Salon war leer, Gardinen
und Jalousien waren geöffnet. Vom Sofa aus sah man in einen
Garten, der eng und grün war wie ein Aquarium, nur mit Efeu,
Stechpalmen und Spindelbäumen bepflanzt. Als sie ihren Pelz
anzog, hatte die Mulattin ihr gesagt, daß Sir Stephen
ausgegangen sei und hatte ihr einen Brief überreicht, dessen
Umschlag nur eine Initiale aufwies, die ihre; das weiße Blatt
trug zwei Zeilen: "René hat angerufen, er wird Sie um sechs Uhr
im Atelier abholen", darunter als Unterschrift ein S, und ein
Postskriptum "Die Reitpeitsche ist für Ihren nächsten Besuch".
O blickte um sich: auf dem Tisch zwischen den beiden Sesseln,
auf denen am Vorabend Sir Stephen und René gesessen waren,
lag neben einer Schale mit gelben Rosen eine sehr lange und
schlanke lederne Reitpeitsche. Die Dienerin erwartete sie an der
Tür. O steckte den Brief in ihre Handtasche und verließ das
Haus.
René hatte also Sir Stephen angerufen, nicht sie. Zuhause zog
sie sich aus und aß im Morgenrock zu Mittag, danach hatte sie
noch Zeit, in Ruhe ihr Make up und ihre Frisur zu erneuern und
sich für das Atelier anzukleiden, wo sie um drei Uhr sein mußte:
das Telephon klingelte nicht, René rief sie nicht an. Warum?
Was hatte Sir Stephen ihm gesagt? Was hatte die beiden über sie
gesprochen? O entsann sich der Worte, die sie zur Schilderung
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der Vorzüge ihres Körpers im Hinblick auf ihre eigenen
physischen Neigungen verwendet hatten. Vielleicht war ihr im
Englischen das einschlägige Vokabular ungewohnt, aber die
einzigen französischen Ausdrücke, die ihr entsprechend
schienen, waren von einer unerhörten Gemeinheit. Nun, sie war
durch genauso viele Hände gegangen, wie die Dirnen in den
Bordellen, warum sollte man sie anders behandeln? "Ich liebe
dich, René, ich liebe dich, wiederholte sie, rief es leise in die
Einsamkeit ihres Zimmers, ich liebe dich, mach mit mir, was du
willst, aber verlaß mich nicht, mein Gott, verlaß mich nicht."
Wer hat Mitleid mit denen, die warten? Man erkennt sie so
leicht: an ihrer Zärtlichkeit, an ihrem scheinbar aufmerksam
starrenden Blick, - starrend, ja, aber auf etwas anderes als das,
was sie vor Augen haben - an ihrer Geistesabwesenheit. Drei
Stunden lang, während im Atelier ein kleiner rotha ariger und
molliger Mannequin, den O nicht kannte, für Hutmoden
posierte, war ihr Geist abwesend, nach innen gekehrt,
aufgesogen von der Ungeduld über die langsam
dahinschleichenden Minuten, von der Angst. Zu Bluse und
Unterrock aus roter Seide trug sie einen Schottenrock und eine
kurze Wildlederjacke. Das Rot ihrer Bluse unter der offenen
Jacke ließ ihr blasses Gesicht noch besser erscheinen und der
kleine rothaarige Mannequin sagte, sie sehe wie das Unheil in
Person aus. "Unheil für wen?" fragte O sich. Noch vor zwei
Jahren, eh sie René kannte und liebte, hätte sie sich geschworen:
"Unheil für Sir Stephen", und gesagt, "er wird schon sehen".
Aber ihre Liebe zu René und Renés Liebe zu ihr hatten sie aller
ihrer Waffen beraubt und ihr, anstatt ihr neue Beweise ihrer
Macht zu liefern, auch noch die weggenommen, die sie bisher
besessen hatte. Früher war sie gleichgültig und leichtherzig
gewesen, hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, die jungen
Männer, die in sie verliebt waren, mit einem Wort oder einer
Geste in Versuchung zu führen, ohne ihnen jedoch etwas zu
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gewähren, hatte sich ihnen dann vielleicht einmal, zweimal, aus
einer plötzlichen Laune heraus doch hingegeben, zur
Belohnung, aber auch, um sie noch mehr zu entflammen, eine
Leidenschaft noch grausamer zu machen, die sie nicht teilte. Sie
wußte genau, daß diese Männer sie liebten. Einer hatte versucht,
sich das Leben zu nehmen; als er aus dem Krankenhaus
entlassen wurde, war sie zu ihm gegangen, hatte sich nackt
ausgezogen, ihm verboten, sie zu berühren, und sich auf seinem
Sofa ausgestreckt. Leichenblaß vor Verlangen und Schmerz
hatte er sie zwei Stunden lang schweigend angestarrt, sein
Versprechen hatte ihn versteinert. Sie hatte ihn nie wiedersehen
wollen. Nicht, daß sie das Verlangen, das sie weckte,
unterschätzt hätte. Sie verstand es umso besser, oder glaubte, es
zu verstehen, als sie selbst ein (wie sie meinte) gleiches
Verlangen nach ihren Freundinnen oder nach unbekannten
jungen Frauen empfand. Manche gaben ihr nach - sie führte sie
dann in allzu diskrete Hotels mit engen Korridoren und Wänden,
die jedes Geräusch durchließen - andere stießen sie voll
Abscheu zurück. Doch was sie für Verlangen hielt, war nichts
weiter, als die Lust an der Eroberung, und weder ihre
Gepflogenheiten eines verderbten Knaben, noch die Tatsache,
daß sie ein paar Liebhaber gehabt hatte - wenn man sie
Liebhaber nennen kann - noch ihre Härte, nicht einmal ihr Mut,
halfen ihr auch nur im geringsten, als sie René begegnete. In
acht Tagen lernte sie die Furcht kennen, aber auch die
Sicherheit, das Entsetzen, aber auch das Glück. René warf sich
auf sie, wie ein Räuber auf eine Gefangene, und sie wurde mit
Wonne seine Gefangene, spürte an ihren Handgelenken, ihren
Fußknöcheln, an allen Gliedern und selbst an den verborgsten
Stelle n ihres Körpers die Bande, die unsichtbarer waren, als das
feinste Haar, kräftiger als die Seile, mit denen die Liliputaner
Gulliver gefesselt hatten, und die ihr Geliebter mit einem
einzigen Blick anzog oder löste. Sie war nicht mehr frei? Ah!
Gott sei Dank, sie war nicht mehr frei. Aber sie fühlte sich
-102-
leicht, Göttin auf der Wolke, Fisch im Wasser, verloren im
Glück. Verloren, weil diese feinen Haare, diese Stricke, die
René alle in seiner Hand hielt, das einzige Kraftnetz waren,
durch das seither der Strom ihres Lebens floß. Das war nur allzu
wahr, denn wenn René seinen Griff lockerte - oder sie es sich
einbildete - wenn er abwesend schien oder sich, voll
Gleichgültigkeit, wie O glaubte, von ihr entfernte, oder wenn er
sich nicht mit ihr traf oder ihre Briefe nicht beantwortete und sie
glaubte, er wolle sie nicht mehr sehen, oder seine Liebe sei im
Schwinden oder er liebe sie überhaupt nicht mehr, erstarb alles
in ihr, erstickte sie. Das Gras wurde schwarz, der Tag war kein
Tag mehr, die Nacht keine Nacht, nur noch teuflische
Erfindungen, die abwechselnd hell und dunkel erzeugten, um sie
zu quälen. Vom frischen Wasser wurde ihr übel. Sie fühlte sich
als Aschensäule, bitter, unnütz und verdammt, wie die
Salzsäulen von Gomorrha. Denn sie war schuldig. Wer Gott
liebt, und wen Gott verläßt in der finsteren Nacht, ist schuldig,
weil er verlassen ist. Er sucht in der Erinnerung nach seinen
Fehlern. Sie suchte nach den ihren. Sie entdeckte nur dann und
wann ein flüchtiges und mehr in ihrer Veranlagung liegendes,
als in ihren Handlungen zutage tretendes Gefallen an den
Begierden, die sie bei anderen Männern als René weckte, bei
Männern, denen sie überhaupt nur Aufmerksamkeit schenkte
aus dem Übermaß des Glücks, mit dem Renés Liebe, die
Gewißheit, René zu gehören, sie erfüllten, und weil die völlige
Hingabe an ihn, in der sie lebte, sie unverwundbar,
unverantwortlich machte und alle ihre Handlungen belanglos -
aber welche Handlungen? Sie hatte sich doch nur Gedanken
vorzuwerfen, flüchtige Versuchungen. Dennoch stand außer
Zweifel, daß sie schuldig war und daß René sie, ohne es zu
wollen, für einen Fehler strafte, den er nicht kannte (denn er
blieb in ihrem Inneren verborgen), den Sir Stephen dagegen
augenblicklich entdeckt hatte: die Lüsternheit. O war glücklich,
daß Re né sie peitschen ließ und sie anderen Männern auslieferte,
-103-
weil ihre leidenschaftliche Unterwerfung ihrem Geliebten
bewies, daß sie ihm gehörte, aber auch, weil der Schmerz und
die Schande der Peitsche, und die Schmach, die ihr von denen
zugefügt wurde, die sie zur Lust zwangen, wenn sie sie nahmen,
selbst Lust empfanden, ohne sich um die ihre zu kümmern, ihr
wie eine Sühne für ihre Fehler vorkamen. Umarmungen, die
ihren Brüsten unerträgliche Beschimpfung antaten, Münder, die
sich wie weiche und widerliche Blutegel an ihren Lippen und an
ihrer Zunge festgesaugt hatten und Zungen und Genitalien,
klebrige Tiere, die sich an ihren geschlossenen Mund, in die mit
aller Gewalt zusammengepreßte Furche ihres Schoßes und ihrer
Lenden gedrängt und sie vor Abscheu hatten steif werden
lassen, so sehr, daß die Peitsche kaum genügte, um sie wieder
gefügig zu machen, und denen sie sich schließlich doch geöffnet
hatte, mit furchtbarem Ekel und furchtbarer Willfährigkeit. Und
wenn Sir Stephen recht hätte? Wenn die Erniedrigung ihr lieb
wäre? Nun, je tiefer diese Entwürdigung war, um so größer war
Renés Gnade, wenn er dennoch geruhte, O zum Instrument
seiner Lust zu machen. Als Kind hatte sie, an der weißen Wand
eines Zimmers in Wales, wo sie zwei Monate lang gewohnt
hatte, in roten Lettern einen Bibelspruch gesehen, wie die
Protestanten ihn gern in ihren Häusern anbringen: "Schrecklich
ist es, lebend in Gottes Hand zu fallen." Nein, sagte sie sich
jetzt, das stimmt nicht. Schrecklich ist es, lebend von Gottes
Hand verstoßen zu werden. So oft René die Begegnung mit ihr
hinausschob, wie er es heute getan hatte - denn es hatte bereits
sechs Uhr geschlagen, bereits halb sieben - fühlte O sich vom
Wahnsinn, von der Verzweiflung bedroht. Der Wahnsinn war
nichtig, die Verzweiflung war nichtig, nichts war wirklich. René
kam, er war da, er hatte sich nicht verändert, er liebte sie, eine
Vorstandssitzung hatte ihn aufgehalten oder eine
unvorhergesehene Arbeit, er hatte nicht Zeit gefunden, sie zu
benachrichtigen. Mit einem Schlag tauchte O aus ihrer
erstickenden Betäubung auf, und doch ließ jeder dieser
-104-
Schreckensanfälle in ihrem Innersten eine dumpfe
Unheilswarnung zurück.
René erschien endlich um sieben Uhr, er freute sich so sehr,
sie wiederzusehen, daß er sie vor dem Elektriker küßte, der
einen Scheinwerfer reparierte, vor dem kleinen, rothaarigen
Mannequin, der aus der Schminkkabine trat, und vor Jacqueline,
die, für alle überraschend, plötzlich hinter ihm auftauchte. "Wie
reizend, sagte Jacqueline zu O, ich wollte Sie um meine letzten
Aufnahmen bitten, aber ich glaube, das ist nicht der rechte
Augenblick, ich gehe wieder. - Mademoiselle, bitte, rief René,
ohne O loszulassen, die er um die Taille gefaßt hielt, bitte gehen
Sie nicht weg!" O stellte Jacqueline und René einander vor. Der
rothaarige Mannequin war verärgert wieder in der Kabine
verschwunden, der Elektriker tat, als wäre er beschäftigt. O
schaute Jacqueline an und spürte, daß Renés Blick ihr folgte.
Jacqueline trug einen Skianzug, wie nur Filmstars ihn tragen, die
nicht Skifahren. Der schwarze Pullover betonte die kleinen und
weit auseinanderstehenden Brüste, eine lange, enganliegende
Hose die langen Beine des Mädchens aus dem Norden. Alles an
ihr erinnerte an Schnee: der bläuliche Schimmer ihrer grauen
Seehundjacke an den Schnee im Schatten, der Rauhreif glänz
ihres Haares und der Wimpern an den Schnee in der Sonne. Sie
trug ein Lippenrot, das ins Purpurfarbene spielte, und wenn sie
lächelte und die Augen zu O erhob, dachte O, niemand könne
dem Verlangen widerstehen, aus diesem grünen und lebendigen
Wasser unter den bereiften Wimpern zu trinken und den
Pullover von den kindlichen Brüsten zu reißen, um die Hände
daraufzulegen. Da war es wieder: kaum war René aufgetaucht,
so fand sie in der Gewißheit seiner Existenz den Geschmack an
den anderen und an sich selbst, an der ganzen Welt wieder. Sie
gingen alle drei gemeinsam weg. In der Rue Royale wirbelte der
Schnee, der zwei Stunden lang in dicken Flocken gefallen war,
nur noch in winzigen, weißen Körnchen, die sie ins Gesicht
-105-
stache n. Das Streusalz auf dem Trottoir knirschte unter den
Sohlen und löste den Schnee auf und O spürte, wie der
Eishauch, der dabei frei wurde, an ihren Beinen hochstieg und
um ihre nackten Schenkel schlug.
Was sie bei den jungen Frauen suchte, die sie verfolgte, wußte
O sehr genau. Sie bildete sich nicht ein, mit den Männern zu
rivalisieren, wollte auch nicht durch ein männliches Betragen
ein Gefühl weiblicher Minderwertigkeit kompensieren, das sie
keineswegs empfand. Mit zwanzig Jahren, als sie der
hübschesten ihrer Kolleginnen den Hof machte, hatte sie sich
allerdings einmal dabei ertappt, daß sie die Mütze zog, um die
andere zu grüßen, zurücktrat, um sie vorbeizulassen, und ihr
beim Aussteigen aus einem Taxi die Hand bot. Auch bestand sie
darauf, zu bezahlen, wenn sie gemeinsam in einer Konditorei
Tee tranken. Sie küßte ihr auf offener Straße die Hand,
gelegentlich auch den Mund, wenn es irgend ging. Aber dabei
handelte es sich um Mätzchen, die sie aufführte, um die Leute
zu schockieren, um Kindereien, nicht um eine Überzeugung. Die
Vorliebe dagegen, die sie für die Süße sehr weicher, bemalter
Lippen hegte, die unter den ihren nachgaben, für den Emaille-
oder Perlenglanz der Augen, die sich im Dämmerlicht halb
schließen, um fünf Uhr nachmittags, wenn die Vorhänge
zugezogen sind und die Lampe auf dem Kaminsims brennt, für
die Stimmen, die sagen: noch einmal, ah! bitte, bitte, noch
einmal, für den Tanggeruch, der an ihren Fingern haften blieb,
diese Vorliebe war echt und tief. Ebenso lebhaft war das
Vergnügen, das sie bei der Jagd empfand. Dabei kam es ihr
nicht so sehr auf das Jagen selbst an, so amüsant oder hinreißend
es auch sein mochte, als vielmehr auf das Gefühl der
vollständigen Freiheit, das sie dann verspürte. Sie gab den Ton
an, sie, und nur sie allein (was sie bei einem Mann nie tat, es sei
denn, auf Umwegen). Bei ihr lag die Initiative des Wortes, der
Rendezvous, der Küsse, und sie legte solchen Wert darauf, daß
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sie es nicht mochte, wenn sie zuerst geküßt wurde, und, seit sie
Liebhaber hatte, beinah niemals duldete, daß ein Mädchen ihre
Liebkosungen erwiderte. So begierig sie danach war, ihre
Freundin nackt unter den Augen zu haben, unter den Händen, so
überflüssig erschien es ihr, sich selbst zu entkleiden. Oft suchte
sie einen Vorwand, um es zu vermeiden, behauptete zu frieren
oder unpäßlich zu sein. Übrigens gab es wenige Frauen, an
denen sie nicht irgend etwas schön gefunden hätte; sie erinnerte
sich, daß sie kurz nach ihrer Entlassung aus dem Lyzeum ein
häßliches und unsympathisches, stets mißmutiges kleines
Mädchen hatte verführen wollen, einzig deshalb, weil es einen
Wald blonder Haare hatte, die in schlecht geschnittenen Locken
Licht und Schatten auf ihr Gesicht zauberten, auf eine stumpfe,
aber feinkörnige, straffe, zarte, vollständig matte Haut. Doch die
Kleine hatte sie abblitzen lassen, und wenn eines Tages die Lust
das unschöne Gesicht verklärt hatte, so war es nicht O zuliebe
gewesen. Denn O liebte es leidenschaftlich, diesen Schleier über
die Gesichter ziehen zu sehen, der sie so glatt und jung macht;
ihnen eine zeitlose Jugend verleiht, sie nicht in die Kindheit
zurückversetzt, sondern die Lippen schwellt, die Augen
vergrößert wie Kohle, und die Iris schimmernd und klar macht.
Dabei war mehr Bewunderung als Eigenliebe im Spiel, denn die
Verwandlung rührte sie nicht deshalb so sehr, weil sie selbst sie
bewirkt hatte: in Roissy empfand sie die gleiche Ergriffenheit
vor dem entstellten Gesicht eines Mädchens, das einem
Unbekannten ausgeliefert war. Die Nacktheit, die Hingabe des
Körpers, erregten sie und es schien ihr, als machten ihre
Freundinnen ihr ein Geschenk, für das sie ihnen nie genug
danken konnte, wenn sie sich nur bereitfanden, sich nackt in
einem verschlossenen Zimmer anschauen zu lassen. Denn die
Nacktheit in den Ferien, in der Sonne und am Strand, ließ sie
kalt - nicht etwa, weil sie sich dort öffentlich zeigte, sondern
weil diese Öffentlichkeit und die Unvollständigkeit ihr einen
gewissen Schutz gewährten. Die Schönheit der anderen Frauen,
-107-
die sie großzügigerweise stets über ihre eigene zu stellen bereit
war, bestärkte sie im Glauben an ihre eigene Schönheit, in der
sie, wenn sie sich in ungewohnten Spiegeln betrachtete, den
Widerschein der fremden Schönheit entdeckte. Die Macht, die
sie ihren Freundinnen über ihre Person einräumte, versicherte
sie zugleich ihrer eigenen Macht über die Männer. Und sie war
glücklich und fand es nur natürlich, daß die Männer so
stürmisch von ihr forderten, was sie von den Frauen forderte
(und ihnen nicht zurückgab oder nur zum kleinsten Teil). Auf
diese Weise war sie zugleich und ständig Komplizin der einen
wie der anderen und gewann in beiden Spielen. Es gab
schwierige Partien. Daß O in Jacqueline verliebt war, nicht mehr
und nicht weniger, als sie in viele andere verliebt gewesen war
und vorausgesetzt, daß der Ausdruck verliebt (was reichlich viel
gesagt war) zutraf, unterlag keinem Zweifel. Doch warum zeigte
sie es nicht?
Als die Knospen an den Pappeln der Kais aufsprangen, als der
Tag länger zögerte, bis er unterging, und den Liebespaaren
erlaubte, sich nach den Bürostunden in die Gärten zu setzen,
glaubte sie sich endlich stark genug, es mit Jacqueline
aufzunehmen. Im Winter war sie ihr zu unbesiegbar erschienen,
zu schillernd, unberührbar, unzugänglich unter ihren frostigen
Pelzen. Jacqueline wußte es. Der Frühling bot ihr nur Kostüme,
flache Schuhe, Pullover. Mit ihrem kurzgeschnittenen, glatten
Haar sah sie schließlich aus, wie eines der kecken
Schulmädchen, die O mit sechzehn Jahren, als sie ebenfalls noch
ins Lyzeum ging, an den Handgelenken gepackt und schweigend
in eine leere Garderobe gezerrt, gegen die aufgehängten Mäntel
gedrängt hatte. Die Mäntel fielen von den Haken. O wurde von
einem Lachanfall geschüttelt. Sie trugen Uniformblusen aus
Kattun, ihre Initialen waren in roter Baumwolle auf die
Brusttasche gestickt. In drei Kilometern Entfernung hatte die um
drei Jahre jüngere Jacqueline in einem anderen Lyzeum die
-108-
gleichen Blusen getragen. O erfuhr es eines Tages zufällig, als
Jacqueline für Hausmäntel Modell stand und seufzend sagte,
wenn man im Internat wenigstens so hübsche Hausmäntel
gehabt hätte, wäre man glücklicher gewesen. Oder wenn man
wenigstens die vorgeschriebenen hätte tragen dürfen, ohne
etwas darunter anzuziehen. "Wieso ohne etwas darunter? sagte
O. - Ohne Kleid natürlich", erwiderte Jacqueline. Worauf O
errötete. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, unter ihrem
Kleid nackt zu sein, und jedes zweideutige Wort erschien ihr
eine Anspielung auf ihren Zustand. Vergeblich sagte sie sich,
daß man unter irgendeinem Kleidungsstück immer nackt sei.
Nein, sie fühlte sich nackt wie jene Veroneserin, die zum
Heerführer der Belagerer gegangen war, um ihre Stadt zu retten:
nackt unter einem Mantel, den man nur zurückzuschlagen
brauchte. Es schien ihr auch, als wolle sie damit etwas
einhandeln, genau wie die Italienerin, aber was? Jacqueline war
ihrer sicher, und den Beweis dafür brauchte sie nicht erst
einzuhandeln; ein Blick in den Spiegel genügte. O betrachtete
sie voll Demut und dachte, man könnte ihr, ohne sich schämen
zu müssen, keine anderen Blumen schenken als Magnolien,
deren dicke und matte Blütenblätter leicht ins bräunliche
spielen, wenn sie welken, oder Kamelien, in deren wächsernem
Weiß zuweilen ein rosiges Licht spielt.
Der Winter rückte immer ferner, und mit der Erinnerung an
den Schnee verblaßte auch eine leichte Tönung, die Jacquelines
Haut vergoldete. Bald würden nur noch Kamelien am Platze
sein. Aber O fürchtete, sich lächerlich zu machen mit solch
melodramatischen Blumen. Sie brachte ihr eines Tages einen
großen Strauß blaue r Hyazinthen, deren Duft dem der
Tuberosen ähnlich ist und einem zu Kopf steigt: ölig, heftig,
haftend, genau der Duft, den die Kamelien haben sollten und
den sie nicht haben. Jacqueline steckte ihre Mongolennase in die
steifen, lauen Blüten, ihre Lippen, die seit vierzehn Tagen rosa
-109-
geschminkt waren, nicht mehr rot. Sie sagte: "Sind die für
mich?" Wie die Frauen sagen, denen alle Welt allezeit
Geschenke macht. Dann sagte sie danke, dann fragte sie, ob
René kommen werde, um O abzuholen. Ja, er werde kommen,
sagte O. Er wird kommen, sagte sie bei sich und für ihn wird
Jacqueline in gespielter Regungslosigkeit, in gespieltem
Schweigen eine Sekunde die eisigfeuchten Augen heben, die
niemandem ins Gesicht schauten. Jacqueline würde man nichts
mehr lehren müssen: nicht schweigen, nicht die offenen Hände
an den Seiten herabhängen lassen, nicht den Kopf halb in den
Nacken beugen. O starb fast vor Verlangen danach, die allzu
hellen Haare im Nacken zu packen, den willigen Kopf weit
zurückzubeugen, wenigstens mit den Fingerspitzen die Linie der
Brauen nachzuziehen. Aber auch René würde danach verlangen.
Sie wußte genau, warum ihre frühere Kühnheit solcher
Schüchternheit gewichen war, warum sie seit zwei Monaten
Jacqueline begehrte, ohne sich mit einem Wort oder einer Geste
zu verraten, warum sie vor sich selbst fadenscheinige
Begründungen für ihre Zurückhaltung anführte. Es stimmte
nicht, daß Jacqueline unnahbar war. Das Hindernis lag nicht bei
Jacqueline, es lag in O selbst und war von einer Art, wie es ihr
nie zuvor begegnet war. Es bestand darin, daß René ihr Freiheit
ließ und daß sie ihre Freiheit verabscheute. Ihre Freiheit war
schlimmer als alle Ketten. Ihre Freiheit trennte sie von René.
Zehnmal schon hätte sie, ohne ein Wort zu sagen, Jacqueline bei
den Schultern nehmen, sie mit beiden Händen an eine Wand
nageln können, wie man einen Schmetterling aufspießt;
Jacqueline hätte sich nicht bewegt, sie hätte bestimmt nicht
einmal gelächelt. Aber O war wie ein wildes Tier geworden, daß
man in Gefangenschaft gehalten hat und das jetzt dem Jäger als
Lockvogel dient, das seine Beute nur noch für ihn schlägt, nur
auf seinen Befehl zuspringt. Sie selbst lehnte sich nun
manchmal bleich und zitternd an die Wand, festgenagelt durch
ihr Schweigen, festgebunden durch ihr Schweigen, und so
-110-
glücklich, weil sie schwieg. Sie erwartete mehr als eine
Erlaubnis, denn die Erlaubnis hatte sie bereits. Sie erwartete
einen Befehl. Er kam nicht von René, er kam von Sir Stephen.
Monate waren vergangen, seit René sie Sir Stephen übergeben
hatte, und O bemerkte mit Schrecken die zunehmende
Bedeutung, die Sir Stephen in den Augen ihres Geliebten
gewann. Zugleich dachte sie, daß sie sich vielleicht täuschte,
daß es sich bei dem, was sie für eine fortschreitende
Entwicklung der Tatsachen oder der Gefühle hielt, lediglich um
eine fortschreitende Erkenntnis dieser Tatsachen oder dieser
Gefühle handelte. Auf jeden Fall hatte sie bald bemerkt, daß
René stets dann die Nacht bei ihr zubrachte, ja, nur noch dann,
wenn sie am vorhergegangenen Abend bei Sir Stephen gewesen
war (Sir Stephen behielt sie die ganze Nacht über nur dann,
wenn René nicht in Paris war.) Sie hatte zudem festgestellt, daß
er sie an diesen Abenden, wenn auch er bei Sir Stephen war,
niemals berührte, es sei denn, um sie für Sir Stephen leicht
zugänglich zu machen, sie in ihrer Stellung festzuhalten, wenn
sie sich wehrte. Er blieb nur sehr selten und stets angekleidet,
wie beim ersten Mal, verhielt sich schweigend, rauchte eine
Zigarette nach der anderen, legte Holz im Kamin nach, brachte
Sir Stephen zu trinken - er selbst trank jedoch nicht. O spürte,
daß er sie beobachtete, wie ein Dompteur das von ihm dressierte
Tier beobachtet, das ihm durch seinen blinden Gehorsam Ehre
machen soll, oder wie im Beisein eines Fürsten der Leibwächter,
eines Bandenchefs der Handlanger die Dirne im Auge behält,
die er ihm von der Straße geholt hat. Daß er das Gesicht Sir
Stephens beobachtete, nicht das ihre, war der Beweis, daß er
hier die Stellung eines Dieners oder eines Akolyten ausübte, und
O fühlte sich unter seinen Augen sogar um die Wollust gebracht,
in der ihre Züge ertranken: seine Bewunderung und selbst die
Dankbarkeit dafür galt Sir Stephen, der diese Wollust erregt
hatte, er war glücklich, weil Sir Stephen geruhte, sich an einer
-111-
Sache zu erfreuen, die er ihm geschenkt hatte. Zweifellos wäre
alles viel einfacher gewesen, wenn Sir Stephen die jungen
Männer geliebt hätte, und O zweifelte nicht, daß René, der keine
Männer liebte, dennoch leidenschaftlich allen noch so geringen
oder noch so ungeheuerlichen Forderungen Sir Stephens zu
willen gewesen wäre. Aber Sir Stephen liebte nur Frauen. Sie
begriff, daß die beiden über ihren Körper, den sie sich teilten, zu
einer geheimnisvolleren und vielleicht tieferen Bindung
gelangten, als es ein Liebesverhältnis gewesen wäre, zu einer
Bindung, deren bloße Vorstellung ihr unerträglich war, deren
Realität und Macht sie dennoch nicht leugnen konnte. Warum
aber war diese Teilung in gewissem Sinne abstrakt? In Roissy
hatte O im gleichen Augenblick, in der gleichen Umgebung
René und anderen Männern angehört. Warum verzichtete René
in Sir Stephens Gegenwart nicht nur darauf, sie zu nehmen,
sondern auch darauf, ihr Befehle zu geben? (Er übermittelte ihr
lediglich die Befehle Sir Stephens). Sie stellte ihm die Frage und
wußte die Antwort schon im voraus. "Aus Respekt", antwortete
René. "Aber ich gehöre dir", sagte O. "In erster Linie gehörst du
Sir Stephen." Und das stimmte, zumindest insofern, als die
Rechte, die René seinem Freund über sie eingeräumt hatte, total
waren, als die kleinsten Wünsche Sir Stephens den Vorrang
hatten vor Renés Entscheidungen oder seinen Ansprüchen an
sie. Hatte René beschlossen, daß er mit O zu Abend essen und
ins Theater gehen wolle, so brauchte Sir Stephen ihn nur eine
Stunde zuvor anzurufen um O zu sich zu bestellen und René
holte sie am Studio ab, wie sie es vereinbart hatten, aber um sie
vor Sir Stephens Tür abzusetzen. Einmal, nur ein einziges Mal,
hatte O René gebeten, er möge Sir Stephen einen anderen Tag
vorschlagen, weil sie sich so sehr wü nschte, René zu einer
Abendveranstaltung zu begleiten, die sie gemeinsam besuchen
sollten. René hatte es ihr abgeschlagen. "Mein armes Kind, hatte
er gesagt hast du noch immer nicht begriffen, daß du nicht mehr
dir selbst gehörst und daß nicht mehr ich über dich verfüge?" Er
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hatte es ihr nicht nur abgeschlagen, er hatte Sir Stephen von Os
Bitte unterrichtet und ihn in ihrer Gegenwart gebeten, sie so
grausam dafür zu bestrafen, daß sie nie mehr auf den Gedanken
käme, widerspenstig zu sein. "Gewiß", hatte Sir Stephen
erwidert. Sie waren in dem kleinen, ovalen Zimmer mit dem
eingelegten Fußboden, in dem als einziges Möbelstück ein
schwarzes Tischchen mit Perlmuttintarsien stand und das an den
großen gelbgrauen Salon anschloß. René blieb nicht länger, als
die drei Minuten, die er brauchte, um O zu verraten und Sir
Stephens Antwort zu hören. Dann winkte er Sir Stephen einen
Gruß zu, lächelte O zu und ging. Durchs Fenster sah sie ihn über
den Hof gehen; er drehte sich nicht um; sie hörte die Autotür
zuschlagen, den Motor aufheulen und sah in einem kleinen
Wandspiegel ihr eigenes Bild: sie war weiß vor Verzweiflung
und vor Furcht. Dann warf sie mechanisch einen Blick auf Sir
Stephen, der ihr die Tür zum Salon aufhielt und zurücktrat,
während sie hindurchging; er war genauso bleich, wie sie. Wie
ein Blitz durchzuckte sie die Gewißheit, daß er sie liebte. Wie
ein Blitz erlosch sie wieder. Doch obwohl sie nicht daran
glaubte, sich selbst verlachte, war ihr dieser Gedanke ein Trost
und sie entkleidete sich gehorsam auf seinen Wink. Und zum
ersten Mal, seit er sie zwei-, dreimal in der Woche kommen ließ
- wobei er sich immer Zeit nahm, sich ihr zu nähern, sie oft eine
Stunde nackt warten ließ, ihr Flehen anhörte, ohne jemals darauf
zu antworten, denn sie flehte ihn zuweilen an, zur gleichen Zeit
die gleichen Befehle wiederholte, wie nach einem Ritual, so daß
sie genau wußte, wann ihr Mund ihn berühren mußte, wann sie
ihm, auf den Knien liegend, den Kopf in die Seide des Sofas
gepreßt, nur ihre Lenden bieten durfte, deren er sich nun
bediente, ohne O zu verletzen, so sehr hatte sie sich ihm
geöffnet - zum ersten Mal und trotz der Furcht, die sie zersetzte
oder vielleicht dank dieser Furcht, trotz der Verzweiflung, in die
Renés Verrat sie gestürzt hatte aber vielleicht auch gerade dank
dieser Verzweiflung gab sie sich völlig hin. Und ihre willigen
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Augen waren so zärtlich, als sie Sir Stephens hellem,
brennendem Blick begegneten, daß dieser zum ersten Mal
plötzlich mit ihr französisch sprach und sie du nannte: "O, ich
werde dich knebeln, weil ich dich bis aufs Blut peitschen
möchte, sagte er. Erlaubst du es mir? - Ich gehöre Ihnen", sagte
O. Sie stand in der Mitte des Salons, ihre erhobenen und
zusammengebundenen Hände, die von den Armreifen aus
Roissy und einer Kette an dem Ring festgebunden waren, an
dem früher ein Lüster von der Decke hing, ließen ihre Brüste
vorspringen. Sir Stephen berührte ihre Brüste, küßte sie dann,
dann küßte er Os Mund, einmal, zehnmal. (Er hatte sie noch nie
auf den Mund geküßt.) Und als er ihr den Knebel einsteckte, der
ihren Mund mit dem Geschmack von feuchter Leinwand füllte,
ihr die Zunge bis in den Schlund zurückschob und in den ihre
Zähne kaum beißen konnten, faßte er sie sanft bei den Haaren.
Sie schwankte auf ihren nackten Füßen, die Kette hielt sie im
Gleichgewicht. "O, verzeih mir", flüsterte er (noch nie hatte er
sie um Verzeihung gebeten), dann ließ er sie los und schlug zu.
Als René nach Mitternacht zu O kam, nachdem er allem die
Veranstaltung besucht hatte, zu der sie gemeinsam hatten gehen
wollen, fand er sie im Bett, zitternd im weißen Nylon ihres
langen Nachthemds. Sir Stephen hatte sie selbst nach Hause und
zu Bett gebracht und sie noch einmal auf den Mund geküßt. Sie
sagte es René. Sie sagte ihm auch, daß sie nicht mehr den
Wunsch verspüre, Sir Stephen nicht zu gehorchen und sie wußte
sehr gut, daß René daraus den Schluß zog, die Peitsche sei
notwendig und angenehm für sie, was auch stimmte (aber nicht
der einzige Grund war). Zudem war sie überzeugt, es sei auch
für René notwendig, daß sie die Peitsche bekam. So sehr er es
verabscheute, sie selbst zu schlagen - er hatte sich nie dazu
entschließen können - so sehr liebte er es, zuzusehen, wie sie
sich unter den Schlägen wand, zu hören, wie sie schrie. Ein
einziges Mal hatte Sir Stephen sie vor René mit dem Reitstock
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geschlagen. René hatte O über den Tisch gelegt und sie so
festgehalten, daß sie sich nicht bewegen konnte. Ihr Rock war
herabgeglitten: er hatte ihn wieder hochgeschlagen. Vielleicht
lag ihm noch mehr an dem Gedanken, daß O, während er nicht
bei ihr war, während er spazieren ging oder arbeitete, sich unter
der Peitsche wand, stöhnte und weinte, um Gnade bettelte und
sie nicht erhielt - und wußte, daß dieser Schmerz und diese
Demütigung ihr durch den Willen ihres Geliebten zugefügt
wurden und zu seiner Lust. In Roissy hatte er sie von den
Dienern peitschen lassen. In Sir Stephen hatte er den
unbarmherzigen Gebieter gefunden, der er selbst nicht sein
konnte. Die Tatsache, daß der Mann, den er auf der Welt am
meisten bewunderte, an O Gefallen fand und sich der Mühe
unterzog, sie gefügig zu machen, steigerte Renés Leidenschaft
für sie, das sah O genau. Jeder Mund, der sich auf ihren Mund
gepreßt hatte, jede Hand, die ihre Brüste und ihren Leib
berührte, jedes Geschlecht, das in sie eingedrungen war, sie alle,
die so eindeutig den Beweis erbrachten, daß sie prostituiert
wurde, hatten zugleich den Beweis erbracht, daß sie dessen
würdig war, hatten sie in gewisser Weise geheiligt. Aber das
alles galt in Renés Augen nichts im Vergleich zu dem Beweis,
den Sir Stephen gab. Sooft sie aus Sir Stephens Armen kam,
suchte René auf ihr die Spur eines Gottes. O wußte, daß er sie
vor ein paar Stunden nur verraten hatte, um neue und
grausamere Spuren zu schaffen. Das war der einzige Grund. Sie
wußte aber auch, daß Sir Stephen gar keiner Gründe bedurft
hätte. Umso schlimmer. (Sie aber dachte, umso besser).
Erschüttert betrachtete René lange Zeit den schlanken Körper,
auf dem dicke, blaurote Striemen sich wie Schnüre von Schulter
zu Schulter spannten, über den Rücken, die Lenden, über Leib
und Brüste, sich da und dort überschnitten. An manchen Stellen
perlte ein bißchen Blut. "Ah! ich liebe dich" flüsterte er. Er zog
sich mit bebenden Händen aus, löschte das Licht und legte sich
neben O. Sie stöhnte im Dunkeln, während er sie nahm.
-115-
Die Striemen auf Os Körper verblaßten erst nach einem
Monat. Auch danach noch blieb dort, wo die Haut geplatzt war,
eine weißliche Linie sichtbar, wie eine sehr alte Narbe. Doch
selbst wenn O hätte vergessen können, so würde die Haltung
Renés und Sir Stephens sie wieder daran erinnert haben. René
hatte selbstverständlich einen Schlüssel zu Os Wohnung. Er war
nicht auf den Gedanken gekommen, auch Sir Stephen einen
Schlüssel zu geben, wahrscheinlich weil Sir Stephen bisher
niemals den Wunsch geäußert hatte, O aufzusuchen. Aber die
Tatsache, daß er sie an jenem Abend nachhause gebracht hatte,
brachte René plötzlich auf die Idee, daß diese Tür, die nur O und
er öffnen konnten, von Sir Stephen als Hindernis betrachtet
werden könnte, als Schranke oder als von René beabsichtigte
Einschränkung, und daß es lächerlich war, ihm O zu geben,
wenn er ihm nicht zugleich die Möglichkeit gab, jederzeit nach
Belieben zu ihr zu kommen. Kurz, er ließ einen Schlüssel
anfertigen, händigte ihn Sir Stephen aus und sagte O erst
Bescheid, nachdem Sir Stephen ihn angenommen hatte. Sie
dachte nicht daran, zu protestieren und bemerkte bald, daß die
ständige Erwartung der Ankunft Sir Stephens sie in einen
Zustand unbegreiflicher Fröhlichkeit versetzte. Sie wartete
lange, sie fragte sich, ob er sie wohl in tiefer Nacht überraschen
werde, ob er Renés Abwesenheit benutzen wolle, ob er allein
kommen, ob er überhaupt kommen würde. Sie wagte nicht, mit
René darüber zu sprechen. Eines Morgens, als die Aufwartefrau
zufällig nicht da war und O früher als gewöhnlich aufgestanden
und schon um zehn Uhr zum Ausgehen angezogen war, hörte sie
wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Sie lief zur Tür
und rief "René" (denn René kam manchmal um diese Zeit und
sie hatte nur noch an ihn gedacht!). Es war Sir Stephen, der
lächelte und sagte: "Gut, rufen wir René an." Aber René wurde
durch eine geschäftliche Besprechung in seinem Büro
festgehalten und würde erst in einer Stunde kommen können. O
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sah mit heftig klopfendem Herzen zu (und sie fragte sich, wieso)
wie Sir Stephen den Hörer auflegte. Er setzte sie aufs Bett, nahm
ihren Kopf zwischen seine Hände und öffnete ihr den Mund, um
sie zu küssen. Er benahm ihr so sehr den Atem, daß sie aufs Bett
gefallen wäre, wenn er sie nicht festgehalten hätte. Aber er hielt
sie fest und richtete sie auf. Sie begriff nicht, warum ihr diese
Verwirrung, diese Angst die Kehle zuschnürte, denn konnte sie
von Sir Stephen noch etwas zu fürchten haben, was ihr noch
nicht widerfahren war? Er bat sie, sich auszuziehen und sah
wortlos zu, wie sie gehorchte. War sie nicht wahrhaftig
gewöhnt, nackt vor ihm zu stehen, so wie sie an sein Schweigen
gewöhnt war, gewöhnt war, auf seine Entscheidungen zu
warten? Sie mußte zugeben, daß sie sich einer Täuschung
hingab, daß sie zwar verwirrt sein mochte durch den Ort und die
Stunde, durch die Tatsache, daß sie in diesem Zimmer noch nie
für einen anderen als für René nackt gewesen war, daß jedoch
der tiefere Grund für ihre Verwirrung der gleiche war wie
immer: ihre völlige Selbstaufgabe. Heute war diese
Selbstaufgabe ihr nur dadurch spürbarer geworden, daß sie sich
nicht an einem Ort vollzog, wo sie gewissermaßen nur zu
diesem Zweck hingegangen war, und nicht bei Nacht, so daß sie
als ein Teil eines Traums gelten mochte oder einer geheimen
zweiten Existenz und sich zur Zeit des Tages verhielt wie der
Aufenthalt in Roissy sich zur Zeit ihres Lebens mit René
verhalten hatte. Das helle Licht eines Maimorgens machte das
Heimliche offenbar: von nun an würden die Realität der Nacht
und die Realität des Tages die gleiche Realität sein. Von nun an
- und O dachte: endlich. Daraus entsprang ohne Zweifel die
seltsame, mit Schrecken gemischte Sicherheit, in die sie sich
gleiten fühlte und die sie geahnt hatte, ohne sie zu begreifen.
Von nun an würde es keine Unterbrechung mehr geben, keine
tote Zeit, keine Pause. Was man erwartet ist, eben weil man es
erwartet, bereits gegenwärtig, bereits herrschend. Sir Stephen
war ein anderer Gebieter als René, auf andere Weise fordernd,
-117-
aber auch auf andere Weise sicher. Und so leidenschaftlich O
René liebte und er sie, so herrschte doch zwischen ihnen eine
Gleichheit (und wenn es nur die Gleichheit des Lebensalters
gewesen wäre) die in ihr das Gefühl aufhob, daß sie ihm
gehorchte, das Bewußtsein, daß sie unterworfen wurde. Was er
von ihr forderte, das wollte sie selbst sofort, einzig deshalb, weil
er es forderte. Den Befehlen Sir Stephens jedoch gehorchte sie,
weil es Befehle waren und sie war ihm dankbar, daß er sie ihr
gab. Ob er mit ihr französisch oder englisch sprach, sie du oder
Sie nannte, O nannte ihn stets nur Sir Stephen, wie eine Fremde,
wie eine Bediente. Sie sagte sich, das Wort "Seigneur" hätte
besser zu ihm gepaßt, wenn sie gewagt hätte, es auszusprechen,
so wie ihr vor ihm das Wort Skla vin angestanden hätte. Sie
sagte sich auch, daß das alles ganz in Ordnung sei, denn René
war glücklich, in ihr die Sklavin Sir Stephens zu lieben. Nun
hatte sie also ihre Kleider auf das Fußende ihres Bettes gelegt,
ihre hochhackigen Pantöffelchen angezoge n und wartete mit
gesenkten Augen vor Sir Stephen, der ans Fenster gelehnt stand.
Die strahlende Sonne schien durch die Gardinen aus
Erbsenmousseline, sie war schon sehr heiß und wärmte ihr die
Füße. O versuchte nicht, eine bestimmte Stellung einzunehmen,
aber sie dachte geschwind, daß sie sich stärker hätte parfümieren
sollen, daß sie die Spitzen ihrer Brüste nicht geschminkt hatte
und daß sie froh war, ihre Pantöffelchen anzuhaben, weil der
Lack an ihren Zehen abblätterte. Dann kam ihr plötzlich zum
Bewuß tsein, daß sie eigentlich erwartete, Sir Stephen werde ihr
in die Stille hinein bedeuten, sie solle vor ihn niederknien, seine
Kleidung öffnen und ihn mit dem Mund berühren. Aber nein.
Daß sie allein daran gedacht hatte, trieb ihr die Röte ins Gesicht
und noch während sie errötete, schalt sie sich töricht, weil sie es
tat: soviel Schamgefühl bei einer Dirne! In diesem Augenblick
bat Sir Stephen O, sich vor ihren Frisiertisch zu setzen und ihm
zuzuhören. Der Frisiertisch war nicht eigentlich ein Frisiertisch,
sondern ein großer Drehspiegel im Stil der Restaurationszeit
-118-
neben einer niedrigen Wandkonsole, auf der Bürsten und
Flakons Platz fanden. Wenn O auf dem kleinen Polstersessel
saß, konnte sie sich ganz sehen. Während er sprach, ging Sir
Stephen hinter ihr auf und ab; sein Bild erschien und
verschwand im Spiegel, hinter Os Bild, doch es war ein Bild,
das fern wirkte, weil der Belag des Spiegels grünlich war, und
leicht getrübt. O, die mit geöffneten Händen und gespreizten
Knien dasaß, hätte das Bild packen und anhalten mögen, um
sich das Antworten zu erleichtern. Denn Sir Stephen stellte in
präzisem Englisch Fragen über Fragen, die letzten, die O aus
seinem Munde erwartet hätte, sofern sie überhaupt welche
erwartete. Er hatte noch kaum damit begonnen, als er sich
unterbrach, um O in ihrem Sessel zurückzukippen und sie
zugleich weiter nach vorn zu ziehen; nun bot sie sich, das linke
Bein über der Sessellehne und das rechte leicht angewinkelt, im
vollen Licht im Spiegel ihren eigenen Blicken und den Blicken
Sir Stephens dar, so ganz geöffnet, als hätte ein unsichtbarer
Geliebter sich aus ihr zurückgezogen und sie so verlassen. Sir
Stephen fragte weiter mit der Festigkeit eines Richters, der
Geschicklichkeit eines Beichtvaters. O sah ihn nicht sprechen,
sah sich aber antworten. Ob sie, seit ihrer Rückkehr aus Roissy,
anderen Männern als René und ihm angehört habe? Nein. Ob sie
den Wunsch gehabt habe, anderen, die sie getroffen hatte,
anzugehören? Nein. Ob sie sich bei Nacht, wenn sie allein sei,
selbst berühre? Nein. Ob sie Freundinnen habe, die sie berühre
und von denen sie sich berühren lasse? Nein (das nein kam
zögernder). Aber Freundinnen, die sie begehrte? Nun ja,
Jacqueline, nur sei Freundin zu viel gesagt. Kollegin würde
richtiger sein, oder vielleicht Gefährtin, wie die höheren Töchter
in den feinen Pensionaten einander bezeichnen. Darauf fragte
Sir Stephen, ob sie Photos von Jacqueline habe und half ihr,
aufzustehen, damit sie sie holen konnte. René, der atemlos
hereinkam, weil er die vier Treppen im Laufschritt genommen
hatte, fand die beiden im Salon: O stand vor dem großen Tisch,
-119-
auf dem alle Bilder Jacquelines in weiß und schwarz glänzten
wie Wasserpfützen in der Nacht. Sir Stephen halb auf dem Tisch
sitzend, nahm eines nach dem anderen auf, wie O sie ihm
reichte, und legte sie dann wieder auf den Tisch; mit der anderen
Hand hielt er O am Schoß gepackt. Von diesem Augenblick an
richtete Sir Stephen, der René begrüßt hatte, ohne sie
loszulassen - sie spürte sogar, daß seine Hand tiefer in sie
eindrang - seine Worte nicht mehr an O, sondern nur noch an
René. Der Grund dafür schien ihr klar: sobald René zugegen
war, bestand zwar ihretwegen zwischen Sir Stephen und ihm ein
Einverständnis, von dem sie aber ausgeschlossen war, sie war
nur Anlaß oder Objekt, man hatte ihr keine Fragen mehr zu
stellen, sie hatte keine mehr zu beantworten: was sie tun sollte,
sogar was sie sein sollte, wurde ohne ihr Zutun entschieden. Es
ging auf Mittag. Die Sonne, die mit voller Macht auf den Tisch
schien, rollte die Ecken der Pho tos auf. O wollte sie beiseite
schieben und sie glätten, damit sie nicht verdorben würden, aber
sie war ihrer Bewegungen nicht sicher, sie mußte ein Stöhnen
unterdrücken, so sehr brannte sie Sir Stephens Hand. Sie konnte
nicht mehr, stöhnte wirklich und fa nd sich plötzlich auf dem
Rücken quer über dem Tisch liegend, mit gespreizten,
herabhängenden Beine, mitten in den Photos, wohin Sir Stephen
sie geworfen hatte, nachdem er seine Hand entfernt hatte. Ihre
Füße berührten den Boden nicht, eines der Pantöffelc hen glitt
hinunter, fiel lautlos auf den weißen Teppich. Ihr Gesicht war in
der prallen Sonne: sie schloß die Augen.
Später, viel später sollte sie sich an etwas erinnern, was ihr im
Augenblick gar nicht bewußt wurde: daß sie so auf dem Tisch
liegend, das Gespräch zwischen Sir Stephen und René mithörte,
so als ginge es sie nichts an und doch das Gefühl hatte, als
erlebte sie etwas zum zweiten Mal. Und es stimmte, daß sie eine
ähnliche Szene bereits erlebt hatte; denn als René sie zum ersten
Mal zu Sir Stephen geführt hatte, hatten die beiden in der
-120-
gleichen Weise über sie gesprochen. Aber dieses erste Mal war
sie Sir Stephen unbekannt gewesen und René hatte das Gespräch
geführt. Inzwischen hatte Sir Stephen sie allen seinen Launen
gefügig gemacht, hatte sie nach seinem Willen geformt, hatte
von ihr die unerhörtesten Dinge gefordert und erhalten, als
verstehe sich das von selbst. Sie hatte nichts mehr zu geben, was
er nicht schon besaß. Wenigstens glaubte sie das. Jetzt sprach er,
der vor ihr im allgemeinen so schweigsam war, und seine
Worte, wie auch die Erwiderungen Renés zeigten, daß sie ein
Thema wiederaufnahmen, das sie schon häufig besprochen
hatten und das sie zum Gegenstand hatte. Es ging darum, wie
man sie am besten verwenden, und die Erfahrungen, die sie
beide mit ihr gemacht hatten, am besten ausnutzen könne. Sir
Stephen gab gern zu, daß O unendlich erregender wirkte, wenn
ihr Körper von Malen irgendwelcher Art gezeichnet war, und sei
es nur deshalb, weil diese Male ihr eine Täuschung unmöglich
machten und auf den ersten Blick kundtaten, daß ihr gegenüber
alles erlaubt war. Denn das Wissen, war eine Sache: den Beweis
dafür vor Augen zu haben, den ständig erneuerten Beweis, war
eine andere. René, so sagte Sir Stephen, habe recht gehabt mit
seiner Forderung, daß sie gepeitscht werden solle. Sie
beschlossen, daß sie nicht nur um des Vergnügens willen, das
ihre Schreie und ihre Tränen gewähren mochten, gepeitscht
werden solle, sondern um dafür zu sorgen, daß ständig Spuren
an ihr zu sehen sein würden. O hörte, noch immer auf dem
Rücken liegend und innerlich brennend, unbeweglich zu und es
schien ihr, als spreche Sir Stephen in wunderlicher
Stellvertretung für sie, an ihrer Stelle. Als wäre er in ihrem
Körper, als hätte er die Unruhe, die Angst, die Schande
empfunden, aber auch den geheimen Stolz und die ätzende Lust,
die sie empfand, besonders wenn sie allein auf der Straße
inmitten der Passanten ging oder einen Autobus bestieg, oder
wenn sie mit den Mannequins und den Technikern im Studio
war und sich sagte, daß jeder dieser Menschen, wenn ihm ein
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Unfall zustoßen und man ihn auf die Straße betten oder einen
Arzt rufen müßte, selbst noch nackt sein Geheimnis bewahren
würde, sie dagegen nicht: ihr Geheimnis war nicht allein durch
ihr Schweigen zu bewahren, hing nicht allein von ihr ab. Sie
durfte sich, selbst wenn sie gewollt hätte, nicht die kleinste
Schwäche erlauben - genau das war der Sinn einer der Fragen
Sir Stephens - ohne sich sogleich zu erkennen zu geben, sie
konnte sich nicht die unschuldigsten Vergnügungen erlauben,
Tennisspielen oder Schwimmen. Sie empfand es als wohltuend,
daß ihr das alles faktisch unmöglich gemacht war, so wie das
Gitter des Klosters es den Nonnen faktisch unmöglich macht,
sich selbst zu gehören oder zu fliehen. Aber wie konnte sie
Jacqueline gewinnen, ohne ihr gleichzeitig, wenn nicht die
ganze Wahrheit, so doch einen Teil der Wahrheit sagen zu
müssen?
Die Sonne war weitergewandert, weg von ihrem Gesicht. Ihre
Schultern klebten an der Glasur der Photos, über denen sie lag
und an ihrem Knie spürte sie den rauhen Rand der Jacke Sir
Stephens, der sich ihr genähert hatte. René und er nahmen sie
bei den Händen und setzten sie auf. René hob ihre Pantoffel auf.
Sie mußte sich anziehen. Während des Mittagessens, das sie
danach in Saint-Cloud einnahmen, am Ufer der Seine, setzte Sir
Stephen, der jetzt mit ihr allein war, sein Verhör fort. Am Fuß
einer Ligusterhecke, die die schattige Terrasse mit den
weißgedeckten Tischen säumte, lief ein Streifen dunkelroter,
aufgeblühter Pfingstrosen. O brauchte lange, bis sie mit ihren
nackten Schenkeln den eisernen Stuhl gewärmt hatte, auf den sie
sich gehorsam mit hochgeschlagenem Rock gesetzt hatte, ohne
Sir Stephens Zeichen abzuwarten. Man hörte das Wasser an die
Boote klatschen, die am Ende der Terrasse an einem Brettersteg
vertäut lagen. Sir Stephen saß vor O, die langsam sprach,
entschlossen, nicht ein Wort zu sagen, das unwahr wäre. Sir
Stephen wollte wissen, warum Jacqueline ihr gefalle. Ah! das
-122-
war nicht schwierig: einfach weil O sie schön fand, zu schön,
wie die lebensgroßen Puppen, die man den armen Kindern
schenkt und die diese Kinder niemals anzufassen wagen. Und
zugleich wußte sie, daß sie mit Jacqueline im Grund nur deshalb
nicht sprach, sich ihr nur deshalb nicht näherte, weil sie nicht
wirklich Lust dazu hatte. Hier hob sie die Augen, die sie bisher
auf die Pfingstrosen gesenkt hatte und sah, daß Sir Stephen den
Blick auf ihre Lippen geheftet hielt. Hörte er ihr zu oder achtete
er nur auf ihre Stimme, auf die Bewegung ihrer Lippen? Sie
schwieg abrupt und Sir Stephens Blick hob sich und begegnete
dem ihren. Was sie darin las, war dieses Mal so klar und es war
ihr so klar, daß sie richtig gelesen hatte, daß sie nun ihrerseits
erbleichte. Wenn er sie so liebte, würde er ihr verzeihen, daß sie
es bemerkt hatte? Sie konnte weder die Augen abwenden, noch
lächeln oder sprechen. Wenn er sie liebte, was würde sich
ändern? Nicht um ihr Leben wäre sie imstande gewesen, die
geringste Bewegung zu machen, zu fliehen, ihre Knie hätten sie
nicht getragen. Zweifellos wollte er nie etwas anderes von ihr
als die Erfüllung seines Verlangens, solange dieses Verlangen
andauerte. Doch erklärte dieses Verlangen allein schon, daß er
sie, seit dem Tag, an dem René sie ihm übergeben hatte, immer
häufiger rief und bei sich behielt, manchmal nur ihre Gegenwart
wollte, nichts weiter? Er saß vor ihr, stumm und unbeweglich
wie sie; am Nachbartisch unterhielten sich Geschäftsleute bei
einem Kaffe, der so stark war, daß man ihn noch an ihrem Tisch
riechen konnte; zwei Amerikanerinnen, hochmütig und gepflegt,
zündeten sich schon während des Essens Zigaretten an; der Kies
knirschte unter den Schritten der Kellner - einer trat an den
Tisch, um Sir Stephens zu dreiviertel geleertes Glas
nachzufüllen, aber wozu einer Statue, einer Schlafwandlerin, zu
trinken geben? Er ging wieder weg. O spürte voll Wonne, daß
der graue und brennende Blick ihre Augen nur verließ, um sich
auf ihre Hände zu heften, ihre Brüste. Endlich sah sie den
Schatten eines Lächelns auftauchen, und wagte, es zu erwidern.
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Aber auch nur ein einziges Wort zu sprechen, war ihr
unmöglich. Sie atmete kaum. "O ...", sagte Sir Stephen. "Ja",
sagte O ganz schwach. "O, was ich Ihnen jetzt sagen will, habe
ich zusammen mit René beschlossen. Dennoch möchte ich..." Er
unterbrach sich. O erfuhr nie, ob er es deshalb tat, weil sie vor
Erregung die Augen geschlossen hatte oder ob auch ihm das
Atmen schwerfiel. Er wartete, der Kellner wechselte die Teller,
brachte O die Karte, damit sie ihr Dessert wählen konnte. O gab
die Karte Sir Stephen. Ein Souffle? Ja, ein Souffle. Dauert
zwanzig Minuten. Schön, zwanzig Minuten. Der Kellner ging.
"Ich brauche länger als zwanzig Minuten", sagte Sir Stephen.
Und er sprach mit gelassener Stimme weiter und was er sagte,
bewies O sogleich, daß zumindest eine Sache feststand, nämlich
daß, selbst falls er sie liebte, nichts dadurch geändert würde, es
sei denn, man wolle diesen seltsamen Respekt, diese Glut, mit
der er zu ihr sprach, als Änderung werten: "Ich würde glücklich
sein, wenn Sie sich bereitfänden..." anstatt sie einfach
aufzufordern, seinen Wünschen nachzukommen. Denn es
handelte sich um nichts anderes als um Befehle, denen O sich
ohnehin nicht hätte entziehen können. Sie machte Sir Stephen
darauf aufmerksam. Er gab es zu. "Antworten Sie trotzdem",
sagte er. "Ich werde tun, was Sie wünschen", antwortete O und
das Echo dessen, was sie gesagt hatte, klang ihr im Ohr: "Ich
werde tun, was du wünschst", hatte sie zu René gesagt. Sie
flüsterte: "René..." Sir Stephen hatte es gehört. "René weiß, was
ich von Ihnen will. Hören Sie mir zu." Er sprach englisch, aber
mit einer tiefen und tonlosen Stimme, die man an den
Nebentischen nicht hören konnte. Wenn die Kellner in die Nähe
kamen, schwieg er, nahm den Satz wieder auf, sobald sie sich
entfernten. Was er sagte, schien unerhört an diesem jedermann
zugänglichen und friedlichen Ort, das Unerhörteste war jedoch,
daß er mit solcher Selbstverständlichkeit es sagen und daß O es
anhören konnte. Er erinnerte sie zunächst, daß sie am ersten
Abend, den sie bei ihm verbrachte, einem seiner Befehle nicht
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gehorcht hatte und machte sie darauf aufmerksam, daß er diesen
Befehl, obwohl er sie damals dafür geohrfeigt hatte, nicht
wiederholt habe. Würde sie ihm jetzt gewähren, was sie damals
verweigert hatte? O begriff, daß sie nicht nur schweigend nicken
sollte, sondern daß er in entsprechenden Worten aus ihrem
Munde hören wollte, ja, sie würde sich selbst berühren, sooft er
es von ihr verlange. Sie sagte es und sah wieder den gelb und
grauen Salon vor sich, René, ihre Auflehnung an diesem ersten
Abend, das Feuer, das zwischen ihren gespreizten Knien glühte,
als sie nackt auf dem Teppich lag. Heute Abend, in diesem
gleichen Salon... Aber nein, Sir Stephen machte keine genauen
Angaben, er fuhr fort. Er wies sie darauf hin, daß sie in seiner
Gegenwart niemals René angehört habe, (auch keinem anderen
Mann) wie sie in Renés Gegenwart ihm angehört hatte (und in
Roissy vielen anderen Männern). Sie dürfte daraus nicht
schließen, daß ihr von René allein die Demütigung zuteil werde,
sich einem Mann hingeben zu müssen, der sie nicht liebte - vor
einem Mann, der sie liebte. (Es blieb bei diesem Thema, so lang,
mit so brutaler Ausführlichkeit: sie würde bald ihren Schoß und
ihre Lenden und ihren Mund allen seinen Freunden öffnen, die
sie kennenlerne und Verlangen nach ihr haben würden - daß O
zweifelte, ob diese Brutalität nicht ebensosehr gegen ihn selbst
wie gegen sie gerichtet sei und sie behielt nur das Ende des
Satzes: ein Mann, der sie liebte. Welches andere Geständnis
wollte sie hören?) Im übrigen wollte er selbst sie im Lauf des
Sommers nach Roissy zurückbringen. Hatte sie sich niemals
darüber gewundert, daß zuerst René und dann er selbst sie so
isoliert gehalten hatten? Sie sah nur sie beide, sei es zusammen,
sei es einzeln. Wenn Sir Stephen in seinem Haus in der Rue de
Poitiers Gäste hatte, holte er O niemals. Nie hatte sie bei ihm zu
Mittag oder zu Abend gegessen, niemals hatte René ihr seine
Freunde vorgestellt, mit Ausnahme Sir Stephens. Zweifellos
würde er sie auch weiterhin von allen fernhalten, denn von nun
an besaß Sir Stephen das Verfügungsrecht über sie. Sie dürfe
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nicht glauben, daß sie als sein Eigentum nun weniger wie eine
Gefangene behandelt würde, im Gegenteil. (Aber O begriff
schlagartig nur das eine: daß Sir Stephen ihr gegenüber die
gleiche Rolle spielen würde wie René, mit ihm identisch sein
würde.) Der Ring aus Eisen und Gold, den sie an der linken
Hand trug - erinnerte sie sich, wie er ihn so eng gewählt hatte,
daß sie ihn nur mit Mühe an den Ringfinger stecken konnte? Sie
konnte ihn nicht mehr abziehen - war das Zeichen, daß sie
Sklavin war, aber Sklavin aller. Der Zufall hatte es gewollt, daß
sie seit dem Herbst keine Gäste des Schlosses von Roissy
getroffen hatte, die ihre Eisen bemerkt und Konsequenzen
daraus gezogen hatten. Das Wort Eisen, im Plural gebraucht, in
dem sie ein Wortspiel gesehen hatte, als Sir Stephen ihr damals
sagte, die Eisen stünden ihr gut, war keineswegs ein Wortspiel,
sondern eine Losung. Sir Stephen hatte die zweite Losung nicht
anzuwenden brauchen: nämlich, wem die Eisen gehörten, die sie
trug. Aber was würde O antworten, wenn man ihr diese Frage
heute stellte? O zögerte: "René und Ihnen", sagte sie. - "Nein",
sagte Sir Stephen, "mir. René wünscht, daß Sie vor allem von
mir abhängen sollen." O wußte es genau, warum versuchte sie,
falsch zu spielen? In kurzer Zeit, auf jeden Fall vor ihrer
Rückkehr nach Roissy, würde sie ein endgültiges Kennzeichen
erhalten, das sie nicht davon befreien werde, die Sklavin aller zu
sein, sie jedoch unter anderen als seine besondere Sklavin
ausweisen werde und neben dem die Spuren der Peitsche oder
des Reitstocks auf ihrem Körper, selbst wenn sie dauernd
erneuert würden, diskret und flüchtig wirkten. (Aber welches
Kennzeichen, worin würde es bestehen, wieso würde es
endgültig sein? O war schreckensstarr, fasziniert, sie starb vor
Neugier, es zu erfahren und zwar sofort. Aber Sir Stephen
wollte sich offenbar nicht näher erklären. Und es stimmte, daß
sie ja sagen, zustimmen sollte im wahren Sinne des Wortes,
denn es würde ihr nichts gewaltsam angetan werden, dem sie
nicht vorher zugestimmt hätte, sie konnte sich weigern, nichts
-126-
hielt sie in ihrer Sklaverei, als ihre Liebe und eben ihr
Sklaventum. Was hinderte sie daran, fortzugehen?) Aber ehe
dieses Kennzeichen ihr aufgeprägt würde, auch ehe Sir Stephen
zu der Gewohnheit übergehen würde, sie, wie er mit René
beschlossen hatte, so zu peitschen, daß die Spuren dauernd
sichtbar sein würde, sollte ihr ein Aufschub gewährt werden -
soviel Zeit, wie sie brauchte, um Jacquelines Widerstand zu
brechen. Hier hob O verwundert den Kopf und sah Sir Stephen
an. Warum? Warum Jacqueline? Und wie hänge Sir Stephens
Interesse für Jacqueline mit O zusammen? "Es gibt zwei
Gründe", sagte Sir Stephen. "Der erste und weniger wichtige ist
der, daß ich sehen möchte, wie Sie eine Frau küssen und
berühren." - "Aber wie glauben Sie", rief O, "daß sie sich dazu,
wenn überhaupt, in Ihrer Gegenwart bereitfindet?" "Das ist eine
Kleinigkeit", sagte Sir Stephen, "notfalls kann man sie
hintergehen, und ich rechne damit, daß Sie noch viel mehr bei
ihr erreichen, denn der zweite Grund, warum ich will, daß sie
sich Ihnen ergibt, ist der, daß Sie Jacqueline nach Roissy
bringen müssen." O stellte die Kaffeetasse ab, die sie in der
Hand hielt, sie zitterte so sehr, daß sie den Rest aus Kaffeesatz
und Zucker auf das Tischtuch verschüttete. Wie eine Seherin
erblickte sie in dem größer werdenden braunen Fleck
unerträgliche Bilder: Jacquelines Eisaugen vor dem Diener
Pierre, ihre Hüften, die bestimmt ebenso goldfarben waren wie
ihre Brüste und die O noch nie gesehen hatte, von ihrem weiten,
hochgeschürzten Samtkleid entblößt, auf dem Flaum der
Wangen Tränen und der geschminkte Mund aufgerissen und
schreiend und das glatte Haar wie geschnittenes Stroh in ihrer
Stirn, nein, das war unmöglich, nicht sie, nicht Jacqueline. "Das
ist nicht möglich, das geht nicht", sagte sie. - "Oh doch",
erwiderte Sir Stephen. "Wie glauben Sie denn, daß die Mädchen
nach Roissy kommen? Sobald Sie sie einmal dorthin gebracht
haben, geht das ganze Sie nichts mehr an und außerdem, wenn
sie weg will, kann sie ja weg. Kommen Sie." Er war abrupt
-127-
aufgestanden und hatte das Geld für die Rechnung auf den Tisch
gelegt. O folgte ihm zum Wagen, stieg ein, setzte sich. Sie
waren kaum im Bois de Boulogne, als er einen Umweg
einschlug, um in einer kleinen Seitenallee zu parken und sie in
seine Arme nahm.
-128-
III ANNEMARIE UND DIE RINGE
O hatte geglaubt, oder, um eine Entschuldigung zu haben,
glauben wollen, daß Jacqueline unnahbar sei. Sie wurde eines
anderen belehrt, sobald ihr darum zu tun war. Das sittsame
Gehabe, das Jacqueline an den Tag legte, wenn sie die Tür des
kleinen Spiegelkabinetts schloß, wo sie ihre Kleider an und
auszog, war nur darauf berechnet, O zu locken, ihr Appetit
darauf zu machen, eine Tür aufzubrechen, die sie nicht hätte
durchschreiten wollen, wenn sie offen gewesen wäre. Daß Os
Entschluß jedoch von einem fremden Willen bestimmt wurde,
nicht das Resultat dieser primitiven Strategie war, ahnte
Jacqueline nicht im entferntesten. O machte das zuerst Spaß.
Wenn zum Beispiel Jacqueline jetzt, nachdem O ihr beim
Frisieren geholfen hatte, ihre Vorführkleider auszog und den
hochgeschlossenen Pullover und die Türkiskette anlegte, die so
gut zu ihren Augen paßte, empfand O ein seltsames Vergnüge n
bei dem Gedanken, daß noch am gleichen Abend Sir Stephen
von jeder Bewegung Jacquelines erfahren würde, ob sie O
erlaubt hatte, die beiden kleinen, weit auseinanderstehenden
Brüste unter dem Pullover zu berühren, ob ihre Lider die
Wimpern, die heller waren, als ihre Haut, auf die Wangen
gesenkt hatten, ob sie gestöhnt hatte. Wenn O sie küßte, wurde
sie in ihren Armen ganz schwer, unbeweglich und
erwartungsvoll, ließ sich den Mund öffnen und die Haare in den
Nacken ziehen. O mußte immer darauf achten, sie an eine
Türfüllung zu lehnen oder gegen einen Tisch und sie an den
Schultern festzuhalten. Sie wäre sonst zu Boden geglitten, mit
geschlossenen Augen, ohne einen Klagelaut. Sobald O sie
losließ, wurde sie wieder zu Rauhreif und Eis, lachend und
fremd, sie sagte: "Ihr Lippenstift hat abgefärbt" und wischte sich
den Mund ab. An dieser Fremden wollte O Verrat üben, wenn
sie so sorgfältig - um nichts zu vergessen und alles berichten zu
-129-
können - das langsame Erröten ihrer Wangen beobachtete, den
Salbeigeruch ihres Schweißes einatmete. Man konnte nicht
sagen, daß Jacqueline sich verteidigte oder argwöhnisch war.
Wenn sie sich von O küssen ließ - sie hatte bisher die Küsse nur
hingenommen, ohne sie zu erwidern - dann gab sie sich ohne
Zögern, rückhaltlos, wurde plötzlich ein anderes Wesen, zehn
Sekunden lang, fünf Minuten lang. Die übrige Zeit war sie
zugleich herausfordernd und ängstlich, unglaublich geschickt im
Ausweichen, nie unterlief ihr ein Fehler in dem Bemühen, sich
weder mit einer Geste noch mit einem Wort oder auch nur
einem Blick eine Blöße zu geben, die es erlaubt hätte,
Jacqueline die Siegerin und Jacqueline die Besiegte als eine
Person zu sehen, verraten hätte, daß es so leicht war, ihren
Mund zu erobern. Das einzige Indiz, das Aufschluß gab und
vielleicht die Bewegung unter dem stillen Wasserspiegel ihres
Blicks verriet, war der Schatten eines unwillkürlichen Lächelns,
der gelegentlich über das dreieckige Gesicht glitt, so rätselhaft
und flüchtig wie ein Katzenlächeln und genauso beunruhigend.
O brauchte jedoch nicht lange, bis sie herausfand, daß zwei
Dinge dieses Lächeln zeitigten, ohne daß Jacqueline sich seiner
bewußt wurde. Einmal die Geschenke, die man ihr machte, zum
zweiten der Anblick des Begehrens, das sie erweckte -
vorausgesetzt allerdings, daß dieses Begehren sich bei
jemandem zeigte, der ihr nützlich sein konnte oder ihr
schmeichelte. In welcher Hinsicht konnte O ihr wohl nützlich
sein? Oder fand Jacqueline ausnahmsweise einfach Gefallen
daran, von ihr begehrt zu werden, weil die Bewunderung, die O
ihr entgegenbrachte, ihr wohltat und auch, weil das Begehren
einer Frau keine Gefahr und keine Folgen mit sich bringt? O war
überzeugt, daß sie Jacqueline anstelle des Perlmutterclips oder
des letzten Hermes-Halstuchs mit dem aufgedruckten Ich liebe
dich in sämtlichen Sprachen der Welt, nur die hundert oder
zweihundert Francs hätte schenken brauchen, die Jacqueline
ständig zu fehlen schienen, und sie hätte nicht mehr behauptet,
-130-
keine Zeit zu haben, um zu O zum Mittagessen oder einem
Imbiß zu kommen, hätte sich nicht mehr ihren Berührungen
entzogen. Aber den Beweis dafür bekam O niemals. Sie hatte
kaum darüber zu Sir Stephen gesprochen, der ihr vorwarf, zu
langsam vorzugehen, als auch schon René eingriff. Die
fünfsechs Male, die René O abgeholt hatte, waren sie alle drei
entweder zu Weber gegangen oder in eine der englischen Bars
rund um die Madeleine; René betrachtete Jacqueline mit genau
der gleichen Mischung aus Interesse, Sicherheit und
Unverschämtheit, mit der er in Roissy die Mädchen betrachtete,
die ihm ausgeliefert waren. Von Jacquelines strahlender und
fester Rüstung glitt die Unverschämtheit wirkungslos ab,
Jacqueline bemerkte sie nicht einmal. O dagegen wurde
widersinnigerweise davon betroffen, sie fand eine Haltung, die
sie sich selbst gege nüber richtig und natürlich fand, Jacqueline
gegenüber beleidigend. Wollte sie Jacquelines Verteidigung
übernehmen oder wünschte sie, Jacqueline allein zu besitzen?
Sie hätte es selbst kaum sagen können, zumal sie Jacqueline ja
nicht besaß - noch nicht. Aber sollte es ihr gelingen, so müßte
sie zugeben, daß sie es René zu verdanken hätte. Dreimal hatte
er sie nach dem Besuch einer Bar, wo er Jacqueline viel mehr
Whisky zu trinken gegeben hatte, als sie vertragen konnte - ihre
Wangen wurden rosig und glänzend, ihre Augen hart - nach
Hause gebracht, eh er mit O zu Sir Stephen gefahren war.
Jacqueline wohnte in einer dieser düsteren Familienpensionen in
Passy, wo die Weißrussen sich in den ersten Tagen der
Einwanderung zusammengedrängt hatten, um sich nie wieder
wegzurühren. Die Diele hatte einen Anstrich, der wie
Eichentäfelung aussehen sollte, zwischen den Stäben des
Treppengeländers lag dicker Staub und der grüne Läufer wies
große abgetretene Flecken auf. René - der niemals die Schwelle
überschritten hatte - wollte jedesmal mit hineingehen, jedesmal
rief Jacqueline nein, rief danke schön, sprang aus dem Wagen
und warf die Tür hinter sich zu, als hätte eine Flammenzunge sie
-131-
plötzlich erfassen und verbrennen können. Und es stimmte,
dachte O, daß das Feuer hinter ihr her war. Es war
bewundernswert, daß sie es ahnte, eh noch irgend etwas sie
gewarnt hatte. Zumindest wußte sie, daß sie sich vor René hüten
mußte, so ungerührt sie auch sein Desinteresse zu lassen schien
(aber tat es das wirklich? denn was das Ungerühr tscheinen
anlangte, so schauspielerte er genauso gut wie sie). Als
Jacqueline sie ein einziges Mal hatte ins Haus und in ihr Zimmer
kommen lassen, verstand O, warum sie René so ungestüm den
Eintritt verwehrte. Was wäre aus ihrem Prestige geworden, aus
ihrer schwarzweiß Legende auf den Glanzpapierseiten der
teueren Modehefte, wenn jemand anderer als eine Frau wie sie,
O, gesehen hätte, aus welcher schmutzigen Höhle das
seidigglänzende Raubtier hervorkam? Das Bett wurde nie
gemacht, nur eine Decke darübergeworfen unter der ein graues,
fettiges Laken hervorschaute, denn Jacqueline legte sich niemals
schlafen, ohne ihr Gesicht mit Nährcreme zu massieren und sie
schlief immer ein, eh sie es wieder abwischen konnte. Früher
einmal mußte ein Vorhang die Waschecke verborgen haben, nun
baumelten noch zwei Ringe an der Stange, von denen ein paar
Stoffetzen hingen. Nichts hatte mehr Farbe, weder der Teppich
noch die Tapete, an der die graurosa Blumen sich hochrankten
wie wilde und versteinerte Gewächse an einem aufgemalten
weißen Spalier. Man hätte alles abreißen müssen, die Wände
freilegen, die Teppiche hinauswerfen, den Fußboden abhobeln.
Auf jeden Fall sofort die Schmutzbahnen wegscheuern, die wie
eine Marmorierung das Emaille des Waschbeckens streiften,
sofort die Fla schen mit Reinigungsmilch und die Cremetöpfe
säubern und ordnen, die Puderdose abwischen, den Frisiertisch
abwischen, die gebrauchten Wattebäusche wegwerfen, die
Fenster öffnen. Doch Jacqueline kerzengerade, sauber und nach
Zitronelle und wilden Blumen riechend, untadelig und
unberührbar, bedrückte diese Höhle überhaupt nicht. Was sie
dagegen bedrückte, was ihr auf die Nerven ging, war ihre
-132-
Familie. Die Höhle, über die O zu René offen sprach, gab den
Anstoß, daß René über O den Vorschlag machte, der ihrer aller
Leben ändern sollte, aber die Familie bewirkte, daß Jacqueline
diesen Vorschlag annahm. Nämlich daß Jacqueline zu O ziehen
solle. Eine Familie war gelinde ausgedrückt, es war eine Sippe
oder vielmehr eine Horde. Großmutter, Tante, Mutter und sogar
eine Dienerin, vier Frauen zwischen fünfzig und siebzig Jahren,
geschminkt, laut, erstickend unter schwarzen Seiden und
Jettschmuck, schluchzend um vier Uhr morgens im
Zigarettenqualm vor dem roten Lämpchen der Ikonen, vier
Frauen im Klirren der Teegläser und im rauhen Gezisch einer
Sprache, die Jacqueline um den Preis ihres halben Lebens hätte
vergessen mögen. Es machte Jacqueline verrückt, daß sie ihnen
gehorchen mußte, sie anhören, allein schon, daß sie sie
überhaupt sehen mußte. Wenn sie sah, wie ihre Mutter beim
Teetrinken ein Zuckerstück zum Mund führte, dann stellte sie
ihr eigenes Glas wieder ab, floh in ihren staubigen und kargen
Stall und ließ die drei, die Großmutter, die Mutter, die
Schwester ihrer Mutter - alle drei mit schwarzgefärbten Haaren
und zusammengewachsenen Brauen, großen, vorwurfsvollen
Rehaugen - im Zimmer ihrer Mutter zurück, das auch als Salon
diente. Jacqueline floh, schlug die Türen hinter sich zu und man
rief ihr nach "Choura, Choura, mein Täubchen", wie in den
Romanen von Tolstoi, denn sie hieß nicht Jacqueline. Den
Namen Jacqueline hatte sie sich für ihren Beruf zugelegt, hatte
ihn sich zugelegt, um ihren wirklichen Namen zu vergessen und
mit diesem wirklichen Namen die zärtliche Nestwärme des
schmierigen Frauengemachs, um sich einen Platz im hellen
Licht Frankreichs zu schaffen, in einer soliden Welt, in der es
Männer gibt, die einen heiraten und die nicht auf
geheimnisvollen Expeditionen verschwinden wie ihr Vater, den
sie nie gekannt hatte, der baltische Seemann, der im Polareis
verschollen war. Ihm allein war sie ähnlich, sagte sie sich voll
Zorn und Entzücken, von ihm hatte sie das Haar und die
-133-
Wangenknochen und die getönte Haut und die
schräggeschnittenen Augen. Sie war ihrer Mutter einzig dafür
dankbar, daß sie ihr diesen blonden Teufel zum Vater gegeben
hatte, der in den Schoß des Schnees zurückgekehrt war wie
andere Menschen in den Schoß der Erde. Aber sie zürnte ihr,
weil sie ihn so gründlich hatte vergessen können, daß eines
Tages ein kleines, dunkles Mädchen, das Kind einer kurzen
Liaison, geboren wurde, eine Halbschwester, Vater unbekannt,
die Natalie hieß und jetzt fünfzehn Jahre alt war. Man bekam
Natalie nur in den Ferien zu Gesicht. Ihren Vater niemals. Aber
er bezahlte für Natalie das Pensionsgeld in einem Internat bei
Paris und für Natalies Mutter eine Rente, von der die drei
Frauen und die Dienerin - und sogar Jacqueline bis dato -
bescheiden lebten, in einem Müßiggang, der für sie das Paradies
war. Was Jacqueline in ihrem Beruf als Mannequin verdiente,
oder als Modell, wie man nach amerikanischem Stil sagte, und
was sie nicht für Schminken oder Wäsche ausgab oder für
Schuhe aus ersten Häusern oder Kleider aus ersten Häusern -
Käufe zu Vorzugspreisen, die jedoch immer noch sehr hoch
waren - floß in die Familienkasse und verschwand auf
unerklärliche Weise. Sicher, Jacqueline hätte sich aushaken
lassen können, an Gelegenheit dazu hätte es ihr nicht gefehlt.
Sie hatte sich einen oder zwei Liebhaber zugelegt, weniger weil
sie ihr gefielen - sie mißfielen ihr nicht - als um sich zu
beweisen, daß sie imstande war, Begehren und Liebe zu
wecken. Der eine der beiden, der zweite, der reich war, hatte ihr
eine sehr schöne, rosig getönte Perle geschenkt, die sie an der
linken Hand trug, aber sie hatte sich geweigert, bei ihm zu
wohnen und da er sich weigerte, sie zu heiraten, hatte sie ihn
ohne großes Bedauern verlassen, erleichert darüber, daß sie
nicht schwanger war (sie hatte es befürchtet und ein paar Tage
lang in Entsetzen gelebt). Mit diesem Geliebten
zusammenzuwohnen, hieß, das Gesicht zu verlieren, die Chance
auf eine Zukunft zu verlieren, es wäre das, was ihre Mutter mit
-134-
Natalies Vater gemacht hatte, es war unmöglich. Aber mit O
war alles anders. Eine höfliche Fiktion erlaubte die Auslegung,
Jacqueline installiere sich einfach bei einer Freundin, mache
Halbpart mit ihr. O erfüllte einen doppelten Zweck, sie spielte
für Jacqueline die Rolle des Geliebten, der das Mädchen
unterhält, das er liebt, oder zu ihrem Unterhalt beiträgt, und die
im Prinzip entgegengesetzte Rolle einer moralischen Bürgschaft.
Renés Anwesenheit war nicht so offiziell, daß sie die Fiktion
ernstlich gefährdet hätte. Doch wer konnte sagen, ob der Grund,
warum Jacqueline das Angebot angenommen hatte, nicht eben
diese Anwesenheit Renés war? Sicher war jedenfalls, daß es Os
und ausschließlich Os Sache war, bei Jacquelines Mutter
vorzusprechen. Niemals hatte O sich so entschieden als
Verräterin, als Spionin gefühlt, als Abgesandte einer
verbrecherischen Organisation, als vor dieser Frau, die ihr für
ihre Freundlichkeit gegenüber der Tochter dankte. Zugleich
verleugnete sie im Grund ihres Herzens ihren Auftrag und den
Grund ihres Kommens. Ja, Jacqueline würde zu ihr ziehen, aber
nie, niemals würde O ihren Gehorsam gegenüber Sir Stephen so
weit treiben können, daß sie Jacqueline ins Verderben zöge. Und
doch... Denn Jacqueline hatte sich kaum bei O installiert, und
zwar - auf Renés Verlangen - in dem Zimmer, das René
zuweilen scheinbar bewohnte (scheinbar, da er immer in Os
großem Bett schlief), als O sich wider alle Erwartung von dem
heftigen Begehren überrascht fand, Jacqueline zu besitzen, koste
es, was es wolle, und wenn sie, um ihr Ziel zu erreichen,
Jacqueline ausliefern müßte. Schließlich, sagte sie sich, war
Jacquelines Schönheit ihr bester Schutz, was habe ich mich
einzumischen, und wenn man sie soweit bringen sollte, wie man
mich gebracht hat, ist das ein so großes Unglück? - und sie
gestand sich selbst nicht ein, obgleich der Gedanke daran sie
berauschte, wie köstlich es sein würde, Jacqueline nackt und
wehrlos vor sich zu sehen.
Während der Woche von Jacquelines Einzug, nachdem ihre
-135-
Mutter in alles eingewilligt hatte, zeigte René sich höchst
aufmerksam, er lud die jungen Mädchen jeden zweiten Tag zum
Abendessen ein, führte sie in Filme, die er eigens auswählte,
sonderbarerweise lauter Kriminalfilme, die von
Rauschgifthandel oder Menschenschmuggel handelten. Er setzte
sich zwischen die beiden, nahm jede sanft bei der Hand und
sprach kein Wort. Aber O sah, wie er bei jeder Gewaltszene auf
eine Regung in Jacquelines Zügen lauerte. Es zeigte sich darin
nur ein leichter Ekel, der die Mundwinkel nach unten zog.
Danach brachte er sie nach Hause und im offenen Wagen mit
den herabgelassenen Scheiben peitschten der Nachtwind und die
Geschwindigkeit Jacquelines helles und buschiges Haar über die
harten Wangen, die kleine Stirn und bis in ihre Augen. Sie
schüttelte den Kopf, um sie zurückzuwerfen, fuhr mit der Hand
hindurch, wie ein Junge. Sobald sie sich an die Tatsache
gewöhnt hatte, daß sie bei O wohnte und daß O die Geliebte
Renés war, schien Jacqueline Renés Vertraulichkeiten als
natürliche Begleiterscheinungen zu werten. Sie ließ es ohne
weiteres zu, daß René in ihr Zimmer kam, unter dem Vorwand,
er habe irgend ein Dokument dort vergessen, was nicht wahr
war, O wußte es, sie hatte selbst die Schubladen des großen
holländischen Schreibschranks mit der Intarsienarbeit und der
lederbezogenen Schreibplatte, der so wenig zu René paßte,
geleert. Warum hatte er diesen Schrank? Von wem? Seine
schwere Eleganz, die hellen Hölzer waren der einzige Luxus in
diesem ein wenig düsteren Nordzimmer, das auf den Hof
hinausging und dessen stahlgraue Wände und kalter,
wohlgewachster Fußboden einen solchen Kontrast bildeten zu
den fröhlichen Zimmern der Quaiseite. Das war ausgezeichnet,
Jacqueline würde es dort nicht gefallen. Sie würde um so eher
einverstanden sein, mit O die beiden Vorderzimmer zu teilen,
bei O zu schlafen, wie sie vom ersten Tag an einverstanden war,
Badezimmer und Küche, die Schminken, die Parfüms und die
Mahlzeiten mit ihr zu teilen. Worin O sich täuschte. Jacqueline
-136-
hing leidenschaftlich an Dingen, die ihr gehörten - an ihrer rosa
Perle zum Beispiel - war aber absolut gleichgültig gegen alles,
was ihr nicht gehörte. Sie hätte ein Palais bewohnen können, es
wäre ihr gleichgültig geblieben, bis man ihr gesagt hätte: das
Palais gehört Ihnen, und es ihr durch notarielle Bestätigung
bewiesen hätte. Ob das graue Zimmer ansprechend war oder
nicht, ließ sie völlig kalt, und wenn sie doch in Os Bett schlief,
so nicht, um dieses Zimmer zu meiden. Eher um O eine
Dankbarkeit zu beweisen, die sie nicht empfand - die dafür O ihr
entgegenbrachte - und aus der sie doch mit Freuden Kapital
schlug, wie sie glaubte. Jacqueline liebte die Wollust und fand
es angenehm und praktisch, sie von einer Frau zu empfangen,
bei der sie nichts riskierte. Am fünften Tag nach ihrem Einzug,
als René die beiden zum dritten Mal gegen zehn Uhr nach einem
gemeinsamen Abendessen nach Hause gebracht hatte und
wieder weggefahren war - denn wie die beiden ersten Male fuhr
er wieder weg - erschien sie einfach, nackt und noch feucht von
ihrem Bad, in der Tür zu Os Zimmer, sagte zu O: "Er kommt
nicht zurück, sind Sie sicher?" und ohne die Antwort
abzuwarten schlüpfte sie in das große Bett. Sie ließ sich mit
geschlossenen Augen küssen und liebkosen, erwiderte keine
einzige Liebkosung, stöhnte zuerst ein bißchen, dann stärker,
dann noch stärker und schrie endlich laut. Sie schlief unter dem
vollen Licht der rosa Lampe ein, quer über dem Bett liegend mit
gestreckten und ge spreizten Knien, den Oberkörper leicht zur
Seite gedreht, die Hände geöffnet. Man sah den Schweiß
zwischen ihren Brüsten glänzen. O deckte sie zu, löschte die
Lampe. Als sie sie zwei Stunden später im Dunkeln nahm, ließ
Jacqueline es geschehen, murmelte nur: "Ermüde mich nicht zu
sehr, ich muß morgen früh aufstehen."
Um diese Zeit nahm Jacqueline neben ihrer saisonbedingten
Arbeit als Mannequin ein nicht minder unregelmäßiges, aber
anspruchsvolleres Metier auf: sie bekam ein Engagement für
kleine Filmrollen. Es war schwer zu sagen, ob sie stolz darauf
-137-
war oder nicht, ob sie darin den Anfang einer Laufbahn sah, von
der sie sich Ruhm erhoffte. Sie riß sich morgens mit mehr Wut
als Schwung aus dem Bett, duschte und schminkte sich hastig,
nahm nur die große Tasse Kaffee zu sich, die O ihr gerade noch
bereiten konnte und ließ sich mechanisch lächelnd und wütend
starrend die Fingerspitzen küssen: O war süß und lau in ihrem
weißen Morgenrock aus Vicunawolle, mit gebürstetem Haar und
gewaschenem Gesicht, dem Aussehen eines Menschen, der sich
gleich nochmals Schlafen legt. Aber das tat sie nicht. O hatte
noch nicht gewagt, Jacqueline den Grund dafür zu erklären. An
den Tagen, an denen Jacqueline in das Studio nach Boulogne
ging, um die Zeit, zu der die Kinder zur Schule gehen und die
kleinen Angestellten in ihre Büros, zog auch O, die früher
tatsächlich fast den ganzen Vormittag zuhause geblieben war,
sich an: "Ich schicke Ihnen meinen Wagen, hatte Sir Stephen
gesagt, er wird Jacqueline nach Boulogne bringen und danach
Sie abholen." O begab sich also jeden Morgen zu Sir Stephen,
wenn die Sonne in den Straßen erst die Ostseite der Häuser traf;
die anderen Mauern waren kühl, aber in den Gärten wurden die
Schatten unter den Bäumen kürzer. In der Rue de Poitiers war
der Haus halt noch nicht in Schwung. Norah, die Mulattin führte
O in das Zimmer, wo Sir Stephen sie am ersten Abend allein
hatte schlafen und weinen lassen, wartete, bis O ihre
Handschuhe, die Tasche und die Kleider auf dem Bett abgelegt
hatte, nahm alles und verwahrte es vor O in einem
Wandschrank, dessen Schlüssel sie an sich nahm, dann gab sie
O hochhackige Lackpantöffelchen, die beim Gehen klapperten
und ging ihr voraus, öffnete ihr die Türen, führte sie vor Sir
Stephens Büro, trat zurück und ließ sie hineingehe n. O
gewöhnte sich niemals an diese Vorbereitungen und sich vor
dieser geduldigen Frau auszuziehen, die nie zu ihr sprach und
sie kaum ansah, erschien ihr genauso gräßlich, wie nackt vor
den Blicken der Diener in Roissy zu stehen. Auf Filzpantoffeln,
wie eine Nonne, glitt die Mulattin geräuschlos dahin. Während
-138-
sie ihr folgte, vermochte O den Blick nicht von den beiden
Zipfeln ihres Kopftuchs zu wenden und von der braunen,
mageren Hand, die sich, sooft sie eine Tür öffnete, um den
Porzellanknauf legte und hart zu sein schien wie altes Holz.
Zugleich empfand O dank eines, dem Schrecken genau
entgegengesetzten Gefühls, das die Alte ihr einflößte - O konnte
sich diesen Widerspruch nie erklären - eine Art Stolz, weil diese
Dienerin Sir Stephens (Was war sie für Sir Stephen und warum
betraute er sie mit dieser Rolle der Kupplerin für die sie so gar
nicht geschaffen schien?) sah, daß auch sie, O, - wie vielleicht
so manche andere, die genau so von der Alten zu ihm geführt
wurden, wer weiß - würdig war, Sir Stephen zu dienen. Denn Sir
Stephen liebte sie vielleicht, liebte sie ohne Zweifel, und O
fühlte, daß der Augenblick nicht mehr fern war, wo er es ihr
nicht mehr zu verstehen geben, sondern es ihr sagen würde -
doch im gleichen Maß, in dem seine Liebe zu ihr oder sein
Verlangen nach ihr wuchsen, stellte er auch immer größere
Forderungen an ihre Geduld, ihre Ausdauer, ihre Genauigkeit.
Er behielt sie ganze Vormittage lang bei sich, berührte sie
manchmal kaum, verlangte nur, daß sie ihn mit dem Mund
berührte und sie tat alles, worum er sie bat mit einer
Dankbarkeit, die um so größer war, je mehr die Bitte die Form
eines Befehls annahm. Jede Hingabe war ihr die Garantie dafür,
daß man eine noch weitergehende Hingabe von ihr fordern
werde, sie entledigte sich ihrer wie einer Schuld; seltsam, daß es
sie überglücklich machte, aber das war sie. Sir Stephens Büro
lag über dem gelb und grauen Salon, wo er sich des Abends
aufhielt und war kleiner und niedriger. Es stand weder Sofa
noch Liege darin, nur zwei mit geblümtem Gobelin bezogene
Régence-Sessel. Dorthin setzte O sich manchmal, doch meist
wollte Sir Stephen sie ganz in der Nähe haben, in Reichweite,
und auch während er sich nicht mit ihr beschäftigte, mußte sie
zu seiner Linken auf dem Schreibtisch sitzen. Der Schreibtisch
stand senkrecht zur Wand. O konnte sich an die Regale lehnen,
-139-
die Wörterbücher und gebundene Adreßbücher enthielten. Das
Telephon stand neben ihrem linken Schenkel und sie fuhr
zusammen, sooft es klingelte. Sie nahm den Hörer ab, meldete
sich, sagte: "W er spricht, bitte?" wiederholte den Namen mit
lauter Stimme, gab das Gespräch entweder an Sir Stephen weiter
oder sagte, er sei nicht zu sprechen, je nach dem Zeichen, das er
ihr machte. Wenn er einen Besucher empfangen mußte, meldete
die alte Norah ihn an, Sir Stephen ließ bitten, zu warten,
inzwischen führte Norah O wieder in das Zimmer, wo sie sich
ausgezogen hatte und wo Norah sie wieder abholte, wenn der
Besucher fort war und Sir Stephen klingelte. Da Norah
allmorgendlich mehrmals das Arbeitszimmer betrat und verließ,
sei es, um Sir Stephen Kaffee zu bringen oder die Post, sei es,
um die Jalousien hochzuziehen oder herunterzulassen oder die
Aschenbecher zu leeren, und da sie allein die Erlaubnis hatte,
das Zimmer zu betreten, aber auch den Befehl, niema ls
anzuklopfen, passierte es, daß O einmal gerade über dem
Schreibtisch lag, Kopf und Arme auf den Lederbelag gestützt,
Kruppe hochgereckt, als Norah eintrat. Sie hob den Kopf. Hätte
Norah sie, wie sonst, nicht angesehen, so hätte O nicht weiter
darauf geachtet. Doch dieses Mal war es klar, daß Norah Os
Blick begegnen wollte. Die glänzenden, harten schwarzen
Augen, von denen man nicht wußte, ob sie gleichgültig waren
oder nicht, das zerfurchte und unbewegliche Gesicht, machten O
so befangen, daß sie zu einer Bewegung ansetzte, um sich Sir
Stephen zu entziehen. Er begriff, preßte ihre Taille mit einer
Hand fest auf den Tisch, so daß sie nicht entschlüpfen konnte,
öffnete sie mit der anderen. Sie, die sich ihm sonst stets willig
darbot, wurde unwillkürlich verkrampft und eng und Sir Stephen
mußte Gewalt anwenden. Selbst als er in sie gelitten war spürte
sie noch, daß der Muskelring sich fest um ihn schloß und er
Mühe hatte, ganz in sie einzudringen. Er zog sich erst aus ihr
zurück, nachdem der Weg bequem geöffnet war. Dann, kurz eh
er sie wieder nahm, sagte er zu Norah, sie könne warten und O
-140-
zum Ankleiden führen, wenn er mit ihr fertig sei. Doch bevor er
sie wegschickte, küßte er O zärtlich auf den Mund. Und dieser
Kuß gab ihr den Mut, ihm ein paar Tage später zu sagen, daß sie
sich vor Norah fürchte. "Das hoffe ich sehr", sagte er. "Und
wenn Sie - Ihr Einverständnis vorausgesetzt - bald mein Zeichen
und meine Eisen tragen werden, dann werden Sie noch weit
mehr Grund für diese Furcht haben. - Warum? sagte O und
welches Zeichen und welche Eisen? Ich trage bereits diesen
Ring... - Das besorgt Anne-Marie, der ich versprach, daß ich Sie
ihr zeigen würde. Wir werden nach Tisch zu ihr fahren. Ist es
Ihnen recht? Ich bin mit ihr befreundet und Sie wissen, daß ich
Sie bisher mit keinem meiner Freunde bekanntgemacht habe.
Wenn Sie aus ihren Händen kommen, werde ich Ihnen gute
Gründe geben, vor Norah Angst zu haben." O wagte nicht,
weiterzufragen. Diese Anne-Marie, die man ihr androhte,
beunruhigte sie noch mehr als Norah. Von ihr hatte Sir Stephen
bereits bei jenem Mittagessen in Saint-Cloud gesprochen. Und
es stimmte, daß O mit keinem der Freunde, keinem der
Bekannten Sir Stephens zusammengekommen war. Sie lebte im
Grunde in Paris, in ihr Geheimnis eingesperrt, wie man in ein
Bordell eingesperrt ist; den einzigen Menschen, denen ihr
Geheimnis ausgeliefert war, René und Sir Stephen, war zugleich
auch ihr Körper ausgeliefert. Sie dachte, daß der Ausdruck,
offen sein, will heißen, sich ohne Rückhalt jemandem
anvertrauen, für sie nur einen einzigen und zwar buchstäblichen
Sinn hatte, einen physischen und absoluten Sinn, denn an ihrem
Körper war tatsächlich alles offen, was sich öffnen ließ. Es
schien überdies, daß darin ihr Daseinszweck lag, Sir Stephen
war sich darin mit René einig, denn wenn er von seinen
Freunden sprach, wie er es in Saint-Cloud getan hatte, so nur um
ihr zu sagen, daß sie allen, mit denen er sie bekanntmachen
würde, selbstverständlich zur Verfügung stehen müsse, wenn sie
das wünschten. Unter Anne-Marie und dem, was Anne-Marie
mit ihr tun sollte, konnte O sich nichts vorstellen, selbst ihr
-141-
Erlebnis in Roissy half ihrer Phantasie nicht auf die Sprünge. Sir
Stephen hatte auch gesagt, er wolle sehen, wie sie eine Frau
berühre, ging es darum? (Aber er hatte ausdrücklich gesagt, daß
es sich um Jacqueline handle...) Nein, darum ging es nicht. "Sie
ihr zeigen", hatte er gesagt. Genau. Aber als sie Anne-Marie
verließ, wußte O so wenig wie zuvor.
Anne-Marie wohnte in der Nähe des Observatoriums, in einer
Wohnung neben einer Art großem Atelier im obersten
Stockwerk eines neuen Wohngebäudes hoch über den
Baumwipfein. Sie war eine schlanke Frau in Sir Stephens Alter,
das schwarze Haar mit grauen Locken durchsetzt. Die Augen
von einem so tiefen Blau, daß sie schwarz wirkten. Sie bot Sir
Stephen und O zu trinken an, einen sehr schwarzen Kaffee in
winzigen Täßchen, kochendheiß und bitter, der O gut tat. Als sie
ausgetrunken hatte und von ihrem Sessel aufgestanden war, um
ihre leere Tasse auf einem Tischchen abzustellen, ergriff Anne-
Marie ihr Handgelenk und sagte, zu Sir Stephen gewandt: "Sie
erlauben?" "Bitte", sagte Sir Stephen. Anne-Marie, die bisher
kein Wort und kein Lächeln an O gerichtet hatte, auch nicht zur
Begrüßung, auch nicht, als Sir Stephen ihr O vorstellte, sagte
jetzt mit einem so zärtlichen Lächeln, als machte sie ihr ein
Geschenk: "Komm her, laß deinen Schoß sehen, Kleine, und
deinen Popo. Aber zieh dich ganz aus, das ist besser." Während
O gehorchte, zündete sie sich eine Zigarette an. Sir Stephen
hatte den Blick von O gewendet. Die beiden ließen sie vielleicht
fünf Minuten dastehen. Es war kein Spiegel im Zimmer, aber O
konnte ihr eigenes Bild undeutlich im schwarzen Lack eines
Wandschirms sehen. "Zieh auch die Strümpfe aus", sagte Anne-
Marie plötzlich. "Weißt du," fuhr sie fort, "du darfst keine
Strumpfbänder tragen, du wirst dir die Beine verderben." Und
sie zeigte O mit den Fingerspitzen die leichten Druckstellen über
dem Knie, dort, wo O ihre Strümpfe flach um das breite
Gummiband rollte. "Wer hat gesagt, daß du das tun sollst?" Eh
-142-
O antworten konnte sagte Sir Stephen: "Der Junge, der sie mir
gegeben hat, Sie kennen ihn, René." Und dann: "Aber er wird
bestimmt Ihren Rat befolgen." Schön, sagte Anne-Marie. "Ich
werde dir sehr lange dunkle Strümpfe geben lassen, O, und
einen Strumpfgürtel, aber einen mit Stäbchen, der die Taille
betont." Nachdem Anne-Marie geläutet und ein blondes junges
Mädchen sehr dünne, schwarze Strümpfe gebracht hatte und ein
Taillenmieder aus schwarzem Nylontaft mit eng
aneinanderliegenden, über Leib und Hüften nach innen
gebogenen breiten Fischbeinstäbchen versteift, zog O, noch
immer stehend und auf einem Bein balancierend, die Strümpfe
an, die bis hoch über die Schenkel reichte. Das blonde junge
Mädchen legte ihr das Taillenmieder an, das sich mittels einer
seitlichen Häkchenleiste im Rücken schließen und öffnen ließ.
Ebenfalls im Rücken konnte man eine breite Verschnürung, wie
bei den Miedern in Roissy, nach Belieben enger oder weiter
machen. O hakte ihre Strümpfe vorn und an den Seiten an den
vier Strumpfhaltern fest, dann machte das junge Mädchen sich
daran, sie so eng wie möglich zu schnüren. O spürte, wie ihre
Taille und ihr Leib von den Fischbeinstangen zusammengepreßt
wurden, die vorn bis zum Schamhügel reichten, den sie
freiließen, genau wie die Hüften. Hinten war das Mieder kürzer,
es ließ die Kruppe völlig frei. "Sie wird viel besser sein, wandte
Anne-Marie sich an Sir Stephen, wenn ihre Taille ganz schmal
geworden ist; und wenn Sie einmal nicht Zeit haben, sie sich
ausziehen zu lassen, so werden Sie sehen, daß das Taillenmieder
nicht stört. Komm jetzt her, O." Das junge Mädchen ging
hinaus, O trat zu Anne-Marie, die auf einem Sessel saß, einem
niedrigen Polstersessel mit kirschrotem Samtbezug. Anne-Marie
strich ihr leicht mit der Hand über den Popo, legte sie dann
rücklings über einen zu dem Sessel passenden Hocker, hob ihre
Beine an und öffnete sie, befahl ihr dann, sich nicht zu rühren
und ergriff die beiden Lippen. So lüpft man auf dem Markt,
dachte O, die Kiemen der Fische, die Nüstern der Pferde. Sie
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erinnerte sich auch, wie der Diener Pierre an dem ersten Abend
in Roissy, nachdem er sie angekettet hatte, genauso verfahren
war. Aber was tat das, sie gehörte nicht mehr sich selbst, und am
allerwenigsten gehörte ihr sicherlich diese Hälfte ihres Körpers,
die sich so gefügig und gewissermaßen losgelöst von der
übrigen Person verwenden ließ. Warum überraschte dieser
Gedanke sie nicht, sondern setzte sich von Mal zu Mal tiefer in
ihr fest und löste in ihr unweigerlich jene lähmende Verwirrung
aus, die sie weit weniger dem auslieferte, in dessen Händen sie
sich befand, als vielmehr dem, der sie fremden Händen
überlassen hatte: sie in Roissy René auslieferte, während andere
von ihr Besitz ergriffen, und sie hier wem ausliefern würde?
René oder Stephen? Ah! sie wußte es nicht mehr. Weil sie es
nicht mehr wissen wollte, denn sie gehörte Sir Stephen, seit...
seit wann? Anne-Marie hieß sie aufstehen und sich wieder
ankleiden. "Sie können sie mir bringen, wann immer Sie wollen,
sagte sie zu Sir Stephen, ich werde ab übermorgen in Samois
sein (Samois... O hatte erwartet: Roissy, aber nein, es handelte
sich nicht um Roissy, worum handelte es sich dann?). Es wird
sich sehr gut machen lassen." (Was würde sich sehr gut machen
lassen?) "In zehn Tagen, wenn es Ihnen recht ist, erwiderte Sir
Stephen, Anfang Juli."
Im Wagen, der O nach Hause brachte - Sir Stephen war bei
Anne-Marie geblieben - erinnerte sie sich an die Statue, die sie
als Kind im Luxembourg-Garten gesehen hatte: eine Frau, deren
geschnürte Taille zwischen den schweren Brüsten und den
fülligen Hüften so schmal wirkte - sie stand vorgebeugt, um sich
in einer Quelle zu spiegeln, die, ebenfalls sorgfältig in Marmor
gemeißelt, zu ihren Füßen lag - daß man fürchtete, der Marmor
könne brechen. Wenn Sir Stephen es wünschte... Zu Jacqueline
konnte man einfach sagen, es handele sich um eine Laune
Renés. Womit O wieder bei einer Sorge angelangt war, die sie
immer wieder von sich weisen wollte und die ihr dennoch zu
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ihrem eigenen Erstaunen nicht übermäßig auf der Seele brannte:
Warum bemühte René sich seit Jacquelines Anwesenheit, sie
einerseits mit Jacqueline allein zu lassen, was verständlich war,
und andererseits selber nicht mehr mit O allein zu bleiben? Der
Juli war nahe, er würde verreisen, würde sie nicht bei dieser
Anne-Marie besuchen, wohin Sir Stephen sie schicken würde.
Müßte sie sich also damit abfinden, daß sie ihn nur noch abends
wiedersehen wollte, wenn er Lust hatte, Jacqueline und sie
einzuladen, oder - und sie wußte nicht, welcher Gedanke
bestürzender war (denn zwischen ihnen bestand nur diese von
Grund auf verfälschte Beziehung, verfälscht, weil sie so
eingeschränkt war) - oder vielleicht am Vormittag, wenn sie bei
Sir Stephen war und Norah ihn hereinführen würde, nachdem
sie ihn angemeldet hatte? Sir Stephen empfing ihn immer,
immer küßte René O, streichelte die Spitzen ihrer Brüste,
machte mit Sir Stephen Pläne für den nächsten Tag, in denen
von ihr nicht die Rede war, und ging wieder. Hatte er sie so
völlig an Sir Stephen abgetreten, daß er sie nicht mehr liebte?
Was würde geschehen, wenn er sie nicht mehr liebte? O war so
sehr von Panik erfaßt, daß sie automatisch am Kai vor ihrem
Haus ausstieg, anstatt den Wagen zu behalten, und sich daher
nach einem Taxi umsehen mußte. Auf dem Quai de Bethune
findet man wenig Taxis. O lief bis zum Boulevard Saint-
Germain und mußte noch eine Weile warten. Sie war in Schweiß
gebadet, weil das Mieder ihr den Atem nahm, als endlich ein
Taxi an der Ecke der Rue du Cardinal-Lemoine hielt. Sie winkte
es herbei, gab die Adresse von Renés Büro an und stieg dort die
Treppe hinauf, ohne zu wissen, ob René da war, und wenn ja, ob
er sie empfangen würde, sie war noch nie in seinem Büro
gewesen. Sie war nicht überrascht, weder von dem großen
Gebäude in einer Seitenstraße der Champs-Elysees, nicht von
den amerikanisch eingerichteten Büros, aber die Haltung Renés,
der sie unverzüglich hereinbitten ließ, brachte sie aus der
Fassung. Nicht, daß er ärgerlich gewesen wäre oder ihr
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Vorwürfe gemacht hätte. Vorwürfe wären ihr lieber gewesen,
denn schließlich hatte er ihr nicht erlaubt, ihn hier zu stören und
vielleicht störte sie ihn sehr. Er schickte seine Sekretärin hinaus,
bat sie, niemanden anzumelden und keine Telephongespräche
durchzugeben. Dann fragte er O, was passiert sei. "Ich habe
Angst gehabt, daß du mich nicht mehr liebst", sagte O. Er
lachte. "Ganz plötzlich, nur so? - Ja, im Wagen, auf der
Rückfahrt von... - Auf der Rückfahrt von wem?" O schwieg.
René lachte wieder: "Aber ich weiß doch, du Dummes. Von
Anne-Marie. Du gehst in zehn Tagen nach Samois. Sir Stephen
hat es mir gerade am Telephon gesagt." René saß auf dem
einzigen bequemen Sessel des Büros, vor dem Schreibtisch und
O hatte sich in seine Arme gepreßt. "Was sie mit mir machen, ist
mir gleichgültig, flüsterte sie, aber sag mir, ob du mich noch
liebst." - "Mein Herz, ich liebe dich sagte René, aber ich will,
daß du mir gehorchst, und du gehorchst mir sehr schlecht. Hast
du Jacqueline gesagt, daß du Sir Stephen gehörst, hast du ihr
von Roissy erzählt?" O schüttelte den Kopf. Jacqueline ließ sich
ihre Liebkosungen gefallen, aber sobald sie erfahren würde, daß
O... René ließ sie nicht zu Ende sprechen, er hob sie auf, lehnte
sie gegen den Sessel, aus dem er aufgestanden war und schlug
ihren Rock hoch. "Ah! das Mieder, sagte er. Du wirst wirklich
viel angenehmer sein, wenn deine Taille sehr schmal geworden
ist." Dann nahm er sie. O, die schon gezweifelt hatte, ob er sie
überhaupt noch begehrte - das letzte Mal lag schon so lange
zurück - sah darin einen Beweis seiner Liebe. "Es ist dumm von
dir, sagte er danach zu ihr, daß du nicht mit Jacqueline sprechen
willst. Wir brauchen sie in Roissy, es wäre viel einfacher, wenn
du sie mitbringen würdest. Außerdem, wenn du von Anne-Marie
kommen wirst, kannst du deine wahre Situation nicht mehr vor
ihr verbergen." O fragte warum. "Das wirst du schon sehen,
erwiderte René. Du hast noch fünf Tage Zeit, nur noch fünf
Tage, denn Sir Stephen beabsichtigt, fünf Tage eh du zu Anne-
Marie geschickt wirst, dich wieder täglich auszupeitschen, die
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Spuren werden zweifellos zu sehen sein. Wie willst du das
Jacqueline erklären?" O antwortete nicht. René wußte ja nicht,
daß Jacqueline an O nur die Leidenschaft interessierte, die O ihr
bezeugte, daß sie sie niemals ansah. Und wenn sie mit
Peitschenwunden bedeckt wäre, würde es genügen, daß sie sich
nie vor Jacqueline badete und immer ein Nachthemd anzog.
Jacqueline würde nichts sehen. Sie hatte nicht bemerkt, daß O
keinen Slip trug, sie bemerkte überhaupt nichts: O interessierte
sie nicht. "Hör zu, fuhr René fort, eines wenigstens wirst du ihr
auf jeden Fall sagen und zwar sofort: daß ich in sie verliebt bin.
- Und stimmt das? sagte O. - Ich will sie haben, sagte René, und
weil du nichts tun kannst oder nichts tun willst, werde ich alles
nötige tun. - Nach Roissy würde sie nie gehen, sagte O. Nein?
sagte René. Na schön, dann wird man sie dazu zwingen."
Am Abend, nach Einfall der Dunkelheit, als Jacqueline schon
im Bett lag und O die Decke zurückgeschlagen hatte, um sie im
Lampenlicht anzuschauen, nachdem sie ihr gesagt hatte, und
zwar sogleich, "René ist in dich verliebt", wiederholte sie sich
Renés letzte Worte, und der Gedanke, diesen zarten und
schmalen Körper unter der Peitsche zu sehen, diesen engen
Schoß gespreizt, den reinen Mund schreie nd geöffnet und den
Flaum dieser Wangen von Tränen verklebt, dieser Gedanke, der
noch vor einem Monat solches Grauen in ihr erweckt hatte,
machte sie jetzt glücklich.
Nachdem Jacqueline abgereist war und sicherlich erst Anfang
August, nach Beendigung der Dreharbeiten an dem Film, bei
dem sie mitwirkte, zurückkommen würde, hielt O nichts mehr in
Paris. Der Juli war nah, in allen Gärten standen die
scharlachroten Geranien in voller Blüte, alle Markisen an den
Südseiten waren heruntergelassen, René seufzte, daß er nach
Schottland fahren müsse. O hoffte einen Augenblick lang, daß er
sie mitnehmen werde. Doch er nahm sie niemals zu seiner
Familie mit und außerdem wußte sie, daß er sie Sir Stephen
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überlassen würde, falls dieser den Wunsch äußerte. Sir Stephen
ließ wissen, daß er sie am Tag von Renés Abflug nach London
abholen werde. Sie hatte Urlaub. "Wir fahren zu Anne-Marie,
sagte er, sie erwartet Sie. Nehmen Sie keinen Koffer mit, Sie
brauchen nichts." Es war nicht die Wohnung beim
Observatorium, wo O Anne-Marie zum ersten Mal gesehen
hatte, sondern ein niedriges Haus hinter einem großen Garten,
am Saum des Waldes von Fontainebleau. O trug seit damals das
fischbeinversteifte Taillenmieder, das Anne-Marie so
unerläßlich erschienen war: sie schnürte es jeden Tag enger,
man konnte ihre Taille jetzt beinah mit den Händen umspannen,
Anne-Marie würde zufrieden sein. Als sie ankamen war es zwei
Uhr mittags, das Haus schlief und der Hund bellte leis, als die
Glocke anschlug: ein großer flandrischer Schäferhund mit
struppigem Fell, der Os Knie unter ihrem Kleid beschnüffelte.
Anne-Marie saß unter einer Rotbuche am Ende des Rasens, der
in einer Ecke des Gartens unter den Fenstern ihres Zimmers lag.
Sie stand nicht auf. "Hier ist O, sagte Sir Stephen, Sie wissen,
was Sie mit ihr machen sollen, wann wird sie soweit sein?"
Anne-Marie sah O an. "Sie haben ihr noch nichts gesagt? Gut,
ich werde sofort anfangen. Wir müssen dann wohl mit zehn
Tagen rechnen. Ich nehme an, Sie wollen die Ringe und die
Buchstaben selbst anbringen? Kommen Sie in vierzehn Tagen
wieder. Danach wird nach weiteren vierzehn Tagen sicherlich
alles fertig sein." O wollte sprechen, eine Frage stellen. "Einen
Augenblick, O, sagte Anne- Marie, geh hier in dieses Zimmer,
zieh dich aus, behalte nur die Sandaletten an und komm wieder
her." Das Zimmer war leer, ein großes, weißes Zimmer mit
violetten Gardinen aus Jouy-Leinen. O legte Tasche,
Handschuhe und Kleider auf einen kleinen Stuhl neben der Tür
eines Wandschranks. Es gab keinen Spiegel. Sie ging langsam
hinaus, die Sonne blendete sie, eh sie den Schatten der Buche
erreichte. Sir Stephen stand noch immer vor Anne-Marie, der
Hund lag zu ihren Füßen. Anne-Maries schwarzgraues Haar
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glänzte wie geölt, ihre blauen Augen wirkten schwarz. Sie trug
ein weißes Kleid, eine n Lackgürtel um die Taille und
Lacksandaletten an den nackten Füßen, die Zehen waren in der
gleichen Farbe lackiert wie ihre Fingernägel. "O, sagte sie, knie
vor Sir Stephen hin." O kniete sich hin, die Hände hinter dem
Rücken gekreuzt, die Spitzen ihrer Brüste bebten. Der Hund
machte Miene, sich auf sie zu stürzen. "Platz, Türk, sagte Anne-
Marie. Willst du, O, die Ringe und die Buchstaben tragen, mit
denen du nach Sir Stephens Wunsch gezeichnet werden sollst,
ohne daß du weißt, wie sie an dir angebracht werden? - Ja, sagte
O. - Ich bringe Sir Stephen hinaus, bleib hier." Sir Stephen
beugte sich nieder und faßte Os Brüste, während Anne-Marie
aus ihrem Liegestuhl aufstand. Er küßte O auf den Mund und
flüsterte: "Gehörst du mir, O, gehörst du wirklich mir?" dann
verließ er sie und folgte Anne-Marie. Das Tor fiel zu, Anne-
Marie kam zurück. O kauerte auf den Fersen und hatte die Arme
auf die Knie gelegt, wie eine ägyptische Statue.
Im Hause wohnten noch drei Mädchen, jede in einem Zimmer
des ersten Stockwerks; O bekam ein kleines Zimmer im
Erdgeschoß, neben dem Anne-Maries. Anne-Marie rief sie alle
in den Garten herunter. Alle drei waren nackt, wie O. In diesem
Frauenhaus, das durch die hohen Parkmauern und die
geschlossenen Läden der Fenster, die auf ein staubiges Gäßchen
hinausgingen, wohl geschützt war, trugen nur Anne- Marie und
das Personal Kleider: eine Köchin und zwei Aufwärterinnen,
älter als Anne-Marie und streng in mächtige schwarze
Alpakaröcke und gestärkte Schürzen gekleidet. "Sie heißt O,
sagte Anne-Marie, die sich wieder gesetzt hatte. Bringt sie zu
mir, damit ich sie in der Nähe sehe." Zwei der Mädchen
richteten O auf, sie waren beide dunkel, die Haare schwarz wie
das Vlies, die Brustspitzen lang und blau violett. Die dritte war
klein, rund und rothaarig, und auf der kreidigen Haut ihrer Brust
sah man ein erschreckendes Netzwerk grüner Adern. Die beiden
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Mädchen schoben O dicht vor Anne-Marie, die mit dem Finger
auf die drei schwarzen Streifen deutete, die quer über die
Vorderseite der Schenkel liefen und sich auf den Lenden
fortsetzten. "Wer hat dich gepeitscht, sagte sie, Sir Stephen? -
Ja, sagte O. - Womit, und wann? - Vor drei Tagen, mit dem
Reitstock. - Von morgen an wirst du einen Monat lang nicht
gepeitscht werden, aber heute bekommst du die Peitsche, zum
Einstand, wenn ich dich inspiziert habe. Hat Sir Stephen dir nie
die Innenseite der Schenkel bei weit gespreizten Beinen
gepeitscht? Nein? Nun, die Männer haben keine Ahnung. Aber
das machen wir später. Zeig deine Taille. Ah! Schon besser!"
Anne-Marie zog an Os geschmeidiger Taille, um sie noch mehr
zusammenzupressen. Dann schickte sie die kleine Rothaarige
um ein anderes Mieder und ließ es O anziehen. Es war ebenfalls
aus schwarzem Nylon, so stramm gesteift und so eng, daß es wie
ein sehr breiter Ledergürtel wirkte, und wie ein Gürtel hatte es
keine Strumpfhalter. Eines der dunklen Mädchen, der Anne-
Marie befahl, mit aller Kraft anzuziehen, schnürte es.
"Furchtbar, sagte O. Das Mieder, sagte Anne-Marie, hat dich
schon viel schöner gemacht, aber du hast es nicht genug
geschnürt, du wirst es jetzt täglich so tragen. Sag mir jetzt, wie
Sir Stephen sich deiner am liebsten bediente. Ich muß das
wissen." Sie hielt mit der ganzen Hand Os Schoß gepackt und O
konnte nicht antworten. Zwei der Mädchen hatten sich auf den
Boden gesetzt, die dritte, dunkle, ans Fußende von Anne-Maries
Liegestuhl. "Dreht sie um, ihr zwei, sagte Anne-Marie, damit
ich ihre Lenden sehe." O wurde umgedreht und nach vorn
gekippt und die Hände der beiden Mädchen öffneten sie. "Ganz
klar, sagte Anne- Marie, du brauchst mir nicht zu antworten,
hier mußt du gezeichnet werden. Steh auf. Du bekommst deine
Armspangen, Colette hol das Kästchen, wir losen, wer dich
peitschen soll. Colette bring die Jetons, dann gehen wir ins
Musikzimmer." Colette war die größere der beiden dunklen
Mädchen, die andere hieß Ciaire, die kleine Rothaarige Yvonne.
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O hatte nicht darauf geachtet, daß sie alle, wie in Roissy, ein
Lederhalsband und lederne Armspangen trugen. Außerdem
trugen sie die gleichen Spangen an den Fußgelenken. Als
Yvonne die passenden Spangen für O ausgesucht und befestigt
hatte, reichte Anne-Marie O vier Jetons, und bat sie, jeder von
ihnen einen zu geben, ohne die aufgedruckte Zahl anzusehen. O
verteilte ihre Jetons. Jedes der drei Mädchen schaute den seinen
an, wortlos, sie warteten, bis Anne-Marie sprach. "Ich habe
zwei, sagte Anne-Marie, wer hat eins?" Es war Colette. "Nimm
O mit, sie gehört dir." Colette packte Os Arme, schloß ihr die
Hände hinter dem Rücken zusammen, indem sie die
Armspangen einklinkte, und schob sie vor sich her. An der
Schwelle einer Fenstertür, die zu einem kleinen Seitenflügel
führte, zog Yvonne, die vor ihnen herging, O die Sandaletten
aus. Die Fenstertür erhellte einen Raum, dessen rückwärtiger
Teil eine Art erhöhte Rotunde bildete; den ganz leicht gewölbten
Plafond stützten zwei schlanke Säulen, die im Abstand von zwei
Metern am Ansatz der Rundung standen. Die vier Stufen hohe
Estrade bildete zwischen den beiden Säulen einen halbrunden
Vorsprung. Der Boden des Rundbaus war, wie der des übrigen
Raumes, mit einem roten Filzteppich ausgelegt. Die Wände
waren weiß, die Fenstervorhänge rot, die Sofas, die an der Wand
der Rotunde entlang standen, mit dem gleichen roten Filz
bezogen aus dem der Teppich bestand. Im rechtwinkeligen Teil
des Raumes war ein sehr breiter, nicht sehr tiefer Kamin und vor
dem Kamin ein großes Radiogerät mit Plattenspieler, daneben
Regale mit Schallplatten. Daher hieß der Raum das
Musikzimmer. Es war durch eine Tür neben dem Kamin direkt
mit Anne-Maries Schlafzimmer verbunden. Das Pendant zu
dieser Tür war die Tür eines Wandschranks. Außer den Sofas
und dem Musikschrank war das Zimmer unmöbliert. Colette
setzte O auf den Rand der Estrade, die in der Mitte senkrecht
anstieg, - die Stufen waren rechts und links der beiden Säulen -,
die beiden anderen Mädchen schlössen die Fenstertür, nachdem
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sie die Jalousien ein wenig heruntergelassen hatten. O stellte
überrascht fest, daß es sich um ein Doppelfenster handelte und
Anne-Marie sagte lachend: "Damit man dich nicht schreien hört.
Die Wände sind mit Kork belegt, man hört draußen nichts von
dem, was hier vorgeht. Leg dich hin." Sie nahm sie an den
Schultern, legte sie auf den roten Filz und zog sie ein Stück nach
vorn; Os Hände klammerten sich an den Rand der Estrade, wo
Yvonne sie an einem Ring festmachte, ihre Lenden hingen in
der Luft. Anne-Marie ließ sie die Knie bis zur Brust hochziehen,
dann fühlte O, wie ihr die Beine über den Kopf gezogen und
nach hinten gespannt und gestreckt wurden: Gurte, die durch
ihre Fußspangen gezogen wurden, befestigten ihre Beine, ein
Stück höher als ihr Kopf lag, an den Säulen zwischen denen sie
auf der Estrade so erhöht und ausgelegt war, daß man von ihr
nur die Öffnung ihres Schoßes und der gewaltsam gespreizten
Lenden sah. Anne-Marie streichelte ihr die Innenseite der
Schenkel. "An dieser Stelle des Körpers ist die Haut am
zartesten, sagte sie, man darf sie nicht verderben. Sei vorsichtig,
Colette." Colette stand über ihr, die Füße zu beiden Seiten ihrer
Taille und O sah in der Schneise zwischen den braunen Beinen
die Schnüre der Peitsche, die sie in der Hand hielt. Bei den
ersten Schlägen, die ihren Schoß verbrannten, stöhnte O. Colette
schlug von links nach rechts, machte eine Pause, fing wieder an,
O wand sich aus Leibeskräften, sie glaubte, daß die Gurte sie
zerreißen würden. Sie wollte nicht um Schonung bitten, nicht
um Gnade flehen. Aber Anne-Marie wußte ihren Widerstand zu
brechen. "Schneller, sagte sie zu Colette, und fester." O
versuchte sich zu beherrschen, aber vergebens. Nach einer
Minute ließ sie ihren Schreien und Tränen freien Lauf, während
Anne-Marie ihr Gesicht streichelte. "Noch einen Augenblick,
sagte sie, dann ist es vorbei. Nur fünf Minuten. Fünf Minuten
lang wirst du wohl schreien können. Es ist fünf vor halb.
Colette, um halb hörst du auf, wenn ich es dir sage." Aber O
heulte, nein, nein, bitte, sie konnte nicht mehr, nein, sie konnte
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diese Qual nicht eine Sekunde länger ertragen. Sie ertrug sie
dennoch bis zum Ende und Anne-Marie lächelte ihr zu, als
Colette von der Estrade stieg. "Danke mir", sagte Anne-Marie
zu O und O dankte ihr. Sie wußte genau, warum Anne-Marie sie
vor allem erst einmal hatte auspeitschen lassen. Daß eine Frau
ebenso grausam und noch unerbittlicher sein kann, wie ein
Mann, hatte sie nie bezweifelt. Aber O dachte, daß Anne-Marie
weniger ihre Macht über sie hatte beweisen wollen, als vielmehr
eine Komplizität zwischen sich selbst und O herstellen. O hatte
das starre Geflecht ihrer widersprüchlichen Gefühle nie
begriffen, aber sie hatte gelernt, es als eine unleugbare und
wichtige Tatsache zu akzeptieren: sie liebte den Gedanken an
die Marter, wenn sie sie erlitt, hätte sie die ganze Welt verraten,
um loszukommen, wenn es vorbei war, war sie glücklich, sie
erlitten zu haben, umso glücklicher, je grausamer und je
andauernder diese Marter gewesen war. Anne-Marie hatte sich
weder durch Os Gefügigkeit noch durch ihre Auflehnung
täuschen lassen und wußte genau, daß ihr Dank keine Farce war.
Dennoch hatte ihr Vorgehen noch einen dritten Grund gehabt,
den sie O jetzt erklärte. Sie wollte jedem Mädchen, das in ihr
Haus kam und hier in einem weiblichen Universum lebte,
klarmachen, daß das ausschließliche Zusammenleben mit
anderen Frauen ihre Weiblichkeit nicht aufhob, sondern sie
vielmehr noch gegenwärtiger und spürbarer machte. Aus diesem
Grunde verlangte sie, daß die Mädchen stets nackt waren; die
Art, wie O gepeitscht und die Stellung, in der sie festgebunden
worden war, bezweckten nichts anderes. Heute würde O für den
Rest des Nachmittags - noch drei Stunden - mit gespreizten und
angehobenen Beinen, Gesicht zum Garten, auf der Estrade
ausgelegt bleiben. Sie würde unaufhörlich wünschen müssen,
die Beine zu schließen. Morgen würde es Ciaire sein oder
Colette oder Yvonne, die O dann ihrerseits anschauen würde.
Diese Prozedur ging viel zu langsam und erforderte zu viel
Sorgfalt (genau wie die besondere Anwendung der Peitsche), als
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daß man sie in Roissy anwenden könnte. Aber O würde sehen,
wie wirkungsvoll sie war. Nicht nur würde sie bei ihrer Abreise
die Ringe und Buchstaben tragen, sie würde auch so weit
geöffnet und so tief versklavt zu Sir Stephen zurückkehren, wie
sie es nie für möglich gehalten hätte.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück forderte Anne-
Marie O und Yvonne auf, ihr in ihr Schlafzimmer zu folgen. Sie
nahm ein grünes Lederkästchen aus ihrem Schreibtisch, legte es
auf ihr Bett und öffnete es. Die beiden Mädchen setzten sich ihr
zu Füßen. "Hat Yvonne dir nichts gesagt?" wollte Anne-Marie
von O wissen. O schüttelte den Kopf. Was hatte Yvonne ihr zu
sagen? "Sir Stephen auch nicht, das weiß ich. Hier also sind die
Ringe, die er dich tragen lassen will." Es waren Ringe aus
nichtrostendem Stahl, genau wie der goldgefütterte Fingerring.
Sie hatten die Stärke eines dicken Farbstifts, waren aus
Rundstäben gearbeitet und von länglicher Form: die Glieder der
schweren Eisenketten sehen ähnlich aus. Anne-Marie zeigte O,
daß jeder Ring aus zwei Uförmigen Teilen bestand, die
ineinandergepaßt wurden. "Dies hier ist nur das Probiermuster,
sagte sie. Es ist abnehmbar. Das richtige Modell hat eine
Innenfeder, die man zusammendrücken muß, damit das
Gegenstück in die Führung eindringen kann, wo es dann stecken
bleibt. Wenn der Ring einmal geschlossen ist, kann man ihn
nicht mehr abnehmen, man müßte ihn durchfeilen. " Jeder Ring
hatte die Länge von zwei Kleinfingergliedern und man konnte
den kleinen Finger hineinstecken. An jedem hing, wie ein
weiteres Kettenglied, oder wie die Befestigungsöse eines
Ohrrings, die im Ohr selbst angebracht wird und eine
Verlängerung darstellt, eine Scheibe aus dem gleichen Metall,
ebenso groß wie der Ring. Auf der einen Fläche ein Triskel in
Nielloarbeit, auf der anderen nichts. "Auf die andere, sagte
Anne-Marie, kommt dein Name, Sir Stephens Titel, Name und
Vorname, und darunter, über Kreuz, eine Peitsche und ein
Reitstock. Yvonne trägt eine solche Scheibe an ihrem Halsband.
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Aber du, du wirst sie an deinem Schoß tragen. Aber..., sagte O.
Ich weiß, erwiderte Anne-Marie, eben deshalb habe ich Yvonne
mitgebracht. Zeig deinen Schoß, Yvonne." Das rothaarige
Mädchen stand auf und legte sich über das Bett. Anne-Marie
öffnete ihr die Schenkel und zeigte O, daß eines der beiden
Fleischläppchen in der Mitte und ganz unten durchgebohrt war
wie mit der Lochzange. Der Eisenring paßte genau in die
Öffnung. "Ich werde dich gleich nachher durchbohren, O, sagte
Anne-Marie, es ist im Handumdrehen geschehen, dagegen
dauert es länger, bis die Klammern gesetzt sind, die die
Epidermis und die darunterliegende Schleimhaut
zusammenheften. Es tut viel weniger weh als die Peitsche. -
Schläfern Sie mich denn nicht ein? rief O zitternd. - Kommt
nicht in Frage, erwiderte Anne-Marie, du wirst ein bißchen
fester gebunden als gestern, das genügt. Komm."
Acht Tage später nahm Anne-Marie die Klammern heraus
und paßte O den Probering an. So leicht er war - leichter als er
aussah, denn er war hohl - er wog schwer. Das harte Metall, das
ins Fleisch schnitt, schien ein Folterinstrument zu sein. Wie
würde es erst werden, wenn der zweite, schwere Ring
hinzukäme? Diese barbarische Vorrichtung würde auf den ersten
Blick zu sehen sein. "Natürlich, sagte Anne-Marie, als O eine
entsprechende Bemerkung machte. Du hast doch wohl begriffen,
was Sir Stephen will? Wer immer, in Roissy, oder anderwärts, er
selbst oder irgend jemand sonst, sogar du selbst vor dem
Spiegel, wer immer deinen Rock hochhebt, sieht sofort Sir
Stephens Ringe an deinem Schoß und wenn man dich umdreht
die Buchstaben auf deinen Lenden. Du kannst vielleicht eines
Tages die Ringe abfeilen lassen, aber die Buchstaben sind nicht
mehr zu entfernen. - Ich habe geglaubt, sagte Colette, daß man
eine Tätowierung sehr wohl wieder entfernen könnte." (Sie
selbst hatte auf Yvonnes weiße Haut über dem Dreieck des
Schoßes in blauen Zierbuchstaben, wie ein
-155-
Stickereimonogramm, die Initialen von Yvonnes Gebieter
tätowiert). "O wird nicht tätowiert", erwiderte Anne-Marie. O
schaute Anne-Marie an. Colette und Yvonne schwiegen ratlos.
Anne-Marie zögerte. "So sagen Sie es doch, sagte O. - Meine
arme Kleine, ich wagte nicht, es dir zu sagen: du wirst mit Eisen
gezeichnet. Sir Stephen hat sie mir vor zwei Tagen geschickt. -
Mit Eisen? rief Yvonne. - Mit glühenden Eisen."
Vom ersten Tage an hatte O das selbe Leben geführt wie die
anderen im Hause. Der Müßiggang war vollständig und geplant,
die Zerstreuungen monoton. Die Mädchen durften im Garten
spazierengehen, lesen, zeichnen, Karten spielen, Patiencen
legen. Sie konnten in ihren Zimmern schlafen oder sich in der
Sonne bräunen lassen. Manchmal unterhielten sie sich zu zweien
oder alle zusammen, stundenlang, manchmal saßen sie
schweigend zu Anne-Maries Füßen. Die Mahlzeiten wurden
stets zur gleichen Stunde eingenommen, das Abendessen bei
Kerzenlicht, der Tee wurde im Garten getrunken und es wirkte
absurd, mit welcher Selbstverständlichkeit die beiden
Aufwärterinnen die nackten Mädchen an der festlichen Tafel
bedienten. Jeden Abend wählte Anne-Marie eine aus, die bei ihr
schlafen sollte, manchmal mehrere Abende nacheinander die
gleiche. Sie berührte sie oder ließ sich von ihr berühren,
meistens gegen Morgengrauen, schickte danach das Mädchen in
ihr Zimmer zurück und schlief wieder ein. Die violetten
Vorhänge, die nur halb zugezogen waren, färbten das
erwachende Tageslicht malvenblau und Yvonne sagte, Anne-
Marie sei ebenso schön und unnahbar in der Lus t, die sie sich
verschaffen lasse, wie unermüdlich in ihren Forderungen.
Keines der Mädchen hatte sie jemals völlig nackt gesehen. Sie
öffnete ihr Nachthemd aus weißem Nylonjersey oder schob es
hoch, zog es jedoch nie aus. Weder die Wollust, die sie in der
Nacht von einem der Mädchen erfahren hatte, noch die Wahl
vom Vorabend beeinflußten die Entscheidung vom nächsten
Nachmittag, die immer durch das Los getroffen wurde. Um drei
-156-
Uhr brachte Anne-Marie den Becher mit den Jetons unter die
Blutbuche, wo die Gartensessel um einen runden Tisch aus
weißem Stein gruppiert waren. Jedes Mädchen nahm einen
heraus. Wer die niedrigste Zahl zog, wurde in das Musikzimmer
geführt und auf der Estrade zur Schau gestellt, wie O am ersten
Tag. Sie (nur O war bis zu ihrer Abreise davon ausgeschlossen)
mußte noch auf Anne-Maries rechte oder linke Hand deuten, die
eine weiße oder schwarze Kugel enthielt. Schwarz: das
Mädchen wurde gepeitscht, weiß: nicht. Anne- Marie mogelte
niemals, auch dann nicht, wenn das Los ein und dasselbe
Mädchen mehrmals hintereinander verurteilte oder verschonte.
So wurde die Folterung der kleinen Yvonne, die schluchzend
nach ihrem Geliebten rief, vier Tage nacheinander wiederholt.
Ihre Schenkel, die grün geädert waren wie ihre Brüste, spreizten
sich über einem rosigen Fleisch, das der dicke Eisenring, der
jetzt festgemacht war, um so erschreckender durchstach als
Yvonne völlig enthaart war. "Aber warum, wollte O von
Yvonne wissen, und warum der Ring, wenn du die Scheibe an
deinem Halsband trägst? - Er sagt, ich bin noch nackter, wenn
ich enthaart bin. Der Ring, ich glaube, an dem will er mich
anhängen." Yvonnes grüne Augen und ihr kleines, dreieckiges
Gesicht erinnerten O an Jacqueline. Ob Jacqueline nach Roissy
ging? Dann würde Jacqueline eines Tages hierherkommen, hier
sein, auf dieser Estrade ausgelegt. "Ich will nicht, sagte O, ich
will nicht, ich werde nichts tun, um sie herzubringen. Ich habe
ihr schon viel zu viel davon erzählt. Jacqueline ist nicht dafür
geschaffen, geschlagen und gezeichnet zu werden." Doch wie
gut standen die Peitschenspuren und Eisen der kleinen Yvonne,
wie süß war ihr Schweiß und ihr Stöhnen, wie süß war es, sie
dahin zu bringen. Denn Anne-Marie hatte O schon zweimal die
geschwänzte Peitsche gereicht, und jedesmal damit sie Yvonne
schlagen sollte. Beim ersten Mal, im ersten Augenblick hatte sie
gezögert, bei Yvonnes erstem Schrei war sie zurückgewichen,
doch dann hatte sie wieder zugeschlagen und Yvonne hatte
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wieder, noch lauter, geschrien, und sie war von einer
schrecklichen Lust ergriffen worden, so durchdringend, daß sie
wider Willen vor Freude lachte und sich zurückhalten mußte,
um die Schläge nicht zu schnell und nicht aus voller Kraft zu
verabreichen. Danach war sie bei Yvonne geblieben, solange
Yvonne angebunden lag und hatte sie immer wieder geküßt.
Zweifellos war sie ihr in irgendeiner Weise ähnlich. Wenigstens
schien Anne-Maries Verhalten das zu beweisen. War es Os
Schweigsamkeit, ihre Gefügigkeit, die sie reizte? Os Wunden
waren kaum vernarbt: "Wie schade", sagte Anne-Marie, "daß
ich dich nicht peitschen lassen kann. Wenn du wiederkommst...
Na, auf jeden Fall werde ich dich alle Tage ausstellen lassen."
Und jeden Tag, wenn das Mädchen im Musiksaal losgebunden
wurde, legte O sich an ihre Stelle bis die Glocke zum
Abendessen läutete. Und Anne-Marie hatte recht: es stimmte,
sie konnte während dieser ganzen zwei Stunden an nichts
anderes denken, als an die Tatsache, daß sie mit gespreizten
Beinen hier lag, an den Ring, der ihren Schoß beschwerte, seit er
angebracht worden war und der noch viel schwerer wog, weil
der zweite Ring dazugekommen war. An nichts anderes als an
ihr Sklaventum und an die Male ihres Sklaventums. Eines Tages
war Ciaire mit Colette vom Garten hereingekommen, zu O
hingetreten und hatte die Ringe umgedreht. Sie trugen noch
keine Inschrift. "Wann bist du zum ersten Mal in Roissy
gewesen, sagte sie, hat Anne-Marie dich hingeschickt? - Nein,
sagte O. Mich hat Anne-Marie hingeschickt, vor zwei Jahren.
Übermorgen fahre ich wieder hinaus. - Aber du gehörst doch
niema ndem? sagte O. Ciaire gehört mir, sagte Anne-Marie, die
unbemerkt eingetreten war. Dein Gebieter kommt morgen, O.
Du wirst heute Nacht bei mir schlafen." Die kurze Sommernacht
erhellte sich langsam und gegen vier Uhr morgens löschte der
Tag die letzten Sterne. O, die mit geschlossenen Knien schlief,
wurde durch Anne-Maries Hand zwischen ihren Schenkeln
aufgeweckt. Aber Anne-Marie wollte nur, daß O sie berühren
-158-
solle. Ihre Augen glänzten im Halbdunkel und ihr schwarzes,
grau durchwehtes, kurz geschnittenes und vom Kopfkissen
hochgeschobenes Haar, das kaum gelockt war, verliehen ihr das
Aussehen eines Grand Seigneurs im Exil, eines furchtlosen
Libertins. O liebkoste mit ihren Lippen die harte Spitze der
Brüste, mit der Hand die Höhlung des Schoßes. Anne-Marie gab
sich sehr schnell ihrer Erregung hin - sie gab sich nicht O hin.
Die Wollust, in der sie die Augen weit dem Licht öffnete, dem
sie zugewandt war, war eine anonyme und unpersönliche Lust,
O diente ihr nur als Werkzeug. Es war Anne-Marie gleichgültig,
daß O ihr glattes und verjüngtes Gesicht bewunderte, den
schönen, keuchenden Mund, es war ihr gleichgültig, daß O sie
stöhnen hörte, als sie die Fleischknospe in der Furche des
Schoßes zwischen Zähne und Lippen zog. Sie packte O nur
beim Haar, um sie stärker an sich zu pressen und ließ sie nur los,
um ihr zu befehlen: "Weiter." O hatte auf die gleiche Weise
Jacqueline geliebt. Sie hatte sie in völliger Selbstvergessenheit
in den Armen gehalten. Sie hatte Jacqueline besessen, glaubte
sie zumindest. Doch die Identität der Gesten hatte nichts zu
bedeuten. O besaß Anne-Marie nicht. Niemand besaß Anne-
Marie. Anne-Marie forderte die Liebkosungen ohne sich darum
zu kümmern, was der Gebende empfand und sie überließ sich
ihrer Wollust mit hochmütiger Unbekümmertheit. Dennoch war
sie zärtlich und sanft zu O, küßte ihren Mund und ihre Brüste
und hielt sie noch eine Stunde lang an sich gepreßt, ehe sie sie
wegschickte. Sie hatte ihr die Eisen abgenommen. "Es sind die
letzten Stunden, hatte sie zu ihr gesagt, in denen du zu Bett
gehst, ohne Eisen zu tragen. Denn die Eisen, die dir jetzt gleich
angelegt werden, sind nicht wieder abzunehmen." Ihre Hand
hatte zart und lange Os Lenden gestreichelt, dann hatte sie O in
ihr Ankleidezimmer geführt, das einzige Zimmer im ganzen
Haus, wo ein dreiteiliger Spiegel stand, der stets zugeklappt war.
Sie hatte den Spiegel geöffnet, damit O sich sehen konnte. "Jetzt
siehst du dich zum letzten Mal unversehrt", sagte sie. "Hier, wo
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du so rund und glatt bist, wird man dir Sir Stephens Initialen
einbrennen, zu beiden Seiten der Furche. Ich werde dich am
Abend vor deiner Abreise wieder vor diesen Spiegel führen und
du wirst dich nicht wiedererkennen. Aber Sir Stephen hat recht.
Geh schlafen, O." Doch die Angst hielt O wach und als
Monique sie um zehn Uhr holen kam, mußte sie ihr helfen, sich
zu baden, zu frisieren und die Lippen zu schminken. O zitterte
an allen Gliedern; sie hatte die Eingangstür gehen hören: Sir
Stephen war da. "Komm doch, O", sagte Yvonne, "er erwartet
dich."
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, kein Lufthauch
bewegte die Blätter der Buche: sie sah aus wie aus Kupfer. Der
hitzemüde Hund lag am Fuß des Baumes und da die Sonne noch
nicht hinter der Hauptmasse der Buche stand, drang sie durch
die Spitze des Astes, der als einziger um diese Stunde einen
Schatten auf den Tisch warf: der Stein war mit hellen und
blauen Flecken übersät. Sir Stephen stand regungslos am Tisch,
Anne-Marie saß neben ihm. "So", sagte Anne-Marie, als
Yvonne ihr O zugeführt hatte, "die Ringe können angebracht
werden, wenn Sie es wünschen, sie ist vorbereitet." Ohne zu
antworten zog Sir Stephen O in seine Arme, küßte sie auf den
Mund, hob sie dann hoch und legte sie auf den Tisch, beugte
sich lange über sie. Dann küßte er sie nochmals, streichelte ihr
die Brauen und das Haar, richtete sich auf und sagte zu Anne-
Marie: "Jetzt gleich, wenn ich bitten darf." Anne-Marie nahm
die Lederkassette, die sie mitgebracht und auf einen Sessel
gestellt hatte, und reichte Sir Stephen die einzelnen Ringe, die
Os Namen und den seinen trugen. "Los", sagte Sir Stephen.
Yvonne hob Os Knie hoch und O spürte das kalte Metall, das
Anne-Marie in ihr Fleisch schob. Beim Einfügen der zweiten
Hälfte des Ringes in die erste achtete Anne-Marie darauf, daß
die goldbelegte Seite dem Schenkel zugedreht war, und die Seite
mit der Inschrift nach innen schaute. Aber die Spannfeder gab
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nicht soweit nach, daß die Zapfen einrasten konnten. Dann
wurde O aufgerichtet, mit gespreizten Beinen über den Rand der
Steinplatte gelegt, die als Amboß diente, auf dem die Enden der
beiden Kettenglieder nacheinander aufgelegt wurden und jetzt
konnte man sie durch Schläge ineinandertreiben. Sir Stephen sah
wortlos zu. Als es geschehen war, bedankte er sich bei Anne-
Marie und half O beim Aufstehen. Jetzt bemerkte sie, daß diese
neuen Eisen viel schwerer waren, als diejenigen, die sie während
der vergangenen Tage versuchsweise getragen hatte. Diese
waren endgültig. "Jetzt Ihre Initialen, nicht wahr?" sagte Anne-
Marie zu Sir Stephen. Sir Stephen nickte schweigend und hielt
O, die schwankte, um die Taille fest; sie hatte ihr schwarzes
Mieder abgelegt, aber dieses Mieder hatte sie so schmal
gemacht, daß man den Eindruck hatte, sie würde jeden
Augenblick zerbrechen. Ihre Hüften wirkten dadurch um so
runder und ihre Brüste um so schwerer. Im Musiksaal, wohin Sir
Stephen O mehr trug als führte, saßen Colette und Ciaire am
Fuß der Estrade. Sie erhoben sich bei ihrem Eintritt. Auf der
Estrade stand ein großer, runder, einflammiger Kocher. Anne-
Marie nahm die Gurte aus dem Wandschrank und ließ O an eine
der Säulen stellen und um Taille und Kniekehlen daran
festbinden. Auch ihre Hände und Füße wurden gefesselt. In
blindem Entsetzen spürte sie auf ihren Lenden Anne-Maries
Hände, die anwiesen, wo die Eisen aufzudrücken seien, hörte
das Zischen einer Flamme und in der absoluten Stille das
Schließen eines Fensters. Sie hätte den Kopf wenden können,
hinsehen. Sie hatte nicht die Kraft. Ein einziger, grauenhafter
Schmerz durchfuhr sie, ließ sie sich aufheulend und steif in
ihren Fesseln bäumen und sie erfuhr niemals, wer ihr die beiden
rotglühenden Eisen gleichzeitig ins Fleisch gepreßt, wessen
Stimme langsam bis fünf gezählt hatte, noch auf wessen Zeichen
hin sie weggenommen wurden. Als man sie losband, glitt sie in
Anne-Maries Arme und eh alles um sie her sich drehte und
schwarz wurde und schließlich jedes Gefühl sie verließ, sah sie
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gerade noch zwischen zwei dunklen Wogen Sir Stephens
leichenblasses Gesicht.
Sir Stephen brachte O zehn Tage vor Ende Juli nach Paris
zurück. Die Eisen, die den linken Teil ihres Schoßes
durchbohrten und in deutlichen Buchstaben zeigten, daß sie Sir
Stephens Eigentum war, hingen bis zu einem Drittel ihrer
Schenkel herab und bewegten sich bei jedem Schritt wie ein
Glockenschwengel zwischen ihren Beinen, da die gravierte
Scheibe schwerer und länger war, als der Ring, an dem sie hing.
Die Brandzeichen waren drei Finger hoch und halb so breit und
wie mit dem Meißel fast einen Zentimeter tief in ihr Fleisch
gegraben. Bei der flüchtigsten Berührung spürte man sie unter
den Fingern. Diese Eisen und diese Zeichen erfüllten O mit
unsinnigem Stolz. Wäre Jacqueline dagewesen, sie hätte sie ihr
nicht verborgen wie die Spuren der Peitschenhiebe, mit denen
Sir Stephen sie an den letzten Tagen vor ihrer Abreise
gezeichnet hatte, sondern sofort angezeigt. Aber Jacqueline
würde erst in acht Tagen zurückkommen. René war nicht da.
Während dieser acht Tage ließ O sich auf Sir Stephens Geheiß
einige Hochsommerkleider und ein paar sehr leichte
Abendkleider machen. Er erlaubte ihr nur die Abwandlungen
von zwei Grundmodellen, eines mit Reißverschluß von oben bis
unten (O besaß bereits zwei ähnliche Kleider), das andere eine
Kombination aus Plisseerock, den man mit einem Griff
hochschlagen konnte, einem bis unter die Brust reichenden
Mieder und einem bis zum Hals geschlossenen Bolerojäckchen.
Man brauchte nur das Bolero auszuziehen und Schultern und
Brüste waren nackt, und wenn man das Bolero nicht auszog, es
nur zu öffnen, wenn man die Brüste sehen wollte. Ein
Badeanzug kam nicht in Frage: O konnte keinen tragen: man
hätte die Eisen an ihrem Schoß gesehen. Sir Stephen sagte ihr,
daß sie in diesem Sommer nackt baden werde, wenn überhaupt.
Eine lange Strandhose, weiter nichts. Anne-Marie, von der die
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Entwürfe zu den Kleidern stammten und die wußte, auf welche
Art Sir Stephen sich Os hauptsächlich bediente, hatte eine
Strandhose vorgeschlagen, die an beiden Seiten mittels langer
Reißverschlüsse zu öffnen und vorn in der Taille so gehalten
war, daß man, ohne sie auszuziehen, das Rückenteil
herunterklappen konnte. Doch Sir Stephen lehnte ab. Zwar
behandelte er O, wenn er sich nicht ihres Mundes bediente,
beinah ausnahmslos wie einen Knaben. Aber O wußte, daß er
jederzeit, solange sie in seiner Nähe war, auch dann, wenn er sie
nicht begehrte, gewissermaßen automatisch nach ihrem Schoß
greifen wollte, mit der ganzen Hand in das Vlies fassen und
daran ziehen, sie öffnen und seine Hand lange in sie versenken.
Die Lust, die O selbst empfand, wenn sie Jacqueline so feucht
und glühend sich um ihre Hand schließen fühlte, war ihr Garant
und Zeuge für Sir Stephens Lust. Sie verstand, daß er sich
diesen Zugang nicht erschweren lassen wollte.
Mit den gestreiften oder gepunkteten Baumwollstoffen - grau
und weiß, marineblau und weiß -, die O wählte, in den
Plisseeröcken und kleinen, knappen und hochgeschlossenen
Boleros oder den strengeren Kleidern aus schwarzem
Nyloncloque, kaum geschminkt, ohne Hut und mit losem Haar
sah sie wie ein artiges junges Mädchen aus. Wo immer Sir
Stephen sie hinführte, hielt man sie für seine Tochter, oder für
seine Nichte, um so mehr, als er jetzt "du" zu ihr sagte und sie
zu ihm weiterhin Sie. Wenn sie beide allein durch Paris
spazierten, Läden anschauten, oder die Kais
entlangschlenderten, wo das Pflaster von der langen Trockenheit
staubig waren, sahen sie ohne Erstaunen, wie die Passanten
ihnen zulächelten, wie man glücklichen Menschen zulächelt. Es
kam vor, daß Sir Stephen sie in die Nische einer Einfahrt oder
unter den Torbogen eines Wohnhauses drängte, wo es immer ein
bißchen dunkel ist und ein leichter Kellergeruch aufsteigt, und
sie küßte und ihr sagte, daß er sie liebe. O hakte ihre hohen
-163-
Absätze in die Schwelle der Einfahrt, wo die kleine Durchlaßtür
eingepaßt ist. Man sah in einen Hinterhof, wo Wäsche vor den
Fenstern trocknete. Über einen Balkon lehnte ein blondes
Mädchen und betrachtete sie mit Ausdauer, eine Katze strich
zwischen ihren Beinen hindurch. Sie gingen auch zur Avenue
des Gobelins, nach Saint- Marcel, in die Rue Mouffetard, das
Temple-Viertel, zur Place de la Bastille. Einmal führte Sir
Stephen plötzlich O in ein elendes Stundenhotel, dessen Pächter
sie zuerst Meldezettel ausfüllen lassen wollte, dann sagte, es sei
nicht der Mühe wert, wenn es nur für eine Stunde wäre. Die
Tapete im Zimmer war blau mit riesigen goldenen Pfingstrosen,
das Fenster ging auf einen Lichtschacht, aus dem der Geruch der
Abfalltonnen stieg. Trotz der schwachen Birne über dem Bett
sah man, daß auf dem Kaminsims Puder verstreut war und
Haarnadeln herumlagen. Am Plafond über dem Bett war ein
großer Spiegel.
Ein einziges Mal lud Sir Stephen zusammen mit O zwei
seiner durchreisenden Landsleute zum Mittagessen ein. Er holte
sie eine Stunde eh sie fertig war in ihrer Wohnung am Quai de
Béthume ab, anstatt sie zu sich zu bestellen. O war gebadet, aber
nicht frisiert, nicht zurechtgemacht, nicht angekleidet. Sie
bemerkte überrascht, daß Sir Stephen einen Golfsack in der
Hand trug. Aber ihr Erstaunen legte sich schnell: Sir Stephen
befahl ihr, den Sack zu öffnen. Er enthielt mehrere Reitstöcke
aus Leder, zwei dickere aus rotem, zwei sehr dünne und lange
aus schwarzem Leder, eine Riemenpeitsche mit langen grünen
Lederschnüren von denen jede am Ende umgebogen war und
einen Ring bildete, eine weitere Peitsche mit Knotenschnüren,
eine Hundepeitsche aus einem dicken Lederriemen bestehend,
der Griff aus Leder geflochten, schließlich Lederarmbänder wie
die von Roissy und Schnüre. O legte Stück für Stück
nebeneinander auf das aufgeschlagene Bett. Sie war daran
gewöhnt, sie war gefaßt, dennoch zitterte sie; Sir Stephen nahm
-164-
sie in die Arme. "Was ist dir am liebsten, O?" fragte er sie. Aber
sie konnte kaum sprechen und spürte, wie ihr bereits der
Schweiß aus den Achselhöhlen lief. "Was ist dir am liebsten?
wiederholte er. Gut, sagte er, als sie schwieg, zunächs t wirst du
mir helfen." Er verlangte Nägel und nachdem er einen
passenden Platz gefunden hatte, wo die gekreuzten Peitschen
und Reitstöcke als eine Art Wandschmuck angebracht werden
konnten, zeigte er O, daß die Stelle rechts von ihrem Stehspiegel
und dem Bett gegenüber, eine Holzverkleidung zwischen
Spiegel und Kamin, sich am besten dafür eignete. Er schlug die
Nägel ein. Die Peitschen und Reitstöcke hatten an den Enden
Ringe, die man in die Bildernägel einhaken konnte, sie waren so
leicht einzeln abzunehmen und wieder aufzuhängen; zusammen
mit den Armbändern und den Schnüren hatte O also ihrem Bett
gegenüber das vollständige Sortiment ihrer Folterwerkzeuge.
Ein hübsches Ensemble, so wohl abgestimmt wie das Rad und
die Zangen auf den Abbildungen der heiligen Märtyrerin
Katharina, wie Hammer und Nägel, Dornenkrone, Lanze und
Geißeln auf den Darstellungen des Kreuzwegs. Wenn Jacqueline
zurückkommen würde... aber es handelte sich ja gerade um
Jacqueline. O mußte Sir Stephens Frage beantworten: sie konnte
nicht, er selbst wählte die Hundepeitsche aus.
Bei La Pérouse, in einem winzigen Séparé im zweiten Stock,
wo Watteau-Figuren, die aussahen wie Akteure eines
Puppentheaters in hellen, leicht verblaßten Farben die dunklen
Wände schmückten, mußte O sich allein aufs Sofa setzen. Sir
Stephens Freunde saßen rechts und links von ihr auf Sesseln, Sir
Stephen ihr gegenüber. Einen der Männer hatte sie bereits in
Roissy gesehen, aber sie erinnerte sich nicht, ihm gehört zu
haben. Der andere, ein großer junger Mann mit rotem Haar und
grauen Augen, war bestimmt noch nicht fünfundzwanzig. Sir
Stephen erklärte ihnen kurz, warum er O eingeladen habe und
was sie war. O wunderte sich wieder einmal über die Brutalität
-165-
seiner Sprache. Aber, wie sollte er sie bezeichnen, wenn nicht
als Hure, eine Frau, die sich bereitfand, vor drei Männern - ganz
zu schweigen von den bedienenden Kellnern, die ständig aus
und ein gingen - ihr Mieder zu öffnen um ihre Brüste zu zeigen,
deren Spitzen geschminkt waren, und die zwei violette Streifen
quer über die weiße Haut trugen, Spuren einer Auspeitschung
mit dem Reitstock? Die Mahlzeit zog sich hin und die Engländer
tranken viel. Beim Kaffee, die Liköre waren soeben gebracht
worden, schob Sir Stephen den Tisch an die andere Wand
zurück und nachdem er Os Rock hochgeschlagen hatte, damit
seine Freunde Os Brandmale und Eisen sehen konnten, überließ
er sie ihnen. Der Mann, den sie in Roissy gesehen hatte, war
schnell mit ihr fertig, er verlangte sofort, ohne von seinem
Sessel aufzustehen oder sie auch nur mit einem Finger zu
berühren, daß sie sich vor ihm hinkniee, sein Geschlecht in den
Mund nehme, bis er sich in sie ergießen konnte. Worauf er seine
Kleider von ihr wieder ordnen ließ und wegging. Aber der
rothaarige junge Mann, den Os Gehorsam, ihre Eisen und die
Peitschenmale an ihrem Körper um seine Fassung gebracht
hatten, warf sich nicht auf sie, wie O es erwartet hatte, sondern
nahm sie bei der Hand und ging mit ihr die Treppe hinunter,
ohne auf das spöttische Grinsen der Kellner zu achten, ließ ein
Taxi rufen und führte sie in sein Hotelzimmer. Er ließ sie erst
bei sinkender Nacht wieder gehen, nachdem er wie ein Rasender
ihren Schoß und ihre Lenden bearbeitet hatte, die er verletzte, so
steif und mächtig war er, so entfesselt durch das ungewohnte
und erstmalig eingeräumte Recht, beide Wege benützen zu
dürfen, sich ihres Mundes so zu bedienen, wie er soeben
gesehen hatte, daß man es von ihr verlangen dürfe (was er noch
niemals zu fordern gewagt hatte). Als O am nächsten Tag um
zwei Uhr zu Sir Stephen kam, der sie hatte rufen lassen, fand sie
ihn mit ernster Miene und gealtert vor. "Eric hat sich sinnlos in
dich verliebt, O", sagte er. "Er hat mich heute Morgen
beschworen, dir die Freiheit zurückzugeben, er hat gesagt, er
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wolle dich heiraten. Er will dich retten. Du weißt ja, was ich aus
dir mache, wenn du mir gehörst, O, und wenn du mir gehörst,
dann kannst du mir nichts verweigern, aber noch kannst du, und
das weißt du auch, dich weigern, mir zu gehören. Ich habe es
ihm gesagt. Er kommt um drei Uhr wieder. O lachte. Ist es nicht
ein bißchen spät?" sagte sie. "Ihr seid alle beide verrückt. Wenn
Eric heute Morgen nicht gekommen wäre, was hätten Sie dann
heute Nachmittag mit mir gemacht? Spazierengegangen, weiter
nichts? Schön, dann gehen wir spazieren; oder vielleicht hätten
Sie mich gar nicht rufen lassen? Schön, dann gehe ich wieder... -
Nein, erwiderte Sir Stephen, ich hätte dich gerufen, O, aber
nicht, um mit dir spazierenzugehen. Ich wollte... - Sagen Sie es.
- Komm, so geht es leichter." Er stand auf und öffnete die Tür in
der Wand gegenüber dem Kamin, das Pendant zu der Tür, durch
die man in sein Arbeitszimmer kam. O hatte immer geglaubt, es
sei die Tür zu einem nicht benutzten Wandschrank. Sie sah ein
winziges Boudoir, frisch getüncht und mit tiefroter Seide
ausgeschlagen, der halbe Raum wurde von einer gerundeten
Estrade mit zwei Säulen eingenommen, wie die Estrade des
Musikzimmers in Samois. "Wände und Plafond sind mit Kork
belegt, nicht wahr, sagte O, und die Tür ist gepolstert und Sie
haben ein Doppelfenster einsetzen lassen? Sir Stephen nickte.
Aber seit wann? sagte O. - Seit deiner Rückkehr. - Und
warum...? - Warum ich bis heute gewartet habe. Weil ich
gewartet habe, bis du durch andere Hände als die meinen
gegangen bist. Dafür werde ich dich jetzt bestrafen. Ich habe
dich noch niemals bestraft, O. - Aber ich gehöre Ihnen, sagte O,
bestrafen Sie mich. Wenn Eric wiederkommt..."
Eine Stunde später wurde der junge Mann vor O geführt, die
zwischen den beiden Säulen grotesk ausgespreizt lag.
Er erbleichte, stammelte etwas und verschwand. O glaubte,
ihn niemals wiederzusehen. Sie traf ihn Ende September in
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Roissy, wo er sie sich drei Tage nacheinander ausliefern ließ
und sie barbarisch mißhandelte.
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IV DAS KÄUZCHEN
O begriff nicht mehr, daß sie jemals Bedenken haben konnte,
Jacqueline von dem zu sprechen, was René zu recht ihre wahre
Situation nannte. Anne-Marie hatte ihr wohl gesagt, sie werde
verändert sein, wenn sie ihr Haus verlasse. Aber nie hätte sie
geglaubt, daß sie so völlig anders sein könnte. Es erschien ihr
nur natürlich, sich vor der noch strahlender, noch frischer
zurückgekehrten Jacqueline nicht mehr wie früher zu
verstecken, wenn sie badete oder sich anzog. Doch Jacqueline
schenkte allem, was nicht sie selbst betraf, so wenig Interesse,
daß sie auch weiterhin nichts bemerkt hätte, wäre sie nicht am
zweiten Tag nach ihrer Rückkehr zufällig genau in dem
Augenblick ins Badezimmer gegangen, als O aus dem Wasser
und über den Rand der Badewanne stieg und die Eisenringe an
ihrem Schoß gegen das Emaille klirrten. Dieses ungewohnte
Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie wandte den Kopf
und sah gleichzeitig die Scheibe, die zwischen Os Beinen
baumelte und die Querstreifen, die sich über Schenkel und
Brüste zogen. "Was hast du denn da? sagte sie. Das war Sir
Stephen, erwiderte O, und wie etwas ganz Selbstverständliches
fügte sie hinzu: "René hat mich ihm geschenkt und er hat mir
eine Plaquette mit seinem Namen anschmieden lassen. Schau
her." Und während sie sich mit dem Bademantel abtrocknete,
trat sie so nah vor Jacqueline hin, die sich vor Staunen auf den
lackierten Hocker gesetzt hatte, daß Jacqueline die Scheibe in
die Hand nehmen und die Inschrift lesen konnte; dann ließ sie
den Bademantel herabgleiten, drehte sich um und deutete mit
der Hand auf das S und das H, das ihre Lenden höhlte, und
sagte: "Er hat mich auch mit seinen Initialen zeichnen lassen.
Das übrige, das kommt von der Reitpeitsche. Gewöhnlich
peitscht er mich selbst, aber manchmal läßt er mich auch von
seiner schwarzen Dienerin auspeitschen." Jacqueline starrte O
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an, ohne ein Wort herauszubringen. O lachte, dann wollte sie
Jacqueline umarmen. Jacqueline stieß sie entsetzt von sich und
floh ins Schlafzimmer. O trocknete sich in aller Ruhe vollends
ab, parfümierte sich, bürstete ihr Haar. Sie zog das
Taillenmieder an, die Strümpfe, die Pantöffelchen und als sie
nun durch die Tür trat, begegnete sie im Spiegel dem Blick
Jacquelines, die sich geistesabwesend vor dem Spiegel kämmte.
"Schnüre mir das Korsett, sagte sie. Du tust so überrascht. René
ist in dich verliebt, hat er dir denn nichts gesagt? - Ich verstehe
nicht", sagte Jacqueline. Und sie platzte sogleich mit dem
heraus, was sie am meisten erstaunte: "Man könnte meinen, du
wärst stolz darauf, ich verstehe das nicht. - Wenn René dich
nach Roissy bringt, wirst du es verstehen. Hast du denn schon
mit ihm geschlafen?" Eine Blutwelle überströmte das Gesicht
Jacquelines, sie schüttelte den Kopf, aber so wenig überzeugend,
daß O laut lachen mußte. "Du lügst, mein Herzchen, du bist
dumm. Es ist dein gutes Recht, mit ihm zu schlafen. Und das ist
kein Grund, mich zurückzuweisen. Komm mit mir ins Bett,
dann werde ich dir die Geschichte von Roissy erzählen."
Fürchtete Jacqueline eine stürmische Eifersuchtsszene, gab sie
aus Erleichterung oder aus Neugier nach, weil sie von O
Erklärungen hören wollte oder einfach weil sie die Geduld, die
Bedächtigkeit, die Leidenschaft liebte, mit der O sie liebkoste?
Sie gab nach. "Erzähle, sagte sie danach zu O. Ja, sagte O. Aber
zuerst mußt du mir die Brüste küssen. Es ist Zeit, daß du dich
daran gewöhnst, wenn du René von irgendeinem Nutzen sein
willst." Jacqueline gehorchte, und so gut, daß sie O zum
Stöhnen brachte. "Erzähle", sagte sie noch einmal.
Os Erzählung erschien Jacqueline trotz aller Genauigkeit und
Klarheit, trotz des greifbaren Beweises, den O selbst darstellte,
einfach phantastisch. "Im September gehst du wieder hin? sagte
sie. - Wenn wir aus dem Süden zurückkommen, sagte O. Ich
werde dich mitnehmen, oder René nimmt dich mit. - Anschauen
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möchte ich es mir schon einmal, sagte Jacqueline, aber nur
anschauen. - Natürlich, das läßt sich machen", sagte O, die vom
Gegenteil überzeugt war, sich jedoch sagte, daß Sir Stephen ihr
Dank wissen würde, wenn sie, O, Jacqueline dazu bringen
könnte, die Schwelle von Roissy zu überschreiten - und danach
würden die Diener, die Ketten und Peitschen da sein, um
Jacqueline das Gehorchen zu lehren. Sir Stephen hatte in der
Nähe von Cannes eine Villa gemietet, wo sie den August
verbringen sollte zusammen mit René, Jacque line und deren
kleiner Schwester, die Jacqueline gebeten hatte, mitbringen zu
dürfen - nicht, weil sie die Kleine gern hatte, sondern weil ihre
Mutter ihr dauernd in den Ohren lag, sie solle O um Erlaubnis
bitten - und sie wußte bereits, daß ihr Schlafzimmer, wo
Jacqueline wohl zumindest die Siesta mit ihr verbringen würde,
wenn René nicht da war, von Sir Stephens Zimmer durch eine
nur scheinbar solide Wand getrennt war, hinter deren
Trompel'oeil- Dekorierung, einem durchbrochenen Lattenwerk,
man nur einen Rollvorhang zu heben brauchte, um alles, was im
Zimmer vorging so genau zu sehen und zu hören, als stünde
man direkt vor dem Bett. Jacqueline würde Sir Stephens Blicken
ausgeliefert sein, wenn O mit ihr im Bett lag, und sie würde es
zu spät erfahren, um sic h dagegen wehren zu können. O tat der
Gedanke wohl, daß sie Jacqueline durch Verrat ausliefern
würde, denn es kränkte sie, daß Jacqueline ihren Stand einer
gebrandmarkten und gepeitschten Sklavin verachtete, auf den
sie so stolz war.
O war noch nie im Süden gewesen. Der stetig blaue Himmel,
das Meer, das sich kaum bewegte, die regungslosen Pinien unter
der hohen Sonne, alles erschien ihr leblos und feindlich. "Keine
richtigen Bäume", sagte sie traurig vor den duftenden Gehölzen
voller Maulbeerbäumen und Zimtrosen, wo alle Steine, alle
Moose, sich lauwarm anfühlten. "Das Meer riecht nicht nach
Meer", sagte sie auch. Sie warf ihm vor, nichts als ein paar
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häßliche, vergilbte Algen an den Strand zu spülen, die wie Mist
aussahen, zu blau zu sein, das Ufer stets an der gleichen Stelle
zu belecken. Aber im Garten der Villa, eines umgebauten
ehemaligen Gehöfts, war man weit vom Meer. Rechts und links
schützten hohe Mauern vor den Nachbarn; der Dienertrakt ging
auf der anderen Seite zur Einfahrt und die Gartenseite, wo Os
Zimmer im ersten Stock direkt auf die Terrasse führte, lag nach
Osten. Die Wipfel der hohen, dunklen Lorbeerbäume reichten
bis an die Hohlziegel, die die Einfassung der Terrasse bildeten;
eine Schilfwand hielt die Sonne im Süden ab, der Boden war mit
den gleichen roten Fliesen belegt, wie das Zimmer. Mit
Ausnahme der Wand zwischen Os Zimmer und dem Sir
Stephens - es war die Rückwand eines großen Alkovens, der
vom übrigen Raum durch einen Mauerbogen und eine Art
Barriere getrennt war, ähnlich einem Treppengeländer, mit
gedrechselten Holzsprossen - waren alle Wände weiß gekalkt.
Die dicken Teppiche auf den Fliesen waren aus weißer
Baumwolle, die Vorhänge aus gelb und weißem Leinen. Es gab
zwei Sessel, mit dem gleichen Leinen bezogen und blaue,
dreifach zusammengelegte Faltmatratzen. Das Mobiliar bestand
nur aus einer sehr schönen, bauchigen Nußbaum-Kommode im
Régence-Stil und einem sehr langen, schmalen Bauerntisch aus
hellem Holz, der spiegelblank gescheuert war. O hängte ihre
Kleider in einen Garderobenschrank. Die Kommodenplatte
diente ihr als Frisiertisch. Die kleine Natalie war im
Nebenzimmer untergebracht und morgens, wenn sie wußte, daß
O auf der Terrasse ihr Sonnenbad nahm, kam sie zu ihr und
legte sich neben sie. Sie war ein sehr weißes kleines Ding,
rundlich und doch zart, ihre Augen waren schräg geschnitten,
wie die ihrer Schwester, aber schwarz und glänzend, wodurch
sie wie eine Chinesin aussah. Ihr schwarzes Haar lag in dichten
Fransen über den Brauen und war im Nacken gerade
geschnitten. Sie hatte kleine, bebende Brüste und kindliche,
kaum gerundete Hüften. Auch sie hatte O durch Zufall gesehen,
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als sie auf die Terrasse hinausgelaufen war, wo sie ihre
Schwester vermutete und wo O allein bäuchlings auf einer
Faltmatratze lag. Doch was Jacqueline abgestoßen hatte, machte
sie vor Verlangen und Neid fast verrückt; sie befragte ihre
Schwester. Die Antworten, mit denen Jacqueline auch ihr Ekel
einflößen wollte - sie erzählte der Kleinen, was O ihr selbst
erzählt hatte - änderten nichts an Natalies Erregung, im
Gegenteil. Sie hatte sich in O verliebt. Es gelang ihr, dieses
Geheimnis über eine Woche lang für sich zu behalten, dann
richtete sie es am Spätnachmittag eines Sonntags so ein, daß sie
mit O allein war.
Es war weniger heiß gewesen als sonst. René, der am
Vormittag lang geschwommen war, schlief auf dem Sofa eines
kühlen Zimmers im Erdgeschoß. Jacqueline, die es kränkte, daß
er lieber schlafen wollte, hatte O in ihrem Alkoven aufgesucht.
Meer und Sonne hatten sie bereits tief gebräunt: Haar, Braue n,
Wimpern, das Vlies ihres Schoßes, die Achselhöhlen schienen
silbrig überpudert zu sein und da sie nicht geschminkt war, hatte
ihr Mund das gleiche Rosa wie die Muschel ihres Schoßes.
Damit Sir Stephen - dessen unsichtbare Gegenwart sie, so sagte
sich O, an Jacquelines Stelle geahnt, gefühlt, erraten hätte - sie
in allen Einzelheiten sehen konnte, hatte O ihr absichtlich
mehrmals die Beine hochgeschlagen und sie bei voller
Beleuchtung auseinandergehalten: sie hatte die Nachttischlampe
angezündet. Die Jalousien waren heruntergelassen, das Zimmer
war trotz der Lichtstrahlen, die durch die schlecht gefügten
Latten drangen, fast dunkel. Jacqueline stöhnte fast eine Stunde
lang unter Os Liebkosungen und begann schließlich laut zu
schreien, wobei sie mit starren Brüsten und nach hinten
gereckten Armen die beiden Hände um die Holzstangen
krampfte, die das Kopfteil des italienischen Bettes bildeten,
während O die von blassem Haar gesäumten Hügel
auseinanderzog und die Zahne langsam in die Fleischkuppe
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preßte, wo sich zwischen den Schenkeln die zarten und weichen
kleinen Lippen trafen. O fühlte, wie sie unter ihrer Zunge
brannte und steif wurde und ließ sie ohne Unterlaß schreien, bis
sie sich mit einem Schlag entspannte, wie eine zerbrochene
Feder, feucht vor Lust. Später ging Jacqueline wieder in ihr
Zimmer zurück, wo sie sich schlafen legte; sie war wach und
ausgehfertig, als René sie um fünf Uhr zu einer Bootsfahrt mit
Natalie abholen wollte, einer Fahrt in einem kleinen Segelboot,
das sie oft benutzten; am Spätnachmittag erhob sich eine leichte
Brise. "Wo ist Natalie?" sagte René. Natalie war nicht in ihrem
Zimmer, sie war nicht im Haus. René rief im Garten nach ihr. Er
ging bis zu dem kleinen Korkeichen-Wäldchen, das sich an den
Garten anschloß, niemand antwortete ihm. "Vielleicht ist sie
schon in der Bucht", sagte René, "oder im Boot." Sie gingen,
ohne weiter zu rufen. In diesem Augenblick sah O, die auf der
Terrasse auf der Faltmatratze lag, Natalie aufs Haus zulaufen.
Sie stand auf, zog ihren Morgenrock an - sie war nackt gewesen,
weil es so heiß war - und band gerade den Gürtel, als Natalie
wie eine Furie hereinstürmte und sich auf sie warf. "Sie ist fort,
endlich ist sie fort", rief sie. "Ich habe sie gehört, O, ich habe
euch beide gehört, ich habe an der Tür gehorcht. Du küßt sie, du
streichelst sie. Warum streichelst du nicht mich, warum küßt du
mich nicht? Weil ich schwarz bin, weil ich nicht hübsch bin? Sie
liebt dich nicht, O, aber ich, ich liebe dich." Und sie brach in
Schluchzen aus. "Na schön", sagte sich O. Sie drückte das kleine
Mädchen in einen Sessel, nahm ein großes Taschentuch aus
ihrer Kommode (es war eines von Sir Stephens Taschentüchern)
und als Natalies Schluchzen ein wenig nachgelassen hatte,
trocknete sie ihr das Gesicht, Natalie bat sie um Verzeihung und
küßte ihr die Hände. "Laß mich bei dir sein O, auch wenn du
mich nicht küssen willst. Laß mich immer bei dir sein. Wenn du
einen Hund hättest, ließest du ihn auch immer bei dir sein. Wenn
du mich nicht küssen willst, sondern mich lieber schlagen
möchtest, dann kannst du mich schlagen, aber schick mich nicht
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weg." - "Schweig, Natalie, du weißt nicht, was du sagst",
flüsterte O ganz leise. Die Kleine ließ sich O zu Füßen sinken,
umklammerte ihre Knie und erwiderte, ebenfalls ganz leise: "Oh
doch! Ich weiß es sehr gut. Ich habe dich neulich morgens auf
der Terrasse gesehen. Ich habe die Buchstaben gesehen und daß
du große, blaue Male hast. Und Jacqueline hat mir gesagt - Hat
dir was gesagt? - Wo du gewesen bist, O, und was man mit dir
gemacht hat. - Sie hat dir von Roissy erzählt? - Sie hat mir auch
gesagt, du wärst, du hättest... Ich hätte was? - Du trügst eiserne
Ringe, - Ja, sagte O, was noch? - Daß Sir Stephen dich alle Tage
peitscht. - Ja, sagte O wieder, und er wird jetzt jeden Augenblick
kommen. Geh, Natalie." Natalie rührte sich nicht, sie hob nur
den Kopf und O begegnete ihrem bewundernden Blick. "Nimm
mich in die Lehre, O, ich bitte dich, sagte sie, ich möchte sein
wie du. Ich werde alles tun, was du mir sagst. Versprich mir,
daß du mich mitnimmst, wenn du nach Roissy gehst. - Du bist
noch zu klein, sagte O. - Nein, ich bin nicht zu klein, ich bin
schon fünfzehn, rief sie wütend, ich bin nicht mehr zu klein, frag
Sir Stephen", wiederholte sie - denn er trat soeben ein.
Natalie erhielt die Erlaubnis, bei O zu bleiben, und das
Versprechen, daß sie nach Roissy gebracht würde. Aber Sir
Stephen verbot O, ihr die kleinste Liebkosung beizubringen, sie
zu küssen, und sei es auch nur auf den Mund, und sich von ihr
küssen zu lassen. Sie sollte nach Roissy kommen, ohne von
irgend jemandes Händen oder Lippen berührt worden zu sein.
Dagegen verlangte er, da sie ohnehin immer bei O bleiben
wollte, daß sie ihr auch nicht einen Augenblick von der Seite
weichen solle, daß sie zusehen sollte, wie Os Mund ihre
Schwester oder ihn selbst berührte, wie sie sich ihm hingab,
sogar wie sie von ihm gepeitscht oder von der alten Norah mit
Ruten geschlagen wurde. Die Küsse, mit denen O ihre
Schwester bedeckte, Os Mund auf dem Mund ihrer Schwester,
ließen Natalie vor Eifersucht und Neid zittern. Aber sie saß
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unbeweglich auf dem Teppich des Alkovens am Fußende des
Bettes, wie die kleine Dinarzade am Bett der Scheherezade, und
sah jedesmal zu, wie O, am Holzgeländer festgebunden, sich
unter der Reitpeitsche wand, wie O, auf den Knien liegend,
demütig Sir Stephens mächtiges, aufgerichtetes Glied in ihrem
Mund empfing, wie O, hingestreckt, selbst mit beiden Händen
ihre Schenkel auseinanderhielt, um ihm ihre Lenden zu bieten,
und sie empfand dabei nichts als Bewunderung, Ungeduld und
Neid.
Vielleicht hatte O sich in Jacqueline getäuscht, als sie ihr eine
Art gleichmütige Sinnlichkeit zuschrieb, vielleicht glaubte
Jacqueline naiverweise, es könne ihr bei René schaden, wenn sie
sich O hingebe, jedenfalls hörte sie plötzlich damit auf.
Gleichzeitig schien es, als halte René, mit dem sie beinah alle
ihre Nächte und alle ihre Tage zubrachte, auf Distanz. Nie
benahm sie sich ihm gegenüber wie eine Verliebte. Sie sah ihn
mit kalten Blicken an und wenn sie ihm zulächelte, so stieg das
Lächeln nicht bis zu ihren Augen. Selbst wenn sie sich bei René
ebenso rückhaltlos ihrer Wollust hingab wie bei O, und das war
wohl der Fall, so konnte O sich des Gedankens nicht erwehren,
daß diese Hingabe nicht sehr tief ging. Während man René in
ihrer Gegenwart vor Verlangen vergehen sah, gelähmt von einer
Liebe, die ihm fremd gewesen war, einer ängstlichen Liebe, die
stets fürchtete, einseitig zu sein, auf Ablehnung zu stoßen. Er
lebte und schlief im gleichen Haus mit Sir Stephen, im gleichen
Haus mit O, er frühstückte, aß mit Sir Stephen, mit O, ging mit
ihnen aus, machte Spaziergänge, plauderte mit ihnen: er sah sie
nicht, er hörte sie nicht. Er sah, hörte, sprach durch sie hindurch,
an ihnen vorbei, und in einem stummen und erschöpfenden
Bemühen, so wie man sich im Traum abmüht, eine abfahrende
Tram zu erreichen, sich an die Brüstung der einstürzenden
Brücke zu klammern, versuchte er unablässig, den
Daseinszweck, die Wahrheit Jacquelines zu ergründen, die
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irgendwo unter ihrer goldenen Haut existieren mußte, wie der
Mechanismus unter dem Porzellan, der die Puppen schreien läßt.
"Da ist er also", sagte sich O, "jetzt ist er da, der Tag, den ich so
sehr gefürchtet habe, der Tag, an dem ich für René nur noch ein
Schatten aus einem früheren Leben sein würde. Und ich bin
nicht einmal traurig, und er tut mir nur leid, und ich kann ihn
tagtäglich sehen, ohne Bitterkeit, ohne Bedauern, und es kränkt
mich nicht, daß er mich nicht mehr begehrt. Dabei ist es erst ein
paar Wochen her, daß ich zu ihm lief und ihn anfle hte, mir zu
sagen, ich liebe dich. War das meine ganze Liebe? So
oberflächlich, so leicht zu trösten? Nicht einmal Trost brauche
ich: Ich bin glücklich. Brauchte er denn, damit ich mich von ihm
löste und in anderen Armen so leicht zu einer neuen Liebe finde,
weiter nichts zu tun, als mich Sir Stephen zu geben?" Aber was
war René denn neben Sir Stephen? Stricke aus Heu, Seile aus
Stroh, Kugeln aus Kork, das waren Symbole für die Bande, mit
denen er sie an sich gefesselt hatte, sonst hätte er nicht so
schnell aufgegeben. Welche Beruhigung dagegen, welche
Wonne der Eisenring, der das Fleisch durchbohrt und für immer
lastet, das Brandmal, das nie mehr erlischt, die Hand eines
Gebieters, die einen auf ein Felsenbett streckt, die Liebe eines
Gebieters, der sich mitleidlos zu nehmen weiß, was er liebt. Und
O sagte sich, daß sie letztlich René nur deshalb geliebt habe, um
die Liebe zu lernen und sich um so besser als glückliche Sklavin
Sir Stephen hingeben zu können. Aber wenn sie sah, wie René,
der mit ihr so frei umgegangen war - und sie hatte ihn deswegen
geliebt - jetzt wie mit bleiernen Füßen umherging, als wären
seine Beine im Wasser und Schilfwerk eines scheinbar
unbeweglichen Teiches gefangen, den unterirdische Strömungen
durchziehen, empfand O wilden Haß auf Jacqueline. Erriet René
das, ließ O es unvorsichtigerweise durchblicken? Sie beging
einen Fehler. Die beiden Mädchen waren eines Nachmittags
allein nach Cannes zum Friseur gefahren und hatten danach auf
der Terrasse von La Réserve Eis gegessen. Jacqueline, in
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schwarzen Seeräuberhosen und schwarzem Leinenpullover, war
so glatt, so golden, so hart und so klar in der strahlenden Sonne,
daß sie sogar die Kinder ausstach, und so nonchalant, so
verschlossen. Sie sagte O, daß sie mit dem Regisseur verabredet
sei, mit dem sie in Paris gearbeitet hatte, da Außenaufnahmen
gemacht werden sollten, wahrscheinlich in den Bergen hinter
Saint-Paulde-Vence. Der junge Mann war schon da, energisch
und entschlossen. Er brauchte nicht zu sprechen. Daß er in
Jacqueline verliebt war, merkte man auch so. Man brauchte ihn
nur anzusehen. Das war nicht weiter überraschend. Weit
überraschender war Jacqueline. Sie lag in einem Schaukelstuhl,
hörte ihm zu, wie er von den Daten sprach, die festgelegt,
Verabredungen, die getroffen werden müßten und von der
Schwierigkeit, genügend Geld aufzutreiben, um den begonnenen
Film fertigzustellen. Er duzte Jacqueline, die nur durch Nicken
und Kopf schütteln antwortete und die Augen halb geschlossen
hielt. O saß ihr gegenüber, der junge Mann zwischen ihnen. Sie
konnte mühelos feststellen, daß Jacqueline hinter ihren
gesenkten Lidern und im Schutz der unbeweglichen Wimpern
das Verlangen des jungen Mannes belauerte, beobachtete, wie
sie es immer tat und dabei glaubte, daß niemand es bemerke.
Aber das Seltsamste war ihre Verwirrung, ihre Hände hingen
kraftlos herunter, ihr Gesicht war ernst ohne die Spur eines
Lächelns, noch nie hatte O sie so vor René gesehen. Das
Lächeln, das O für den Bruchteil einer Sekunde über ihre Lippen
zucken sah, als sie sich vorbeugte, um ihr Glas mit Eiswasser
abzustellen und ihre Blicke sich kreuzten, bewies, daß
Jacqueline sich durchschaut wußte. Sie nahm es gelassen hin, O
dagegen errötete. "Ist dir zu heiß?" sagte Jacqueline. "Wir gehen
in fünf Minuten. Im übrigen steht es dir sehr gut." Dann lächelte
sie wieder, und sah dabei mit so zärtlicher Hingabe ihren
Tischnachbarn an, daß man glaubte, er müsse einfach
aufspringen und sie küssen. Aber nein. Er war zu jung um zu
wissen, wieviel Schamlosigkeit sich in Ruhe und Schweigen
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ausdrücken kann. Er ließ Jacqueline aufstehen, ihm die Hand
reichen und sich verabschieden. Sie würde ihn anrufen. Dann
verabschiedete er sich von dem Schatten der O für ihn war, und
blieb auf dem Trottoir stehen, bis der schwarze Buick auf der
Straße zwischen den sonnendurchglühten Häusern und dem viel
zu blauen Meer davongeglitten war. Die Palmen wirkten wie aus
Blech gestanzt, die Spaziergänger wie halb geschmolzene
Wachspuppen, die ein absurder Mechanismus in Bewegung hält.
"Gefällt er dir so gut?" sagte O zu Jacqueline, als der Wagen aus
der Stadt fuhr und in die obere Corniche einbog. "Geht dich das
etwas an?" erwiderte Jacqueline. "Es geht René an, erwiderte O.
Was René sonst noch angeht und Sir Stephen, außerdem ein
paar andere Männer, wenn ich recht verstanden habe, fuhr
Jacqueline fort, ist die Tatsache, daß du nicht richtig dasitzt. Du
wirst dein Kleid verknittern." O rührte sich nicht. "Und ich habe
geglaubt, sagte Jacqueline weiter, daß du auch niemals die Beine
überschlagen darfst?" Aber O hörte nicht mehr zu. Was
bedeuteten ihr Jacquelines Drohungen? Bildete Jacqueline sich
ein, ihre Drohung, dieses kleine Vergehen zu verraten, könnte O
daran hindern, sie bei René anzuschwärzen? Nicht, daß O keine
Lust dazu gehabt hätte. Doch René würde den Gedanken nicht
ertragen, daß Jacqueline ihn belog und daß sie frei über sich
selbst verfügen wollte. Wie konnte sie Jacqueline beibringen,
daß sie nur deshalb schweigen würde, damit sie nicht sehen
müßte, wie René das Gesicht verlor, erbleichte um einer anderen
willen, und vielleicht schwach genug war, sie nicht zu
bestrafen? Und auch und vor allem, weil sie fürchtete, daß
Renés Zorn sich gegen sie selbst richten könne, die
Unglücksbotin, die Verräterin. Wie konnte sie Jacqueline sagen,
daß sie schweigen werde, ohne daß es nach einem Handel
aussehen würde, gibst du mir, so geb' ich dir? Denn Jacqueline
glaubte, O habe schreckliche Angst, eine Angst, die sie zu Eis
erstarren ließ, vor dem, was ihr widerfahren würde, wenn
Jacqueline sprechen sollte. Als sie im Hof des alten Hauses aus
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dem Wagen stiegen, hatten sie noch immer kein Wort
miteinander gesprochen. Jacqueline pflückte, ohne O anzusehen,
einen weißen Geranienstengel von der Rabatte vor dem Haus. O
ging so dicht hinter ihr, daß sie den zarten und kräftigen Duft
des Blattes roch, das Jacqueline zwischen den Händen zerrieb.
Glaubte sie, damit den Geruch ihres eigenen Schweißes
verdecken zu können, der das Gewebe ihres Pullovers unter den
Achseln kleben und noch schwärzer erscheinen ließ? In der
großen rotgefliesten und weißgekalkten Halle war René allein.
"Ihr kommt spät, sagte er, als sie eintraten. Sir Stephen erwartet
dich nebenan, fuhr er zu O gewandt fort, er braucht dich, er ist
sehr ärgerlich." Jacqueline lachte laut und O schaute sie an und
errötete. "Ihr hättet euch eine andere Zeit aussuchen können",
sagte René, der Jacquelines Lachen und Os Verwirrung falsch
auslegte. "Nein, nicht das, sagte Jacqueline, aber du weißt nicht,
René, daß eure schöne Folgsame gar nicht so folgsam ist, wenn
ihr nicht dabei seid. Schau ihr Kleid an, wie es verknittert ist." O
stand mitten im Zimmer, vor René. Er sagte, sie sollte sich
umdrehen, sie konnte sich nicht bewegen. "Und sie schlägt die
Beine über, fuhr Jacqueline fort, aber das könnt ihr natürlich
nicht feststellen. Auch nicht, daß sie sich junge Männer anlacht.
- Das ist nicht wahr", schrie O, "das tust nur du!" und sie stürzte
sich auf Jacqueline. René hielt sie fest, als wollte sie Jacqueline
schlagen und sie wehrte sich in seinen Händen nur um des
Vergnügens willen, sich als die Schwächere zu fühlen, ihm
ausgeliefert. Als sie den Kopf hob, sah sie Sir Stephen unter der
Tür stehen. Jacqueline hatte sich aufs Sofa geworfen, ihr kleines
Gesicht war hart vor Furcht und vor Wut und O fühlte, daß
René, obgleich er alle Hände voll zu tun hatte, sie festzuhalten,
nur Jacqueline ansah. Sie gab ihren Widerstand auf und
wiederholte nur, voll Verzweiflung darüber, in Sir Stephens
Gegenwart angeklagt zu werden, diesmal mit leiser Stimme: "Es
ist nicht wahr, ich schwöre, daß es nicht wahr ist." Wortlos und
ohne Jacqueline eines Blickes zu würdigen bedeutete Sir
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Stephen René, O loszulassen, und O, hinauszugehen. Doch
kaum war sie draußen, als sie an die Wand gepreßt wurde, an
Schoß und Brüsten gepackt, ihr Mund von Sir Stephens Zunge
geöffnet, bis sie vor Glück und Erleichterung stöhnte. Die
Spitzen ihrer Brüste wurden steif unter Sir Stephens Hand. Mit
der anderen Hand griff er so brutal in ihren Schoß, daß sie
glaubte, ohnmächtig zu werden. Würde sie jemals wagen, ihm
zu gestehen, daß keine Wollust, keine Freude, keine Vorstellung
dem Glück nahe kam, das ihr die Freiheit gab, mit der er über
sie verfügte, der Gedanke, daß er wußte, daß er ihr gegenüber
keine Schonung zu üben brauchte, keine Grenzen einzuhalten,
wenn er an ihrem Körper seine Lust suchte. Die Gewißheit, daß
er sie nur berührte, um sie zu liebkosen oder zu schlagen, ihr
etwas nur befahl, weil er danach Verlangen trug, die Gewißheit,
daß er nur sein eigenes Begehren stillen wollte, machte O so
überglücklich, daß sich schon beim bloßen Gedanken daran, ein
Flammenkleid, ein brennender Harnisch, der ihr von den
Schultern bis zu den Knien reichte, über sie senkte. So wie jetzt,
als sie mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte, flüsterte
"ich liebe Sie", wenn ihr Atem nicht aussetzte und Sir Stephens
Hände an ihr auf und abwanderten und das Feuer noch mehr
entflammten, obgleich sie kühl waren wie Quellwasser. Er ließ
behutsam von ihr ab, strich den Rock wieder über die feuchten
Schenkel, schloß das Bolerojäckchen über den starren Brüsten.
"Komm, O", sagte er, "ich brauche dich." Jetzt schlug O die
Augen auf und sah plötzlich, daß noch jemand da war. Der
große, nackte und weißgekalkte Raum, der dem vorhergehenden
glich, hatte ebenfalls eine große Tür auf der Gartenseite, und auf
der Terrasse, die vor dem Garten lag, saß, Zigarette im Mund, in
einem Korbstuhl, eine Art kahlköpfiger Riese, dessen gewaltiger
Bauch das offene Hemd und die Leinenhose spannte, und
schaute O an. Er stand auf und trat zu Sir Stephen, der O vor
sich herschob. O sah jetzt, daß der Mann das Abzeichen von
Roissy trug, eine Scheibe, die an einer Uhrkette baumelte.
-181-
Dennoch stellte Sir Stephen ihn höflich O vor, nannte ihn "der
Kommandeur" ohne einen Namen anzugeben und zum ersten
Mal seit sie mit Gästen des Schlosses Roissy zusammenkam
erlebte sie die Überraschung, daß jemand (Sir Stephen
ausgenommen) ihr die Hand küßte. Sie blieben alle drei im
Zimmer, das Fenster blieb geöffnet; Sir Stephen ging zum
Eckkamin und läutete. O sah auf dem chinesischen Tisch neben
dem Sofa die Whiskyflasche, den Siphon und die Gläser. Er
klingelte also nicht nach Getränken. Zugleich sah sie auf dem
Boden neben dem Kamin eine große, weiße Schachtel. Der
Mann aus Roissy hatte sich auf einen Strohsessel gesetzt, Sir
Stephen saß schräg auf der Kante des runden Tisches und ließ
ein Bein baumeln. O, der das Sofa angewiesen wurde, hatte
gelehrig ihren Rock hochgeschlagen und spürte den weichen
Baumwollpikee der provenzialischen Decke an ihren Schenkeln.
Norah trat ein. Sir Stephen befahl ihr, O zu entkleiden und ihre
Kleider wegzubringen. O ließ sich ihr Bolero ausziehen, ihr
Kleid, das Stäbchenkorsett, das ihr die Taille einschnürte, die
Sandalen. Sobald sie nackt war, ging Norah hinaus und O, die
automatisch in die Gepflogenheiten von Ro issy verfiel und
überzeugt war, daß Sir Stephen von ihr nur völligen Gehorsam
erwartete, blieb inmitten des Raumes stehen und hielt den Blick
so beharrlich gesenkt, daß sie mehr erriet als sah, wie Natalie,
ganz in schwarz wie ihre Schwester, stumm und barfuß zur
Fenstertür hereinglitt. Zweifellos hatte Sir Stephen bereits von
Natalie gesprochen; er begnügte sich damit, dem Besucher, der
keine Fragen stellte, ihren Namen zu nennen und bat sie, die
Gläser zu füllen. Sobald sie Whisky, Soda und Eis
herumgereicht hatte (und in der Stille wirkte das Klirren der
Eiswürfel gegen das Glas wie ein ohrenbetäubender Lärm)
erhob der Kommandeur sich mit dem Glas in der Hand von dem
Strohstuhl, auf dem er während Os Entkleidung gesessen war,
und trat zu ihr. O glaubte, daß er mit der freien Hand ihre Brust
oder ihren Schoß berühren werde. Aber er rührte sie nicht an,
-182-
betrachtete sie nur eingehend, von ihrem geöffneten Mund bis
zu den offenen Knien. Er ging um sie herum, musterte ihre
Brüste, ihre Schenkel, ihre Lenden, und diese schweigende
Musterung, die Nähe dieses riesigen Körpers verwirrten O so
sehr, daß sie nicht wußte, ob sie vor ihm fliehen wollte oder ob
sie sich im Gegenteil wünschte, daß er sie zu Boden werfen und
erdrücken würde. Sie war so verwirrt, daß sie die Beherrschung
verlor und die Augen hilfesuchend zu Sir Stephen erhob. Er
begriff, lächelte, trat zu ihr, nahm ihre beiden Hände und hielt
sie hinter ihrem Rücken in seiner Hand fest. Sie lehnte sich mit
geschlossenen Augen an ihn und wie in einem Traum oder wie
im Dämmer eines Erschöpfungszustandes hörte sie - so wie sie
einmal als Kind kurz nach dem Erwachen aus einer Narkose die
Pflegerinnen, die sie noch bewußtlos glaubten, über sie hatte
sprechen hören, über ihr Haar, ihre blasse Haut, ihren flachen
Bauch, an dem eben der Flaum zu sprossen begann, - die
Stimme des Fremden, der Sir Stephen zu ihr beglückwünschte
und besonders auf die Vorzüge ein wenig schwerer Brüste und
einer schmalen Taille hinwies, der Eisen, die dicker, schwerer
und auffallender waren, als üblich. Zugleich wurde ihr klar, daß
Sir Stephen zweifellos versprochen hatte, sie in der kommenden
Woche auszuleihen, weil man ihm dafür dankte. Worauf Sir
Stephen sie im Nacken faßte, ihr sanft gebot, aufzuwachen und
zusammen mit Natalie ihn oben in ihrem Zimmer zu erwarten.
Wie kam es, daß sie so sehr verwirrt war, und daß Natalie,
trunken vor Freude bei dem Gedanken, jemand anders als Sir
Stephen würde O öffnen, eine Art Indianertanz um sie herum
aufführte? Sie schrie: "Glaubst du, daß er auch in deinen Mund
will, O? Du hast nicht gesehen, wie er deinen Mund angestarrt
hat. Ah! du Glückliche, alle wollen dich haben. Er wird dich
bestimmt auspeitschen: er hat mindestens dreimal die Striemen
geprüft, an denen man sieht, daß du gepeitscht worden bis t.
Wenigstens wirst du dann nicht an Jacqueline denken. - Aber ich
-183-
denke doch nicht die ganze Zeit an Jacqueline, erwiderte O, du
bist dumm. - Nein! Ich bin nicht dumm, sagte die Kleine, ich
weiß genau, daß sie dir fehlt." Das stimmte, aber nicht ganz.
Was O fehlte, war nicht eigentlich Jacqueline, sondern ganz
einfach ein Mädchenkörper mit dem sie machen konnte, was sie
wollte. Wäre Natalie ihr nicht verboten gewesen, sie hätte
Natalie genommen und sie übertrat dieses Verbot nur deshalb
nicht, weil sie sic her war, daß man ihr Natalie in wenigen
Wochen in Roissy geben würde und daß Natalie zum ersten Mal
vor ihr, und durch sie und dank ihrer ausgeliefert würde. Sie
brannte darauf, die Mauer aus Luft, aus Raum, aus Leere
niederzureißen, die zwischen Natalie und ihr stand, und zugleich
genoß sie die Erwartung, die ihr auferzwungen war. Sie sagte es
Natalie, die den Kopf schüttelte und ihr nicht glaubte. "Wenn
Jacqueline da wäre, sagte sie, und es sich gefallen ließe, würdest
du sie liebkosen. - Natürlich, sagte O und lachte. Da siehst du..."
fing das Kind wieder an. Wie sollte man, wenn überhaupt, ihr
erklären, daß O keineswegs so sehr in Jacqueline verliebt war,
übrigens auch nicht in Natalie oder in irgend ein Mädchen im
besonderen, sondern einfach in Mädchen ganz allgemein,
verliebt wie man in sein eigenes Bild verliebt sein kann - nur
daß sie die anderen immer weit bezaubernder und weit schöner
fand, als sich selbst. Die Lust, die es ihr bereitete, eine Frau
unter ihren Händen keuchen zu hören, zu sehen, wie ihre Augen
sich schlossen, die Spitzen ihrer Brüste sich unter ihren Lippen
und ihren Zähnen aufrichteten - in sie einzudringen, mit ihren
Händen in Schoß und Lenden einzudringen und zu spüren, wie
sie sich um ihre Finger schloß und ihr Stöhnen zu hören, machte
O schwindelig - diese Lust war nur deshalb so durchdringend,
weil sie O ständig und zuverlässig bewies, welche Lust sie selbst
verschaffte, wenn sie sich fest und stöhnend um jemand schloß,
mit dem Unterschied, daß sie sich nicht vorstellen konnte, sich
einer Frau so hinzugeben, wie diese sich ihr hingab, sondern nur
einem Mann. Außerdem schien es ihr, daß die Mädchen, die sich
-184-
ihr hingaben, rechtens das Eigentum des Mannes waren, dem sie
selbst gehörte und daß sie nur als sein Stellvertreter handelte.
Wäre Sir Stephen in den vergangenen Tagen ins Zimmer
gekommen, als Jacqueline zur Stunde der Siesta bei ihr lag, sie
hätte ohne das geringste Bedauern, ja mit äußerstem Vergnügen,
Jacquelines Schenkel mit ihren eigenen Händen für ihn
auseinandergezwungen, wenn es ihm gefallen hätte, sie zu
nehmen, anstatt sie nur durch die durchbrochene Zwischenwand
zu beobachten, wie er es getan hatte. Man konnte O auflassen
wie einen Jungfalken, sie war ein Raubvogel, der von Natur aus
"abgetragen" und "berichtigt" war und sich auf die Beute stürzen
und sie dem Jäger zutragen würde. Und siehe da... Als sie jetzt
wieder mit klopfendem Herzen an Jacquelines zarte und rosige
Lippen unter dem blonden Rauchwerk ihres Schoßes dachte, an
den noch zarteren und rosigeren Ring zwischen ihren Lenden,
den sie nur dreimal zu durchstoßen gewagt hatte, hörte sie Sir
Stephen in seinem Zimmer. Sie wußte, daß er sie sehen konnte,
während sie selbst ihn nicht sah, und wieder einmal fühlte sie,
wie glücklich sie über diese ständige Gefangenschaft war, in der
seine Blicke sie hielten. Die kleine Natalie saß mitten im
Zimmer auf dem weißen Teppich und sah aus wie eine Fliege in
der Milch während O, die vor ihrem improvisierten Frisiertisch,
der bauchigen Kommode stand und sich in dem
darüberhängenden alten Spiegel bis zur Mitte sehen konnte,
leicht grünlich und verschwommen wie auf der Oberfläche eines
Teiches, an die Kupferstiche vom Ausgang des vorigen
Jahrhunderts erinnerte, auf denen Frauen abgebildet sind, die im
Hochsommer nackt im Halbdämmer ihrer Gemächer
herumgehen. Als Sir Stephen die Tür auf stieß, drehte sie sich so
heftig von der Kommode um, daß die Ringe zwischen ihren
Beinen klirrend an einen der Bronzegriffe schlugen. "Natalie",
sagte Sir Stephen, "hole die weiße Schachtel, die unten im
zweiten Zimmer liegt." Natalie kam zurück, legte den Karton
aufs Bett, öffnete ihn und holte den Inhalt heraus, wickelte
-185-
Stück für Stück aus der Seidenpapierhülle und reichte eines nach
dem anderen Sir Stephen. Es waren Masken. Kopfputz und
Masken zugleich, sie waren so gearbeitet, daß sie mit Ausnahme
von Mund und Kinn, den ganzen Kopf bedeckten und schmale
Schlitze für die Augen freiließen. Sperber, Falke, Käuzchen,
Fuchs, Löwe, Stier, lauter Tiermasken, menschlichen Maßen
angepaßt, aber aus dem Fell oder dem Gefieder der echten Tiere
gefertigt, die Augenhöhlen von Wimpern gesäumt, wenn das
betreffende Tier Wimpern hatte (wie der Löwe). Pelz und
Federn reichten dem Träger bis über die Schultern. Man
brauchte nur ein ziemlich breites Band, das unter dieser Art
Nackenhaube verborgen war, festzuziehen und die Maske lag
dicht über der Oberlippe (für jedes Nasenloch war eine Öffnung
vorgesehen) und an den Wangen an. Eine Versteifung aus
Pappmache, zwischen dem Überzug und dem Fellfutter hielt das
ganze in der Fasson. Vor dem großen Spiegel, wo sie sich von
Kopf bis Fuß sah, probierte O alle Masken. Die seltsamste
Maske, die O am meisten verwandelte und zugleich am besten
zu ihr zu passen schien, stellte ein Käuzchen dar, die fahlroten
und beigen Federn verschmolzen mit ihrer Sonnenbräune; das
Federkleid bedeckte ihre Schultern fast völlig, reichte bis zur
Mitte des Rückens und vorn bis zum Ansatz der Brüste. Sir
Stephen gebot ihr, das Lippenrot wegzuwischen, und als sie die
Maske abnahm, sagte er: "Du wirst also beim Kommandeur das
Käuzchen sein. Aber, O, verzeih mir, du wirst an der Kette
geführt werden. Natalie, schau in der ersten Schublade meines
Schreibschranks nach, dort wirst du eine Kette und eine Zange
finden." Natalie brachte die Kette und die Zange, mit der Sir
Stephen das letzte Glied der Kette öffnete und in den zweiten
Ring fügte, den O am Schoß trug, es dann wieder
zusammendrückte. Die Kette, die aussah wie eine Hundekette -
und auch eine war - war eineinhalb Meter lang und endete in
einem Karabinerhaken. Nachdem O die Maske wieder
aufgesetzt hatte, befahl Sir Stephen Natalie, das Ende der Kette
-186-
zu nehmen und O im Zimmer herumzuführen. Natalie machte
dreimal die Runde um das Zimmer und zog die nackte und
maskierte O am Schoß hinter sich her. "Ja", sagte Sir Stephen,
"der Kommandeur hat recht gehabt, du mußt auch vollständig
enthaart werden. Das kommt morgen. Heute behältst du deine
Kette an."
An diesem Abend saß O zum ersten Mal nackt mit Jacqueline,
Natalie, René und Sir Stephen bei Tisch. Die Kette lief zwischen
ihren Beinen hindurch, über die Lenden nach oben und schlang
sich um ihre Taille. Norah bediente allein und O wich ihrem
Blick aus: vor zwei Stunden hatte Sir Stephen sie rufen lassen.
Die frischen Platzwunden entsetzten das junge Mädchen im
Kosmetiksalon, wo O sich am folgenden Tag epilieren ließ,
noch mehr als die Eisen und die Brandmale. Es nützte nichts,
daß O ihr erklärte, diese Enthaarungsmethode, bei der man das
hart gewordene Wachs zusammen mit den Haaren mit einem
Griff abreißt, sei nicht weniger schmerzhaft, als ein
Peitschenhieb, daß sie ihr, wenn sie auch nicht ihre gesamten
Lebensumstände darlegte, doch immer wieder sagte, sogar zu
erklären versuchte, wie glücklich sie sei; nichts konnte die
Empörung und das Grauen mildern.
Os
Beschwichtigungsversuche führten nur dazu, daß sie danach
nicht mehr, wie im ersten Augenblick, mit Mitleid betrachtet
wurde, sondern voll Abscheu. Sie bedankte sich sehr freundlich,
als sie fertig war und die Kabine verließ, in der man sie wie zur
Liebe ausgespreizt hatte, hinterließ ein stattliches Trinkgeld und
fühlte dennoch deutlich, daß sie eher hinausgeworfen als
verabschiedet wurde. Was kümmerte es sie! Ihr war es völlig
klar, daß der Kontrast zwischen dem Pelzwerk ihres Schoßes
und dem Gefieder der Maske zu groß war, daß das Aussehen
einer ägyptischen Statue, das die Maske ihr verlieh und das
durch die breiten Schultern, schmalen Hüften und langen Beine
-187-
noch betont wurde, ein überall gleich glattes Fleisch erforderte.
Doch einzig die Standbilder von Göttinnen wilder Völker
zeigten so hoch und deutlich die Spalte des Schoßes, zwischen
deren Lippen der feine Grat noch zarterer Lippen erscheint. Sah
man sie jemals von Ringen durchbohrt? O dachte an das
rothaarige, rundliche Mädchen bei Anne-Marie, die gesagt hatte,
daß ihr Gebieter sich ihres Ringes nur bediene, um sie am
Fußende seines Bettes anzuketten und auch, daß sie stets epiliert
sein mußte, weil er sie nur dann völlig nackt fand. O fürchtete,
Sir Stephen zu mißfallen, der sie so gern an ihrem Vlies zog,
doch sie täuschte sich: Sir Stephen fand sie noch erregender, und
als sie ihre Maske wieder aufgesetzt hatte - ihr Mund war
ungeschminkt wie die Lippen ihres Schoßes und so bleich -
streichelte er sie beinah schüchtern, wie man ein Tier streiche lt,
das man zähmen will. Er hatte nicht gesagt, wohin er sie führen
wollte, auch nicht, wann sie aufbrechen würden oder wen der
Kommandeur zu Gast geladen hatte. Er schlief den ganzen
Nachmittag bei ihr und ließ das Abendessen für sich und O im
Schlafzimmer servieren. Sie fuhren eine Stunde vor Mitternacht
im Buick ab, O in einem großen, braunen Lodencape und mit
Holzschuhen an den Füßen; Natalie, in schwarzer Hose und
schwarzem Pullover, hielt sie an der Kette, deren Haken an dem
Armband befestigt war, das sie am rechten Handgelenk trug. Sir
Stephen chauffierte. Der Mond war fast voll, er stand hoch am
Himmel und erhellte in großen, schneeweißen Tupfen die
Straße, die Bäume und die Häuser der Dörfer, durch die sie
fuhren, ließ alles, was er nicht beleuchtete, schwarz wie Tusche.
Noch standen da und dort ein paar Leute vor den Haustüren, die
neugierig aufsahen, wenn der geschlossene Wagen an ihnen
vorbeifuhr (Sir Stephen hatte das Verdeck nicht
zurückgeschlagen). Hunde bellten. Auf der dem Mondlicht
zugewandten Seite sahen die Olivenbäume aus wie silberne
Wolken, die zwei Meter über dem Boden dahinzogen, die
Zypressen wie schwarze Federn. Das einzig wirkliche an dieser
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Landschaft, die von der Nacht ins Phantastische überhöht
wurde, war der Duft von Salbei und Lavendel. Die Straße stieg
noch immer an, doch noch immer lastete der gleiche Gluthauch
über der Erde. O ließ ihr Cape von den Schultern gleiten.
Niemand würde sie sehen, kein Mensch war unterwegs. Nach
weiteren zehn Minuten Fahrt, die an einem immergrünen
Eichenwald über der einen Straßenseite entlangführte, bremste
Sir Stephen vor einer langen Mauer. Beim Herannahen des
Wagens öffnete sich ein Einfahrtstor. Sir Stephen parkte in
einem Vorhof, während das Tor hinter ihm wieder geschlossen
wurde, stieg aus, ließ Natalie und O aussteigen, die auf seinen
Befehl Cape und Holzschuhe im Wagen zurückließen. Er
öffnete die Tür zu einem Renaissance-Kreuzgang, der nur aus
drei Galerien bestand, auf der vierten Seite ging der geflieste
Innenhof in eine ebenfalls geflieste Terrasse über. Ein Dutzend
Paare tanzte auf der Terrasse und im Hof, einige tief
dekolletierte Frauen und Männer im weißen Smoking saßen an
den kleinen, von Kerzen erleuchteten Tischen, der Plattenspieler
stand unter der Galerie zur Linken, ein Buffett auf der rechten
Seite. Aber der Mond gab genauso viel Licht, wie die Kerzen
und als er direkt auf O fiel, die von einem kleinen schwarzen
Schatten Natalies vorwärtsgezogen wurde, hörten die Paare zu
tanzen auf und die Männer, die an den Tischen saßen, erhoben
sich. Der Kellner am Plattenspieler, der spürte, daß etwas im
Gange war, drehte sich um und stellte vor Überraschung den
Plattenspieler ab. O ging nicht mehr weiter, Sir Stephen, der
unbeweglich zwei Schritte hinter ihr stand, wartete ebenfalls.
Der Kommandeur schob die Leute beiseite, die sich um O
geschart hatten und von denen einige bereits Fackeln
herbeibrachten, um sie genauer zu sehen. "Wer ist sie", fragten
alle, "wem gehört sie?" - "Ihnen, Sie wünschen", sagte er und
zog Natalie und O zu einer Ecke der Terrasse, wo eine
Steinbank, mit einer Faltmatratze bedeckt, an einem Mäuerchen
stand. Als O sich gesetzt hatte, den Rücken an der Mauer, die
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Hände auf den Knien ruhend, Natalie, die noch immer die Kette
hielt, zur Linken auf dem Boden ihr zu Füßen, drehte er sich von
ihr weg. O suchte mit den Augen Sir Stephen und sah ihn nicht
sofort. Dann erspähte sie ihn in einem Liegesessel in der
anderen Ecke der Terrasse. Er konnte sie sehen, sie war
beruhigt. Die Musik hatte wieder eingesetzt, die Tänzer tanzten
wieder. Einige Paare näherten sich ihr zuerst wie zufällig im
Vorübertanzen, dann eines von ihnen ganz unverhohlen, die
Frau zog den Mann mit sich. O starrte sie mit ihren
schwarzumrandeten Augen an, die unter dem Gefieder weit
aufgerissen waren wie die Augen des Nachtvogels, den sie
darstellte, und die Illusion war so vollständig, daß niemand auch
nur auf den Gedanken kam, eine Frage zu stellen, ganz als wäre
sie wirklich ein Käuzchen, taub gegen die menschliche Sprache
und stumm. Von Mitternacht bis zum ersten Morgenlicht, das
gegen fünf Uhr den Himmel im Osten bleichte, während das
Licht des im Westen untergehenden Mondes schwächer wurde,
umkreiste man sie immer wieder, immer wieder öffnete man
ihre Knie, hob die Kette hoch, brachte einen dieser zweiarmigen
provenzialischen Leuchter herbei - und sie spürte, wie die
Kerzenflamme ihr die Innenseite der Schenkel wärmte - um zu
sehen, wie die Kette an ihr befestigt war; ein betrunkener
Amerikaner faßte sogar lachend an das Ende, doch als ihm klar
wurde, daß seine Hand das Fleisch gepackt hielt und das Eisen,
das dieses Fleisch durchdrang, wurde er plötzlich nüchtern und
O sah in seinem Gesicht den gleichen Abscheu und die gleiche
Verachtung, die sie bereits im Gesicht des jungen Mädchens im
Kosmetiksalon gesehen hatte; er verschwand; ein sehr junges
Mädchen mit nackten Schultern und einem winzigen
Perlenhalsband, in einem weißen Debütantinnenkleid mit zwei
Teerosen an der Taille, kleinen Goldsandalen an den Füßen,
wurde von einem jungen Mann aufgefordert, sich dicht neben O
an ihre rechte Seite zu setzen, dann nahm er ihre Hand, zwang
sie, Os Brüste zu streicheln, die unter der leichten kühlen Hand
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erbebten, Os Schoß zu berühren und den Ring und das Loch,
durch das der Ring geschoben war; die Kleine gehorchte
schweigend und als der junge Mann ihr sagte, er werde mit ihr
das gleiche machen, schreckte sie nicht zurück. Doch selbst
diejenigen, die so über O verfügten, die sie wie ein
Vorführmodell behandelten oder wie ein Demonstrationsobjekt,
richteten nicht ein einziges Mal das Wort an sie. War sie denn
eine Steinfigur, eine Wachspuppe, ein Geschöpf aus einer
anderen Welt und glaubte man, daß es keinen Sinn hätte, sie
anzureden oder wagten sie es einfach nicht? Erst als der helle
Tag gekommen war und alle Tänzer weg waren, weckten Sir
Stephen und der Kommandeur die kleine Natalie, die zu Os
Füßen schlief, ließen O aufstehen, führten sie in die Mitte des
Hofes, nahmen ihr Kette und Maske ab, legten sie auf einen
Tisch und nahmen sie.
In einem letzten Kapitel das gestrichen wurde, kehrte O nach
Roissy zurück, wo Sir Stephen sie verließ.
Die Geschichte der O hat einen zweiten Schluß. Er lautet: Als
O sah, daß Sir Stephen sie verlassen würde, wünschte sie sich
den Tod. Sir Stephen erteilte seine Zustimmung.
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Rückkehr nach Roissy
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Ein verliebtes Mädchen
Eines Tages sagte ein verliebtes Mädchen zu dem Mann, den
es liebte: »Ich könnte auch Geschichten schreiben, die Ihnen
gefallen...« - »Glauben Sie?« antwortete er. Sie trafen sich zwei-
oder dreimal in der Woche, niemals in den Ferien, niemals an
den Wochenenden. Beide knapsten die Zeit, die sie zusammen
verbrachten, der Familie oder der Arbeit ab. Im Januar oder
Februar, wenn die Tage länger werden und die Sonne vom
Westen her einen roten Widerschein auf die Seine wirft, gingen
sie des Nachmittags an den Flußufern spazieren, Quai des
Grands Augustins, Quai de la Tournelle, und küßten sich im
Schatten der Brücken. Ein Clochard rief ihnen einmal zu:
»Sollen wir euch ein Zimmer bezahlen?« Ihre Zufluchtsorte
wechselten häufig. Der alte Wagen, den das Mädchen fuhr,
brachte sie in den Zoo, um die Giraffen zu sehen, nach
Bagatelle, um im Frühjahr Iris und Klematis oder im Herbst
Astern zu betrachten. Sie merkte sich die Namen der Astern,
blauer Nebel, violett, blaßrosa, warum eigentlich? Denn niemals
hat sie sie pflanzen können (dennoch werden wir die Astern
wiederfinden). Aber es ist weit nach Vincennes oder zum Bois.
Im Bois trifft man Leute, die einen kennen. Tatsächlich blieben
nur die Zimmer. Ein und dasselbe mehrma ls hintereinander.
Oder andere, wie es der Zufall wollte. Die dürftige Beleuchtung
der Zimmer in den Bahnhofshotels hat etwas merkwürdig
Anheimelndes; der bescheidene Luxus des großen Betts, das
man beim Weggehen mit zerwühlten Laken hinterläßt, hat
seinen Reiz. Und es kommt die Zeit, da man das Geräusch der
Gespräche und Seufzer nicht mehr trennen kann von dem
unablässig von der Straße heraufdringenden Dröhnen der
Motoren und dem Quietschen der Reifen. Dieses flüchtige und
zärtliche Beisammensein in der Muße, die der Liebe folgt, war
mehrere Jahre lang eingelullt von diesen Erzählungen und, wenn
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man das sagen kann, von diesen Rezitierungen, bei denen die
Bücher an erster Stelle stehen. Die Bücher waren ihre einzige
völlige Freiheit, ihr gemeinsames Vaterland, ihre wahren
Reisen; in den Büchern, die sie liebten, lebten sie zusammen wie
andere im Schoße der Familie; in den Büchern fanden sie ihre
Landsleute und Brüder; die Dichter hatten für sie geschrieben,
die Briefe der Liebenden von einst erreichten sie trotz der
Unverständlichkeit der altertümlichen Sprache, der überlebten
Bräuche und Moden - und all das wurde mit gedämpfter Stimme
vorgelesen in einem unbekannten, schmutzigen Zimmer, das
wunderbarerweise einer Festung glich, die einige Stunden lang
vergeblich von der Außenwelt berannt wurde. Sie hatten keine
gemeinsame Nacht. Plötzlich, zu der und der im voraus
festgesetzten Stunde - die Uhr bleibt am Handgelenk - mußten
sie aufbrechen. Jeder mußte wieder in seine Straße,.in sein Haus,
in sein Zimmer, in sein gewohntes Bett, zu jenen, mit denen
man durch eine unsühnbare Liebe von anderer Art verbunden
ist, zu jenen, die einem der Zufall oder die Jugend beschert, oder
die man sich selbst ein für allemal aufgeladen hat und die man
weder verlassen noch verletzen kann, wenn man im Mittelpunkt
ihres Lebens steht. Er war in seinem Zimmer nicht allein. Sie
war allein in dem ihren. Eines Abends, nach diesem »Glauben
Sie?« der ersten Seite und ohne zu ahnen, daß sie eines Tages
auf einem Katasteramt den Namen Réage finden und sich
erlauben würde, den Vornamen zweier berühmter Kokotten,
Pauline Borghese und Pauline Roland, zu entlehnen, eines
Abends begann jene, für die ich heute spreche, und das mit Fug
und Recht, denn wenn ich nichts von ihr habe, hat sie doch alles
von mir, und insbesondere die Stimme; eines Abends also
begann dieses Mädchen, statt ein Buch zur Hand zu nehmen,
ehe sie einschlief, krumm wie ein Fiedelbogen auf der linken
Seite liegend, die Geschichte zu schreiben, die sie versprochen
hatte.
Der Frühling ging seinem Ende zu. Die japanischen Kirschen
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in den großen Pariser Parks, die Judasbäume, die Magnolien in
der Nähe der Teiche, die Holundersträucher am Rand der alten
Stadtbahndämme waren abgeblüht. Die Tage hörten nicht auf,
und zu ungewöhnlichen Stunden drang das Licht des Morgens
bis zu den staubigen schwarzen Vorhängen, den letzten Spuren
der Luftschutzmaßnahmen des Krieges. Aber im Schein der am
Kopfende des Bettes brennenden kleinen Leuchte glitt die Hand,
die den Bleistift hielt, unbekümmert um die Stunde und die
Helligkeit, über das Papier. Das Mädchen schrieb, wie man im
Dunkeln mit jenem spricht, den man liebt, wenn die Liebesworte
zu lange zurückgehalten worden sind und nun endlich strömen.
Zum ersten Male in ihrem Leben schrieb sie ohne Zaudern,
rastlos, ohne etwas zu ändern oder auszustreichen, sie schrieb,
wie man atmet, wie man träumt. Das fortwährende Gebrumm
der Autos wurde schwächer, man hörte kein Türenschlagen
mehr, Paris wurde still. Sie schrieb noch, als die Stunde der
Müllfahrer begann und die Morgendämmerung anbrach. Die
erste Nacht, die sie ganz und gar so verbrachte, wie zweifellos
Nachtwandler die Nächte verbringen, sich selbst entrissen oder -
wer weiß? sich selbst zurückgegeben. Am Morgen verwahrte sie
den Block, der die beiden Anfänge enthielt, die Sie kennen,
denn wenn Sie dies hier lesen, haben Sie sich bereits die Mühe
gemacht, die ganze Geschichte zu lesen, von der Sie heute mehr
wissen, als die Autorin damals. Sie mußte jetzt aufstehen, sich
waschen, anziehen, frisieren, den starren Harnisch wieder
anlegen, das alltägliche Lächeln aufsetzen, die übliche stumme
Sanftmut zur Schau tragen. Morgen, nein, übermorgen, würde
sie ihm das Heft geben.
Sie reichte es ihm sofort, als er ins Auto stieg, wo sie ihn
erwartete, einige Meter vor einer Straßenkreuzung, in einer
kleinen Straße in der Nähe einer U-Bahnstation und eines
Marktes. (Suchen Sie nicht nach der Stelle, es gibt viele, die ihr
ähnlich sind, und es ist kaum wichtig, welche es war.) Gleich
lesen, nicht fragen. Im übrigen stellte sich diese Zusammenkunft
-195-
als eine von jenen heraus, zu denen man kommt, um zu sagen,
daß man nicht kommt, weil man zu spät erfährt, daß man
absagen muß, und es nicht rechtzeitig tun kann. Immerhin war
es schön, daß er hatte entfliehen können. Sonst hätte sie eine
Stunde gewartet und wäre am nächsten Tag zur selben Stunde
wiedergekommen, zur selben Stelle, nach den uralten Regeln
der Vogelfreien. Er sagte entfliehen, denn alle beide bedienten
sich eines Vokabulars von Häftlingen, die sich nicht gegen ihr
Gefängnis empören, und vielleicht waren sie sich darüber klar,
daß sie, wenn sie das Gefängnis schlecht ertrugen, es auch
schlecht ertragen würden, daraus entlassen zu werden, weil sie
sich schuldig fühlten. Die Vorstellung, daß man nach Hause
gehen mußte, machte die heimliche Zeit besonders wertvoll,
denn sie siedelte sich außerhalb der wirklichen Zeit an,
gleichsam in einer bizarren und ewigen Gegenwart. In dem
Maße, in dem die Jahre vergingen, ohne ihnen mehr Freiheit zu
bringen, hätten sie sich durch die Jahre, die vor ihnen
zusammenschrumpften, gehetzt fühlen müssen. Aber nein. Die
Hindernisse jedes Tages, jeder Woche - entsetzliche Sonntage
ohne Briefe, ohne Telefon, ohne daß ein Wort oder ein Blick
möglich waren, entsetzliche Ferien, irgendwo am Ende der
Welt, und immer war jemand da, der fragte: »Woran denkst
du?« - diese Hindernisse genügten, daß sie sich quälten und
immer fürchteten, der andere könne sich verändert haben. Sie
erhoben nicht den Anspruch, glücklich zu sein, aber nachdem
sie sich einmal erkannt hatten, flehten sie zitternd darum, daß es
von Dauer sein möge, mein Gott, daß es von Dauer sein möge...
daß nicht plötzlich der eine dem anderen fremd erscheine, daß
diese unverhoffte Brüderlichkeit anhalten möge, die seltener ist
als das Begehren und kostbarer als Liebe - oder die vielleicht
schließlich Liebe sein würde. So war alles ein Wagnis: ein
Zusammensein, ein neues Kleid, eine Reise, ein unbekanntes
Gedicht. Aber nichts würde sie hindern, diese Wagnisse auf sich
zu nehmen. Das ernsteste an diesem Tage war indes das Heft.
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Und wenn die Trugbilder, die es enthüllte, ihren Geliebten
entrüsteten oder, was schlimmer wäre, ihn langweilten oder, was
noch schlimmer wäre, ihm lächerlich erschienen? Natürlich
nicht um dessentwillen, was sie waren, sondern weil sie von ihr
stammten, und weil man selten denen, die man liebt, Freiheiten
verzeiht, die man allen anderen zugesteht. Sie hatte sich zu
Unrecht geängstigt: »Ah«, sagte er. »Fahren Sie fort. Was
geschieht dann? Wissen Sie es?« Sie wußte es. Sie verriet es
nach und nach. Den ganzen Spätsommer hindurch, während des
ganzen Herbstes, erst am glühendheißen Strand, dann in einem
trostlosen Badeort und schließlich wieder im rötlichgelben,
versengten Paris schrieb sie, was sie wußte. Jeweils zehn oder
fünf Seiten, ganze Kapitel oder Bruchstücke von Kapiteln
steckte sie in einen Umschlag und schickte diese Seiten im
gleichen Format wie der ursprüngliche Block, die manchmal mit
Bleistift, manchmal mit Kugelschreiber oder Füllfederhalter
geschrieben waren, an eine postlagernde Adresse. Weder Kopie,
noch Konzept, nichts hob sie auf. Aber die Post ist zuverlässig.
Die Geschichte war noch nicht fertig, da verlangte der Mann, als
sie ihre Zusammenkünfte im herbstlichen Paris wieder
aufgenommen hatten, sie solle ihm die Geschichte nach und
nach laut vorlesen; und in dem schwarzen Wagen, am hellichten
Nachmittag in einer verkehrsreichen und tristen Straße des
dreizehnten Arrondissements, in der Nähe der Butteaux-Cailles,
wo man noch in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts zu
leben glaubt, oder am Ufer des Kanal St.-Martin, wo die
Brücken fast chinesisch sind, mußte sich das Mädchen, das
vorlas, dann und wann unterbrechen, denn es ist zwar möglich,
sich in der Stille die schlimmste und heikelste Einzelheit
auszudenken, sie zu ersinnen und niederzuschreiben, aber es ist
nicht möglich, das laut vorzulesen, was in endlosen Nächten
geträumt wurde.
Indessen hörte die Geschichte eines Tages auf. Für O gab es
nichts als diesen Tod, dem sie insgeheim mit aller Kraft
-197-
entgegeneilte und zu dem ihr in zwei Zeilen die Zustimmung
erteilt wurde. Was die Frage betrifft, wie das Manuskript ihrer
Geschichte in die Hände von Jean Paulhan geriet, so habe ich
versprochen, das nicht zu verraten, und auch den richtigen
Namen von Pauline Réage nicht zu nennen, wobei ich mich auf
die Ritterlichkeit derjenigen verlasse, die ihn kennen, damit er
ebenso lange nicht verbreitet werde, wie es mir unmöglich
erscheint, dieses Versprechen zu brechen. Im übrigen ist nichts
trügerischer und vergänglicher als eine Identität. Wenn man
glauben kann, wie es Hunderte von Millionen Menschen
glauben, daß wir mehrere Leben leben, warum soll man dann
nicht auch glauben, daß wir in jedem Leben der Treffpunkt
mehrerer Seelen seien? Wer bin ich schließlich, sagt Pauline
Réage, wenn nicht der auf lange Zeit stumme Teil von irgend
jemandem, der nächtliche und geheime Teil, der sich niemals
öffentlich durch eine Tat, durch eine Geste verrät, ja nicht
einmal durch ein Wort, sondern über die Schleichwege des
Imaginären mit Träumen umgeht, die so alt sind wie die Welt?
Woher mir diese immer wiederkehrenden und so hartnäckigen
Träume kamen, gerade vor dem Einschlafen, immer dieselben,
in denen die reinste und scheueste Liebe stets die qualvollste
Hingabe guthieß oder vielmehr forderte, in denen kindische
Bilder von Ketten und Peitschen der Gewalt die Symbole der
Gewalt hinzufügten, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie
heilsam für mich waren und mich rätselhafterweise beschützten
- im Gegensatz zu den vernünftigen Träumen, die sich um das
tägliche Leben drehen und versuchen, es zu ordnen und zu
zügeln. Ich habe es nie verstanden, mein Leben zu zügeln. Indes
ging alles so vor sich, als ob diese seltsamen Träumereien mir
dabei behilflich seien, als ob mit diesen Rasereien und dieser
Wollust des Unmöglichen irgendein Lösegeld bezahlt werde: die
Tage, die darauf folgten, waren dadurch sonderbarerweise
leichter geworden, während die besonnenen
Zahlungsanweisungen auf die Zukunft und die
-198-
Vorausberechnungen des gesunden Menschenverstandes sich
jedesmal durch die Ereignisse widerlegt sahen. Ich lernte sehr
bald, daß man die öden Stunden der Nacht nicht dazu
verwenden durfte, erdachte Wohnungen zu möblieren, nicht
existierende, aber mögliche Wohnungen, wo Verwandte und
Freunde zusammen glücklich wären (welche Schimäre!) - daß
man aber unbesorgt geheime Schlösser einrichten könne,
vorausgesetzt, man bevölkert sie mit verliebten Mädchen,
prostituiert durch die Liebe und triumphierend in ihren Ketten.
Auch die Schlösser von de Sade, die entdeckt wurden, nachdem
die meinen schon längst in der Stille erbaut worden waren,
haben mich niemals überrascht, ebensowenig wie seine Freunde
des Verbrechens: ich hatte schon meine Geheimgesellschaft,
eine viel harmlosere und unmündigere. Aber er hat mir
begreiflich gemacht, daß wir alle in dem Sinne Kerkermeister
und alle im Gefängnis sind, als es in uns immer einen gibt, den
wir uns selbst anketten, den wir einsperren, den wir zum
Schweigen bringen. Durch einen merkwürdigen Rückschlag
geschieht es, daß das Gefängnis sogar die Freiheit erschließt.
Die Steinmauern einer Zelle, die Einsamkeit, aber auch die
Nacht, wiederum die Einsamkeit, die wohlige Wärme des
Bettes, die Stille befreien dieses Unbekannte, dem wir den Tag
verweigern. Es entflieht uns und entflieht unaufhörlich, trotz der
Mauern, trotz der Zeitalter und Verbote. Es geht von einem zum
anderen von einer Epoche, einem Land zum anderen.
Diejenigen, die für es das Wort ergreifen, sind nur Übersetzer,
denen, ohne daß man weiß, warum (warum gerade sie, warum
an jenem Tage?) erlaubt wird, einen Augenblick einige der
Fäden dieses uralten Netzes verbotener Gedanken zu ergreifen.
Schließlich, nach fünfzehn Jahren, warum nicht ich?
Was ihn, für den ich diese Geschichte schrieb, begeisterte,
sagt sie noch, war ihre Ähnlichkeit, die sie mit meinem Leben
hatte. Konnte es sein, daß die Geschichte dessen verzerrtes
Spiegelbild war? Daß sie dessen Schlagschatten war,
-199-
unkenntlich, verkürzt wie der eines Spaziergängers in der
Mittagssonne, oder auch deshalb unkenntlich, weil er teuflisch
verlängert war wie der Schatten eines Menschen, der an einem
leeren Strand vom Atlantischen Ozean zurückkommt, wenn die
Sonne in Flammen hinter ihm versinkt? Zwischen dem, was ich
zu sein glaubte, und dem, was ich erzählte und zu erfinden
glaubte, sah ich zugleich einen so weiten Abstand und eine so
nahe Verwandtschaft, daß ich mich selbst darin nicht erkannte.
Zweifellos nahm ich mein Leben nur mit so viel Geduld (oder
Passivität oder Schwäche) hin, weil ich genau wußte, daß ich,
wenn ich es wünschte, dieses andere, verborgene Leben
wiederfinden würde, das über das Leben hinwegtröstet, das sich
nicht eingestehen, nicht mit jemandem teilen läßt - und siehe da,
dank ihm, den ich liebte, gestand ich es ein und teilte es von nun
an mit jedem, der wollte, ebenso vollkommen prostituiert in der
Anonymität eines Buches wie in dem Buch dieses Mädchen
ohne Gesicht, ohne Alter, ohne Namen und sogar ohne
Vornamen. Über sie hat er niemals eine Frage gestellt. Er wußte,
daß sie eine Idee war, eine flüchtige Vorstellung, ein Schmerz,
die Negation eines Schicksals. Aber die anderen? René,
Jacqueline, Sir Stephen, Anne-Marie? Und die Orte, die Straßen,
die Gärten, die Häuser, Paris, Roissy? Und die Verhältnisse? Ja,
die glaubte ich zu kennen.
René zum Beispiel (ein sehnsuchtsvoller Vorname) war die
Erinnerung, nein, die Spuren einer Jugendliebe oder vielmehr
einer Hoffnung auf Liebe, die ansonsten niemals existierte, und
René hat niemals geahnt, daß ich ihn lieben könnte. Aber
Jacqueline hat ihn geliebt. Und vor ihm mich. Indes war sie
nicht mein erster Liebeskummer gewesen. Fünfzehn war sie,
wie ich, und das ganze Schuljahr hindurch hatte sie mich
verfolgt und sich über meine Kälte beklagt. Kaum war sie in die
Ferien entschwunden, da erwachte ich aus dieser Kälte. Ich
schrieb ihr. Juli, August, September, drei Monate lang lauerte
ich dem Briefträger vergeblich auf. Trotzdem schrieb ich. Diese
-200-
Briefe haben alles zerstört. Jacquelines Eltern verboten ihr, mich
zu sehen, und von ihr, die nun in eine andere Klasse ging, erfuhr
ich, daß »das eine Sünde sei«. Was war denn eigentlich eine
Sünde? Was warf man mir vor? Der Tag ist auch nicht
unschuldiger... Rosalinde und Celia hatte ich neu erfunden, in
aller Harmlosigkeit - die nicht anhielt. Jacqueline, die wirkliche
Jacqueline, kommt also in der Geschichte nur mit ihrem
Vornamen und ihrem hellen Haar vor. Die Jacqueline der
Geschichte ist eher eine blasierte, blasse junge Schauspielerin,
mit der ich eines Tages in der Rue de L'Eperon zu Mittag
gegessen hatte. Der alte Mann, der ihr ihren Schmuck, ihre
Schneiderkostüme und ihren Wagen bezahlte, rief mich als
Zeugen an: »Sie ist schön, nicht wahr?« Ja, sie war schön. Ich
habe sie niemals wiedergesehen. Ist René etwas, das ich hätte
erraten können, wenn ich ein Mann gewesen wäre? Einem
anderen Mann derart hörig, daß er ihm alles abtritt und dieses
Gebaren eines Vasallen dem Lehensherrn gegenüber nicht
einmal für anachronistisch hält? Das befürchte ich. Während die
imaginäre Jacqueline im wahrsten Sinne des Wortes die Fremde
war. Allerdings brauchte ich lange, um mir darüber klar zu
werden, daß ein Mädchen wie sie - die ich verzweifelt
bewunderte - mir in einem anderen Leben meinen Geliebten
genommen hatte. Und ich rächte mich, indem ich sie nach
Roissy schickte, ich, die ich jede Rache zu verachten vorgab und
nicht einmal imstande war, es zu erkennen. Das Ersinnen einer
Geschichte ist eine sonderbare Falle. Sir Stephen hingegen hatte
ich mit eigenen Augen gesehen. Mein damaliger Geliebter,
derselbe, von dem ich gerade gesprochen habe, hat ihn mir eines
Nachmittags in einer Bar in der Nähe der Champs-Elysees
gezeigt: halb auf einem Hocker sitzend vor der Mahagonitheke,
schweigend, ruhig, wie ein Fürst aussehend mit jenen grauen
Augen, die junge Männer und Frauen faszinieren - er hat ihn mir
gezeigt und gesagt: »Ich verstehe nicht, daß die Frauen solche
Männer nicht den Knaben von dreißig Jahren vorziehen.« Er
-201-
war noch keine Dreißig. Ich habe nicht geantwortet: »Aber sie
ziehen sie ihnen ja vor.« Den Unbekannten habe ich lange
angeschaut. Vielleicht fünfzig Jahre, bestimmt Engländer. Und
was sonst noch? Nichts. Aber dieser stumme, einseitige Kontakt
zwischen ihm und meinem Gefährten, zwischen ihm und mir ist
zehn Jahre später blitzartig wieder aufgetaucht, mitten in der
Nacht, die nur der Schein der Lampe auf meinem Nachttisch
durchlöcherte, und die Hand auf dem Papier hat ihn mit einer
neuen Bedeutung noch schneller wiedererstehen lassen als die
Überlegung. Anne- Marie kenne ich überhaupt nicht. Eine
meiner Freundinnen (die ich respektiere, und ich respektiere
nicht leicht jemanden) könnte sehr wohl Anne-Marie sein, wäre
sie nicht die Keuschheit und Anständigkeit in Person: ich will
damit sagen, Anne-Marie hätte die Entschlossenheit und Strenge
von ihr haben könne n, und die Unverblümtheit und die tadellose
und redliche Art und Weise, wie sie ihr Gewerbe ausübte. Offen
gestanden, die fraglichen Gewerbe (das von O, das von Anne-
Marie, Hure oder Kupplerin, wenn ich mich deutlich ausdrücken
muß) kenne ich nicht. Wenn ein entrüsteter großer Schriftsteller
in meiner Erzählung die Erinnerungen einer Schönen sehen will
- und zu seiner Entschuldigung gesteht, daß er sie nicht gelesen
habe - so irrt er zweimal: es sind keine Erinnerungen, und ich
bin keine Schöne, wie ritterlich dieser Ausdruck auch sein mag.
Sagen wir, um ihm eine Freude zu machen, daß ich zweifellos
meinen Beruf verfehlt habe. Ist es nach dem gekürzten
Personenverzeichnis, wie im Theater, noch interessant, die
Schauplätze der Handlung genau anzugeben? Sie sind
Allgemeingut. Die Rue de Poitiers und das Séparé bei La
Pérouse, das Zimmer im Stundenhotel in der Nähe der Bastille
mit dem Spiegel an der Decke, die Straßen im Quartier St.-
Germain, die sonnigen Quais der Ile St. Louis, der trockene,
weiße Kies im provençalischen Hinterland und dieses Roissyin-
Frankreich, bei einem kurzen Ausflug im Frühling entdeckt,
kaum etwas anderes als ein Name auf der Landkarte, gewiß,
-202-
nichts ist erfunden, und ebenso wenig die Astern, von denen ich
Ihnen gesagt habe, daß wir sie wiederfinden würden. Ebenfalls
nicht erfunden - eher gestohlen, und ich bitte ihn nachträglich
um Verzeihung, aber es war ein Diebstahl aus Bewunderung -
sind die Masken von Leonor Fini. Anscheinend habe ich auch
den Salon einer Dame gestohlen und ihn einer abscheulichen
Verwendung zugeführt: den Salon von Sir Stephen, stellen Sie
sich das vor! Die Dame hat es mir selbst gesagt, nicht ahnend,
mit wem sie sprach (man weiß nie, mit wem man spricht).
Niemals bin ich bei ihr gewesen, niemals habe ich diesen Salon
gesehen. Auch das in einer Bodensenke verborgene Haus habe
ich niemals gesehen (und wußte nicht, daß es existierte), jenes
Haus, wo seit Jahren ein Mädchen, das ich schließlich durch
einen Zufall kennenlernte, dem Mann, den es liebte - und der es
mit Hilfe eines unsichtbar in der Wand angebrachten Spiegels
und eines Mikrophons überwachte - die Schauspiele bot, die Sir
Stephen von O verlangte: die Hingabe an Unbekannte, die er
anheuerte und ihr aufzwang. Nein, ich habe die Geschichte
dieses Mädchens nicht kopiert, noch hat sich das Mädchen von
der Geschichte, die ich erzähle, beeinflussen lassen. Aber
nachdem einmal dem Phantastischen und der Weitschweifigkeit
Rechnung getragen war, was die Obsessionen mildert (die
unaufhörliche Wiederholung der Freuden und Mißhandlungen
war ebenso notwendig wie absurd und unerfüllbar),
überschneidet sich alles, Erlebtes oder Geträumtes, alles erweist
sich als gemeinhin geteilt in dem Universum desselben
Wahnsinns - und wenn man es fertigbringt, diesem Universum
ins Angesic ht zu sehen, dann ist alles - Greuel und
Wunderbares, Träume und Schäume - Beschwörung und
Erlösung.
-203-
Rückkehr nach Roissy
Die folgenden Seiten sind eine Fortsetzung der Geschichte der
O. Sie sind bewußt ein Abstieg, und sie dürfen niemals in die
Geschichte der O einbezogen werden.
P. R.
-204-
Alles schien geregelt zu sein: der September rückte heran.
Mitte September sollte O wieder nach Roissy gehen und Natalie
mitnehmen. René, von einer Reise nach Nordafrika
zurückgekehrt, würde Jacqueline dort hinbringe n - zumindest
ließ er das verlauten. Wie lange Natalie und wie lange O dort
bleiben würden, hing für O zweifellos von der Entscheidung ab,
die Sir Stephen traf, und für Natalie von dem Gebieter oder den
Gebietern, die ihr das Schicksal in Roissy bescheren würde.
Aber obwohl die fest geplanten und bestimmten Vorhaben
beruhigend waren, machte O sich Sorgen, als ob es sich um ein
gefährliches Vorzeichen handele, um eine Herausforderung des
Schicksals, ja, sogar über diese Gewißheit, von der alle um sie
herum erfüllt waren, daß sie tun würden, was er beschlossen
habe, machte sie sich Sorgen. Natalies Freude entsprach ihrer
Ungeduld, und in dieser Freude lag etwas von kindlicher
Naivität und von dem Vertrauen, das Kinder in die
Versprechungen von Erwachsenen setzen. Daß O die
Verfügungsgewalt von Sir Stephen über sie anerkannte,
erweckte in Natalie auch nicht den kleinsten Schatten eines
Zweifels: Os Unterwürfigkeit war so unbedingt und stets so
unmittelbar, daß Natalie sich nicht vorstellen konnte, so sehr
bewunderte sie O, daß sich jemand Sir Stephen in den Weg
stellen könne, wenn O vor ihm auf den Knien lag. So glücklich
O auch war, und gerade weil sie glücklich war, wagte sie nicht
daran zu glauben, und ebenso wenig wagte sie, Wasser in den
Wein von Natalies Ungeduld und Freude zu gießen. Von Zeit zu
Zeit, wenn Natalie halblaut sang, hieß sie sie jedoch schweigen,
um das Schicksal nicht herauszufordern. Sie achtete darauf,
niemals den Fuß auf die Fugen der Fliesen zu setzen, niemals
Salz zu verschütten, niemals Messer über Kreuz oder das Brot
umgekehrt hinzulegen. Und was Natalie nicht wußte und sie ihr
nicht zu sagen wagte, war, daß sie sich deshalb so gern
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peitschen ließ, weil sie abgesehen von der Lust, die sie bis zu
einem gewissen Grad dabei verspürte, für das Glück, das sie
darin fand, sogar über ihren Willen hinaus preisgegeben zu sein,
bei Überschreitung dieses Grades gewissermaßen mit
Schmerzen und Demütigung bezahlte - Demütigung, weil sie es
nicht fertigbrachte, nicht zu flehen und nicht zu schreien,
während sie das Glück empfand und damit vielleicht
abergläubisch dessen Dauer sicherstellte. Ah, sich nicht
bewegen, damit auch die Zeit stillstehe! O haßte das
Morgengrauen und die Abenddämmerung, wenn sich alles
wendet, seine Form aufgibt und eine andere annimmt, so
verräterisch, so traurig. Machten die Tatsache, daß René sie an
Sir Stephen abgetreten hatte, und gleichzeitig die Leichtigkeit,
mit der sie sich nachgerade umgestellt hatte, es nicht ebenso
wahrscheinlich, daß Sir Stephen sich seinerseits ändern könnte?
Als O eines Tages nackt vor ihrer geschweiften Kommode
stand, deren Bronzebeschläge eine chinesische Imitation waren
und Figuren darstellten mit spitzen Hüten wie die Strandhüte,
die Natalie trug, kam es ihr in den Sinn, daß etwas neu war an
Sir Stephens Verhalten ihr gegenüber. Erstens verlangte er von
ihr, daß sie von jetzt an in ihrem Zimmer ständig nackt sei.
Selbst die Pantöffelchen waren ihr nicht mehr erlaubt, noch die
Halsbänder oder ein sonstiger Schmuck. Das war nur eine
Kleinigkeit. Wenn Sir Stephen, fern von Roissy, eine Vorschrift
wünschte, die ihn an Roissy erinnerte, stand es O dann zu, sich
darüber zu verwundern? Es war etwas Ernsteres. Gewiß, in jener
Ballnacht war O darauf gefaßt gewesen, daß Sir Stephen sie dem
Gastgeber ausliefern mußte. Gewiß, er selbst hatte sie - in
Gegenwart von René zum Beispiel oder von Anne-Marie und
seit einiger Zeit natürlich in Gegenwart von Natalie - schon am
hellichten Tage genommen. Aber vor jener Nacht hatte er sie
niemals in seiner Gegenwart von irgendeinem anderen nehmen
lassen und sie auch nicht mit demjenigen geteilt, dem er sie
auslieferte. Und niemals war sie ausgeliefert worden, ohne daß
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er sie nachher dafür züchtigte, als ob eben das Ziel, das er
verfolgte, wenn er sie prostituierte, nur ein Vorwand sei, um sie
zu bestrafen. Aber nicht an dem Tag nach dem Ball. Erschien
ihm die Schmach, die es für O bedeutete, vor seinen Augen
einem anderen als ihm zu gehören, als ausreichende Buße? Was
sie so bereitwillig hingenommen hatte, als es René war und
nicht Sir Stephen. Was sie so bereitwillig hingenommen hatte,
wenn Sir Stephen nicht da war, erschien O abscheulich in seiner
Gegenwart. Zwei Tage vergingen dann, ohne daß er sich ihr
näherte. O wollte Natalie in ihr Zimmer zurückschicken, Sir
Stephen verbot es ihr. O wartete also, bis Natalie eingeschlafen
war, um in der Stille und ohne gesehen zu werden zu weinen.
Erst am vierten Tag kam Sir Stephen am späten Nachmittag, wie
es seine Gewohnheit war, zu O, nahm sie und ließ sich von ihr
liebkosen. Als er endlich stöhnte und in seiner Lust ihren Namen
rief, wußte sie, daß sie gerettet war. Aber als sie, längelang, mit
geschlossenen Augen, gebräunt und reglos auf dem weißen
Teppich liegend, ihn halblaut fragte, ob er sie liebe, antwortete
er nicht: »Ich liebe dich, O«, sondern sagte nur: »Aber sicher«
und lachte. War das so sicher? »Du wirst am 15. September in
Roissy sein«, hatte er gesagt. »Ohne Sie?« hatte O gefragt.
»Ach, ich komme auch«, hatte er geantwortet. Es war in den
letzten Augusttagen; die Feige n und die blauen Trauben in den
Körben zogen die Wespen an, die Sonne war weniger weiß und
verlängerte des Abends die Schatten. O war allein in dem
großen unfreundlichen Haus mit Natalie und Sir Stephen. René
hatte Jacqueline mitgenommen.
Sollte O die Tage zählen, die sie noch vom 15. September
trennten, wie Natalie es machte: noch vierzehn, noch zwölf,
oder sollte sie den Entscheidungstag fürchten? Die so gezählten
Tage vergingen still. Natalie und O waren gleichsam im
vorhinein in einem Frauengemach einge schlossen, das sie nicht
zu verlassen wünschten, wo die Wände das Lachen und die
Gespräche und die Fensterscheiben den Tritt von Schritten so
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gut dämpften, daß die Schreie von O, wenn sie geschlagen
wurde, das einzige Geräusch waren. Eines Sonntagsabends, als
der Himmel schwarz von Gewitter war, ließ Sir Stephen sie
bitten, sich anzuziehen und herunterzukommen. Sie hatte eine
Wagentür klappen hören und durch das Badezimmerfenster, das
auf den Hof ging, das Geräusch von Stimmen. Dann nichts
mehr. Natalie war heraufgerannt und hatte gesagt, sie habe
Besucher gesehen: drei seien es, und einer von ihnen sei
zweifellos ein Malaie mit dunkler Haut, sehr schwarzen Augen,
groß, schlank und gut aussehend. Sie sprachen weder
Französisch noch Englisch, Natalie hielt es für Deutsch. Deutsch
oder nicht, O verstand kein Wort von ihrer Sprache, und wie
sollte man die Gleichgültigkeit von Sir Stephen verstehen?
Nicht, daß er sich den Anschein gab, sie nicht zu sehen, im
Gegenteil; er lachte und scherzte zweifellos mit seinen Gästen,
während sie sich ihrer bedienten, aber so absolut lässig, so
sichtbar teilnahmslos, daß O im Zweifel war, ob sie nicht dieser
Gleichgültigkeit, die er ihr gegenüber so plötzlich bekundete,
Groll oder Verachtung vorgezogen hätte. Verachtung und ein
seltsames Mitleid las sie im Blick des Malaien, der sie nicht
angerührt hatte, als sie sich vernichtet, keuchend, mit beflecktem
Rock erhob, nachdem die beiden anderen Männer sie aus den
Händen gelassen hatten. Man mußte annehmen, daß sie ihnen
gefallen habe, denn sie kamen am nächsten Tag gegen elf Uhr
allein wieder. Diesmal ließ Sir Stephen sie gleich in Os Zimmer
hinaufgehen, wo sie nackt war. Als sie wieder gingen,
schluchzte sie. »Warum, O?« fragte Sir Stephen, aber er wußte
genau, warum und wie man die Verzweiflung verscheuchen
konnte, von der O gepackt war, als sie sich in ihrem eigenen
Zimmer und vor seinen Augen so behandelt sah, wie man selten
wagt, ein Bordellmädchen zu behandeln, und vor allem so, als
ob er selbst sie für ein solches halte. Er sagte ihr, sie habe nicht
darüber zu entscheiden, wo, wie und wem sie dienen solle, und
ebenso wenig stehe es ihr zu, über seine Gefühle zu urteilen.
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Dann ließ er sie so grausam peitschen, daß sie im
Handumdrehen getröstet war. Nachdem die Tränen und der
brennende Schmerz vorbei waren, stellte sich trotzdem wieder
das Gefühl ein, vor dem sie sich gefürchtet hatte: daß nämlich
ein anderer Grund als die Lust, die er dabei empfinden konnte -
empfand er sie noch? - ihn veranlaßte, sie zu prostituieren, daß
sie ihm als Tauschgeld diene - aber was tauschte er ein? Daß er
mit ihrem, ihm ausgelieferten Körper bezahlte, etwas kaufte,
aber was? Ein abscheuliches und groteskes Gleichnis kam ihr in
den Sinn: Die Reiterei des heiligen Georg nannte man in
Frankreich das englische Geld. Ja, vielleicht war sie, ohne es zu
wissen, die am meisten erniedrigte Statistin bei der Darstellung
dieser Redensart als lebendes Bild, auf den Knien liegend, auf
die Ellbogen gestützt und von Unbekannten geritten. Und wenn
er sie schlagen ließ, dann nur noch, um sie besser zu drillen.
Nun, worüber beklagte sie sich eigentlich, worüber wunderte sie
sich? Noch angebunden an die Balustrade in der Nähe ihres
Bettes, nachdem Sir Stephen offenbar beschlossen hatte, sie dort
liegen zu lassen, wo er sie dann tatsächlich fast drei Stunden
liegen ließ, hörte O in ihrer Erinnerung seine Stimme, eben
seine Stimme, die sie so verwirrt hatte, als er ihr an dem ersten
Abend, an dem er sich ihrer bemächtigt, sie geohrfeigt, ihr die
Lenden zerfetzt hatte, so eingehend dargelegt hatte, er wolle von
ihr und werde von ihr schiere Unterwürfigkeit und Gehorsam
erhalten, wobei sie sich einbildete, daß sie das nur mit Liebe
gewähren könne. Wessen Schuld war es, wenn nicht die ihre,
wenn es genügte, sie peitschen zu lassen, damit sie ihm gehöre?
Wenn sie vor jemandem Abscheu haben sollte, müßte sie dann
nicht vor sich selbst Abscheu haben? Und wenn er sich ihrer
bediente zu anderen Zwecken als seiner Lust, was ging sie das
an? »Oh ja«, sagte sich O, »ich habe Abscheu vor mir. Werde
ich die Stirn haben, mich zu beklagen, ich sei getäuscht worden,
nicht darüber unterrichtet worden, hundertmal, tausendmal, weiß
ich denn nicht, wozu ich geschaffen bin?« Aber sie wußte nicht
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mehr, ob ihr davor graute, Sklavin zu sein - oder nicht genug
Sklavin zu sein. Es war weder das eine noch das andere; ihr
graute davor, nicht mehr geliebt zu werden. Was hatte sie getan,
was hatte sie zu tun unterlassen, daß sie es verdiente, nicht mehr
geliebt zu werden? Wie töricht bist du doch, O, als ob es sich
um Verdienst handelte, als ob du etwas dabei tun könntest. Auf
die Eisen, die ihren Schoß beschwerten, auf die Brandmale, die
in ihre Lenden eingegraben waren, war sie stolz gewesen und
war es noch, weil sie kundtaten, daß derjenige, der sie hatte
anbringen lassen, sie genug liebte, um sie sich zu eigen zu
machen. Mußte sie sich jetzt schämen, daß sie, wenn er sie nicht
mehr liebte, immer noch die Zeichen dafür waren, daß sie ihm
gehörte? Denn schließlich wollte er immer noch, daß sie ihm
gehöre.
Der 15. September kam; O, Natalie und Sir Stephen waren
immer noch da. Aber jetzt war Natalie an der Reihe, in Tränen
zu schwimmen: ihre Mutter forderte sie zurück, und sie mußte
Ende des Monats wieder in ihr Pensionat. Wenn O nach Roissy
gehen mußte, würde sie allein gehen. Sir Stephen fand O auf
ihrem Sessel sitzend, das kleine Mädchen weinend an ihre Knie
gelehnt. O reichte ihm den Brief, den sie erhalten hatte: Natalie
sollte in zwei Tagen aufbrechen. »Sie haben versprochen«, sagte
das Kind, »Sie haben versprochen...« - »Es ist nicht möglich,
Kleines«, sagte Sir Stephen. »Wenn Sie wollten, wäre es
möglich«, beharrte Natalie. Er antwortete nicht. O streichelte die
seidenweichen Haare, die gegen ihre nackten Knie strichen.
Tatsächlich, wenn Sir Stephen wirklich gewollt hätte, wäre es O
zweifellos möglich gewesen, bei Natalies Mutter zu erreichen,
sie noch vierzehn Tage bei sich zu behalten unter dem Vorwand,
sie in der Nähe von Paris mit aufs Land zu nehmen. Und in
vierzehn Tagen hätte Natalie... Also hatte Sir Stephen seine
Meinung geändert. Er stand am Fenster und blickte in den
Garten. O beugte sich zu der Kleinen hinunter und küßte ihre
tränennassen Augen. Sie warf Sir Stephen einen raschen Blick
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zu: er rührte sich nicht. Sie küßte Natalie auf den Mund. Erst
Natalies Stöhnen veranlaßte Sir Stephen, sich umzudrehen, aber
O ließ sie nicht gleich los, glitt neben ihr auf den Boden und
legte sie auf den Teppich. Mit zwei Schritten war Sir Stephen
bei ihnen. O hörte, daß er ein Streichholz anstrich, und roch den
Duft seiner Zigarette: er rauchte schwarze wie ein Franzose.
Natalie hatte die Augen geschlossen. »Zieh sie aus, O, und
streichle sie«, sagte er plötzlich. »Dann gibst du sie mir. Aber
öffne sie erst ein bißchen; ich will ihr nicht zu weh tun.« Das
war es also? Ach, wenn sie ihm nur Natalie geben mußte! War
er in sie verliebt? Es schien eher, daß er in dem Augenblick, da
sie verschwinden würde, mit irgendetwas Schluß machen, eine
Schimäre zerstören wollte. Natalie war zwar rundlich und
mollig, aber dennoch grazil und kleiner als O. Sir Stephen
schien doppelt so groß zu sein wie sie. Ohne sich zu regen, ließ
sie sich von O ausziehen und auf das Bett legen, von dem O die
Laken zurückgeschlagen hatte, und sie stöhnte, als O sie
berührte, und biß die Zähne zusammen, als sie sie verletzte. Os
Hand war bald voller Blut. Aber Natalie schrie nicht unter dem
Gewicht von Sir Stephen. Es war das erste Mal, daß O sah, wie
Sir Stephen seine Lust bei jemand anderem als bei ihr fand, und
vor allem das erste Mal, daß sie sein Gesicht dabei sah. Wie er
auswich! Ja, er drückte Natalies Kopf gegen seinen Leib und
packte mit der ganzen Faust ihre Haare, wie er es auch mit Os
Haaren machte; O überzeugte sich, daß er das nur tat, um die
Liebkosung des Mundes besser zu spüren, der ihn umschloß bis
zu dem Augenblick, da er sich in ihn ergoß. Aber jeder Mund,
vorausgesetzt, er war gelehrig genug und leidenschaftlich genug,
hätte ihn ebenso befriedigt. Natalie zählte nicht. War O sicher,
daß sie zählte? »Ich liebe Sie«, wiederholte sie ganz leise, zu
leise, als daß er es hörte, »ich liebe Sie«, und sie wagte nicht,
ihn zu duzen, nicht einmal in Gedanken. In seinem Gesicht, das
sie umgekehrt sah, schimmerten Sir Stephens graue Augen
zwischen den fast geschlossenen Lidern wie zwei leuchtende
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Schlitze. Zwischen seinen halbgeöffneten Lippen blitzten auch
seine Zähne. Er erschien einen Augenblick wehrlos, als er
spürte, daß O ihn ansah, und den Fluß verließ, auf dem er
dahintrieb, von dem O glaubte, daß sie so oft mit ihm
dahingetrieben war, ausgestreckt neben ihm in der Barke, die die
Liebenden davonträgt. Aber es war zweifellos nicht wahr. Sie
waren zweifellos allein gewesen, jeder auf seiner Seite, und
vielleicht war es kein Zufall, daß ihr sein Gesicht, wenn er sich
in sie versenkte, immer verborgen gewesen war; vielleicht
wollte er allein sein; und nur heute war es ein Zufall. O sah
darin ein unheilvolles Zeichen; das Zeichen, daß sie ihm so
gleichgültig geworden war, daß er sich nicht einmal mehr die
Mühe machte, sich abzuwenden. Jedenfalls war es unmöglich,
wie immer man es auch auslegte, darin nicht eine Gewähr, eine
Freiheit zu sehen, die O, wenn sie nicht daran gezweifelt hätte,
geliebt zu werden, sorglos, stolz, sanft und glücklich hätten
machen müssen. Das sagte sie sich. Als Sir Stephen ging und die
kleine Natalie in ihren Armen zurückließ, die sich an sie
schmiegte, glühend und murmelnd vor Stolz, sah sie sie an, bis
sie einschlief, und zog dann das Laken und die leichte Decke
über sie beide. Nein, er war nicht in Natalie verliebt. Aber er
war abwesend, vielleicht sich selbst ebenso fern, wie er ihr fern
war. Über Sir Stephens Beruf hatte O sich niemals Gedanken
gemacht, und René hatte niemals davon gesprochen. Es war
offensichtlich, daß er reich war, auf jene geheimnisvolle Weise,
wie englische Aristokraten reich sind, wenn sie es noch sind;
woher kamen seine Einkünfte? René arbeitete für eine Import-
und Exportfirma, René sagte: »Ich muß nach Algier fahren
wegen Jute, nach London wegen Wolle, wegen Fayencen, ich
muß nach Spanien fahren wegen Kupfer«, René hatte ein Büro,
er hatte Teilhaber und Angestellte. Wie bedeutend seine Position
eigentlich war, war nicht klar, aber jedenfalls gab es diese
Position, und die Verpflichtungen, die sie mit sich brachte,
waren augenfällig. Sir Stephen hatte vielleicht auch eine
-212-
Position, die möglicherweise der Grund für seinen Aufenthalt in
Paris war, für seine Reisen und - daran dachte O nicht ohne
Schrecken - für seine Mitgliedschaft von Roissy (eine
Mitgliedschaft, die ihr bei René einfach die Folge eines Zufalls
zu sein schien - ein Freund, den ich traf, hat mich
mitgenommen, sagte er - O glaubte es). Was wußte sie von Sir
Stephen? Seine Zugehörigkeit zum Clan der Campbell, deren
düsterer Tartan in Schwarz, Dunkelblau und Grün der schönste
Tartan von Schottland ist, und der verrufenste (die Campbell
haben zur Zeit des jungen Prätendenten die Stuarts verraten); die
Tatsache, daß er im nordwestlichen Hochland ein granitenes
Schloß besaß, klein und gedrungen, von einem Vorfahren des
18. Jahrhunderts im französischen Stil erbaut, und einem Haus
in der Gegend von Saint-Malo ganz ähnlich. Aber welches Haus
in der Gegend von Saint-Malo hätte als Rahmen jemals derartig
von Wasser benetzte Rasenflächen gehabt, als Mantel derartig
üppigen wilden Wein? »Nächs tes Jahr werde ich dich dorthin
mitnehmen, und Anne-Marie auch«, hatte Sir Stephen gesagt,
als er O eines Tages Photos zeigte. Aber wer wohnte in dem
Schloß? Was für eine Familie hatte Sir Stephen? O vermutete,
daß er Berufsoffizier gewesen war oder vielleicht noch war.
Einige seiner Landsleute, die jünger waren als er, redeten ihn
schlicht mit Sir an, wie ein Untergebener einen Vorgesetzten. O
wußte recht gut, daß es auf den britischen Inseln noch ein
Vorurteil oder eine eigentümliche Sitte gab: ein Mann ist es sich
schuldig, seiner Frau gegenüber weder von Geschäften noch
vom Beruf oder Geld zu sprechen. Aus Respekt, aus
Verachtung? Das weiß man nicht. Doch konnte man ihm das
unmöglich vorwerfen. Auch wollte O das gar nicht. Nur wäre
sie gern sicher gewesen, daß Stephens Schweigen ihr gegenüber
keinen anderen Grund hatte. Und gleichzeitig hätte sie
gewünscht, daß er es breche, damit sie ihm versichern könne, sie
sei, falls er irgendeine Sorge habe, welcher Art auch immer,
bereit, ihm zu dienen, wenn es nur einigermaßen in ihren
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Kräften stünde.
Am Tag nach Natalies Abreise, für die ein Liegewagenplatz
im Blauen Zug bestellt worden war, und zwei Tage vor Os und
Sir Stephens Abreise, die mit demselben Zug fahren sollten -
doch hatte Sir Stephen darauf bestanden, daß es genau an
diesem Tag und nicht an jenem sei, an dem Natalie reiste,
ebenso wie er darauf bestanden hatte, mit dem Zug zu fahren,
und zwar mit diesem Zug, und nicht mit dem Wagen -, sagte O
ihm schließlich, als sie mit dem Mittagessen, das sie allein
eingenommen hatten, fertig waren und die alte Norah den
Kaffee brachte, da sagte O - dazu ermutigt, weil er ihr, als sie
aufgestanden war und dicht an ihm vorbeiging, die Lenden
getätschelt hatte, mechanisch vielleicht, wie man es bei einer
Katze oder einem Hund tut - da sagte O schließlich mit ganz
leiser Stimme, sie fürchte, ihn zu verdrießen, möchte ihm aber
versichern, daß sie ihm dienen wolle, was immer er auch
wünsche. Zuerst sah er sie zärtlich an, ließ sie sich niederknien,
küßte ihr die Brüste, doch als sie sich erhob und vor ihm stand,
veränderte sich sein Ausdruck. »Das weiß ich«, sagte er. »Die
beiden Männer von neulich...« - »Die Deutschen?« unterbrach
ihn O. »Es sind keine Deutschen«, sagte Sir Stephen, »aber das
ist unwichtig. Ich wollte dic h nur davon unterrichten, daß einer
von ihnen mit demselben Zug reist wie wir. Wir essen
zusammen im Speisewagen. Richte es so ein, daß er dich
begehrt und dich in deinem Schlafwagenabteil aufsucht.« -
»Aber«, sagte O, »er weiß doch genau, daß Sie über mich
verfügen.« -»Genau«, erwiderte Sir Stephen. »Wir haben ein
Doppelabteil: um in deines zu kommen, muß er durch meins
durchgehen.« -»Gut«, sagte O und fragte nicht nach dem Grund,
denn sie war überzeugt, daß es in diesem Fall einen Grund gab,
und sie war verzweifelt, weil sie den Gedanken nicht
verscheuchen konnte, daß, wenn Sir Stephen sie in den anderen
Fällen ohne Grund und sozusagen gratis prostituiert hatte, dann
eigentlich weniger, um sie daran zu gewöhnen, als vielmehr
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deshalb, weil er die Spuren verwischen und aus ihr ein
Werkzeug machen wollte. Aber ein blindes Werkzeug, für etwas
anderes als seine Lust.
Der blaue Zug kam gegen neun Uhr in Paris an. Um acht Uhr
war O, der eine Art Teilnahmslosigkeit, die sie überhaupt nicht
verstand, gleichsam einen Panzer um das Herz gelegt hatte,
sicher auf ihren hohen Absätzen die Gänge von ihrem
Schlafwagenabteil zum Speisewagen entlanggegangen, wo sie
zum Frühstück Eier mit Speck gegessen und allzu bitteren
Kaffee getrunken hatten. Sir Stephen hatte sich ihr
gegenübergesetzt. Die Eier waren fade; der Geruch von
Zigaretten und das Schlingern des Zuges bewirkten bei O eine
leichte Übelkeit. Aber als sich der vermeintliche Deutsche neben
Sir Stephen setzte, war ihr weder der Blick, den er auf Os
Lippen heftete, noch die Erinnerung an die Fügsamkeit, mit der
sie ihn in der Nacht liebkost hatte, peinlich.
Sie wußte nicht, was sie schützte, was sie dazu brachte,
gleichmütig aus dem Fenster zu schauen, wo Wälder und Felder
an ihr vorbeiglitten, und nach den Namen der Bahnhöfe zu
spähen. Die Bäume und der Nebel verbargen die Häuser, die
nicht unmittelbar an der Bahnstrecke lagen; große Stahlträger,
fest in Zementsockeln verankert, hatten das Land neu
abgesteckt; kaum sah man die elektrischen Drähte, die sie bis
zum Horizont alle dreihundert Meter an den nächsten
weiterreichten. In Villeneuve-Saint-Georges schlug Sir Stephen
O vor, wieder in ihr Abteil zu gehen. Sein Nachbar sprang auf,
schlug die Hacken zusammen und machte eine Verbeugung vor
O. Ein plötzlicher Stoß des Zuges bewirkte, daß er das
Gleichgewicht verlor und sich wieder hinsetzte, und O lachte
laut auf. War sie erstaunt, als Sir Stephen - kaum daß sie wieder
im Abteil war und nachdem er sich seit der Abreise nicht einen
Augenblick um sie gekümmert hatte - sie auf die Koffer schob,
die sich auf der Bank türmten, und ihren Plisseerock hochhob?
Sie war entzückt und dankbar. Wer sie so gesehen hätte, auf der
-215-
Bank kniend, den Busen auf den Koffern plattgedrückt, ganz
angezogen und zwischen ihrer Kostümjacke und ihren
Strümpfen und den schwarzen Strumpfbändern, die sie hielten,
ihren nackten Popo darbietend, genarbt wie Kofferleder, dem
konnte sie nur ridikül erscheinen, und sie wußte es. Niemals
vergaß sie, wenn man sie so hinlegte, wieviel Beschämendes,
aber auch Demü tigendes und Lächerliches die Redensart
»leichtgeschürzt« enthielt, aber noch demütigender war jener
andere Ausdruck, den Sir Stephen, und neulich auch René,
verwendete, zumindest jedesmal, wenn er sie einem anderen zur
Verfügung stellte. Diese Demütigung, die ihr Sir Stephens
Worte jedesmal zufügten, wenn er sie aussprach, tat ihr wohl.
Aber diese Wohltat war nichts gegen das mit Stolz, man könnte
fast sagen mit Hochmut durchsetzte Glücksgefühl, wenn er sie
nahm und geruhte, ihren Körper so weit nach seine m
Geschmack zu finden, daß er in ihn einzudringen und ihm
beizuwohnen wünschte, und es schien O, als sei keine
Erniedrigung, keine Demütigung ein zu hoher Preis dafür.
Während der ganzen Zeit, da er sie gleichsam aufgespießt hatte
und sie durch das Schlingern des Zuges an ihn gepreßt wurde,
stöhnte sie. Erst beim letzten Ruck und der letzten Erschütterung
der aufeinanderprallenden Waggons, als sie in der Gare de Lyon
zum Stehen kamen, zog er sich aus ihr zurück und sagte ihr, sie
solle aufstehen. Am Ausgang, noch auf dem Bahngelände, wo
die großen Treppen abgehen und die Privatwagen vorfahren,
richtete sich ein junger Mann in der Uniform eines
Unteroffiziers der Luftwaffe, der an einem schwarzen,
geschlossenen Wagen mit Frontantrieb gelehnt hatte, auf, als er
Sir Stephen erblickte. Er grüßte, öffnete die Tür und trat zurück.
Als O auf dem Rücksitz Platz genommen hatte und ihr Gepäck
vorn verstaut war, beugte sich Sir Stephen gerade lange genug
herab, um ihr die Hand zu küssen und sie kurz anzulächeln,
dann schloß er die Tür. Er hatte nichts zu ihr gesagt, weder »Auf
Wiedersehen« noch »Bis bald« oder »Adieu«. O hatte geglaubt,
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er würde auch einsteigen. Der Wagen fuhr so schnell an, daß sie
nicht die Geistesgegenwart hatte, ihn zu rufen, und sie konnte
sich noch so sehr ans Fenster drücken, um ihm ein Zeichen zu
geben, es war schon zu spät: er sprach mit seinem Gepäckträger
und wandte ihr den Rücken zu. So plötzlich, als ob ihr ein
Verband von einer Wunde abgerissen worden wäre, fiel die
Gleichgültigkeit, die O auf der ganzen Reise beschützt hatte,
von ihr ab, und ein einziger Satz begann ihr immer wieder und
wieder durch den Kopf zu gehen: »Er hat mir nicht Auf
Wiedersehen gesagt, er hat mich nicht angesehen.« Der Wagen
fuhr in westlicher Richtung, ließ Paris hinter sich, O sah nichts.
Sie weinte. Ihr Gesicht war noch tränenüberströmt, als das Auto
eine halbe Stunde später in einen Fußweg neben der Straße
einbog und auf einem Waldweg anhielt, den große Buchen
beschatteten. Es regnete, die geschlossenen Wagenfenster
beschlugen von innen. Der Fahrer klappte seine Rückenlehne
um, stieg drüber weg und legte O auf den Rücksitz. Der Wagen
war so niedrig, daß Os Füße an die Decke stießen, als er ihre
Beine hochhob, um in sie einzudringen. Fast eine Stunde
verbrachte er damit, sich ihrer zu bedienen, ohne daß sie auch
nur eine Sekunde versucht hätte, sich ihm zu entziehen, denn sie
war überzeugt, daß er das Recht dazu habe, und der einzige
Trost, den sie in dem Zustand der Angst fand, in den Sir
Stephens brutaler Abschied sie versetzt hatte, war das absolute
Stillschweigen, mit dem der junge Mann bis zur Erschöpfung
seiner Kräfte sie immer wieder und wieder nahm und dabei im
Augenblick der Lust kaum einen Schmerzensschrei ausstieß. Er
war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, hatte ein hageres, hartes
und sensibles Gesicht und schwarze Augen. Zweimal war er O
mit dem Finger über die nasse Wange gefahren, aber in keinem
Augenblick hatte er seinen Mund dem ihren genähert. Es war
klar, daß er es nicht wagte, während er es durchaus wagte, ihr
ein so dickes und langgestrecktes Glied bis in die Kehle zu
stoßen, daß jede Bewegung, durch die er mit diesem Sturmbock
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den Grund ihres Gaumens berührte, O neue Tränen vergießen
ließ. Als er endlich fertig war, ließ O ihren Rock hinunter und
schloß den Pullover und die Kostümjacke, die sie aufgeknöpft
hatte, damit er ihre Brüste nehmen könne; sie hatte Zeit, sich mit
dem Kamm durch die zerzausten Haare zu fahren, sich zu
pudern und die Lippen anzumalen, während er im Unterholz
verschwand. Der Regen hatte aufgehört, die Stämme der Buchen
leuchteten im grauen Licht. Links neben dem Wagen wuchs auf
einer Böschung roter Fingerhut, und er war so nah, daß O ihn
hätte pflücken können, wenn sie den Arm durch das
heruntergelassene Fenster gestreckt hätte. Der junge Mann kam
zurück, schloß die Tür, die er offengelassen hatte, ließ den
Wagen an, und nachdem sie wieder auf der Hauptstraße waren,
verging keine Viertelstunde, bis sie ein Dorf erreichten und
hinter sich ließen, das O nicht wiedererkannte. Aber als der
Wagen langsamer an der nicht enden wollenden Mauer eines
großen Parks entlanggefahren war und dann vor einem völlig
mit wildem Wein bewachsenen Haus hielt, begriff sie es
endlich: das konnte nur der kleine Eingang von Roissy sein. Sie
stieg aus; der junge Mann in Uniform holte ihre Koffer heraus.
Die Tür aus Hartholz, dunkelgrün gestrichen und lackiert,
öffnete sich, ohne daß sie geklopft oder geklingelt hätte: man
hatte sie von drinnen gesehen. Sie überschritt die Schwelle; die
fliesenbelegte Diele mit der rotweißen Perkalintapete war leer.
Genau vor ihr war ein Spiegel, der die gesamte Breite der Wand
einnahm, und sie sah sich ganz in ihm, schlank und aufrecht in
ihrem grauen Kostüm, den Mantel über dem Arm, die Koffer zu
ihren Füßen, die Tür, die sich hinter ihr schloß, und dieser
Heidekrautstengel in der Hand, den sie ganz automatisch
genommen hatte, als der junge Mann ihn ihr gereicht hatte, ein
kindisches und höhnisches keepsake, das sie nicht auf die gut
gewachsten Fliesen zu werfen wagte und das ihr lästig war, ohne
daß sie wußte, warum. Doch, sie wußte es: wer war es doch, der
ihr erzählt hatte, das in den Wäldern in der Nähe von Paris
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gepflückte Heidekraut bringe Unglück? Da wäre es noch besser
gewesen, den Fingerhut zu pflücken, den anzufassen ihre
Großmutter ihr verboten hatte, als sie ein Kind war, weil er
giftig ist. Sie legte den Heidekrautstengel in die Nische des
Fensters, das die Diele erhellte. Im selben Augenblick kam
Anne-Marie, gefolgt von einem Mann in einem blauen
Gärtneranzug. Der Gärtner nahm Os Koffer. »Na, immerhin bist
du da«, sagte Anne-Marie. »Es ist fast zwei Stunden her, daß Sir
Stephen mich angerufen hat, der Wagen würde dich direkt
herbringen. Was war denn los?« - »Nun, der Chauffeur«, sagte
O. »Ich glaubte...« Anne-Marie lachte. »Ach so«, sagte sie. »Er
hat dich vergewaltigt, und du hat es dir gefallen lassen? Nein,
das war nicht vorgesehen, er hatte keineswegs das Recht dazu.
Aber das macht nichts, du bist ja dafür da.« Und sie fügte hinzu:
»Du fängst gut an, ich werde es Sir Stephen erzählen, es wird
ihm Spaß machen.« -»Kommt er her?« fragte O. - »Er hat nicht
gesagt, wann«, antwortete Anne-Marie, »aber ich glaube, ja.«
Die Angst, die O die Kehle zuschnürte, löste sich, sie sah Anne-
Marie dankbar an; wie schön und charmant war sie mit ihren
graumelierten Haaren. Über einer schwarzen Hose und
schwarzen Bluse trug sie eine Weste aus scharlachrotem Tuch.
Offenbar galt die Vorschrift, der die Frauen in Roissy
unterworfen waren, nicht für sie. »Heute wirst du mit mir
mittagessen«, sagte sie zu O, »und du wirst dich dafür
zurechtmachen. Ich bringe dich zur kleinen Gittertür, wenn der
Gong drei Uhr schlägt.« O folgte Anne-Marie, ohne ein Wort zu
sagen, im siebenten Himmel schwebend; Sir Stephen würde
kommen.
Anne-Maries Appartement nahm einen Teil des im rechten
Winkel zu den Wirtschaftsgebäuden liegenden Flügels ein, die
sich zwischen den Baulichkeiten des eigentlichen Schlosses und
der Straße erstreckten. Anne-Marie hatte hier einen Salon, durch
den man in eine Art von kleine m Boudoir gelangte, ein
Schlafzimmer und ein Bad; die Tür, durch die O eingetreten
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war, gab Anne-Marie die Möglichkeit, nach Belieben zu
kommen und zu gehen. Ebenso wie in ihrem Haus in Samois
zum Garten, hatten hier Anne- Maries Salon und Schlafzimmer
ebenerdige Ausgänge zum Park. Der Park war sehr gepflegt und
weitläufig, und seine sehr großen Bäume hatte der nahende
Herbst noch nicht berührt, während sich der wilde Wein an den
Mauern schon rot zu färben begann. O stand mitten im Salon,
betrachtete die weiße Täfelung, die hellen Nußbaummöbel in
rustikalem Directoire-Stil und das große Sofa in einem Alkoven,
das ebenso wie die Sessel einen gelb und blau gestreiften Bezug
hatte. Der Boden war mit blauem Mokett bedeckt. An den
Fenstertüren hingen lange Vorhänge aus blauem Taft. »Du
träumst, O«, sagte Anne-Marie plötzlich zu ihr. »Worauf wartest
du, um dich auszuziehen? Es wird jemand kommen, der deine
Sachen holt und dir das bringt, was du brauchst. Und wenn du
nackt bist, komm hierher.« Handtasche, Handschuhe,
Kostümjacke, Pullover, Rock, Strumpfbandgürtel und Strümpfe,
alles legte O zusammen auf einen Stuhl neben der Tür und
stellte ihre Schuhe unter den Stuhl. Dann ging sie auf Anne-
Marie zu, die sich, nachdem sie zweimal einen Klingelknopf
gedrückt hatte, auf das Sofa gesetzt hatte. »Aber man sieht ja
jetzt deine kleinen Lippen, seit du epiliert bist«, rief Anne-Marie
und zog sanft an ihnen. »Ich war mir gar nicht darüber klar, daß
du so gewölbt und so hoch geschlitzt warst.« - »Aber«, sagte O,
»das sind doch alle...« - »Nein, mein Herzchen«, sagte Anne-
Marie, »nicht alle.« Und ohne O loszulassen, wandte sie sich an
ein großes, brünettes Mädchen, das gerade hereingekommen
war, zweifellos hatte das Läuten ihr gegolten: »Schau, Monique,
das ist das Mädchen, das ich für Sir Stephen gezeichnet habe, ist
es nicht gut gelungen?« O spürte, wie Moniques Hand, die leicht
und kühl war, die durch die Initialen eingegrabenen Rillen auf
ihrem Hinterteil befühlte. Dann glitt die Hand zwischen ihre
Schenkel und griff nach der Scheibe, die ihr vom Schoß
herabhing. »Sie ist also auch durchbohrt?« fragte Monique.
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»Natürlich, er wünschte, daß ich sie auch mit Eisen versehe«,
antwortete Anne-Marie, und O fragte sich plötzlich, ob
»natürlich« bedeutete, daß Anne-Marie es natürlich fand, es zu
tun, oder ob es eine Gewohnheit von Sir Stephen sei; hatte er,
wenn das der Fall war, es vor ihr schon bei anderen machen
lassen? Sie hörte, selbst verblüfft über ihre Kühnheit, wie sie
diese letzte Frage an Anne-Marie richtete, und war immer noch
verblüfft, als Anne-Marie antwortete: »Das geht dich nichts an,
O, aber wenn du so verliebt und eifersüchtig bist, dann kann ich
dir immerhin sagen, daß er es nicht hat machen lassen. Ich habe
für ihn oft Mädchen ausgeweitet oder gepeitscht, aber du bist die
erste, die ich gezeichnet habe. Ich glaube wirklich, daß er dich
ausnahmsweise liebt.« Dann schickte sie O ins Badezimmer und
sagte ihr, sie solle sich waschen, während Monique ihr ein
Halsband und Armbänder holen sollte. O ließ Wasser einlaufen,
schminkte sich ab, bürstete sich die Haare, stieg in die
Badewanne und seifte sich gemächlich ein. Sie achtete nicht
darauf, was sie tat, und dachte, zwischen Neugier und Freude
hin- und hergerissen, an diese Mädchen, die vor ihr Sir Stephen
gefallen hatten. Neugier: sie hätte sie gern kennengelernt. Sie
war nicht überrascht, daß er sie alle hatte ausweiten und
peitschen lassen, aber sie war eifersüchtig, daß es nicht für ihn
gewesen war, als es das erste Mal bei ihr gemacht wurde. In der
Badewanne stehend, gebeugt, den Rücken zum Spiegel gedreht,
der die Wand verkleidete, seifte sie sich mit den Fingern das
Innere des Schoßes und der Lenden ein, und nachdem sie den
Schaum abgespült hatte, zog sie sich die Pobacken auseinander,
um sich im Spiegel zu betrachten: da war das, was sie gern bei
einem seiner Mädchen gesehen hätte. Wie lange hatte er sie
behalten? Sie hatte sich also nicht getäuscht, als sie das Gefühl
gehabt hatte, daß schon andere vor ihr, nackt und unterwürfig
und sie fürchtend wie sie, der alten Norah gefolgt waren. Aber
daß sie die einzige gewesen war, die seine Eisen und sein
Zeichen trug, erfüllte sie mit Glück. Sie stieg aus dem Wasser
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und trocknete sich ab: Anne-Marie rief sie.
Auf Anne-Maries Bett, das mit einer Steppdecke aus
demselben weißen und blauen Perkal wie die doppelten
Vorhänge des Fensters bedeckt war, lag ein Haufen
Abendkleider, Korsetts, Pantoffeln mit hohem Absatz und das
Kästchen mit Armbändern. Anne-Marie saß am Fußende des
Bettes und ließ O vor sich niederknien, holte aus ihrer
Hosentasche den flachen Schlüssel, der die Schlösser der
Halsbänder und Armreifen öffnete und der mit einer langen
Kette an ihrem Gürtel befestigt war. Sie probierte O
verschiedene Halsbänder an, bis sie eins fand, das ihr, ohne zu
drücken, den Hals genau in der Mitte ausreichend fest umschloß,
so daß es schwierig war, den Hals zu drehen, aber noch
schwieriger, einen Finger zwischen Haut und Metall zu stecken.
Ebenso an ihren Handgelenken, genau oberhalb des Gelenks,
das frei blieb, die Armreifen. Das Halsband und die Armreifen,
die O im vergangenen Jahr getragen und bei anderen gesehen
hatte, waren aus Leder und sehr viel enger gewesen: diese hier
waren aus nichtrostendem Eisen mit einzelnen Gliedern und
halb starr, wie man sie aus Gold für manche Armbanduhren
herstellt. Sie waren fast zwei Fingerbreit hoch, und an jedem
war ein Ring aus demselben Metall. Niemals waren O die
Lederreifen des vergangenen Jahres so kalt vorgekommen und
hatten bei ihr so sehr das Gefühl erweckt, nun endgültig
angekettet zu sein. Das Eisen hatte dieselbe Farbe und denselben
matten Glanz wie die Eisen an ihrem Schoß. Anne-Marie sagte
ihr in dem Augenblick, als der letzte Haken einschnappte, der
das Halsband schloß, sie dürfe, solange sie in Roissy sei, sie
weder bei Tag noch bei Nacht ablegen, nicht einmal zum Baden.
O stand auf, und Monique nahm sie an der Hand, führte sie vor
den großen dreiteiligen Spiegel und schminkte ihr den Mund mit
einem hellen Rouge, das ein wenig flüssig war und mit dem
Pinsel aufgetragen wurde; als es trocknete, wurde es dunkler.
Mit demselben Rouge malte sie ihr den Warzenhof und die
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Spitzen der Brüste an, und auch die kleinen Lippen zwischen
ihren Schenkeln, und unterstrich damit die Falte ihres Schoßes.
O erfuhr niemals, welches der Trägerstoff für die Farbe war,
aber es war eher ein Färbemittel als Schminke: es verwischte
nicht, wenn man darüberstrich, und Reinigungsmilch, selbst
Alkohol entfernten es nur schwer. Man ließ sie ihr Gesicht
pudern, nachdem es geschminkt war, und Pantoffeln in ihrer
Größe auswählen; als sie aber einen der Spritzflakons vom
Frisiertisch nehmen wollte, rief Anne-Marie: »O, bist du
närrisch? Warum, glaubst du, hat Monique dich geschminkt? Du
weißt genau, daß du nicht das Recht hast, dich jetzt zu berühren,
da du alle Eisen hast.« Sie nahm den Flakon selbst, und im
Spiegel sah O ihre Brüste und Achselhöhlen unter den feinen,
gedrängten Tröpfchen glänzen, als ob sie mit Schweiß bedeckt
seien. Dann brachte Anne-Marie sie wieder zu der Bank am
Frisiertisch und sagte ihr, sie solle ihre Schenkel heben und
öffnen, und Monique packte sie an den Kniekehlen und hielt sie
gespreizt. Die Parfumwolke, die sich in der Höhlung ihres
Schoßes und zwischen ihren Pobacken ausbreitete, brannte so
stark, daß sie stöhnte und sich wand. »Halte sie so, bis es
trocken ist«, sagte Anne-Marie, »und dann suchst du ihr ein
Korsett.« O war erstaunt, welche Freude es ihr machte, wieder
in das schwarze Korsett eingezwängt zu sein. Sie hatte gehorcht
und tief eingeatmet, damit ihre Taille und ihr Bauch sich
verengten, als Anne-Marie es ihr befohlen hatte, während
Monique sie schnürte. Das Korsett reichte bis unter die Brüste,
und durch ein leichtes Gestell wurden sie getrennt und von einer
schmalen Einfassung so gut gestützt, daß sie nach vorn gedrängt
wurden und nun um so natürlicher und zarter wirkten. »Deine
Brüste sind wirklich sehr geeignet für die Reitpeitsche, O«,
sagte Anne-Marie, »du bist dir wohl darüber klar, nicht wahr?« -
»Ja, ich weiß«, sagte O, »aber ich flehe Sie an...« Anne-Marie
lachte. »Ach, darüber entscheide doch nicht ich, aber wenn die
Kunden Verlangen danach haben, dann kannst du immer noch
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flehen.« Ohne daß es ihr richtig bewußt wurde, war sie
bestürzter über das Wort Kunde als über den plötzlichen
Schrecken der Peitsche. Warum Kunden? Aber sie hatte nicht
Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, so erschüttert war sie
von dem, was ihr Anne- Marie, ohne sich etwas dabei zu
denken, eine Minute später enthüllte. Sie stand vor dem Spiegel,
hatte ihre Pantöffelchen an den Füßen und die Taille in das
Korsett eingezwängt. Monique trat auf sie zu und hatte über dem
Arm einen Rock und ein Mieder aus schwerer gelber Seide, mit
grauen Ranken durchwirkt. »Nein, nein«, rief Anne-Marie, »erst
ihre Uniform.« - »Was für eine Uniform?« fragte O. »Dieselbe,
die Monique trägt, das siehst du doch«, sagte Anne-Marie.
Monique trug ein Kleid, das deutlich denselben Schnitt hatte wie
die langen Kleider, die O kannte, das aber zweifellos durch das
Material strenger wirkte, einen sehr dunklen, blaugrauen
Wollstoff, mit einem Fichu, das gleichzeitig die Schultern, die
Brust und den Kopf bedeckte. Als O ein solches Kleid
angezogen worden war und sie sich neben Monique im Spiegel
sah, verstand sie, warum sie so erstaunt gewesen war, als sie
Monique gesehen hatte: es war eine Tracht, die an die
Verurteilten der Frauengefängnisse oder an die Dienerinnen in
Nonnenklöstern denken ließ. Aber nicht, wenn man genau
hinschaute. Der weite, bauschige Rock, mit Taft in derselben
Farbe gefüttert, war in großen, nicht eingebügelten Kellerfalten
an einem fadengeraden Gurtband festgenäht, das auf das Korsett
aufgeknöpft wurde, genau wie bei festlichen Abendkleidern.
Aber obwohl der Rock geschlossen aussah, war er in der Mitte
des Rückens von der Taille bis zu den Füßen offen. Wenn man
nicht gerade an der einen oder anderen Seite an ihm zog, fiel es
gar nicht auf. O merkte es erst, als er ihr angezogen wurde, und
hatte es bei Monique nicht gesehen. Das Mieder, das auf dem
Rücken geknöpft und über dem Rock getragen wurde, hatte
kurze, ausgezackte Schöße, die den Beginn der Falten eine
Handbreit überdeckten. Durch Abnäher und zwei elastische
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Keile war es eng anliegend. Die Ärmel waren angeschnitten,
nicht eingesetzt, und hatten auf der Oberseite eine Naht, die die
Schulternaht verlängerte und am Ellbogen in einem sehr breiten,
ausgebauchten Schrägstreifen endete. Ein ebensolcher
Schrägstreifen umrandete das Dekollete, das genau dem
Ausschnitt des Korsetts entsprach. Aber ein großer viereckiger
Schal aus schwarzer Spitze, dessen einer Zipfel, der den Kopf
bedeckte, bis zur Mitte der Stirn herabhing, und dessen anderer
Zipfel bis zu den Schulterblättern reichte, wurde mit vier
Druckknöpfen gehalten, zwei auf der Schulternaht und zwei am
Schrägstreifen des Dekolletes in Höhe des Brustansatzes,
zwischen denen sich die beiden letzten Zipfel überkreuzten und
von einer langen Stahlnadel auf dem Korselett festgehalten
wurden. Die über die Haare gelegte und durch einen Kamm
befestigte Spitze umrahmte das Gesicht und verhüllte die Brüste
ganz, war aber so schmiegsam und durchsichtig, daß man den
Warzenhof ahnte und begriff, daß sie unter dem Fichu frei
waren. Im übrigen brauchte man nur die Nadel herauszuziehen,
damit sie ganz nackt waren, ebenso wie man hinten bloß die
beiden Seiten des Rocks auseinanderzuschlagen brauchte, damit
die Kruppe nackt war. Ehe Monique ihr die Tracht raffte, zeigte
sie O, daß zwei Bänder, die die beiden Bahnen anhoben und die
auf der Vorderseite der Taille verknotet wurden, es einfach
machten, sie offen zu halten. Das war der Augenblick, in dem
Anne-Marie den Kernpunkt der von O gestellten Frage
beantwortete. »Das ist die Uniform der Gemeinschaft«, sagte
sie. »Du brauchtest sie bisher nicht, weil du durch deinen
Geliebten auf seine eigene Rechnung hierher gebracht worden
warst. Damals gehörtest du nicht zur Gemeinschaft.« -»Aber«,
sagte O, »das verstehe ich nicht. Ich war doch wie die anderen
Mädchen, jeder konnte...« - »Jeder konnte mit dir schlafen?
Selbstverständlich. Aber das geschah, weil dein Geliebter dabei
Lust empfand, und es ging nur ihn etwas an. Jetzt ist es anders.
Sir Stephen hat dich der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt;
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ja, jeder wird mit dir schlafen können, doch das geht das Haus
an. Du wirst dafür bezahlt.« - »Bezahlt!« unterbrach O sie.
»Aber Sir Stephen...« Anne-Marie ließ sie nicht aussprechen.
»Hör mal zu, O, das reicht jetzt. Wenn Sir Stephen will, daß du
gegen Geld mit Männern schläfst, dann steht ihm das frei,
glaube ich. Dich geht das nichts an. Schlafe und schweige. Was
das übrige betrifft, was du sonst zu tun hast, so wirst du mit
Noelle zusammenarbeiten, die es dir erklären soll.«
Das Mittagessen in Anne-Maries Boudoir war seltsam. Ein
Diener hatte es auf einem Tisch mit Wärmeplatte gebracht.
Monique in ihrer Uniform hatte serviert, nachdem sie die vier
Gedecke hingelegt hatte: das von Anne-Marie, das von O, das
von Noelle und das ihre. Vorher hatte O noch verschiedene
Kleider anprobiert. Anne-Marie ließ für sie das Kleid in Grau
und Gelb beiseite legen, das sie an diesem Tage tragen sollte,
dann ein blaues, ein weiteres in einem matten Blau, grünmeliert,
und schließlich ein sehr enges Kleid aus Jersey-Plissee, das vorn
von der Taille an offen war. Es war dunkelviolett, und Os
bleicher Schoß, durch die Ringe beschwert und so nackt, war
selbst dann zu sehen, wenn sie sich nicht bewegte, ebenso wie
ihre entblößten Brüste. In das Zimmer, das O bewohnen sollte
und das mit dem von Noelle verbunden war, hatte der Diener
alle beiseite gelegten Kleider mit Ausnahme des gelben
gebracht. Die übrigen sollte Monique wieder in der
Kleiderkammer abliefern. O sah, wie Noelle, die ihr
gegenübersaß, lachte, weil das schwarze Roßhaar ihres
Stuhlsitzes sie kitzelte, sie sah Anne-Marie an, die drauf und
dran war, ärgerlich zu werden, und Monique, die ihre
Aufmerksamkeit dem Servieren zuwandte; zweimal, als
Monique aufstand, sah O, daß Anne-Marie, an der sie rechts
vorbeiging, mit der Hand in den Schlitz ihres Rocks griff.
Monique blieb stehen, und O erriet an der leichten Beugung
ihres Körpers, daß sie sich der Hand hingab, die in ihr wühlte.
»Warum hat er mir nichts gesagt?« wiederholte sich O immer
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wieder, »warum nur?« Und einmal glaubte sie, Sir Stephen habe
sie ganz einfach aufgegeben, nach Roissy geschickt, Roissy zur
Verfügung gestellt, wie Anne-Marie sich ausdrückte, und dann
wieder glaubte sie das Gegenteil, daß er sie um so mehr
begehre; also hatte Anne-Marie recht, daß das, was er wollte, sie
nichts anging, und ebenso wenig die Gründe, warum er es
wollte; es genügte, daß es sein Wille sei. Und an diesem Punkt
fing alles wieder von vorn an: »Warum hat er es nicht gesagt?
Warum nur?« Und was soll man tun, um zu verhindern, daß die
Tränen wieder fließen, was soll man tun, damit es wenigstens
niemand sieht? Noelle sah es. Sie lächelte O lieb an und machte:
nein, nein! mit dem Finger. O lächelte zurück und wischte sich
die Augen mit beiden Fäusten, wie gescholtene Kinder es tun:
sie hatte keine Serviette, und sie war nackt. Zum Glück sah
Anne-Marie, die Monique veranlaßt hatte, die Nadel ihres
Fichus herauszuziehen, und nun die braunen Spitzen ihrer
Brüste streichelte, O nicht an; sie erspähte in Moniques Gesicht
das Aufkeimen der Lust, und während sie sie liebkoste, fragte
sie sie aus: wieviel Männer seit dem Vorabend in ihren Körper
eingedrungen seien, wer sie waren, ob sie sich ihnen ebenso gut
geöffnet habe, wie sie sich jetzt öffne? Bei diesem letzten Wort
rief Anne-Marie Noelle und O, und ohne Monique loszulassen,
bedeutete sie ihnen, sie sollten die Bahnen von Moniques Kleid
hochheben und befestigen. Monique hatte gebräunte Lenden und
zarte, unversehrte Schenkel. Mit tonloser Stimme hatte sie jede
Frage beantwortet: fünf Männer hatten sie besessen, drei davon
kannte sie nicht; sie nannte die Namen der beiden anderen. Ja,
sie habe sich so gut geöffnet, wie sie konnte. Anne-Marie bog
sie nach vorn und ließ die beiden anderen Mädchen sehen, wie
leicht sie abwechselnd in Moniques Schoß und in ihre Lenden
die beiden längsten Finger ihrer Hand einführte. Jedesmal
verschloß sich Monique wieder vor ihnen und stöhnte dabei:
man sah, wie sich ihre Hinterbacken zusammenzogen.
Schließlich schrie sie regelrecht, die Hände vor ihren Brüsten
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verkrampft, den Kopf unter dem Spitzenschleier auf die Schulter
zurückgebogen, die Augen geschlossen. Anne-Marie ließ sie
gehen.
Erst nach Mitternacht wurde O am Abend ihres ersten Tages
in ihr Zimmer geführt und dort angekettet. Am Nachmittag war
sie in der Bibliothek geblieben, angetan mit ihrem schönen
Kleid in Gelb und Grau, mit Taft in demselben Gelb gefüttert,
das sie in beide Arme nahm, um es hochzuheben, als man ihr
sagte, sie solle sich schürzen; Noelle, die das gleiche Kleid in
Rot trug, war bei ihr, und zwei andere blonde Mädchen, deren
Namen Noelle ihr erst sagte, als sie abends allein waren: das
Schweigegebot in Gegenwart eines Mannes, was immer er auch
war, Gebieter oder Diener, galt unbedingt. Es war genau drei
Uhr, als die vier Mädchen den leeren Raum betraten, dessen
Fenster weit offenstanden. Es war mild, die Sonne schien auf die
Mauer, die rechtwinklig zum Hauptgebäude verlief, der
Widerschein erhellte mit einem indirekten Licht eine der mit
Efeu bewachsenen Wände. O hatte sich getäuscht; der Raum
war nicht leer: ein Diener hielt Wache an einer Tür. O wußte,
daß sie ihn nicht ansehen durfte, aber sie konnte es sich nicht
verkneifen, hütete sich allerdings, die Augen höher als bis zu
seinem Gürtel zu heben, und wurde wieder von der Panik und
der Faszination gepackt, die sie ein Jahr zuvor empfunden hatte:
nein, sie hatte nichts vergessen, und dennoch war es schlimmer
als in ihrer Erinnerung, dieses Geschlecht, so frei in einem
Beutel und so sichtbar zwischen den Beinen der schwarzen
Strumpfhose, wie man es in den Archiven auf Bildern aus dem
16. Jahrhundert sieht - und die Riemen der Peitsche, die er im
Gürtel stecken hatte. Am Fuß der Sessel standen Schemel, O saß
auf einem davon nach dem Beispiel der drei anderen Mädchen,
ihr Kleid ausgebreitet um sich herum. Und so, von unten, sah
sie, genau vor sich, den reglosen Mann. Das Schweigen war so
bedrückend, daß O nicht einmal wagte, ihr Kleid zu bewegen:
die Seide knisterte so laut. Sie stieß einen Schrei aus, als sie
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plötzlich ein Geräusch hörte: ein brünetter, stämmiger junger
Mann im Reitanzug, einen Reitstock in der Hand, kleine
vergoldete Sporen an den Stiefeln, war hereingekommen, indem
er einfach über die Fensterbank gestiegen war. »Ein hübsches
Bild«, sagte er, »ihr seid sehr brav, habt ihr keine Liebhaber?
Seit einer Viertelstunde beobachte ich euch schon durch das
Fenster. Aber die Schöne in Gelb«, fügte er hinzu und strich mit
dem Ende seines Reitstocks über Os Brüste, die erschauerte, »du
bist nicht so brav.« O stand auf. In diesem Augenblick kam
Monique herein, das Kleid aus mauve Satin bis über den Schoß
geschürzt, wo ein Dreieck aus schwarzem Vlies den
Ausgangspunkt der langen Schenkel anzeigte, die O nur von
hinten gesehen hatte. Ihr folgten zwei Männer. O erkannte den
ersten wieder: es war derjenige, der ihr im vergangenen Jahr die
Regeln von Roissy dargelegt hatte. Er erkannte sie auch und
lächelte ihr zu. »Sie kennen sie?« fragte der junge Mann. »Ja«,
antwortete der andere, »sie heißt O. Sie ist für Sir Stephen
gezeichnet, der sie von René R. übernommen hat. Im vorigen
Jahr ist sie ein paar Wochen hiergeblieben, Sie waren damals
nicht da. Wenn Sie sie wollen, Franck...« - »Na, ich weiß nicht«,
sagte Franck. »Aber Sie wissen nicht, was Ihre O gemacht hat in
der Viertelstunde, in der ich sie beobachtet habe und sie mich
nicht sah. Ununterbrochen hat sie José angeschaut, aber nicht
höher als bis zum Gürtel.« Die drei Männer lachten. Franck
packte O an der Brustspitze und zog sie zu sich. »Antworte, du
kleine Nutte, worauf hast du Lust? Auf die Peitsche von José
oder seinen Schwanz?«. Puterrot vor brennender Scham, verlor
O jeden Maßstab für das, was erlaubt und was verboten war,
fuhr zurück, riß sich von den Händen des jungen Mannes los
und schrie: »Lassen Sie mich, lassen Sie mich!« Er fing sie
wieder ein, als sie gegen einen Sessel getaumelt war, und
brachte sie zurück. »Du darfst nicht weglaufen«, sagte er, »die
Peitsche wird dir José sofort verabfolgen.« Ah, nicht stöhnen,
nicht flehen, nicht um Gnade und Verzeihung bitten! Aber sie
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stöhnte und weinte und bat um Gnade, wand sich, um den
Schlägen auszuweichen, versuchte, Francks Hände zu küssen,
der sie hielt, während der Diener sie peitschte. Eins der blonden
Mädchen und Noelle hoben sie auf und ließen ihr den Rock
wieder herunter. »Jetzt werde ich sie mitnehmen«, sagte Franck,
»meine Meinung werde ich Ihnen dann gleich sagen.« Aber als
sie ihm in sein Zimmer gefolgt war und nackt in seinem Bett
lag, sah er sie lange an, und ehe er sich neben sie legte, sagte er:
»Verzeih, O, aber hat dich dein Geliebter auch peitschen
lassen?« - »Ja«, sagte O, dann zögerte sie. »Ja, sprich«, sagte er.
»Er beleidigt mich nicht«, sagte O. »Bist du sicher?« fragte
Franck. »Hat er dich niemals Nutte genannt?« O schüttelte den
Kopf, um nein zu sagen, und im selben Augenblick wußte sie,
daß sie log: Sir Stephen hatte sie sehr wohl als Nutte bezeichnet,
als er in dem Séparé bei La Pérouse von ihr sprach und sie den
beiden Engländern auslieferte und verlangte, daß sie während
des Essens ihre mißhandelten Brüste entblößte. Sie schaute auf
und sah Francks Augen auf sich gerichtet, dunkelblau, sanft, fast
mitleidig; er hatte verstanden, daß sie log. Sie murmelte und
antwortete damit auf das, was er nicht gesagt hatte: »Wenn er es
tut, dann hat er recht.« Er küßte sie auf den Mund. »Liebst du
ihn so sehr?« fragte er. »Ja«, antwortete O. Darauf sagte Franck
nichts mehr. Er liebkoste sie lange mit den Lippen in der Tiefe
ihres Schoßes, bis sie keuchte und ihr der Atem stockte.
Nachdem er dann in sie eingedrungen war, vertauschte er den
Schoß mit den Lenden und rief sie leise: »O.« O spürte, wie sie
sich zusammenzog um diesen Pfahl aus Fleisch, der sie ausfüllte
und verbrannte. Er ergoß sich in sie und schlief dann plötzlich
ein, sie an sich drückend, die Hände auf ihren Brüsten, seine
Knie in ihre Kniekehlen gepreßt. Es war kühl. O zog das Laken
und die Decke hoch und schlief auch ein. Der Tag ging zur
Neige, als sie aufwachten. Seit wieviel Monaten war dies das
erste Mal, daß O so lange in den Armen eines Mannes
geschlafen hatte? Alle, und vor allem Sir Stephen, gingen mit
-230-
ihr ins Bett, dann ließen sie sie allein oder schickten sie weg.
Und dieser hier, der sie eben erst so brutal behandelt hatte und
jetzt neben ihren Knien saß, fragte sie scherzend, wie Hamlet
Ophelia (Ophelia wegen O), ob er sich in ihren Schoß betten
könne. Den Kopf an ihren Leib gelegt, betrachtete er ihre Eisen,
die ihm über die Schulter fielen, von allen Seiten. Er knipste die
Nachttischlampe an, um sie besser sehen zu können, las laut den
Namen von Sir Stephen, der auf der Scheibe stand, und als er
den Reitstock und die Peitsche bemerkte, die kreuzweise über
dem Namen eingraviert waren, fragte er O, was Sir Stephen am
liebsten verwende, den Stock oder die Peitsche. O antwortete
nicht. »Antworte, Kleines«, sagte er zärtlich. »Ich weiß es
nicht«, sagte O, »beide. Aber bei Norah war es immer die
Peitsche.« - »Wer ist Norah?« Seine Stimme klang so
ungezwungen, so vertraulich, er erweckte so sehr den Eindruck,
daß es selbstverständlich sei, ihm zu antworten, daß es genau so
sei, als ob man sich selbst antworte, als ob man laut mit sich
selbst rede, daß O antwortete, ohne darüber nachzudenken.
»Seine Dienerin«, sagte sie. »Also war es richtig, daß ich dich
durch José peitschen ließ.« - »Ja«, sagte O dann. »Und von dir«,
fragte der junge Mann, »was hat er da am liebsten?« Er wartete,
O antwortete nicht. »Ich weiß es«, sagte er. »Liebkose mich
auch mit dem Mund, O, ich bitte dich drum.« Und er rutschte
hinauf, bis er über ihr war, und sie liebkoste ihn. Dann nahm er
sie mit beiden Händen um die Taille, um ihr beim Aufstehen zu
helfen, sagte »fein, fein, fein«, küßte ihre Brüste und schnürte
ihr das Korsett. O ließ es geschehen, ohne ihm auch nur zu
danken, betroffen von der Freundlichkeit, besänftigt: er hatte
von Sir Stephen gesprochen. Als er ihr schließlich sagte, ehe er
nach einem Diener klingelte, um sie zurückzubringen, nachdem
sie ihr Kleid wieder angezogen hatte: »Ich werde dich morgen
wieder kommen lassen, O, aber ich werde dich selbst schlagen«,
da lächelte sie, weil er hinzufügte: »Ich werde dich schlagen wie
er.«
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Abends erfuhr O von Noelle, daß die Diener zwar die
Mädchen in den Gemeinschaftsräumen nicht anrühren durften,
mit Ausnahme des Refektoriums, wo sie zu befehlen hatten, daß
die Mädchen aber überall dort (doch nur dort) ihrer Willkür
preisgegeben waren, wohin ihr Dienst sie rief: in ihrem Zimmer,
wenn sie dort allein waren, in den Umkleideräumen, notfalls auf
den Korridoren oder in den Vestibülen. Der Zufall wollte es, daß
es José war, der auf Francks Klingelzeichen hin kam. Er war
jung, groß und kräftig; das von Natur aus arrogante Wesen der
Spanier paßte zu seinem maurischen Gesicht. O wurde wieder
von einer entsetzlichen Scham gepackt, als sie ihm auf
klappernden Pantöffelchen den großen Korridor entlang folgte;
nicht, weil er sie gepeitscht hatte, sondern weil sie sicher war,
daß er glaubte, was Franck gesagt hatte, und er nicht daran
zweifelte, daß sie ihn begehrte. Sie konnte den Gedanken an das,
was ihr eines Tages ein Kolonialoffizier von maurischen
Soldaten erzählt, nicht vertreiben: wenn sie können, dann tun sie
den ganzen Tag nichts als Frauen beschlafen. José hatte noch
nicht ze hn Schritte getan, als er sich tatsächlich umdrehte, und
bei der ersten besten Bank, die er an die Wand schob, damit sie
bequemer sei, O packte und auf den Rücken legte. Er besaß sie
in aller Muße, und O, wütend über sich selbst, aber aufgewühlt
wie von einer Eisenstange, konnte ihrem Stöhnen nicht Einhalt
gebieten. »Du bist zufrieden«, sagte er, »das gefällt dir wohl?«
Seine weißen Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht. O schloß
die Augen, um sein Lächeln nicht zu sehen. Aber er beugte sich
über sie und na hm ihre Zunge. Warum zitterte O bei dem
Gedanken, daß Francks Tür sich öffnen könnte?
Im Umkleideraum im Erdgeschoß, wohin José sie dann
brachte, fand O Noelle, die ihren Rock hochhielt, während ein
Mädchen in Uniform, aber ohne Fichu, sie duschte. O hockte
sich wie sie auf den türkischen Sitz neben dem ihren. Als das
Wasser ganz aus ihr herausgeflossen war, wurde sie von
demselben Mädchen einen Augenblick eingeseift, dann mit dem
-232-
Wasserstrahl abgespült, der durch einen Fingerdruck auf eine
Feder aus einem metallenen Spiralschlauch sprudelte; der
Schlauch endete in einer dünnen Kanüle aus Hartgummi. Der
Strahl war sanft, das Wasser aber sehr kalt, noch kälter, schien
es ihr, als sie spürte, wie es sich in die Tiefe ihrer Lenden, dann
ihres Schoßes ergoß. Mußte sie denn so lange duschen, erst die
Lenden und dann das Innere der Schenkel und die Spalte ihres
Schoßes? Bei ihrem ersten Aufenthalt in Roissy hatte sie nicht
einmal von der Existenz der Umkleideräume gewußt. Außerdem
war sie nie in anderen Zimmern außer ihrem eigenen gewesen.
»Ach, O, jedesmal, wenn man hinaufgeht«, sagte ihr Noelle, als
sie sie fragen konnte, »wird man geduscht, wenn man wieder
herunterkommt.« - »Aber warum so lange und so kalt?« - »Ich
mag das gern«, sagte Noelle. »Man ist ganz frisch hinterher und
wieder schön eng.« Das Mädchen, das die Aufsicht hatte, trug
ihnen beiden dann Parfüm und Rouge auf. Sie schminkten sich
und bürsteten sich die Haare. Das Parfüm erwärmte O ein
bißchen. Noelle nahm sie an der Hand. Sie besaß die Schönheit
der Irinnen oder der Frauen von La Rochelle mit sehr schwarzen
Haaren, weißer Haut und blauen Augen. Sie war nicht größer als
O, aber ihre Schultern waren schmal und ihr Kopf ganz klein,
ihre Brüste klein und spitz, ihre Hüften breit und rund. Ihre
Stupsnase und die schwellenden Lippen, die immer halb
geöffnet waren, verliehen ihr einen heiteren Ausdruck. Aber sie
war wirklich fröhlich; wenn sie irgendwo eintrat, hätte man
immer gedacht, daß sie zu einem Fest käme. Ihre Munterkeit
hatte etwas Entwaffnendes. Sie bot sich mit einem so
zauberhaften Lächeln an, sie hob mit solcher Beflissenheit ihre
Röcke, um ihr schönes, weißes Hinterteil zu entblößen, daß sie
selten ernstlich geschlagen wurde: »nur so viel, wie nötig ist«,
sagte sie zu O, »aber mir steht es nicht, gezeichnet zu werden.«
Als sie wieder in den Salon kamen, wo die Lampen angezündet
waren, konnte O sowohl Noelles Grazie als auch den Erfolg
bewundern, den diese Grazie erzielte. Die drei Männer, die auf
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den Ledersesseln saßen - zwei mit zwei blonden Mädchen zu
ihren Füßen, und beim dritten Monique, die die Männer gar
nicht beachteten (eins der Mädchen war die Madeleine vom
vergangenen Jahr) - schauten sich um und erkannten Noelle.
Einer der beiden rief sie sofort zu sich und sagte: »Komm und
gib mir deine hübschen Brüste.« Sie beugte sich über den
Sessel, die Hände auf den Lehnen, die Brüste genau in Höhe des
Mundes des Mannes, ohne die geringste Hemmung, offenbar
glücklich, ihm zu gefallen. Es war ein Mann in den Vierzigern,
kahlköpfig, Sanguiniker, O sah seinen roten Nacken, der zwei
Wülste über dem Kragen seines Jacketts bildete, und dachte an
den falschen Deutschen, dem Sir Stephen sie erst am vorigen
Abend ausgeliefert hatte; er sah ihm ähnlich. Der Mann, der bei
Monique gesessen hatte, ging hinter Noelle vorbei und fuhr ihr
mit der Hand über die Lenden. »Sie erlauben, Pierre?« sagte er
zu dem ersten. »Noelle müßte man um Erlaubnis bitten«,
antwortete er und fügte hinzu: »Aber es ist nicht der Mühe wert,
nicht wahr, Noelle?« -»Nein«, sagte Noelle. O betrachtete sie:
sie war hinreißend, wie sie Kopf und Hals nach hinten bog, um
ihre Brüste besser zu präsentieren, und ein hohles Kreuz machte,
um ihr Hinterteil besser darzubieten. War es wegen des
Vergnügens, das es ihr bereitete, sich ansehen zu lassen, daß sie
solch Begehren erweckte? Der Gefährte von Monique hatte ihr
ein Zeichen gegeben, ihm die Kleider zu öffnen, und O sah zu,
wie er sich zwischen Noelles Schenkeln hochreckte. Schließlich
nahmen die drei Männer sie nacheinander, rosig und schwarz in
der Tiefe ihrer Schenkel, heiter und weiß wie Milch in ihrem
wirbelnden roten Kleid. Und sofort war sie es und O - »die
Kleine, da sie bei ihr ist«, sagte der, der Pierre hieß - die sie
einstimmig auswählten, als ein Diener kam und fragte, ob man
zwei Mädchen entbehren könne, um sie in die Bar zu schicken.
»Man darf sie nicht arbeitslos werden lassen«, sagte Pierre.
Es gab drei Gittertüren in Roissy. Der Teil des Gebäudes, in
den man nur gelangen konnte, wenn man eine der drei
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Gittertüren durchschritt, wurde nicht ohne Kinderei die große
Klausur genannt. Hier hatten nur die Genossen oder, einfacher
gesagt, die Klubmitglieder, Zutritt. Hier lagen im Erdgeschoß
rechter Hand ein großes Vestibül (zu dem eine der Gittertüren
führte, die größte), die Bibliothek, ein Salon, ein Rauchzimmer,
ein Umkleideraum und linker Hand das Refektorium der
Mädchen und daneben ein Zimmer, das den Dienern vorbehalten
war. Einige Zimmer im Erdgeschoß wurden von den Mädchen
bewohnt, die von Klubmitgliedern hergebracht worden waren,
wie O von René. Die anderen Zimmer in den Stockwerken
waren für die Mitglieder, die sich in Roissy aufhielten. Innerhalb
der Klausur durften die Mädchen nur in Begleitung
umhergehen; sie waren zu absolutem Schweigen verpflichtet,
selbst untereinander, und mußten die Augen gesenkt halten; stets
waren ihre Brüste nackt und meistens auch der Rock vorn oder
hinten hochgeschlagen. Man verfügte nach Belieben über die
Mädchen. Wie immer man sich ihrer bediente, was immer man
von ihnen forderte, es kostete nicht mehr. Man konnte dreimal
im Jahr kommen oder dreimal in der Woche, eine Stunde oder
vierzehn Tage hier bleiben, ein Mädchen nur ausziehen oder es
bis aufs Blut peitschen, der jährliche Mitgliedsbeitrag war
derselbe. Der Aufenthalt wurde wie in einem Hotel berechnet.
Die zweite Gittertür trennte von diesem zentralen Teil des
Gebäudes einen Flügel, der die kleine Klausur genannt wurde.
In seiner Verlängerung lagen die Wirtschaftsgebäude, wo Anne-
Marie wohnte. In der kleinen Klausur logierten die Mädchen der
eige ntlichen Gemeinschaft, und zwar sozusagen in
Doppelzimmern, denn sie waren durch eine halbe Trennwand
unterteilt; an diese Wand stießen zu beiden Seiten die
Kopfenden der Betten. Es waren gewöhnliche Betten, nicht ein
mit Pelz bedeckter Divan wie in dem Zimmer, in dem O das
erste Mal untergebracht gewesen war. Die beiden Zimmer hatten
jeweils ein Bad und eine gemeinsame Garderobe. Die Türen
ließen sich nicht abschließen, und die Klubmitglieder konnten
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im Laufe der Nacht, die die Mädchen angekettet verbrachten,
jederzeit hereinkommen. Aber abgesehen von dem Anketten gab
es keine bindende Vorschrift. Jenseits der dritten Gittertür, die,
wenn man vor der Hauptgittertür stand, linker Hand lag - die
zweite rechter Hand -, befand sich der frei zugängliche und
gleichsam öffentliche Teil von Roissy: ein Restaurant, eine Bar,
kleine Salons im Erdgeschoß, und in den Stockwerken die
Zimmer. Die Klubmitglieder konnten in der Bar und im
Restaurant ihre Gäste empfangen, ohne daß diese ein
Eintrittsgeld bezahlen mußten. Aber jedermann oder annähernd
jedermann konnte sich einen »vorläufigen Ausweis« ausstellen
lassen, der für zwei Besuche galt und sehr teuer war. Man
erwarb damit lediglich das Recht, das auch den Gästen
eingeräumt wurde, in der Bar zu trinken, das Mittag- oder
Abendessen zu verzehren, ein Zimmer zu nehmen und sich ein
Mädchen heraufkommen zu lassen, und alles wurde gesondert in
Rechnung gestellt. Im Restaurant und in der Bar gab es einen
Oberkellner und einen Barmixer und einige Kellner - die
Küchenräume lagen im Souterrain -, aber die Mädchen
bedienten an den Tischen. Im Restaurant trugen sie die Uniform.
In der Bar - angetan mit seidenen Abendkleidern, einer
Spitzenmantille ähnlich der Mantille der Uniform, die das Haar,
die Schultern und die Brust bedeckte hielten sie sich nur auf, um
darauf zu warten, daß man sie wähle. Das Restaurant und die
Bar deckten normalerweise ihre Unkosten, das Hotel auch. Das
Geld, das die Mädchen verdienten, wurde nach festgelegten
Sätzen geteilt: so und so viel für Roissy, so und so viel für das
Mädchen. Der Preis war nicht für alle gleich: O erfuhr, daß sie
das Doppelte bezahlt bekommen würde, weil sie offiziell einem
Klubmitglied gehörte und Eisen und ein Zeichen trug. Bei zwei
anderen Mädchen verhielt es sich genau so, eine davon war die
kleine, rundliche Rothaarige mit der weißen Haut, die sie bei
Anne- Marie gesehen hatte. Ein Mädchen peitschen kostete
extra, sie durch einen Diener peitschen lassen ebenso. Die
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Rechnungen wurden im Büro des Hotels bezahlt, Trinkgelder
direkt ausgehändigt. Die unmittelbare Nähe von Paris, das
fürstliche und dennoch diskrete Aussehen der Gebäude, die
komfortable Einrichtung und die Vorzüglichkeit des
Restaurants, das Theatralische an der Kostümierung der
Mädchen und die Anwesenheit der Diener, die Gefahrlosigkeit
und Ungezwungenheit des Geschlechtsverkehrs, schließlich und
vor allem das, was man über die Vorgänge hinter den
Gittertüren der Klausur wußte, all das trug Roissy zahlreiche
Kunden ein, die fast ausschließlich Geschäftsleute waren, und
unter ihnen ebenso viel Ausländer wie Franzosen. Das
öffentliche Roissy existierte ebenso wenig wie das heimliche
Roissy: Country Club war eine Bezeichnung, die niemanden
täuschte, aber es kam häufig vor, daß der Mann mit den grauen
Schläfen, der als der Hausherr von Roissy galt, aber nur der
Verwalter war, das eine oder andere Mädchen über einen sich
nur kurz hier aufhaltenden Gast ausfragte - abgesehen davon,
daß Pässe oder Ausweise vorgelegt werden mußten (es wurde
hoch und heilig versichert, daß man die Kennummern nicht
notierte), um einen »vorläufigen Ausweis« zu erhalten - kurz
und gut, Roissy wurde offiziell ignoriert, offiziös geduldet.
Einer der Gründe dafür war zweifellos (außer jenen, auf die die
erwähnte Überwachung schließen läßt), daß es niemals
Beschwerden wegen venerischer Ansteckung noch Ärgernisse
mit Schwangerschaften und Abtreibungen gegeben hatte. O
hatte sich immer gefragt, wie sich die Mädchen, wenn sie
manchmal mit zehn Männern pro Tag schliefen, die keinerlei
Behinderung duldeten, vor Schwangerschaften schützten. Alle
konnten nicht wie sie vom Zufall begünstigt sein; eine
Verlagerung, die das Risiko praktisch ausschloß. »Man kann
dem Zufall nachhelfen, O«, sagte Anne-Marie, als sie ihr die
Frage stellte. Woraus sie schloß, daß Anne-Marie, die Ärztin
war, die Mädchen von Roissy heimlich operiert hatte. Bei keiner
von ihnen bemerkte man jemals das bange Aussehen von
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Frauen, bei denen sich die Regel verspätet. »Ach, das ist gar
nicht schlimm, und man ist beruhigt, weißt du«, sagte Noelle
eines Tages, »aber ich kann es dir nicht erklären, ich bin
eingeschläfert worden.« O vermutete, daß es verboten war,
darüber zu sprechen.
Sich vor Ansteckung zu schützen war schwieriger: die
Tabletten, die man sich auflösen ließ, die prophylaktischen
Maßnahmen, die Duschen. Die größte Ansteckungsgefahr war
am Mund: das Rouge, das das Rissigwerden der Lippen
verhinderte, trug dazu bei, diese Gefahr zu verringern.
Außerdem untersuchte Anne-Marie die Mädchen jeden Tag. Sie
wurden gepflegt, notfalls isoliert - in Zimmern, die unter ihrer
Wohnung lagen, bis sie geheilt waren. Die Mädchen, die von
ihrem Geliebten hergebracht worden waren, unterlagen dieser
Pflege und diesen Zwangsmaßnahmen nicht: es ging auf ihr
Risiko, und außerdem kamen sie aus der großen Klausur nicht
heraus. Was die anderen betraf, so vermochte O nie ganz zu
begreifen, wovon es abhing, in welchem Ausmaß sie innerhalb
der Gitter und in welchem Ausmaß sie außerhalb eingesetzt
wurde. Einesteils gab es einen festgelegten Dienstplan für das,
was in Uniform zu erledigen war; so und so viele Tage Dienst
im Restaurant; desgleichen, in Abendkleidern, so und so viele
Nachmittage oder so und so viele Abende in der Bar anwesend
zu sein. Indessen wurden die Bar und das Restaurant sowohl von
Gästen als auch von den Klubmitgliedern aufgesucht, und nichts
hinderte die letzteren, ein Mädchen zu nehmen und wieder in
den Bereich der Gittertüren zu bringen. Andererseits schien es
ganz nach Lust und Laune zu gehen: ein Beispiel dafür war die
Tatsache, daß, als ein Diene r kam, um zwei Mädchen für die
Bar aufzufordern, Noelle und O dazu bestimmt wurden, und
nicht Monique oder Madeleine.
Als O Noelle folgte und zum erstenmal die Bar betrat, alle
beide in Mantille, fiel ihr auf, wie ähnlich dieser Raum der
Bibliothek war, aus der sie gerade kamen: dieselben
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Abmessungen, dieselbe Holzverkleidung, dieselben Sessel. Die
hübsche kleine Rothaarige, die wie O Eisen trug und epiliert war
und die O einmal bei Anne-Marie mit einem so verwunderten
Vergnügen gepeitscht hatte, kauerte, in grauen Satin gekleidet,
auf einem hohen Barhocker und lachte mit zwei Männern. Als
sie O sah, sprang sie herunter, um sie zu umarmen, faßte sie um
die Taille und kam mit ihr zurück. »Das ist O«, sagte sie,
»wollen Sie sie einladen? Sie werden keine bessere finden.«
Und durch den schwarzen Tüll küßte sie eine von Os
Brustspitzen. »Sie verraten Ihre Namen nicht«, sagte sie zu O,
»aber sie sehen nett aus, findest du nicht?« Nett - nein, das war
lächerlich. Sie sahen zugleich verlegen und ordinär aus, und ihr
dritter Aperitif hatte nicht ausgereicht, ihnen Selbstvertrauen
einzuflößen. Als O ihr Glas von der Theke nehmen wollte,
streifte ihr Arm das Knie des rechts von ihr Sitzenden: er faßte
nach ihrem beringten Handgelenk und fragte, warum sie alle
eiserne Armbänder trügen. »Als ob sie das nicht wüßten!« rief
Yvonne. »Das macht nichts. Wir erklären es ihnen beim Essen.
Los, kommt.« Dann sah sie, daß sich der Mann, der gefragt
hatte, als er von seinem Hocker herunterkletterte, bemühte, dem
anderen ein Zeichen zu geben, und sagte zu O: »Gib ihm schnell
die Hand, dann kann er nicht sagen, daß du ihm nicht gefällst.«
Im Restaurant nahmen sie zu viert einen Tisch. Die drei Männer,
die Noelle beschlafen hatten, aßen zusammen an einem
benachbarten Tisch. Noelle war, nachdem O sie verlassen hatte,
fünf Minuten später durch die Tür verschwunden, die zu den
Zimmern führte, gefolgt von einem Mann, der wie ein feister
Syrer aussah. Franck kam gerade in dem Augenblick, als
Yvonne und O, die keinen Likör getrunken hatten, darauf
warteten, daß die Männer mit ihrem Cognac fertig würden. Er
winkte O unauffällig zu und setzte sich allein in die Nähe eines
Fensters. Aber O, die ihn etwas schräg von der Seite sah,
bemerkte, daß er sofort, als das Mädchen, das ihn bedienen
sollte, an seinen Tisch trat, mit der Hand in den Schlitz ihres
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Rocks gefahren war. Das war im Restaurant oder in der Bar,
vorausgesetzt, es geschah diskret, die einzige Freiheit, die man
sich herausnehmen durfte. Schließlich kam der Moment, an dem
Yvonne fragte: »Wollen wir hinaufgehen?« Ein Hotelpage
öffnete die beiden nebeneinander liegenden Zimmer, wies auf
das Telefon und die Klingel hin und schloß die Tür. Ohne daß
sie darum gebeten worden wäre, nahm O ihre Mantille ab und
ging auf ihren Kunden zu, um ihm ihre Brüste darzubieten. Er
saß auf einem Stuhl; der dreiteilige Spiegel, der in allen
Zimmern an einer Seitenwand befestigt war, reflektierte sein
Bild, und O, die ganz angezogen zwischen seinen Knien stand
und sich vorbeugte, um es ihm bequemer zu machen, wunderte
sich, daß sie es ganz natürlich fand, diesem Unbekannten ihre
Brust hinzustrecken. Seit dem Morgen waren vier Männer, wie
Anne-Marie sich ausdrückte, in ihren Körper eingedrungen: Sir
Stephen, der Fahrer des Wagens, Franck und der Diener José.
Dieser hier würde der fünfte sein: dieselbe Zahl wie Monique.
Aber dieser würde bezahlen. Er sagte ihr, sie solle sich
ausziehen, und als er sie im Korsett sah, hieß er sie innehalten.
Ihre Eisen (von denen Yvonne nicht gesprochen hatte, als sie, da
sie nichts weiter gefragt, wurde, erklärte: »unsere Armbänder
sind dazu da, uns anzuketten, wenn wir gepeitscht werden«),
ihre Eisen verblüfften ihn, und ebenso die beiden Wege, die sich
ihm boten, als er O, die rücklings auf der Bettkante lag,
unterhalb der Kniekehlen packte. Kaum hatte er sich aus ihr
zurückgezogen, da sagte er: »Wenn du lieb bist, gebe ich dir ein
gutes Trinkgeld.« Sie kniete sich hin. Er ging, ehe sie wieder
angezogen war, und ließ eine Handvoll Scheine auf dem
Kaminsims: ein Drittel von dem, was sie im Monat im Studio in
der Rue Royale verdiente. Sie wusch sich, zog ihr Kleid wieder
an, steckte die gefalteten Geldscheine unter ihr Korsett in die
Höhlung zwischen ihren Brüsten und ging hinunter. Im übrigen
hatte sie sich getäuscht, als sie annahm, sie habe dieselbe Zahl
erreicht wie Monique: sie wurde, kaum daß sie in die Bar
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gekommen war, von einem weiteren Kunden erwählt, wieder in
ein Zimmer geführt und ein sechstes Mal genommen.
Im Dunkeln, angekettet an dem Haken über ihrem Bett - wie
damals in dem Zimmer vom vergangenen Jahr, von dem sie
nicht wußte, wer es jetzt bewohnte - als sie im Dunkeln lag und
nicht schlafen konnte, fragte sie sich zum hundertsten Male,
warum jeder beliebige, ob sie nun dabei Lust empfand oder
nicht, durch die Tatsache, daß er in sie eindrang oder sie nur mit
der Hand öffnete oder sie schlug oder sogar bloß nackt auszog,
die Macht hatte, sie sich Untertan zu machen. Von der anderen
Seite der Trennwand, die dünn wie eine spanische Wand war
und nicht länger als die Breite des Betts und der Nachttische,
hörte sie, wie Noelle sich bewegte, die auch nicht schlief. Sie
rief sie. Ob Noelle sich auch so unterworfen vorkomme, so
besiegt und geknechtet wie sie, sobald man sie berühre? Noelle
war entrüstet. Unterworfen, geknechtet? Sie tat, was nötig war,
das war alles. Und besiegt? Warum besiegt? O sei sehr
schwierig. Noelle fand es schmeichelhaft, wie Männer vor ihr
steif wurden, manchmal fand sie es angenehm und immer
amüsant, für sie die Beine oder den Mund zu öffnen. »Selbst bei
dem Syrer heute abend?« fragte O. »Welchem Syrer?« sagte
Noelle. »Diesem schwarzhaarigen, krausköpfigen mit dem
gewaltigen Bauch, mit dem du hinaufgegangen bist, als wir in
die Bar kamen.« Man kann es also vergessen, sagte sich O. Aber
nein, Noelle antwortete: »Oh, wenn du den nackt gesehen
hättest: ein fettes Schwein.« - »Siehst du wohl«, sagte O. - »Ach
nein«, erwiderte Noelle, »was macht das schon. Er hat mich eine
halbe Stunde lang geleckt, weil er in meinen Hintern wollte, ich
auf allen Vieren natürlich. Er bezahlt gut, weißt du.« Auch O
war gut bezahlt worden, das Geld lag in der Schublade eines der
Nachttische. »Noelle«, sagte O, »wenn man dich peitscht,
findest du das auch noch amüsant?« - »Ja, ein bißchen, und ich
werde immer nur ein bißchen gepeitscht.« O hätte fast gesagt:
»Du hast Glück«, aber dann merkte sie, daß sie ganz und gar
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nicht glaubte, daß das Glück sei. Sie wollte Noelle fragen,
warum sie immer nur ein bißchen gepeitscht werde, und was sie
von den Ketten halte, und ob die Diener - aber Noelle drehte
sich im Bett um und ächzte: »Ach, bin ich müde! Mach nicht so
viel Gerede, O, schlafe.« Sie sagte nichts mehr.
Am Morgen kam um zehn Uhr ein Diener, um ihnen die
Ketten abzunehmen. Wenn das Bad genommen, die Toilette
gemacht, die Untersuchung durch Anne-Marie vorbei war,
sofern man nicht Dienst in den Zimmern der großen Klausur
hatte, und in diesem Fall mußten die Mädchen sofort ihre
Uniform anziehen, stand es den Mädchen frei, sich anzuziehen
oder nicht, bis es Zeit war, daß diejenigen, die an der Reihe
waren, ins Restaurant oder in die Bar gingen und die anderen ins
Refektorium. Aber diejenigen, die ins Refektorium gingen,
zogen sich nicht an: wozu, wenn man dort ja doch nackt sein
mußte? In einer Anrichte auf der Etage konnte man frühstücken.
Die Türen blieben zum Korridor offen, und es war erlaubt, von
einem zum anderen zu gehen. Nur O, Yvonne und das dritte
Mädchen, das wie sie Eisen trug, Julienne, wurden vormittags
gerufen, um gepeitscht zu werden. Die Peitsche wurde ihnen der
Reihe nach auf dem Etagenpodest verabfolgt, über das
Treppengeländer gebeugt und angebunden, niemals heftig
genug, um sie zu zeichnen, immer lange genug, um ihnen
Schreie, Flehen und manchmal Tränen zu entlocken.
Am ersten Morgen fiel O, nachdem sie losgebunden worden
war, stöhnend auf ihr Bett, so brannten ihre Lenden noch. Noelle
nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. Ihre Freundlichkeit
enthielt eine Spur Verachtung. Warum hatte sie sich
bereitgefunden, die Eisen zu tragen? O gab bereitwillig zu, daß
sie glücklich darüber sei, und daß ihr Geliebter sie jeden Tag
peitsche. »Dann bist du ja dran gewöhnt«, sagte Noelle.
»Beklage dich nicht, es würde dir fehlen.« - »Vielleicht«, sagte
O. »Und ich beklage mich auch nicht. Aber gewöhnen, ach nein,
gewöhnen kann ich mich nicht daran...«. »Na, du wirst es
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müssen, denn es wäre seltsam, wenn du hier nur einmal am Tag
gepeitscht würdest. Bei Mädchen wie dir sehen die Männer
sofort, daß es darum gemacht wird. Deine Ringe am Schoß,
deine Brandzeichen... ganz zu schweigen von dem, was auf
deiner Karteikarte stehen wird.« - »Auf meiner Karteikarte?«
fragte O. »Was für eine Karteikarte, was willst du damit sagen?«
- »Du hast deine Karteikarte noch nicht, aber beruhige dich, das
wird draufstehen, wenn du sie bekommst.«
Als O drei Tage später bei Anne-Marie zum Mittagessen war,
fragte sie sie nach der Karteikarte, und Anne- Marie erklärte ihr
die Sache bereitwillig. »Ich warte noch auf deine Photos; auf die
Rückseite der Karteikarte, die mir Sir Stephen schicken wird,
werden nicht Auskünfte über dich persönlich eingetragen, ich
meine, nicht deine Maße, deine Personenbeschreibung, dein
Alter, nein, sondern deine Besonderheiten und deine
Verwendung... Ach, das läßt sich immer in zwei Zeilen
zusammenfassen, und ich weiß, was er sagen wird.« Die Photos
von O waren eines Vormittags im Dachgeschoß des rechten
Flügels aufgenommen worden in einem Studio, das demjenigen
ganz ähnlich war, in dem sie gearbeitet hatte. O war geschminkt
worden, wie sie die Mannequins in jener Zeit geschminkt hatte,
die ihr weiter zurückzuliegen schien als ihre Kindheit. Sie war in
ihrer Uniform photographiert worden, in ihrem langen gelben
Kleid, sie war mit hochgerafftem Kleid photographiert worden,
sie war nackt, von vorn, von hinten und im Profil photographiert
worden: stehend, liegend, halb rücklings auf einem Tisch und
die Beine geöffnet, gebückt und die Kruppe gespannt, auf den
Knien und mit gefesselten Händen. Ob alle diese Bilder
aufgehoben werden? »Ja«, sagte Anne-Marie. »Sie kommen in
dein Dossier. Von den besten werden Abzüge für die Kunden
gemacht.« Als Anne-Marie sie ihr am übernächsten Tag zeigte,
war sie entsetzt; dabei waren sie hübsch; nicht eins, das nicht in
den Alben hätte aufgenommen werden können, die mehr oder
weniger verstohlen an den Kiosken verkauft wurden. Aber das
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einzige, von dem O den Eindruck hatte, daß man sie darauf
erkennen könne, war ein Photo, auf dem sie nackt war, von vorn
aufgenommen, an eine Tischkante gelehnt, die Hände unter den
Lenden, die Knie gespreizt, ihre Eisen gut sichtbar zwischen den
Schenkeln und die Spalte ihres Schoßes ebenso deutlich wie ihr
leicht geöffneter Mund. Sie blickte geradeaus, das Gesicht
versunken und verstört. Sie täuschte sich wohl nicht, wenn sie
sich wiedererkannte. »Vor allem dieses«, sagte Anne-Marie,
»wird weitergegeben. Du kannst dir die Rückseite ansehen, oder
lieber nicht, ich werde dir erst die Karteikarte von Sir Stephen
zeigen.« Sie stand auf, öffnete die Schublade eines Sekretärs
und reichte O eine kleine Karte, auf der in roter Tinte in Sir
Stephens Handschrift ihr Name stand: O, und der Vermerk:
»Eisen, Brandmale. Mund gut gedrillt.« Darunter und
unterstrichen: »Zu peitschen.« - »Dreh jetzt das Photo um«,
sagte Anne-Marie. Der ganze Text war auf die Rückseite des
Photos übertragen worden. Was dort stand, hatte Sir Stephen
jedesmal vor O ausgesprochen, in noch gröberen Ausdrücken,
wenn er sie einem anderen zur Verfügung stellte, und er hatte es
auch nicht vor ihr verheimlicht, wenn er einfach mit seinen
Freunden über sie sprach. O erfuhr, daß die Photos, zwei oder
drei von jedem Mädchen, in den Alben mit losen Blättern
waren, in die jeder in der Bar oder im Restaurant Einblick
nehmen konnte. »Das ist auch das Bild, das Sir Stephen am
besten gefällt«, sagte Anne-Marie, »und dann dieses« (auf dem
O mit geschürztem Rock kniete). »Aber hat er sie denn
gesehen?« rief O. - »Ja, er ist gestern gekommen, er hat die
Karteikarte hier ausgestellt.« - »Aber wann denn gestern?«
fragte O, ganz bleich, und sie spürte, wie sich ihr die Kehle
zuschnürte und die Tränen aufstiegen. »Wann denn, und warum
hat er mich nicht gesehen?« - »Oh, er hat dich gesehen«, sagte
Anne-Marie. »Ich bin gestern mit ihm in die Bibliothek
gegangen, als du da warst. Du warst bei dem Kommandeur. Nur
er und du waren im Raum, aber wir wollten nicht stören.«
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Gestern, gestern nachmittag in der Bibliothek, O auf den Knien,
ihr grünblaues Kleid über die Lenden gerafft... Sie hatte sich
nicht gerührt, als sich die Tür öffnete: sie hatte das Geschlecht
des Kommandeurs im Mund. »Warum weinst du?« fragte Anne-
Marie. »Er hat dich sehr hübsch gefunden. Weine doch nicht, du
kleine Närrin.« Doch O konnte ihre Tränen nicht aufhalten.
»Warum hat er mich nicht gerufen? Ist er gleich wieder
abgefahren, was hat er gemacht, warum hat er mir nichts
gesagt?« stöhnte sie. - »Ach, er muß dir wohl Rechenschaft
ablegen. Ich dachte, er hätte dich besser erzogen. Du
verdientest...« Anne-Marie unterbrach sich: es wurde an ihre Tür
geklopft. Es war jener, der Hausherr von Roissy genannt wurde.
Bisher hatte er von O keine Notiz genommen und sie nicht
angerührt. Aber zweifellos war sie besonders rührend oder
aufreizend, so niedergeschlagen, bleich und nackt, mit feuchtem
Mund und zitternd. Als Anne-Marie sie wegschickte und ihr
befahl, sich anzuziehen, berichtigte er diese Anweisung: »Nein,
sie soll im Flur auf mich warten.«
Als ihr Kummer am größten war, wurde O ein wenig
besänftigt durch einen Umstand, bei dem es schien, als könne
ihr im Grunde nichts davon angenehm sein: es war die Ankunft
des vermeintlichen Deutschen, dem sie schon in Gegenwart von
Sir Stephen mehrmals angehört hatte. Gewiß, er hatte nichts
Einnehmendes: er sah brutal, lüstern und verachtungsvoll aus
und hatte die Hände und die Sprache eines Kutschers. Aber er
sagte O, die er hatte rufen lassen und in der Bar erwartete, daß er
im Auftrag von Sir Stephen komme, und lud sie zum Essen ein.
Gleichzeitig überreichte er ihr einen Briefumschlag. O erinnerte
sich, und das Herz krampfte sich ihr bei diesem Gedanken
zusammen, an den Briefumschlag, den sie an dem Morgen auf
dem Tisch in Sir Stephens Salon gefunden hatte, als sie die erste
Nacht bei ihm verbracht hatte. Sie öffnete den Umschlag: es war
tatsächlich ein Briefchen von Sir Stephen, der ihr schrieb, sie
solle dafür sorgen, daß Carl Lust verspüre, wiederzukommen,
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ebenso wie er ihr auf der Reise eingeschärft hatte, ihn in ihr
Abteil zu locken. Und er dankte ihr dafür. Carl kannte offenbar
den Inhalt des Briefes nicht. Sir Stephen mußte ihm etwas
anderes gesagt haben. O steckte den Bogen wieder in den
Umschlag; als sie ihn ansah - er saß auf einem Barhocker (sie
stand vor ihm) - sagte er mit seiner rauhen und schleppenden
Stimme, die durch die Schwierigkeit, sich auf Französisch
auszudrücken, und seinen germanischen Akzent noch
bedächtiger klang: »Sie werden also gehorchen?« - »Ja«, sagte
O. Oh ja, sie würde gehorchen! Er sollte ruhig glauben, daß sie
ihm gehorchen würde. An Carl lag ihr gar nichts, aber daran,
daß Sir Stephen, auf welche Weise auch immer, sich ihrer für
seine Zwecke bediente, was diese Zwecke auch sein mochten!
Sie sah Carl voll Sanftmut an: wenn sie es fertigbrächte, daß er
Lust verspürt, wiederzukommen - daß Sir Stephen ihn in Paris
festhalten wollte, das zumindest begriff sie, warum, das war ihr
gleichgültig - wenn sie es fertigbrächte, würde Sir Stephen sie
vielleicht belohnen, und vielleicht käme er sogar her.
Sie raffte die raschelnde Seide ihres Kleides zusammen,
lächelte dem Deutschen zu und ging ihm voran ins Restaurant.
Lag es an ihrer Sanftmut, die, wenn sie es wollte, sehr anmutig
war, lag es an ihrem Lächeln, jedenfalls war sie überrascht, wie
schnell das Eis schmolz, unter dem Carls Gesicht erstarrt war.
Er bemühte sich während des Essens, höflich mit ihr zu
plaudern. In einer halben Stunde erfuhr O mehr über ihn, als Sir
Stephen ihr je erzählt hatte: daß er Flame sei, Geschäftsanteile
im belgischen Kongo besitze, daß er drei- oder viermal im Jahr
nach Afrika fliege und die Minen sehr viel Geld abwerfen. »Was
für Minen?« fragte O. Aber er antwortete nicht. Er trank viel
und hatte den Blick bald auf Os Lippen, bald auf ihre Brüste
gerichtet, die sich unter der Spitze bewegten und von denen man
manchmal durch eine Masche - so groß waren die Maschen - die
geschminkte Spitze sah. Im Büro, in das O ihn dann führte,
damit er ein Zimmer bestelle, sagte er: »Lassen Sie mir einen
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Whisky hinaufbringen und einen Stock.« Nachdem er sie
genommen hatte, wie der Syrer Noelle genommen hatte und wie
ja O selbst schon in Gegenwart von Sir Stephen von ihm
genommen worden war, nachdem er sich von ihr hatte streicheln
lassen und als er zum dritten Mal den Reitstock hob und Os
Hände ergriff, die wider Willen flehentlich versuchte, seinen
Arm aufzuhalten, da las O in seinen Augen eine so unbändige
Lust, daß sie wußte, sie habe nicht das mindeste Mitleid von ihm
zu erwarten (was sie auch niemals erhofft hatte), aber sie wußte
auch und vor allem, daß er wiederkommen würde.
Es geschah selten, daß Klubmitglieder oder Gäste, von einer
Frau begleitet, ins Restaurant oder in die Bar gingen, aber dann
und wann geschah es doch. Vorausgesetzt, sie waren in
Begleitung eines Mannes, war Frauen der Eintritt nicht
verboten, nicht einmal das Betreten der Zimmer. Der Mann, der
sie mitbrachte, brauchte auch nicht extra zu bezahlen, nur ihre
Getränke und die Mahlzeiten; auch ihren Namen brauchte er
nicht anzugeben. Der einzige Unterschied, der in dieser
Beziehung zwischen Roissy und einem gewöhnlichen
Stundenhotel bestand, war, daß man zugleich mit dem Zimmer
ein Mädchen nehmen mußte. In dem großen, überheizten Saal,
wo gewaltige Philodendren und Farne an einer der Wände einen
Treibhausgeruch verbreiteten, legten sie ihre Pelzmäntel und
manchmal sogar ihre Kostümjacken ab. Ihr sicheres Auftreten,
das vielleicht ihre Verlegenheit verbarg, ihre Neugier, die sie
mit Unverschämtheit zu bemänteln trachteten, ihr Lächeln, das
sie recht verächtlich zu machen versuchten und das gewiß oft
mit wirklicher Verachtung gepaart war, erregten den Groll der
Mädchen und amüsierten diejenigen der anwesenden Männer,
die Stammgäste in Roissy waren, Mitglieder oder Kunden.
Während der acht Tage, an denen O mittags Dienst im
Restaurant hatte, kamen drei Frauen an verschiedenen Tagen.
Die dritte, die O sah, eine große, blonde, war in Begleitung eines
jungen Mannes, der O schon an der Bar aufgefallen war. Sie
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setzten sich an einen der Tische, die von ihr betreut wurden, in
einer Nische in der Nähe des Fensters. Fast sofort gesellte sich
ein Klubmitglied mit Namen Michel zu ihnen und gab O ein
Zeichen, sie solle kommen. Michel hatte einmal mit O
geschlafen. Als der Mann ihn der jungen Frau vorstellte, hörte
O, wie er hinzufügte: »meine Frau«. Sie trug einen Ehering, mit
kleinen Diamanten besetzt, und einen fast schwarzen Saphir.
Michel verbeugte sich und nahm Platz, und als der Oberkellner
die Bestellung entgege ngenommen hatte, sagte er zu O, die
wartete: »Bring Madame das Album.« Die junge Frau blätterte
mit gleichgültiger Miene in dem Album und wollte zweifellos
Os Bild übergehen und so tun, als erkenne sie sie nicht, als ihr
Mann sagte: »Ach, sieh mal, da ist ja diese hier, sie ist sehr
ähnlich.« Die junge Frau sah O an, ohne zu lächeln. »Wirklich?«
fragte sie. »Blättern Sie die nächste Seite um«, sagte Michel.
»Hast du die Bemerkung gelesen?« fragte ihr Mann. Sie klappte
das Album zu und gab keine Antwort. Aber als O, die den ersten
Gang geholt hatte, zum Tisch zurückkam, sah sie, daß sich die
junge Frau angeregt unterhielt und Michel lachte. Dann
schwiegen sie jedesmal, wenn O in der Nähe war, indes nicht
rasch genug, als sie den Kaffee brachte, denn sie hörte, wie der
Ehemann drängte: »Nun los, entscheide dich.« Michel fügte
etwas hinzu, was O nicht verstand, und die junge Frau zuckte
die Schultern. Im Zimmer zog sie sich nicht aus, mit ihren
knöchernen Händen berührte sie O leicht, die die Klauen eines
großen Vogels auf ihrer Haut zu spüren glaubte, dann sah sie zu,
wie O ihren Mann streichelte und sich ihm hingab. Als sie
gingen und O nackt zurückließen, hatten sie sie nicht
geschlagen, nicht mißhandelt, nicht beleidigt. Sie hatten höflich
mit ihr gesprochen. Niemals hatte sie sich mehr gedemütigt
gefühlt.
»Diese Weiber«, sagte Noelle, die O mit dem Ehepaar hatte
weggehen sehen, sie darüber befragte und dann erfuhr, was
vorgegangen sei und welchen Eindruck O gehabt habe, »diese
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Weiber sind ebensolche Nutten wie wir, das kannst du mir
glauben, sonst würden sie nicht herkommen, aber sie bilden sich
ein, wer weiß was zu sein! Wenn ich könnte, würde ich sie
ohrfeigen.« Diese Ansicht über die Frauen, die als Gäste hier
waren, war beharrlich und einhellig. Wenn indessen Noelle -
und übrigens auch alle anderen Mädchen und O - diejenigen
Mädchen beneideten, die durch ihren Geliebten nach Roissy
gebracht worden waren, dann einzig und allein um des
Interesses willen, das ihr Geliebter ihnen entgegenbrachte, und
ohne den geringsten Groll oder wirkliche Eifersucht. O hatte bei
ihrem ersten Aufenthalt nicht geahnt, welches Verlangen sie bei
diesen Mädchen erweckt haben mußte, das Verlangen, mit ihr zu
reden, ihr zu helfen, zu erfahren, wer sie sei, sie zu umarmen,
diese Mädchen, die sie bei ihrer Ankunft ausgezogen,
gewaschen, frisiert, geschminkt und ihr das Korsett und das
Kleid wieder angezogen hatten, die sich dann Tag für Tag um
sie gekümmert und so vergeblich versucht hatten, mit ihr zu
sprechen, wenn sie sich nicht überwacht glaubten; um so
vergeblicher, als sie niemals versucht hatte, ihnen zu antworten.
Als sie an der Reihe war, den sogenannten Zimmerdienst zu
versehen, das heißt, daß sie sich in Begleitung von Noelle in die
Zimmer der großen Klausur zu begeben hatte, um den dort
untergebrachten Mädchen bei der Toilette zu helfen, war O
dermaßen verwirrt durch diese Art von vervielfältigtem
Abklatsch, durch diese in mehreren Exemplaren vorhandene
Inkarnation dessen, was sie selbst gewesen war und das man ihr
jetzt wieder in die Hände gab, daß sie die Schwelle der roten
Zimmer nie ohne Zittern überschritt. Denn alle diese Zimmer
waren rot. Was sie am meisten betrübte, war, daß es ihr nie
gelang, mit Sicherheit dasjenige wiederzufinden, das einst das
ihre gewesen war. Das dritte? Die große Pappel rauschte vor
dem Fenster. Die bleichen Astern, die sich den ganzen Herbst
über halten würden, blühten, wie es sich gehörte. Es war
September, Tag- und Nachtgleiche. Aber das fünfte Zimmer
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hatte auch seine Pappel und seine Astern. O war mit einem
zierlichen Mädchen beschäftigt, weiß vor der scharlachroten
Tapete, zitternd, ihre Schenkel trugen zum ersten Mal die
violetten Striemen des Reitstocks. Sie hieß Claude. Ihr Geliebter
war ein magerer junger Mann in den Dreißigern, der die Ligende
an den Schultern hielt, wie René O gehalten hatte, und sie voll
Leidenschaft anblickte, als sie ihren flaumigen, brennenden
Schoß einem Mann öffnete, den sie noch nie gesehen hatte und
unter dem sie stöhnte. Noelle wusch sie. O schminkte sie,
schnürte ihr das Korsett, zog ihr das Kleid an. Sie hatte zarte
Brüste mit rosigen Spitzen und runde Knie. Und war stumm und
verstört. Sie und die Mädchen, die gleich ihr den Mitgliedern
gehörten, die sich allein in sie teilten, diese Mädchen, die sich
schweigend hingaben und, sobald man sie als ausreichend bereit
und gedrillt ansah, Roissy verlassen würden, den eisernen Ring
am Finger, um außerhalb von Roissy durch ihren Geliebten
prostituiert zu werden, allein zu seiner Lust, diese Mädchen
waren für die Mädchen, die in Roissy selbst innerhalb der
Gittertüren prostituiert wurden, für Geld und zu Nutz und
Frommen und zum Vergnügen der Klubmitglieder statt eines
einzigen Mannes, der sie liebte - für diese Mädchen waren jene
in den roten Zimmern ein Gegenstand der Neugier und nicht
enden wollender Mutmaßungen. Würden sie nach Roissy
zurückkehren? Würden sie, wenn sie zurückkehrten, in der
großen Klausur eingeschlossen oder, und sei es auch nur für
einige Tage, vom Schweigegebot entbunden und in die
Gemeinschaft aufgenommen werden? Einmal war es
vorgekommen, daß ein Mädchen von ihrem Geliebten sechs
Monate in der Klausur gelassen, dann mitgenommen und
niemals wieder zurückgebracht worden war. O fand aber Jeanne
wieder, die ein Jahr in der Gemeinschaft geblieben, dann
fortgegangen und später wiedergekommen war, Jeanne, die
René vor ihren Augen liebkost hatte und die O so voller
Bewunderung und Neid betrachtet hatte. Geschlagen und
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angekettet wie die anderen, waren die Mädchen der
Gemeinschaft dennoch frei. Nicht insofern frei, als sie nicht
geschlagen würden, wenn sie da waren, aber insofern, als es
ihnen freistand, wegzugehen, wenn sie wollten. Jene, die am
seltensten weggingen, wurden am grausamsten behandelt.
Noelle blieb zwei Monate, war drei Monate fort und kam
wieder, als sie kein Geld mehr hatte. Aber Yvonne und Julienne,
die wie O jeden Tag gepeitscht wurden und zwar, wie Noelle es
vorausgesagt hatte, oft mehrmals an einem Tage, Yvonne,
Julienne und O waren ebenso freiwillige Gefangene wie die
Mädchen in der großen Klausur.
Nachdem sechs Wochen vergangen waren, während derer sie
trotz der tagtäglichen Enttäuschung nicht aufgehört hatte zu
hoffen, daß Sir Stephen kommen werde, merkte O, daß, wenn
die Zahl der Mitglieder, die mehrere Tage hintereinander nach
Roissy kamen oder hier blieben, nicht klein war, etwas
Entsprechendes bei den Kunden vorging. Infolgedessen
bürgerten sich Vorlieben oder Gewohnheiten ein (wie sie sich
auch bei den Dienern einbürgerten, so daß es häufig dasselbe
Mädchen war, das derselbe Diener im Refektorium nahm: O
etwa: sie mußte sich rittlings auf José setzen, der sie mit den
Händen an der Taille und den Lenden hielt, und sie ähnelte, da
sie sich kaum zurücklehnte, der ohnmächtigen Frau der
hinduistischen Statuetten, die der Gott Siva nahm), und O
bemerkte, daß Carl häufig wiederkam: nicht so sehr deswegen
fiel es ihr auf, weil er manchmal vier Tage hintereinander kam
und sie immer für den Abend und gegen neun Uhr anforderte,
sondern deswegen, weil sie jedesmal versuchte, ihn dazu zu
bringen, von Sir Stephen zu sprechen. Er war selten dazu bereit
und erzählte immer eher das, was er, Carl, zu Sir Stephen (in
bezug auf O) gesagt hatte, als was Sir Stephen geantwortet hatte.
Nicht ein einziges Mal ließ er Geld für O da. Nicht, daß ihm
etwa der Brauch unbekannt war. Eines Abends hatte er
zusammen mit O noch ein Mädchen hinaufkommen lassen, das
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zufällig Jeanne war. Er schickte sie sehr rasch wieder weg und
behielt O, aber er schickte sie mit einer Handvoll Geldscheine
weg. Für O nichts. Auch verstand sie nicht, was an einem
Oktoberabend geschah, als er, statt, wie es seine Gewohnheit
war, wegzugehen, ihr sagte, sie solle sich wieder anziehen,
wartete, bis sie fertig war, und ihr ein langes Etui aus blauem
Leder überreichte. O öffnete es: es enthielt eine n Ring, ein
Halsband und zwei Armreifen aus Diamanten. »Du wirst sie an
Stelle derjenigen tragen, die du jetzt hast«, sagte er, »wenn ich
dich mitnehme.« - »Mich mitnehmen?« fragte O. »Wohin? Sie
können mich doch gar nicht mitnehmen.« - »Zuerst werde ich
dich nach Afrika mitnehmen«, sagte er, »und dann nach
Amerika.« - »Aber das können Sie doch nicht«, wiederholte O.
Carl machte eine Handbewegung, als wolle er sie zum
Schweigen bringen: »Ich werde mich mit Sir Stephen einigen
und dich mitnehmen.« - »Aber ich will nicht«, rief O, plötzlich
von Panik ergriffen, »ich will nicht, ich will nicht.« - »Doch, du
wirst wollen«, sagte Carl. Und O dachte: »Ich werde weglaufen,
ach nein, er nicht, ich werde weglaufen.« Das Etui lag offen auf
dem verwühlten Bett, die Schmuckstücke, die O nicht tragen
konnte, schimmerten zwischen den unordentlichen Laken, ein
Vermögen. »Ich werde mit den Diamanten weglaufen«, sagte
sich O und lächelte ihm zu.
Er kam nicht wieder. Zehn Tage später, als sie am frühen
Nachmittag in ihrem gelb grauen Kleid des ersten Tages darauf
wartete, daß ihr ein Diener die kleine Gittertür aufschließe,
damit sie in die Bibliothek gehen könne, hörte sie jemanden
hinter sich rennen und drehte sich um: es war Anne-Marie, die
eine Zeitung in der Hand hielt und sie ihr hinstreckte, so bleich,
wie O sie nie gesehen hatte. »Sieh dir das an«, sagte sie. Os
Herz krampfte sich in der Brust zusammen: auf der ersten Seite
ein verstörtes Gesicht, der Mund halboffen, Augen, die starr
geradeaus sehen: sein Gesicht. Eine Ba lkenüberschrift: »Wer ist
die nackte Frau des Verbrechens von Franchard?« -
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»Alpinisten«, hieß es in dem Artikel, »die in den Schluchten von
Franchard im Wald von Fontainebleau trainierten, haben, durch
das Bellen eines Hundes aufmerksam geworden, im Unterholz
die Leiche eines durch einen Genickschuß getöteten Mannes
entdeckt. Der Unbekannte, der Ausländer zu sein scheint, war
seiner sämtlichen Papiere beraubt worden. Nur eine durch eine
schadhafte Tasche in das Jackenfutter gerutschte Photographie
einer vö llig nackten Frau ist bei ihm gefunden worden, nach
gewissen Anzeichen wahrscheinlich eine Prostituierte, die die
Polizei sucht.« Die nachfolgende Personenbeschreibung nahm O
jeden Zweifel; es war Carl. »Du verstehst, wer das sein kann?«
fragte Anne-Marie. »Oh ja«, sagte O. »Sir Stephen... Man darf
nichts sagen.« - »Doch«, sagte Anne-Marie, »aber du brauchst
nicht zu sagen, daß Sir Stephen dich hierher geschickt hat.
Immerhin kann es sein, daß es bekannt wird.« Als die Polizei
nach Roissy kam, war Carl an Hand der Etiketten in seinem
Anzug und seiner Wäsche durch seinen Schneider und die
Kellner seines Hotels identifiziert worden. O wurde nur
vernommen, um die Ermittlung zu ergänzen, und eigentlich
mehr über Sir Stephen. Man wußte, daß er mit Carl in
Verbind ung stand. Was für Beziehungen waren das? O wußte es
nicht. Nach dreistündiger Vernehmung hatte O immer noch
nichts gesagt und nur versichert, daß sie Sir Stephen seit zwei
Monaten nicht gesehen habe. »Aber fragen Sie ihn doch selbst«,
rief sie schließlich, »und was geht Sie das überhaupt an?« - »Du
hast wohl nicht begriffen, daß dein schöner Freund
wahrscheinlich den Belgier liquidiert hat und darum
verschwunden ist. Aber wenn man es ihm erst nachweist...«
Man wies es ihm nicht nach. Man wußte, daß Carl mit
Bergwerken in Zentralafrika zu tun hatte, in denen seltene
Metalle abgebaut wurden, und nachdem er, ohne dazu berechtigt
zu sein, und gegen beträchtliche Summen (deren Spuren man
auf seinen Bankkonten fand, aber die Beträge waren
abgehoben), die Konzessionen oder ihren Ertrag an ausländische
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Interessenten - vielleicht englische, vielleicht Sir Stephen
verkauft hatte, nahm man an, daß er im Begriff war, Europa zu
verlassen, und daß sich diese Interessenten, da sie sich betrogen
sahen und ihn nicht gerichtlich belangen konnten, gerächt
hatten. Ob man Sir Stephen die Hand auf die Schulter werde
legen können... das hänge davon ab, ob er wiederkommt...
»Du bist jetzt frei, O«, sagte Anne-Marie. »Man kann dir
deine Eisen, das Halsband und die Armreifen abnehmen, die
Male entfernen. Du hast Diamanten, du kannst nach Hause
zurückkehren.« O weinte nicht, sie klagte nicht. Sie gab Anne-
Marie keine Antwort. »Aber wenn du willst«, sagte Anne-Marie
noch, »kannst du hier bleiben.«