Lotte H. Eisner
Ich hatte einst ein schönes Vaterland, Memoiren, S. 59
Das Wunderhorn, Heidelberg 1984
Ein Jahr später lernte ich Brecht dann persönlich kennen. Er war zu der Zeit ein grober schüchterner Junge, aber auch stolz, was man ihm leicht als Arroganz auslegte. Mager und ein wenig vom Fleisch gefallen, ein wenig krumm auch, schien er in seinen weiten Kleidern zu schwimmen. Er machte brüske und schlaksige Bewegungen wie ein hungriger junger Hund. Was mir jedoch zuerst an ihm auffiel, das waren seine sehr schönen Hände mit den langen sensiblen Fingern und seine seltsamen tiefliegenden Augen, die einen durchdringend anschauten. Hinter seinen unregelmäßig geschnittenen und zerwühlten Ponyfransen verbarg sich eine klare Stirn. Er hatte schon seine ewige Schiebermütze auf, trug eine wildlederne Jacke, und aus dem Mund hing ihm eine enorme Zigarre. Brecht war sehr schwierig. Seiner Dichtung ähnlich, war er von einem wüsten Zynismus, mit Melancholie getränkt, und liebte es, als hartgesottener Mensch zu gelten. Aber wenn er wollte, konnte er auch sehr liebenswürdig und anziehend sein. Das bekamen seine Schauspieler bei den Proben zu spüren, mit denen er leise und behutsam umging. Bestechend war Brechts Ehrlichkeit. Er schrieb freiwillig von sich: „An mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Und doch war er zuverlässiger als mancher andere, der sich für einen guten Freund hält.