Er hielt mir einen Spiegcl vor. wieder sah ich darin die Ein-heit meiner Person in viele Ichs zerfallen, ihre Zahl schien noch gewachsen zu sein. Die Figuren waren aber jctzt sehr klein, so grofi etwa wie handliche Schachfigurcn, und der Spieler nahm mitstillen, sichern Fingergriffen einigc Dut-zend davon und stellte sic neben dem Schachbrett an den Boden. Eintónig sprach er dazu, wie ein Mann, der eine oft gehaltenc Rede oder Lektion wiederholt:
„Die fehlerhafte und Ungliick bringcnde Auffassung, ais sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, daS der Mensch aus einer Menge von Scclen, aus sehr viclen Ichs bestcht. Die scheinbare Einheit der Person in diese vielen Figuren auseinanderzuspalten gilt fur verriickt, die Wissenschaft hat dafiir den Namen Schizophrenie erfunden. Die Wissenschaft hat damit inso-fern recht, ais natiirlich keine Vielheit ohne Fiihrung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppicrung zu bandigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, daC sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslangliche Ordnung der vie-len Unter-Ichs móglich. Dieser Irrtum der Wissenschaft hat manche unangenehme Folgen, sein Wert liegt lediglich darin, dafi die staatlich angestellten Lehrer und Erzieher ihre Arbeit vereinfacht und das Denken und Experimentie-ren crspart sehen. Infolge jenes Irrtums gelten viele Men-schen fiu ,normal‘, ja fur sozial hochwertig, welche unheil-bar verriickt sind, und umgekehrt werden manche fur ver-riickt angesehen, welche Genies sind. Wir erganzen daher die liickenhafte Seelenlehre der Wissenschaft durch den Be-griff, den wir Aufbaukunst nennen. Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, dafi er die Stiicke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstel-len und da(5 er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit ncuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situatio-nen. Sehen Sie!“
Mit den stillen, kiugen Fingern griff er meine Figuren, allc die Greise, Junglinge, Kinder, Frauen, alle die heitern und traurigcn, starken und zartcn, flinken und unbeholfenen Figuren, ordncte sie rasch auf seinem Brett zu einem Spiel, in welchem sic ałsbald zu Gruppcn, Familien, zu Spielen und Kampfcn, zu Freundschaften und Gegnerschaften sich auf bauten, eine Welt im kleinen bildend. Vor meinen entzuck ten Augen liefi er die belebte und doch wohlgeordncte kleine Welt eine Weile sich bewegcn, spielen und kampfcn, Biindnisse schlieBen und Schlachten schlagen, untereinan der werben, heiraten, sich vermehren; es war in der Tat ein vielfiguriges, bewegtcs und spannendes Drama.
Dann strich er mit heiterer Gebarde iiber das Brett, wari alle Figuren sachte um, schob sie auf einen Haufen und baute nachdenklich, ein wahlcrischer Kiinstler, aus denscl-ben Figuren ein ganz neues Spiel auf, mit gańz anderen Gruppierungen, Beziehungen und Verflechtungen. Das zweite Spiel war dem ersten verwandt: es war diesclbe Welt, dasselbe Materiał, aus dem er es aufbaute, aber die Tonart war verandert, das Tempo gewechselt, die Motivc anders betont, die Situationen anders gestellt.
Und so baute der kluge Aufbauer aus den Gestalten, dereń jede ein Stiick meiner selbst war, ein Spiel ums andre auf, alle einander von ferne ahnlich, aller erkennbar ais dersel-ben Welt angehórig, derselben Herkunft verpflichtet, den-noch jedes vóllig neu.
„Dies ist Lebenskunst", sprach er dozierend. „Sie selbst mó-gen kunftig das Spiel Ihres Lebens beliebig weiter gestalten und beleben, verwickeln und bereichern, es liegt in Ihrer Hand. So wie die Verriicktheit, in einem hóhern Sinn, der Anfang aller Weisheit ist, so ist Schizophrenie der Anfang aller Kunst, aller Phantasie. Sogar Gelehrte haben dies schon halb erkannt, wie man zum Beispiel in des Prinzen Wunderhorn nachlesen mag, jenem entziickenden Buch, in welchem die muhevolle und fleiftige Arbeit eines Gelehrten durch die geniale Mitarbeit einer Anzahl von verriicktcn und in Anstalten eingesperrten Kunstlern geadelt wird. -Hier, stecken Sie Ihre Figurchen nur zu sich, das Spiel wird Ihnen noch oft Freude machen. Sie werden die Figur, die heute sich zum unertraglichen Popanz ausgewachsen hat und Ihnen das Spici verdirbt, morgen zur harmlosen Ne-benfigur degradieren. Sie werden das arme liebe Figurchen, das eine Weile zu lauter Pech und Unstcrn verurteilt schien, im nachsten Spiel zur Prinzessin machen. Ich wiin-sche viel Vergniigen, mein Herr.“
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