IMRE KERTÉSZ
Ich – ein anderer
ROMAN
Aus dem Ungarischen
von Ilma Rakusa
ROWOHLT TASCHENBUCH VERLAG
2. Auflage Oktober 2002
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, Oktober 1999
Copyright © 1998 by Rowohlt • Berlin Verlag GmbH, Berlin
Die ungarische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel
«Valaki más. A valtozas krónikája» bei Magveto, Budapest
Copyright © 1997 by Imre Kertész
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung Cordula Schmidt / Barbara Hanke
(Foto: The Image Bank)
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3 499 22573 5
In dem ehemaligen Häftling Imre Kertész, dem
«unverbesserlichen Kind von Diktaturen», ist eine
Verwandlung geschehen. Er ist jetzt ständig unterwegs,
lebt immer aus dem Koffer. «Sein Nomadisieren
entzückt und bedrückt ihn zugleich» und hat ihn doch
«zum Leichtsinn eines späten Daseinsglücks
hingelenkt». (Sigrid Löffler, «Die Zeit»)
Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest, wurde 1944
nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald
befreit. Seit 1953 lebt er in Budapest als freier
Schriftsteller und Übersetzer (u. a. von Nietzsche, Freud,
Hofmannsthal). Für seine Romane, Erzählungen und
Theaterstücke wurde er mit mehreren Preisen
ausgezeichnet.
«… denn ich bin es, den ich darstelle.»
Montaigne
«… ich habe nicht existiert, ich bin jemand anderer gewesen
(…) Heute auf einmal bin ich zu dem zurückgekehrt, der ich
bin oder zu sein träume.»
Pessoa
«‹Ich› ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Miturheber
sind.»
I. K.
«Ich ist ein anderer.»
Rimbaud
_____Neunzehnhunderteinundneunzig. Herbst am kalten
Donauufer, die nahe Dämmerung tauchte die in ihrem
lügenhaften Prunk schäbig gewordenen Palais der Pester Seite
in herbes Apfelgrün.
Alles in mir schläft, tief und reglos. Ich rühre in meinen
Gedanken, Gefühlen, als wär’s eine Autoladung lauen Teers.
Warum fühle ich mich so verloren? Offenbar, weil ich
verloren bin.
Alles ist falsch (durch mich, wegen mir: meine Existenz
verfälscht es).
Wenn die Leere (meine innere Leere) Schuldgefühle auslöst,
so geht das womöglich auf unsern Ursprung zurück. Der
Schöpfung ging Beklemmung voraus: der Horror vacui ist
eine ethische Tatsache.
Gestern, auf einer albernen Konferenz mit dem albernen Titel
«Hungarian-jewish coexistence», kam im Vortragssaal ein
älterer Herr auf mich zu; sein Gesicht war teigig und formlos,
sein Haar in Streifen schütter wie ein abgewetztes
Plüschkanapee: kein einziger seiner Gesichtszüge kam mir
bekannt vor. Zu meinem Erstaunen umarmte er mich plötzlich
und stellte sich vor: ein Freund, wir hätten uns fünfunddreißig
Jahre nicht gesehen. Er lebe im Ausland. Er habe von mir
gehört, lese meine Bücher. Meine «Verwandlung» könne er
nicht nachvollziehen. Damals habe er nichts Besonderes an
mir bemerkt, es hätte keinerlei Anzeichen für meine «höheren
Fähigkeiten» gegeben. Ich entschuldigte mich ein wenig für
diese unerwartete Entwicklung, in Wirklichkeit aber wühlten
mich seine Worte auf. Seit je neige ich dazu, mich für einen
«Jedermann» zu halten, der allerdings in einer Hinsicht keine
Anstrengung scheut: wenn es darum geht, klaren Kopf zu
behalten. Was sind meine «höheren Fähigkeiten»? Ich bin der
einzigen Inspiration dieses Landes nicht gefolgt: jenem
permanent verführerischen Sirenengesang, der zum seelischen,
geistigen und physischen Selbstmord verleitet, und das zeugt
von einer gewissen Vitalität. Doch wäre es höchst unbesonnen,
ja verblendet, dieses Minimum als Sieg zu werten. Was nun
hat sich durch die «Wende» gewandelt? Gibt es kein
Ausgeliefertsein mehr? Bin ich von mir selbst erlöst? Man hat
mir nur die conditio minima, meine persönliche Freiheit
zurückgegeben – die Tür zur Zelle, in der ich vierzig Jahre
lang festgehalten wurde, ging, wenn auch quietschend, auf,
und vielleicht genügt das, um mich zu verstören. Man kann die
Freiheit nicht am selben Ort kosten, wo man die Knechtschaft
erduldet hat. Ich müßte weggehen, weit weg von hier. Ich
werde es nicht tun.
Also müßte ich wiedergeboren werden, mich verwandeln –
doch in wen, in was?
Es regnet. An einem Tisch im Kaffeehaus erklärt ein Mann
einer Frau etwas, das sich nicht erklären läßt. Er möchte
aufhören mit den unablässig scheiternden Glücksversuchen. Er
hat genug von der Jagd nach Freude – auf dem Irrweg der
Versprechen, die ins Nichts führen. Nein, keine andere Frau,
Gott behüte. Freiheit. Auftauchen aus dem jahrelangen trüben
Strudel aufeinanderfolgender Beziehungen. Er hat es satt, in
jedem Verhältnis seine eigene Unzulänglichkeit zu erkennen.
Ihm schwebt ein kurzes, intensives, schöpferisches Leben vor.
Treue, mürrische Pflichterfüllung als das nährende Feuer einer
Dauerdepression. Dieses Feuer ist eiskalt, doch lodert darin
große Genugtuung. «Was wußten sie, wer er war»
∗
– niemand
weiß, wer er ist, und er wünscht, daß man ihn mit seinem
Geheimnis allein läßt. Das Gesicht der Frau, während sie ihm
zuhört. Jetzt müßte sie aufstehen, stolz, müßte sich mit
unterdrücktem Schluchzen entfernen. Sie rührt sich nicht. Also
springt der Mann auf, küßt die Frau sachte, rasch auf die
∗
Im Original deutsch
Augen und eilt aus dem Kaffeehaus. Nein, er tut es nicht. Er
winkt den Kellner herbei, zahlt. Sie erheben sich gleichzeitig.
Durch die regennasse Fensterscheibe kann man sehen, wie sie
auf die Straße treten. Der Mann öffnet den Regenschirm. Sie
gehen ein paar Schritte nebeneinander, dann hakt sie ihn unter,
und nach kurzer Unkoordiniertheit sind ihre Schritte im Takt.
Von der Tür her weht ein leichter Luftzug durch den Raum,
wie das flüchtige Gekicher der Vergeblichkeit.
Es regnet. Alte Parteiführer äußern sich im Fernsehen. Sie
«glaubten» an die Partei. Sie «glaubten», daß «Irrtümer»,
«Fehler» passiert seien, aber sie «glaubten» zum Beispiel, daß
«Stalin davon nichts gewußt» habe. Usw. Doch wäre es falsch,
anzunehmen, sie hätten solche Gemeinplätze nicht mit echten
Inhalten, ihren sogenannten «Glauben» nicht mit echten
Gedanken oder Gefühlen verwechselt. Die daraus zu ziehende
Lehre: diese Menschen haben ihr Leben auf einen falschen
Gebrauch der Sprache gebaut. Schlimmer noch, sie haben
diesen falschen Sprachgebrauch zum gültigen Konsens
erhoben und haben bei ihrem Abgang lauter Sprachgeschädigte
zurückgelassen, die nun dringend moralische Soforthilfe
benötigen, da die durch den falschen Sprachgebrauch wertlos
gewordenen, wie Papierfetzen zerfasernden Worte plötzlich
ihre moralischen Verletzungen zu enthüllen scheinen.
Moralische Prothesen klappern, moralische Krücken knarren,
moralische Rollstühle rollen, wohin ich auch blicke. Es geht
nicht darum, eine Epoche wie einen Alptraum zu vergessen:
sie waren ja der Alptraum, also müßten sie sich selber
vergessen, um leben zu können. Woher aber soll man wissen,
ob es nach einem langen Tod möglich, verlockend ist, wieder
zu leben. Ist denn je einer auferstanden – nicht um Wunder zu
verkünden, sondern um einfach weiter so dahinzuleben, im
wesentlichen aus dem gleichen Grund wie zuvor (nämlich
grundlos), und ohne das Ereignis der Auferstehung auch nur
bemerkt zu haben? Ist Lazarus in der Rolle eines Chaplin
denkbar?
Der feuchte, zehrende Wind der Tragödien heult. Die Erde tut
sich auf, der Himmel stürzt ein. Die Menschen verändern sich
jäh, fallen in sich zusammen, altern. Der Hauch der Hölle bläst
ihnen die Farbe vom Gesicht. Graue und weiße Gestalten,
Leichen nähern sich auf den Straßen. Metamorphosen der
Apokalypse. Als ich auf der Vermezó an dem mit Judensternen
vollgekritzelten Standbild von Bela Kun vorbeischlenderte,
begriff ich mit einemmal, daß das, was ich in jungen Jahren für
Feigheit, Dummheit, Blindheit und – im Grunde genommen –
für eine unbegreifliche tragikomische Form von Selbstmord
gehalten hatte, in Wirklichkeit Hilflosigkeit ist, die in Würde
umschlägt. Es liegt eine gewisse Würde darin, daß der Mensch
schließlich den Befehl des Mörders ausführt und mit
Gleichmut erträgt, daß er gebrandmarkt und abgeschlachtet
wird. In der Bequemlichkeit – der Bequemlichkeit der
Opferrolle – liegt etwas Großzügiges. Was mich betrifft, so
ahne ich schon, daß ich an meinem Platz ausharren werde,
höchstens mein Ekel wird zunehmen. Das lange Leben hält
immer mehr Überraschungen für uns bereit – Überraschungen,
mit denen wir uns selber verblüffen.
«Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht,
annehmen»: Rilke. Kafka: «Ich muß viel allein sein. Was ich
geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.» Nietzsche:
«Das Pathos der Distanz…»
Welches ist das richtige Leben? Ein ewiges Geheimnis (für
mich).
Gestern abend im Bett versuchte ich lange und angestrengt,
mir mein Nichtsein vorzustellen. Das subjektive Nichts. Ich
spürte geradezu, wie ich aus meinem Körper herausschlüpfte –
doch damit war das Abenteuer auch schon zu Ende. Kaum
verlasse ich die Hülle, verschwindet der Inhalt; alles hört auf.
Ich bin auf Gedeih und Verderb mit meinem Körper
verbunden, dieser Gemeinplatz ist manchmal fast nicht zu
fassen. Es wäre ein Fehler, zu glauben, mein Leben gehöre
mir. Aber es wäre ein noch größerer Fehler, dieses Leben zu
vernachlässigen, es zugrunde, flötengehen zu lassen. Dieses
Leben wurde mir anvertraut – ich frage nicht, von wem, da ich
die Antwort kenne und auch weiß, daß die Frage falsch gestellt
ist; ich kann mich nur auf mein eigenes, unleugbares Gespür
für Verantwortung verlassen (mein einziges Gespür). Mit
meinem Leben stehe ich in einer Wechselbeziehung. Diese
Beziehung heißt: Ausgeliefertsein. – Soweit wäre alles in
Ordnung. Doch welches Teilchen dieses gespaltenen Lebens
nennt sich «Ich»?
«Ich » ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Miturheber sind.
«Ich ist ein anderer.» (Rimbaud)
«9. IV. 1951. ‹Weißt du, oder glaubst du nur, daß du L. W.
heißt?› Ist das eine sinnvolle Frage?» (Wittgenstein: Über
Gewißheit)
Und was habe ich am 9. April 1951 getan? Vor
einundvierzigeinhalb Jahren? Ich glaube, ich habe in der
MAVAG Eisen- und Maschinenfabrik gearbeitet, als
ausgebooteter Intellektueller. Wußte ich oder glaubte ich nur,
daß ich I. K. heiße?
Weder wußte ich es, noch glaubte ich es. Ich gehorchte
einfach, wenn man mich bei diesem Namen rief.
Immer schon haßte ich meinen Namen. Bereits in meiner
frühen Kindheit haftete zuviel Schmach an ihm.
Um genau zu sein: Ich glaube, ich habe mich vor meinem
Namen gefürchtet. Ein bißchen tue ich es noch heute.
Höre ich meinen Namen oder sehe ich ihn geschrieben, fühle
ich mich gewissermaßen aus dem friedlichen Versteck meiner
Anonymität herausgerissen – identifizieren jedoch werde ich
mich nie mit ihm.
(Tolstoi berauschte sich angeblich schon im Flegelalter an
seinem eigenen Namen, wie ein junger Hund.)
Ich bin nach Wien gekommen, als wollte ich vor meinem
Leben flüchten. Und ich übersetze Wittgenstein (Vermischte
Bemerkungen), als wollte ich vor meinen Aufgaben flüchten.
Milder Winter 1992. Spaziergänge in der frühen Dämmerung.
Der Belvedere-Park. Die Umgebung der Karlskirche, die
Argentinierstraße, mit deren Namen sich ein silbriges
Klingelgeräusch verbindet. Die wohlproportionierten Palais,
ein in einer Toreinfahrt verstecktes geheimnisvolles Geschäft,
wo indonesischer Schmuck, krumme Säbel, exotische Nippes
verkauft werden. Vor Sonnenuntergang (hier kommen mir so
archaische Wörter wie zum Beispiel «Vesper» in den Sinn),
zur Vesperstunde also (wann ist denn Vesperstunde?), schaue
ich noch rasch in den Garten des Palais Schaumburg, auf den
mein Fenster geht. Der herbe Duft der Luft, die spärlichen
Passanten, die Farben des abendlichen Zwielichts, die
Einsamkeit, der leichte Rauchgeruch – alles, alles erinnert an
die langen, gramvollen, traumartigen Nachmittage meiner
Kindheit.
Wo ist die Stadt, die die Stille, die Altertümlichkeit dieses
Wiener Abends wie eine Metapher in mir… heraufbeschwört?
Ich glaube, ich wollte schon immer so leben: in einer
angenehmen Mietwohnung (die nicht mir gehört), zwischen
freundlichen Möbeln (die nicht mir gehören), heimatlos,
unabhängig, mit dem beschäftigt, was sich ergibt (zur Zeit die
Wittgenstein-Übersetzung), ohne schwerwiegende Brotsorgen,
an einem fremden Ort, wo mich Erinnerungen an vertraute,
vielleicht nie gewesene Ereignisse heimsuchen…
Wittgenstein. In Wien stoße ich auf keinerlei Spuren von
ihm. Bei Wittgenstein jedoch stoße ich überall auf Wien. Bis
zur Perversion gesteigerte Genauigkeit; jüdischer Selbsthaß
(hier kann man auf bestem und höchstem Niveau studieren,
wie der Antisemitismus entsteht und funktioniert); generell
unsichere Selbsteinschätzung als verhängnisvolle Folge der
väterlichen und staatlichen Stiefelsohle, wobei diese
Unsicherheit an einem bestimmten Punkt der Verfallskurve
unerwartet fruchtbar und produktiv wird – das Denken als
Versuch, die Oberhand zu gewinnen, das Denken als Rache,
als letzter, rückwärtsgewandter Blick eines Flüchtigen,
verächtlich und luzid.
Mahler sei ein schlechter Komponist. Während ich diesen
Blödsinn übersetze, lege ich die Sechste Symphonie auf.
Thomas Bernhard hat in einem Interview gesagt, Ludwig
Wittgenstein sei – im Unterschied zu seinem Neffen Paul –
«unmusikalisch» gewesen. Aber nicht darum geht es. «Eines
ist, in Gedanken säen, eines, in Gedanken ernten», übersetze
ich aus den Vermischten Bemerkungen: Nun, Wittgenstein war
nicht bereit, Mahlers Gedanken zu ernten, meiner Meinung
nach darum nicht, weil Mahler Jude war. So leicht ist es, ein
Werk zu verkennen. Oder: Sind Werke so fragil? Nein, sie sind
noch viel fragiler. Jedes Verstehen ist Mißverstehen. Können
wir also behaupten, das Mißverständnis halte die Werke am
Leben? Wohl kaum.
Mein erster Wiener Traum, der eine klare, plastische
Erinnerung hinterlassen hat. Ein schlechter, beklemmender,
erniedrigender Traum. Vermutliche Zusammenhänge mit
meiner gestrigen Abendlektüre («Der antisemitische Retter» in
der Zeitschrift
Transit),
ferner mit Wittgensteins
unglücklichem Verhältnis zu seinem eigenen Judentum. Heute
habe ich mich bei einem symptomatischen Übersetzungsfehler
ertappt: Es ist ein Widerspruch zu erwarten – schrieb ich –, ein
solcher Widerspruch, wonach einer das alte ästhetische Gefühl
für seinen Körper behält und die Beule willkommen heißt. (W.
apostrophiert sein Judentum als Beule.) Der korrekte Text
lautet selbstverständlich so: «Es ist ein Widerspruch zu
erwarten, daß einer das alte ästhetische Gefühl für seinen
Körper behalten und die Beule willkommen heißen wird.»
Mein Übersetzungsfehler ist eine offensichtliche Freudsche
Fehlleistung, die bezeugt, was ich von Wittgenstein erwartet
hätte…
Was aber erwarte ich von mir selbst? Und wie soll ich
meinen Traum deuten, der die Sache nur von der Beulenseite
her betrachtet?
Kaum hatte ich mich von dieser Nacht erholt, ging ich heute
morgen – wie übrigens jeden Tag – an der Gedenktafel für
Moritz Schlick vorbei, die an einer Hauswand der Prinz-
Eugen-Straße angebracht ist. Kein gewöhnliches Haus, ein
großes Mietshaus. Die Gedenktafel hat mich schon am ersten
Tag stutzig gemacht, im Zusammenhang mit Wittgenstein.
Außerdem ist es seltsam, hier auf Namen zu stoßen, die in
Budapest bloß abstrakte Begriffe sind. Moritz Schlick wurde
von einem seiner Studenten in der Universitätsaula einfach
abgeknallt. Da das damals (1936) selbst in Österreich nicht
ganz den Anstandsregeln entsprach, wurde der Student zu zehn
Jahren verurteilt; doch schon nach zwei Jahren, anläßlich des
Anschlusses, wurde er rasch (und unter zahlreichen
Entschuldigungen) auf freien Fuß gesetzt. Bei der
Gerichtsverhandlung nannte er als Tatgrund Schlicks «böse
und schädliche» Philosophie (das heißt die Sprachkritik und
den logischen Positivismus, da diese, zusammen mit der
Phänomenologie, äußerst judenverdächtige Dinge sind – zu
Recht: wessen
Interesse
ist denn die Entlarvung
metaphysischen Geschwätzes, auf dem das ideologische Blabla
seinen schiefen Turm erbaut?). – Ich habe keine Ahnung,
warum ich mich jeden Morgen mit dieser Geschichte
herumplage. Schlick wohnte an einem schönen Ort, seine
Fenster gingen auf den Rosengarten des Belvedere. Nebenan
wurde kürzlich ein Kellerlokal eröffnet, fremdartige Männer
mit knarrendem Idiom gehen hier ein und aus, am Sockel des
stolzen Gebäudes prangen verdächtige feuchte Flecken,
gestern morgen mußte ich den Blick rasch von Erbrochenem
abwenden. Seit 1989, das ist nun drei Jahre her, als ich zuletzt
(und zum erstenmal) in Wien gelebt habe, ist die Stadt deutlich
heruntergekommen. Doch warum klage ich darüber wie ein
Wiener Kleinbürger? Offenbar habe ich mit
Identitätsproblemen zu kämpfen; mit wem bin ich solidarisch?
Käme es zur Entscheidung, würden mich die Wiener
Ordnungshüter zweifellos jener Gruppe mit dem knarrenden
Idiom zuordnen, die ich aber nicht mag, weil sie die westliche
Kultur vollkotzt. Fragt sich freilich, ob es die westliche Kultur
überhaupt noch gibt. Nur mit Moritz Schlick darf ich getrost
solidarisch sein; er hat nachgedacht und wurde aus diesem
Grunde erschossen, was letztlich ein angemessenes Schicksal
für einen Philosophen ist.
Wittgenstein: «Das Verständnis der Musik ist eine
Lebensäußerung des Menschen.»
Ich weiß nicht warum, doch verfolgt mich ein ständig
wiederkehrendes Bild, das einer Cellistin des Budapester
Kammerorchesters, die, wenn sie mit dem Bogen heftig über
die Saiten strich, ihren Kopf so schonungslos, so brüsk zur
Seite warf, so schief auf die linke Schulter senkte, als wär’s ein
fremder Gegenstand. Jede Note, jeder einzelne Bogenstrich
schien ein Opfer von ihr zu verlangen, eine Ekstase des
Körpers, die der Körper nicht aufzubringen vermochte, so daß
er den Zuschauer mit dem schmerzlichen Bild ständiger
Unerfülltheit quälte; zu alldem aber erklang klassische,
vollkommen rationale Musik, wenn ich mich recht erinnere,
Bach.
Die vielen damenhaften, feinen und hinfälligen alten Frauen in
Wien. Ich reiche ihnen die Hand, helfe ihnen beim Aussteigen
aus der Straßenbahn, beim Betreten des Fahrdamms. Einige
bedanken sich, andere mustern mich argwöhnisch; nie jedoch
so argwöhnisch, wie ich mich selbst.
Die überaus quälende Frage, mit der sich Wittgenstein
fortwährend herumschlägt: ob das von ihm Zustandegebrachte
etwas «wert» sei oder nicht. Das ist, als würde die Muschel
den Marktwert der Perle abschätzen, während sie sie in der
Tiefe des Meeres absondert; es gilt einzusehen, daß die Natur
dieser Frage sich radikal von derjenigen der Muschel
unterscheidet…
Ein zwischen Begabung und Genialität bestehender –
mitunter unüberbrückbarer – Abgrund.
«Wenn einer nicht lügt, ist er originell genug», habe ich heute
nachmittag übersetzt.
Wen überrascht es, daß die Menschen ihre Gedanken (oder,
wie sie sich auszudrücken belieben, ihre «Überzeugungen»)
scheinbar so leicht ändern? Jede «Überzeugung» ist die Maske
eines bestimmten Menschentyps, und mit welcher
Überzeugung er sich auch maskiert, er bleibt doch immer der
gleiche, tut doch immer das gleiche.
Es stimmt tatsächlich, worauf mich Wittgenstein gebracht
hat: beim religiösen Glauben stimmt vor allem und in erster
Linie der Ausgangspunkt, die Tatsache nämlich, daß die Lage
des Menschen hoffnungslos ist. Ich frage mich: Kann man
auch an die Hoffnungslosigkeit glauben? Denn mir genügt
dieser Glaube; und ich bin nicht hoffnungslos.
Die nie wiederkehrenden, unwiederholbaren Morgen dieses
kalten Wiener Frühlings; genieße ich sie zur Genüge, bin ich
nicht zu dumm, um glücklich zu sein?
Momentaufnahmen des belichtenden Gedächtnisses: auf dem
Stephansplatz läuft eine Frau in Pelzmantel und auffallend
hohen Stöckelschuhen lachend ihrem Freund entgegen – über
unebenes, teilweise schneebedecktes Pflaster.
Ein Paar auf dem nächtlichen Schwarzenbergplatz, fröstelnd
aneinandergeschmiegt, auf die Straßenbahn «D» wartend.
Der Tisch im warmen, duftenden Restaurant,
Kerzenschimmer. Der wichtigtuerische Oberkellner, der
wissen möchte, wer die Wiener Symphoniker im
Musikvereinssaal dirigiert habe, und der den Dirigenten mit
der typisch wienerischen Boshaftigkeit des Eingeweihten
heruntermacht.
Heimweg durch die dunkle Goldeggasse, etwas wankend.
Das grelle Morgenlicht in der Imbißstube der Graf-
Starhemberg-Gasse. Die leichte Irrealität des Lebens, dieser
lockere Humus, auf dem später die Erinnerungen wie
flammender Mohn erblühen.
Die milde Melancholie der Bahnhöfe, zur Zeit der
Dämmerung und der Abschiede. Noch eine abendliche
Aufnahme im Schnellzug: das Profil einer Frau vor weinrotem
Polster.
Am Tag danach: ein Wiener Sonntag. Vormittags
Wittgenstein, mittags Spaziergang nach Hietzing. Der
Hietzinger Friedhof, der gepflegte Garten, die schönen Gräber
(fast hätte ich hinzugefügt: die wohlgenährten Toten). Gleich
gegenüber vom Eingang das monumentale Grabmal von
Dollfuß. Soviel ich weiß, war Dollfuß ein winziger Mann. Am
Rózsadomb, in der feinen und exklusiven Szemlóhegy-Straße,
gab es einmal einen Sommerkindergarten. Jemand – eine Frau
in weißem Kittel – wusch gerade meine Haare, über einem
großen Becken im Garten. Da ertönte ein Name (auf der
Straße? im Garten?): Dollfuß!! Man habe ihn erschossen. Die
Hand hörte auf, meinen Kopf zu reiben, in meinem Mund
sammelte sich prickelnder Seifenschaum. Ich hörte folgende
Worte: «Er ist verblutet. Röchelnd.» An letzteres Wort
erinnere ich mich besonders, weil ich nicht genau verstand,
was es bedeutete. Ich stellte mir eine dicke rote Flüssigkeit vor
– das Blut eines Erwachsenen, also keineswegs jenes fröhliche,
hellrote, salzige Siegeselixier, das aus mir hervorsprudelte,
wenn ich mich schnitt oder hinfiel und mir das Knie
«aufschlug» usw. so eine ominöse, klebrige Masse, in der sich
die Zunge vergeblich zu bewegen versucht; das war für mich
das Wort «Dollfuß», und im Grunde genommen verbindet sich
«röcheln» in meiner Vorstellung noch heute mit diesem
spezifischen Ereignis und dem Geschmack von Seifenschaum.
– Aber wohin ist die Szemlóhegy-Straße entschwunden? Zwar
gehe ich manchmal auf einer Szemlóhegy-Straße spazieren,
doch erinnert diese nicht im entferntesten an jene Szemlóhegy-
Straße, wo ich zwischen den scheckigen, wie Riesenschlangen
sich windenden Wurzeln der alten, von merkwürdigen
Eisengittern umzäunten Platanen hin und wieder Schildkröten
fand, die ich dann zur Wiese am Ende der Straße trug, um sie
stolz ins Gras zu setzen; hier, auf dieser Höhenwiese, war das
letzte zu verteidigende Eckchen der Welt, von hier aus sah ich
über den Rand der Welt hinaus, und dieses Jenseits war eine
lockende, ahnungsvolle Bläue, in die sich meine Kinderaugen
verloren, vernarrten, und in deren Weite ich dort, wo der
Horizont zwischen dem mäandernden Wasserspiegel und dem
glitzernden Himmel verschwamm, bisweilen staunend und
schauernd ein zauberhaftes weißes Schiff entdeckte…
Wittgenstein-Übung: Wenn ich sage, das Wasser sei kalt,
erklärt jeder sofort, es sei kalt, weil Winter sei, weil das
Höhleninnere kälter als… usw.; wenn ich aber sage, ich sei naß
und friere, reicht man mir ein Handtuch – oder auch nicht:
jedenfalls provoziere ich mit der Frage eine Entscheidung. (Ich
denke an den Antisemitismus, das Gerede über ihn.)
Die Welt nicht zu verstehen, bloß weil sie unverständlich sei,
ist Dilettantismus. Wir verstehen die Welt darum nicht, weil
das hienieden nicht unsere Aufgabe ist.
Zuviel Denken macht entweder unglücklich oder mystisch.
Wittgenstein war letzten Endes ein Mystiker, wie Kafka. Nur
arbeitete er mit anderem Material: mit der Logik. Er mußte
Welten zertrümmern, bis unter den Ruinen, wie ein
aufblitzender Edelstein, plötzlich sein Glaube
hervorschimmerte. Ich stelle ihn mir in diesem Augenblick
vor, mit dem Schatz in der Hand: er sieht ihn lange an und
findet keinen Namen dafür. Doch weiß er, daß ein Wunder
passiert, daß er gerettet ist.
Dennoch hat der Schriftsteller vor allem zu befürchten, daß
er, wenn er nichts zu sagen hat, auf einmal geistreich wird.
Ein strahlender März. Vormittag. Harte Farben, blendendes
Licht. Sonnenschein, der durch die Vorhänge des Café Prückel
dringt; die Stille des Kaffeehauses; die diskret raschelnden
Zeitungen, wenn eine Hand sie umblättert; die Menschen mit
ihren langsamen, seltenen Bewegungen, ihrer Sicherheit und
Ruhe; hinter dem Vorhang, auf dem Ring, der gleichsam
lautlos dahinströmende Verkehr; die dienstfertigen, doch nie
aufdringlichen Kellner; mir gegenüber ein sympathischer
Mann mit offenem, porzellanfarbenem Gesicht: ein Literat;
klug, geistreich, unterhaltsam; die Greuel, die apokalyptischen
Phänomene, von denen wir sprechen und die in der sanften
Kaffeehausstille zu einer bedrohlichen Vision in uns
anwachsen. Wir sind uns einig, daß eine unheimliche
Entwicklung ihre Schatten vorauswirft. Die Vorzeichen des
Grauens sind überall und in allem erkennbar. Die rationale
Sprache vermag diese Symptome nicht annähernd zu fassen.
Man muß zur alten Sprache greifen, zur Bibel, die von Satan
weiß und das Weltende kennt. So faseln wir, listig, bequem,
während am Rande meiner Aufmerksamkeit der funkelnde
Himmel, der nahe Frühling und mein süßes Freiheitsgefühl
einen glücklichen Reigen tanzen.
Später (am Nachmittag): urheberrechtliche Probleme im
Zusammenhang mit Wittgenstein (der Verlag, für den ich
übersetze, hat es versäumt, die Rechte einzuholen; der, der sie
besitzt, hat inzwischen jemand anderen mit der Übersetzung
betraut). Plötzlich erscheinen Ursache und Anlaß meines
Wiener Aufenthalts in Frage gestellt. Vielleicht muß ich
vorzeitig nach Hause; bei diesem Gedanken erfaßt mich
überraschend eine fast physischen Schmerz verursachende
Panik und mir kommt, wie eine Vision, dieses Gemälde in den
Sinn: der verlorene Sohn, seine nackten Füße, das Bündel, der
spindeldürre Hund, die zusammengefallene Hütte, kurz: mein
zurückgelassenes Heim.
Vergiß nicht den Traum, der dich wiedergeboren hat.
Vergiß nicht deine Eltern.
Vergiß nicht, daß du im tiefen Traum das von ihnen
empfangene Leben angenommen hast.
Vergiß nicht das Versprechen, das dieses Leben birgt.
Vergiß nicht, daß dieses Versprechen an Bedingungen
geknüpft ist, ja daß du die Einlösung dieses Versprechens
einzig in der Erfüllung seiner Bedingungen suchen mußt.
Du verlangst doch nicht etwa eine Zugabe?
Hitze in Budapest. Gestern abend in der Straßenbahn der
Hund, ein semmelfarbener Dackel. Verzagt kauerte er unter
dem Sitz, zu Füßen seines Herrchens. Seine gramerfüllten
schwarzen Augen schlossen sich ganz langsam. Über seine
ergraute Schnauze liefen zwei Tränen. Das Schlagen der Tür
schreckte ihn auf, er erhob sich schwerfällig, doch herrschte
man ihn an: Sitz! und drückte seinen Schwanz hinunter.
Zwinkernd, apathisch gehorchte er. Die totale Vergeblichkeit
des Seins sprach aus jedem seiner Züge, zugleich aber die
unfreiwillige Geduld einer Verzauberung – als hätte er etwas
anderes zu tun, anderswo, in anderer Gestalt, in einer andern
Zeit, in einem andern Raum, und als würde er sich mit diesem
schrecklichen Irrtum nur abfinden, weil er völlig mürbe
gemacht worden war…
Manchmal taucht in mir die (unbeantwortbare) Frage auf:
Wer, was bin ich, und welches ist meine besondere
Geschichte? Gestern hat mir J. jetzt bei einem neuen Verlag
tätig, erzählt, wie ich 1988, vor vier Jahren, zum Artisjus-
Stipendium gekommen sei. Auch er sei in der Jury gewesen.
Damals hätten sie schon alle im Turnhallengestank des
Spätkadarismus die frische Luft der Wende gewittert.
Gelangweilt hätten sie in der Namensliste der ewig gleichen
Stipendiatsbewerber gestochert, als jemand – J. behauptet, er
erinnere sich nicht mehr, wer – plötzlich meinen Namen «aufs
Tapet gebracht» habe. Es sei still geworden, alle hätten
versucht, vom Gesicht des andern abzulesen, ob es statthaft sei,
so zu provozieren… doch wodurch eigentlich? Außer meinen
zwei Büchern Roman eines Schicksallosen und Fiasko
belastete schließlich nichts mein Sündenregister. Es sei denn
die Anzeigen der Szigligeter Denunzianten, meinen Abscheu
vor dem Regime betreffend. Doch war dieser bloß platonisch
gewesen, an einer Widerstandsbewegung hatte ich nie
teilgenommen, mein Abscheu vor aktivem Widerstand
rivalisierte mit dem vor dem Regime. Ich lebte wie ein Hund,
an meinen einsamen Wahnglauben gekettet, und heulte
höchstens manchmal den Mond an. Ich meinte, niemand lese
meine Sachen, niemand wisse von mir. Sie aber wußten alles
ganz genau, und die kafkaesken Notare führten Buch über
mein Schicksal. Wie eine meiner Romanfiguren sagt: «Wozu
ihn töten? Er geht auch von selbst zugrunde.» So dachten sie.
Meine Person, meine Lebensweise und das daraus
resultierende Werk waren ihnen so selbstverständlich
unannehmbar, daß stillschweigender Konsens herrschte, ohne
daß man mich hätte verurteilen müssen. Ich beobachte mich,
während ich J. zuhöre, und verabscheue, was in mir vorgeht.
Man sollte diese Gefühle nicht analysieren, der Taumel
negativer Genugtuung eint alle bitteren Freuden. Ich bin das
unverbesserliche Kind von Diktaturen, meine Besonderheit ist
das Gebrandmarktsein. Es ist meine unerklärlichste, zugleich
aber wahrhaftigste Erfahrung auf Erden, unter den Menschen.
Dabei glaube ich keinen Moment, ich sei daran unschuldig.
Offen gestanden kenne ich es seit meiner frühen Kindheit.
Unter vier Augen liebten sie mich, in der Öffentlichkeit
verrieten sie mich, und wenn es galt, eine Figur auf dem
Schachbrett zu eliminieren, ließen sie mich eilig fallen.
Anscheinend löste ich diese ambivalenten Gefühle aus, und
vielleicht war in mir tatsächlich eine Art Unschuld – oder
sagen wir lieber Naivität –, die meine Rolle in der Gesellschaft
determinierte. Das Gift der Subalternität hätte mich ohne
weiteres umbringen können, doch das geheimnisvolle
Laboratorium meines Seelenhaushalts machte daraus die
stärkste Würze meines Lebens. Mein Gebrandmarktsein ist
meine Krankheit, zugleich aber der Garant, das Dopingmittel
meiner Vitalität, daraus beziehe ich meine Inspiration, wenn
ich jäh und mit einem verrückten Aufschrei, als hätte ich einen
Anfall erlitten, vom Sein zum Schreiben überwechsle. Das
Gebrandmarktsein ist mein Elend und mein Kapital, doch steht
jetzt zu befürchten, daß ich es immer schwerer ertrage, obwohl
ich es kaum missen mag. Fragt sich, ob ich zu einem normalen
Leben überhaupt noch fähig bin. Vermutlich werde ich diese
Frage nie klar und eindeutig beantworten können, jedenfalls
nicht, solange ich da lebe, wo ich lebe und wo mein
Gebrandmarktsein kein Ende hat, weil es mir wahrscheinlich
längst in Fleisch und Blut übergegangen ist.
In meinem heißen Zimmer lese ich Marai: Was nicht im
Tagebuch steht. Ein interessantes Buch, voll vom wirren
Ressentiment der Nachkriegszeit (das im Tagebuch tatsächlich
fehlt). Den Juden rät es zum Christentum. Dieser Vorschlag ist
schon darum inakzeptabel, weil es auch unter den Christen –
sehe ich mich da genauer um – nur sehr wenige Christen gibt.
Gegen Abend: ungeduldiger Tatendrang, beflügelnder
Wortandrang, grimmiges Glücksgefühl. Ich habe oft
geschwollene Beine, oft Schwindel. Mir gefällt, wie sich mein
Leben langsam abbaut.
Gestern sah ich die fahrenden Ritter unserer Zeit. Nacht, ich
saß mit Albina im Auto von Z. wir kamen aus Miskolc zurück.
Beim Pester Brückenkopf der Árpád-Brücke, inmitten
unbeweglicher Staubwolken, die sich im bläulichen,
irrlichternden Schein der Straßenlampen zum Nebel ballten,
blieben wir vor einer Verkehrsampel hängen. Die Straße war
stickig und verlassen. Da fiel uns die Horde auf, Nibelungen,
die aus der Unterführung auftauchten, acht bis zehn
schwerfällige, sich seltsam bewegende Gestalten in
khakifarbener Kleidung, mit glattrasiertem Schädel, in der
Hand des einen ein langer Holzknüppel (vielleicht der
berühmte Baseballschläger). In stummem Gänsemarsch
trotteten sie durch das jenseitige, neblige Licht, eine traurige,
blutrünstige Gruppe mit geröteten Augen, die – wer weiß, was
für Dünste ausströmend – Jagd auf Menschenfleisch machte.
In ihren tarnfarbenen Hosen sahen sie wie gefleckte Hyänen
aus, die mit trägem, doch ausdauerndem Haß nach einem
Opfer suchen – ohne Gier, eher aus Langeweile, aus
Gewohnheit, aus natürlichem Widerwillen gegen fremdes
Leben. Ich gestehe: Mit eisiger Angst wartete ich darauf, daß
die Ampel auf Grün geschaltet wird, bevor die Razziabande
einen Blick ins Auto wirft und an mir das verhängnisvolle,
untilgbare Zeichen entdeckt. Diese Menschengestalten
verkörperten für mich den reinen Höllenspuk, das «wüste
Land», wo nicht mehr geredet, nur gemordet wird, wo die
Leichen gefleddert und am Straßenrand liegengelassen werden.
Als wäre mir das nackte Naturgesetz erschienen, ein
Naturgesetz ohne Schöpfung und Geburt; und ich dachte, da
müsse sich ein furchtbarer Fehler in die Rechnung
eingeschlichen haben, obwohl ich nicht zu sagen wüßte,
welcher. Wie ich den erschreckenden Verfall dieses Landes,
seine selbstmörderische Paranoia beobachte, erlebe. Wie ich
mich durch die Nationalmannschaft des Hasses und durch
meine eigenen Erinnerungen täglich von ihm entfremde. Wie
meine Gleichgültigkeit ihm gegenüber zunimmt. Wie ich
langsam versuche, mich von ihm zu lösen. Die Sprache – sie
ist das einzige, das mich mit ihm verbindet. Eigenartig. Diese
fremde Sprache, meine Muttersprache, die mir meine Mörder
verstehen hilft. In letzter Zeit heißt es häufig, ich hätte mich
«verändert». Zu meinem Vorteil? Zu meinem Nachteil? Ich
denke, eher zu meinem Vorteil, obwohl man mir das zu
verübeln scheint. V. warf mir neulich an den Kopf, ich hätte
«meine Tiefe verloren», redete nur noch von
urheberrechtlichen Fragen und von materiellen Dingen. Wie
denn das? Sollten das Sklaventum und der Diktatur-
Infantilismus meine «Tiefe» erzeugt haben? Die Tatsache, daß
ich vierzig Jahre lang gegen meine Natur, überhaupt gegen die
Natur gelebt habe? Das ist nicht ausgeschlossen… Ich stelle
meine Veränderung selber fest, allerdings anders. Ich grenze
mich deutlicher von meiner Umgebung ab, scheine mich von
ihr abzuheben, und obwohl ich mich starr an sie anklammere,
versinke ich mit ihr nicht in den Tiefen der Depression, wie
bisher; das aber wird bereits als Provokation empfunden, ja als
Mangel an Solidarität, als Verrat. Und wenn irgendwo das
winzige, blinkende Flämmchen einer möglichen Chance für
mich aufleuchtet, wird das auch schon als Unglücksbotschaft,
als Beginn meines Untergangs gedeutet. Es ist dies ein
besonderer Moment, eine besondere Station, bevor die Wege
auseinanderlaufen, und falls ich die Anstrengung nicht scheue,
kann ich einige mystische Details wie bunte Blumen am
Wegrand pflücken und hier zu einem Strauß zusammenbinden.
Vor allem zeitliche Koinzidenzen: Das Galeerentagebuch
entstand und erschien zur selben Zeit, als die Veränderung
einer begrenzten Lebensform (meiner) mit einer
umfassenderen Wende (der des Landes) zusammenfiel. Ich
weiß, daß diese Koinzidenz nicht besonders für mich spricht:
Während im großen Weltstudio der Schleier fällt und eine
Ruinenlandschaft enthüllt, bekommt im hintersten Winkel ein
aus den Ruinen geborgenes Gebäude (vielleicht baufällig und
bei weitem nicht perfekt) ein neues Dach; eine solche
Kreativität – ich weiß und fühle es – ist unentschuldbar. Ich
würde schon gern weitergehen, doch etwas in mir zittert, eine
unüberwindliche Nostalgie. Ich bange um meine Einsamkeit,
um die vertrauten Stunden der Lektüre und der Kasteiung, um
die verborgene Energiequelle des Alleinseins, um diese alte,
mir zur zweiten Haut gewordene, gewissermaßen trotzige
Lebensform, um die Art, wie ich mich ständig den
zerstörerischen Kräften entgegenstellte, hart auf hart, wie eine
Pfeilspitze auf dem Bogen… Das war ein großes Abenteuer,
eine Freude, die ich mit vorsätzlicher Freudlosigkeit erlebte,
und nun blicke ich darauf zurück wie ein Greis auf seine
Jugend.
___Ende Oktober in Leverkühns Feldafing – ich blättere im
Doktor Faustus, und natürlich heißt Leverkühns Dorf nicht
Feldafing, sondern Pfeiffering.
Egal.
Ich wohne jetzt seit drei Monaten hier, über dem Starnberger
See. Fahre weg und kehre wieder zurück, wie ein routinierter
Untermieter; komme ich im Dunkeln heim, spätabends, finde
ich die Schleichwege, wie ein nächtliches Tier die Wechsel.
Flüchtige Eindrücke aus Frankfurt. Die Buchmesse: Ich
kriege einen Messestempel auf meine zu Markte getragene
Haut gedrückt; von meinen eigenen Lesungen bekomme ich
selber kaum etwas mit, warte nur immer, daß die Hülle fällt
(habe aber keine Ahnung, die Hülle wovon); angenehme
Absurditäten. Der Taxichauffeur, der mich zum Bahnhof fährt;
sein vielversprechendes, vornehmexotisches Profil, das jedoch
von innerem Verfall bedroht ist – ob Zähne oder Lebensweise,
es geht um eine allgemeine Vernachlässigung. In einem
Pidgin-Deutsch beklagt er sich über die zunehmende
Fremdenfeindlichkeit der Deutschen. Plötzlich kurbelt er die
Scheibe herunter und ruft seinem Kollegen zu, der am
Taxistand dahindöst: «Hallo, General!», dann erzählt er mir
lachend, sein Kollege sei General in Sadats Armee gewesen,
bevor er in Frankfurt Taxichauffeur geworden sei (vermutlich
ist mein exotischer Chauffeur selber auch Ägypter). Er redet
viel, und wie jeder geschädigte Angehörige einer geschädigten
Nation beginnt er gleich zu politisieren, das heißt, auf die
Juden zu schimpfen. Ich schweige wie ein gleichgültiger
Passagier, der zum Bahnhof muß und das Ziel nicht mit dem
dazugehörigen Mittel verwechselt. Ich gebe ihm ein
großzügiges Trinkgeld, verheimliche aber, daß es von einem
Juden stammt. – Berlin, die wechselvolle Vereinigung der
geteilten Stadt. Überhaupt verblüfft, daß die Vereinigung gar
nicht erwünscht ist. Eine antikreative Erfahrung. Sie löst Wut
aus, ohnmächtige Gereiztheit in Anbetracht der plötzlichen
Raumausdehnung, der wachsenden Möglichkeiten, vor allem
aber der drängenden, unaufschiebbaren Aufgaben. Ängstlich
horcht das altersschwache Europa auf: Es hat sein seit
Jahrzehnten verfolgtes angebliches Ziel erreicht, ist jetzt aber
äußerst erpicht, alles abzuwehren, was ihm Taten abverlangen,
was zum Nachdenken, zur Erneuerung, zur Kreativität anregen
könnte. Das bärtige Europa gleicht einem alten Geizkragen,
der dem Mädchen, das ihn bei der Damenwahl zum Tanz
auffordert, einen Stockhieb versetzt, da er nur eines mutmaßt:
man wolle sein Geld. In solcher Kleinkariertheit steckt die
Vorahnung drohender Sklerose und des eigenen Endes. –
Lesung in der «Jüdischen Gemeinde»: Als die Organisatorin
des Abends, eine untersetzte, etwas fahrige Frau, vor mich tritt,
habe ich plötzlich den Eindruck, dieses Gesicht sei mir schon
lange von Budapest her bekannt, doch stellt sich heraus, daß
sie aus England, aus London stammt. Ich muß endlich
zugeben, was ich bislang nur ungern zugeben mochte, daß
Jude nicht bloß ein abstrakter Begriff ist (obwohl auch das),
sondern Rasse und Typus, kurz: Wenn auch nicht jeder Jude
Jude ist, wie Schönberg sagt, so kommt doch kein einziger
Jude um die Tatsache herum, daß er Jude ist (meine eigene
Erfahrung). (Man muß sich heute nur mal die Gesichter jener
Budapester Intellektuellen ansehen, die vierzig Jahre lang
glaubten, sie würden nie mehr mit dem Faktum ihres
Judentums konfrontiert, bloß weil in der Kadar-Gesellschaft,
diesem Sumpf, das Wort, die Erinnerung, die Trauer und die
Wahrheit als Tabus galten – ja, man muß sich nur mal diese
schmerzlich überraschten, diese verstörten und ratlosen,
manchmal zornigen Gesichter ansehen, muß sich ihre
überraschten, verstörten, ratlosen, manchmal zornigen Worte
anhören – über ihre törichte Nostalgie nach der Epoche des
Schweigens oder über ihr neu erwachtes jüdisches
Selbstbewußtsein. Daneben gibt es aber auch solche, die
wegen ihrer plötzlich problematisch gewordenen Abstammung
in Raserei geraten, Juden, die in ihrer hilflosen Qual zu
antisemitischen Publizisten, zu den Leitschakalen der
heruntergekommenen Intelligenz geworden sind und die nun
das verödete ungarische Geistesleben vollheulen und –
schreien…) – Wien: Im Hotel treffe ich mich mit Albina, die
aus Budapest angereist ist; abends mein Amery-Vortrag an der
Universität – mir bangte ein wenig, der Titel («Der Holocaust
als Kultur») könnte provokativ klingen, aber es gab keine
negativen Reaktionen, im Gegenteil… Beim Abendessen sehe
ich auf Albinas Gesicht den glücklichen Abglanz dessen, was
sie meinen «Erfolg» nennt; zwei Tage später, an einem milden,
klaren Herbstmorgen, lade ich am Bahnhof mein Gepäck
hastig auf ein Wägelchen und eile, da die Zeit drängt, zum
Münchner Zug, als ich bei der Perrontür den Taxichauffeur
erblicke, der mich zum Bahnhof gebracht hat; keuchend hält er
Ausschau, bemerkt mich und reicht mir mit den Worten: «Das
können Sie vielleicht noch brauchen…»
∗
meine Brieftasche mit
sämtlichen Ausweisen und allem Geld, die ich offensichtlich
auf den Wagensitz gelegt und dort liegengelassen hatte und die
∗
Im Original deutsch
ich jetzt so selbstverständlich, mit leichtem, dankbarem
Händedruck entgegennahm, als wäre es das Natürlichste der
Welt, daß großstädtische Taxichauffeure den Fremden ihre
liegengebliebenen Brieftaschen im Eilschritt zurückbringen;
wie ich nun mit meinem Gepäckwägelchen zum Zug hetzte,
verdichtete sich das Phantastische der letzten Tage und
Wochen zu einer Art flüchtigen Morgenandacht in mir, zu
einem heftigen, bislang kaum gekannten Identitätsgefühl, das
sich mit dem Transitorischen der Bahnhofsatmosphäre, mit
dem hellblauen Herbstmorgen, mit dem allgemeinen
Stimmengewirr, mit den herumrennenden oder -stehenden
Gestalten, mit meinem eigenen Sein und allem, was mir
geschah und noch geschehen mag, zu einer kurzen, feierlichen
Harmonie verband – selbst mit dem Tod, diesem wilden
Abenteuer, dessen Gedanke mich ständig begleitet und dessen
dunkles Licht von Zeit zu Zeit an meinem Horizont aufblitzt…
Erst als ich den Zug bestieg, fiel mir ein, daß ich in meinem
Taumel vergessen hatte, dem Taxichauffeur ein Trinkgeld zu
geben, und freudlos ließ ich mich durch dieses Versäumnis in
die Welt der widerwärtigen Tatsachen zurückstoßen.
Vielleicht halten wir das Leben nur aus, weil es so
unwahrscheinlich ist; andererseits rührt das Denken ständig an
die sogenannte Wirklichkeit, sehnt sich nach Wirklichkeit.
«Ich bin heute so klarsichtig, als ob ich nicht existierte»:
Pessoa, Das Buch der Unruhe.
Nebel. Die fernen Alpen, die mal wie weiße Ungeheuer
auftauchen, mal in der braunen Luft verschwinden.
Ich kann nur schreiben unter der Voraussetzung geistiger
Intaktheit (womit ich sagen will, daß das Schreiben immer
schwieriger wird).
In Feldafing schreibe ich nicht. Ich arbeite nicht, weiß auch
nicht, ob ich je wieder arbeiten werde, weiß nicht, wie man
arbeitet, ob der Kaddisch-Roman, aus dem ich deutsch überall
unentwegt vorlese, wirklich von mir stammt, und wenn ja, wie
ich das gemacht habe – das Schreiben ist mir abhanden
gekommen.
Wißt ihr, daß Lenin die Nachtigallen mit Steinen
verscheuchte? So war es, ich habe es im Fernsehen, im Film
eines jungen russischen Regisseurs gesehen. Dokumentarfotos
von Lenin, sein versteinertes Gesicht nach dem Schlaganfall.
Sie hatten ihn irgendwo auf die Krim gebracht, an die Sonne,
in den Frühling, damit er sich wohl fühle. Doch die
Nachtigallen rissen ihn im Morgengrauen regelmäßig aus dem
Schlaf. Und so lief er einmal in den Garten, um die
Nachtigallen zu verjagen. Er sammelte Steine und warf mit
ihnen nach den Vögeln. Plötzlich spürte er, daß er weder die
Steine noch den Arm hochheben konnte: er war gelähmt. Das
war die elegante, hauchzarte, doch eisern konsequente Rache
der Nachtigallen am großen Revolutionär, der ihren Gesang
nicht ausstehen konnte. Künstlerrache.
Die hohen, kerzengeraden Tannen im Garten der Feldafinger
Villa Waldberta tragen auf ihrem Stamm große, frische,
leuchtendweiße zweistellige Zahlen. Als M. diese numerierten
Bäume nachts, im gleißenden Licht der Autoscheinwerfer, zum
erstenmal sah, machten sie, wie zu erwarten, einen
erschütternden Eindruck auf sie.
Unsere «Flucht» nach Verona. Auf der Rückfahrt die in
ihrem Garten werkelnde alte Italienerin, die uns den Weg zu
erklären versuchte. «Capito?» Wir frühstücken wieder im
bleigrauen Starnberg, die Alpen sind nicht zu sehen, der See
und die Luft grau, mit den weißen Tupfen der Schwäne. Wir
verfehlen den Weg zum Münchner Flughafen, von wo aus ich
mit der S-Bahn zurückfahren wollte; in Salzburg nehmen wir
bei einer Tankstelle Abschied, ich winke, das Auto
verschwindet rasch auf der Ausfallstraße, M. eilt zurück nach
Budapest, ich nach Hause, nach Feldafing. Im Zug nach
München eine Sonderprozedur: drei deutsche Zollbeamte
verlangen von einem Reisenden, der, wie ich zu verstehen
meinte, polnisch spricht, er solle seine Taschen auspacken. Sie
durchwühlen alles, beugen sich zu ihm, flüstern; die Szene
spielt sich ohne eine einzige auffällige Bewegung, ohne einen
lauten Ton ab. Selbst ich, der ich in Sachen Zollkontrolle
etliche Erfahrung besitze, vermag dem Geschehen nicht zu
folgen. Das ist diskrete, leise, zuvorkommende und tadellose
professionelle Arbeit.
In Feldafing elendes Gefühl des Verwaistseins. Nebel.
Nutzloser Kampf mit Feder, Papier und mir selbst.
Spaziergang in München. Ich suche das berühmte
Schwabing. Finde es nicht. Beziehungsweise was ich finde, ist
nicht das Erwartete. Düstere Straßen. München im Spätherbst,
bei strömendem Regen, ist ein ziemlich düsterer Ort.
Deutschland ist seit dem Gottesgericht vollkommen verwüstet.
Diese Städte, diese Straßen, all das Wiederaufgebaute und
Neugebaute sind bloß die vernarbte Oberfläche einer riesigen
Wunde. Niemand weiß es, alle finden es schön.
Einladung zu einer Lesung nach Leipzig, bei winterlichem
Regen komme ich in der schwarzen, allseits verwitterten Stadt
an; ich bin im Gästehaus des Bürgermeisters untergebracht, es
ist Mittag, ich möchte Mittag essen, gehe von meinem Zimmer
im ersten Stock aus den Flur entlang, dann die Treppe hinunter
in den Speisesaal, verlange die Speisekarte, der Kellner
quittiert meine Bitte mit einem Lächeln, das mir irgendwie
bekannt vorkommt. Mit diesem Lächeln setzt er sich über
meinen Wunsch hinweg, fragt, was ich denn essen wolle, ich
sage, gegrilltes Steak mit Salat, davor, wenn möglich, Suppe,
dazu Wein. Ich bekomme das Gewünschte, alles schmeckt
vorzüglich, und als ich nach dem Essen zahlen will, läßt mich
der Kellner mit demselben, mir irgendwie bekannten Lächeln
wissen, es sei schon alles beglichen; in dem Moment geht mir
auf, daß ich mich in einer Gespensterstadt befinde, wo noch
die vor drei Jahren verabschiedete Vergangenheit herumspukt
und wo ich vielleicht zum letztenmal einen für privilegierte
Kader eingerichteten privilegierten Betrieb in Funktion erlebe;
wie immer er heißen mochte oder heißt, das Personal ist
bestimmt das gleiche geblieben. Ich lege fünf Mark Trinkgeld
auf den Tisch und gehe verblüfft in mein Zimmer hoch, bald
wird man mich zu einer Stadtbesichtigung abholen. Rasch
werfe ich einen Blick durchs Fenster, schwarzer Regen ergießt
sich auf die schwarzen Häuser, der Garten meines Logis, des
Bürgermeisterhauses, ist aufgegraben und voll Erdhaufen, ich
sehe die Bretter, auf denen wir vorhin über den Schlamm ins
Haus gegangen sind. Dann kontrolliere ich, ob ich alle drei
Schlüssel bei mir habe: den Torschlüssel, den Hausschlüssel,
den Zimmerschlüssel – abends geht das Personal nach Hause,
die Villa ist unbeaufsichtigt, doch läßt man mich im voraus
wissen, ich könne die bereitgestellten Getränke nach Belieben
hinauf ins Zimmer nehmen – und eile in die Halle hinunter.
Mein Begleiter ist pünktlich auf die Minute, wir besichtigen
die Stadt, die genauso schwarz, naß und unfreundlich ist wie
ein paar Stunden zuvor, nur in der Innenstadt stoßen wir völlig
unerwartet auf eine Passage, die zu einer westlichen
Fußgängerzone passen würde und deren verschwenderische
Beleuchtung das dämmerige Dunkel der Stadt noch dunkler
erscheinen läßt. Wir besichtigen die Thomaskirche, Auerbachs
Keller, ja selbst den Bahnhof, in dem bald schon ein buntes
Gewühl wie in Frankfurt, München oder sonstwo herrschen
dürfte, dessen zugige, menschenleere Halle vorläufig aber öde
vor sich hin dämmert. Tatsächlich kommt Wind auf, eisiger
Wind, und da ich vor der Lesung noch eine halbe Stunde
schlafen möchte, schlägt mein Begleiter vor, daß wir ein Taxi
nehmen, was wir auch tun, ich höre, wie er dem Taxichauffeur
die Adresse meiner Unterkunft nennt: Wächterstraße soundso,
ich steige aus, er fährt weiter, um mich später zu vereinbarter
Stunde abzuholen und zum Veranstaltungsort zu bringen. Ich
winke, suche im Dunkel nach dem Schlüsselloch, versuche das
Gartentor aufzuschließen, doch das Schloß gibt nicht nach. Ich
probiere auch die andern Schlüssel aus – vergeblich. Da
erblicke ich eine Klingel, läute. Eine Stimme ertönt aus der
Gegensprechanlage, ich sage: «Ich kann das Tor nicht öffnen.»
– «Was für ein Tor?» fragt die Stimme. «Das Gartentor», sage
ich. «Warum wollen Sie das Gartentor öffnen?» – «Um
hineinzugehen, ich wohne hier», sage ich. «Hier? Wo?» Die
Stimme wird immer unangenehmer. «Im Gästehaus des
Bürgermeisters», sage ich. «Mag sein, doch das hier ist das
Amerika-Haus.» Die Stimme ist jetzt schon ausgesprochen
unfreundlich, dann knackt es im Apparat und das Gespräch ist
zu Ende. Ich stehe auf der Straße, es ist dunkel, gießt in
Strömen, der Wind bläst immer stärker und kälter, ich habe
keine Ahnung, was los ist, offenbar hat mich der Taxichauffeur
falsch abgesetzt, an der Häuserecke, wo ich mich befinde,
entdecke ich kein Straßenschild, es gibt weit und breit keine
Telefonzelle, kein Café, kein Geschäft, kein Restaurant, etwa
zehn Minuten irre ich, Ausschau haltend und suchend, umher;
in der Zwischenzeit ist kein einziges Taxi aufgetaucht, das
mich zu meiner Unterkunft, deren Adresse ich immer wieder
vor mich hin murmle, hätte bringen können. Die Straße ist
breit, menschenleer und schlecht beleuchtet, auf meiner Seite
schlummern hinter stummen Gärten stumm hingekauerte
Villen, auf der gegenüberliegenden Seite ragt die dunkle
Rückwand eines scheußlichen öffentlichen Gebäudes empor –
Museum, Universität oder Gefängnis –, nur aus einem einzigen
Fenster dringt Licht, nachgerade schadenfroh, um mich noch
deutlicher fühlen zu lassen, wie ausgeschlossen ich in dieser
düsteren, nunmehr offen feindlichen Stadt bin, die mich mit
der Indifferenz eines hungrigen Tiers zu packen und zu
verschlingen droht. Endlich taucht ein junger Mann auf, eilig,
mit hochgezogenem Kapuzenkragen, ich frage ihn, wo die
Wächterstraße sei, er weiß es nicht, ich frage, wie diese Straße
hier heiße, er weiß es nicht, wie das denn möglich sei, frage
ich, er käme doch diese Straße entlang, er sagt, er gehe täglich
diese Straße entlang und wisse doch nicht, wie sie heiße, dann
eilt er schulterzuckend davon; ich stehe einige Minuten
unschlüssig da, als sich aus dem Dunkel die schwankende
Gestalt einer Frau mit Regenschirm nähert, sie weiß, daß wir
uns in der Wächterstraße befinden, das Haus sei nicht dort, wo
ich es suchte, meint sie, sondern hinter mir; ich drehe mich um,
überquere die Straße – da ist es, das Gästehaus des
Bürgermeisters! Ich war nur dreißig Meter davon entfernt,
hatte aber in der falschen Richtung gesucht. Der Schlüssel
dreht sich im Gartentorschloß, ich atme auf, gehe über die
vertrauten lieben Bretter, die Portiersloge ist leer, das Haus
dunkel, ich betrete es, drücke auf den Lichtknopf, keine Seele,
ich eile in mein Zimmer hinauf, entkleide mich, lege mich hin,
um ein Nickerchen zu machen – in diesem Augenblick ertönt
ein Lärmgeräusch, dann entsetzliches Geschrei. Die Stimme
kommt ohne Zweifel aus dem Haus, eine furchterregende
Männerstimme, die auf deutsch droht und fordert, wohl beides
zugleich, in einer endlosen Tirade. Wieder fühle ich meine
Einsamkeit, das Personal ist weg, ein Telefon gibt es zwar,
doch die Nummer der Polizei zum Beispiel weiß ich nicht,
Telefonbuch und sonstige Informationen fehlen, zur Sicherheit
schließe ich meine Zimmertür ab. Die Stimme wird immer
furchterregender, nach kurzer Überlegung schleiche ich auf
Zehenspitzen aus meinem Zimmer. Vom Flur aus sehe ich ins
Eßzimmer, doch der kaum erhellte Raum ist leer, die Stimme
kommt von anderswoher, auf Zehenspitzen gehe ich weiter,
erreiche ein Geländer, von hier aus sehe ich, einen Stock tiefer,
den Fuß einer Treppe, eine Hintertür und im winzigen Raum
dazwischen einen untersetzten, fast kahlköpfigen Mann in
Weste: Besitzer der furchterregenden Stimme. Wie ein
Tobsüchtiger flucht er aus Leibeskräften, windet sich hin und
her, und als hätte er meine Schritte gehört, wendet er plötzlich
sein bebrilltes Gesicht forschend nach oben und schreit wie der
blinde Polyphem in zornerfülltem Schmerz: «Komm, komm!
Komm runter, du Gauner, komm mal, los, komm!»
∗
Entsetzt
fliehe ich in mein Zimmer. Was soll das? Wer ist das? Was
soll ich tun? Bald kommt man mich abholen, beginnt die
Lesung; ich kleide mich für alle Fälle an. Seit ein paar Minuten
ist die Stimme verstummt. Ich warte noch ein wenig, dann
verlasse ich entschlossen mein Zimmer; das Haus ist still und
leer; ich gehe die Treppe hinunter bis zur Eingangstür – nichts.
∗
Im Original deutsch
Jetzt folgt der heikelste Moment, der mein Ausgeliefertsein
unerträglich steigert: Während ich mich mit dem
verschlossenen Haustor herumplage, das ich von innen öffnen
muß, ist mein Rücken ungeschützt, dahinter gähnt der Raum.
Endlich bin ich draußen. Ich atme auf, es regnet nicht mehr,
dafür aber bläst ein stürmischer Wind, die Bretter sind vereist.
Glücklich erreiche ich das Gartentor, im selben Augenblick
hält ein Auto an: man holt mich ab. Erleichtert setze ich mich
neben meinen Begleiter und dessen Frau und erzähle ihnen
aufgeregt, in miserablem Deutsch von meinen Abenteuern; sie
stellen einige Zwischenfragen, aber ich merke, daß sie meine
Geschichte gelinde gesagt für eine Übertreibung halten. Wir
gelangen zu einem zauberhaften Schloß, dem Gohliser
Schlößchen, wo ich lesen soll, eine zauberhafte Dame begrüßt
mich, auffallend liebenswürdig, äußerst vornehm und stilvoll,
sie läßt mich wissen, daß es vor der Lesung etwas Musik geben
werde und daß man eigentlich mit mehr Publikum gerechnet
habe, doch halte leider gerade heute abend ein gewisser
Professor M. seinen lange erwarteten Vortrag; dieser berühmte
Gelehrte sei in dieser Stadt von seinem Lehrstuhl abgesetzt
und in den Westen abgeschoben worden, jetzt kehre er
sozusagen im Triumph zurück, und natürlich wollten alle ihn
sehen und hören. Der Abend läuft programmgemäß ab; eine
junge Frau spielt Cello, ein Herr Klavier, ich lese und
beantworte Fragen, man drückt mir einen Blumenstrauß in die
Hand, dann gehen wir in einem nahe gelegenen italienischen
Lokal essen. Der eisige Nordwind ist noch stürmischer
geworden. Ohne meine Geschichte überzustrapazieren, beharre
ich doch darauf, daß man mich nach dem Abendessen nicht
nur nach Hause fährt, sondern ins Haus hinein begleitet, ich
wisse ja nicht, was mich dort erwarte. Das Haus ist diesmal
erleuchtet, die Lampen brennen, wir gehen die Treppe hoch,
im Flur begegnen wir einer korpulenten, elegant gekleideten
Dame mittleren Alters mit heiterem Gesicht, die von meinen
Begleitern freundschaftlich-kollegial begrüßt wird. Es stellt
sich heraus, daß sie soeben Professor M. nach Hause gebracht
hat, der Abend sei glanzvoll gewesen, man habe M. lange und
enthusiastisch gefeiert. Ich bin erfreut, daß ich nicht allein in
diesem Geisterhaus übernachten muß, und erzähle kurz, was
mir vor der Lesung zugestoßen ist. Die fremde Dame lacht auf,
beugt sich zu mir und sagt mit gedämpfter Stimme, der
Wahnsinnige, den ich unter der Treppe habe toben sehen, sei
Professor M. gewesen. Ihre Worte tauchen den ganzen
Alptraum plötzlich in ein klares, nüchternes Licht. Der
Professor sei zuckerkrank, etwas hysterisch und außerdem fast
blind. Am Nachmittag habe er gedacht, es sei Zeit, daß er
abgeholt und zur Universität gebracht würde. Also sei er in die
Halle hinuntergetappt, hier aber habe niemand auf ihn gewartet
(die Verabredung war nämlich eine halbe Stunde später),
zudem seien alle Türen verschlossen gewesen, mit dem
Schlüssel aber sei er nicht zurechtgekommen (weil er ihn
falsch ins Schloß gesteckt hat). Da seien in ihm die Reflexe aus
jenen alten Tagen erwacht, als er in dieser Stadt permanent
observiert wurde, seinen Lehrstuhl verlor und ins Exil mußte;
plötzlich habe er das Gefühl gehabt, er hätte nicht hierher
zurückkehren sollen, man habe ihn in eine Falle gelockt, habe
ihn in dieses Haus gesperrt, um andernorts über sein Schicksal
zu entscheiden, und aus panischer Angst habe er zu schreien
und an die Tür zu hämmern begonnen, bis er abgeholt und
beruhigt wurde. Um so erstaunlicher sei, daß er nach einer
solchen Nervenanspannung einen brillanten Vortrag gehalten
habe. Auch ich beruhige mich nun, denn die Geschichte, die
am Nachmittag so rätselhaft und erschreckend wirkte, hat ihre
rationale Erklärung gefunden; zum Schluß lachen wir alle,
wenn auch respektvoll, über den armen Professor M. Am
Morgen stehe ich früh auf, ein Taxi wird mich zum Flughafen
bringen, es wurde schon am Vortag bestellt und kommt auch
auf die Minute genau. Prächtiger Morgen, strahlender Himmel,
blendender Sonnenschein, nur der gestrige Wind hat noch
zugenommen. Wir fahren durch eine deprimierende Gegend
stadtauswärts, zwischen Ruinen aus der Zeit der sogenannten
Deutschen Demokratischen Republik, nach den Außenbezirken
folgen verlassene, baufällige Schuppen, schwarze Scheunen,
nur da und dort bebaute Felder, der strohblonde,
schnurrbärtige, beleibte Taxichauffeur bekommt sehr schnell
heraus, woher ich stamme, welcher Nationalität ich angehöre;
als er «Ungar» hört, schaltet er den Zähler augenblicklich aus.
«Hohe Steuern», sagt er, an mein Verständnis appellierend, das
ihm natürlich sicher ist, obwohl mir der Gedanke kommt, daß
er die Steuer wohl anstandslos bezahlen würde, wenn ich
beispielsweise Engländer wäre; was bin ich für ein Mensch,
daß man mich aufgrund meiner bloßen Herkunft von
vornherein für einen natürlichen Verbündeten von
Gesetzesübertretern hält, ohne auch nur nach meiner Meinung,
nach meinem Wesen, meiner Lebensauffassung, meinen
Eigenheiten zu fragen. Ich überlege, ob ich nicht protestieren
soll, lasse es aber bleiben, weil mir einfällt, daß ich nur im
Namen des deutschen Staates protestieren könnte, was wirklich
lächerlich wäre. Als ich in Leipzig das Flugzeug besteige,
herrschen, wie gesagt, blendender Sonnenschein und
stürmischer Wind, in München aber erwarten mich Nebel und
heftiges Schneetreiben. Trotz des unfreundlichen Wetters
steige ich am Marienplatz aus der S-Bahn; mein
geheimnisvoller Leipziger Gastgeber, der sich nie zu erkennen
gegeben hat, ließ mir zwar ein ausgiebiges Frühstück
bereitstellen, und auch im Flugzeug gab es eine Kleinigkeit,
doch setze ich mich in München gleich in ein Restaurant,
genieße es, meine Rechnung zu bezahlen, kaufe in einem
Geschäft etwas ein, stöbere in den Regalen, überlasse mich
Münchens nüchternem Kapitalismus, seiner Attraktivität,
seinen
– zumindest oberflächlich
– transparenten
Verhältnissen, wie einer, der nach einer langen Reise plötzlich
wieder zu Hause ist. Habe ich auf diesen Seiten zufällig einmal
gesagt, München sei nicht schön? München ist wunderbar…
Huldigung an Feldafing. Der See. Die Berge. Der Uferweg.
Die Freunde. Monika, die mich um den Starnberger See
herumfährt und zum Tee in ihre Villa einlädt. Susanne, die für
mich eine Lesung in der Bibliothek organisiert. Barbara, die
die Künstler-Gäste der Villa Waldberta fotografiert. Albina,
die in ihrem gelben Mantel auf dem hoch über dem See
gelegenen Balkon sitzt und das Galeerentagebuch liest – bei
müdem Sonnenschein. Es wird Winter. Bald fahren wir nach
Hause.
Winterliche Budapest-Erlebnisse; als würde mein Bewußtsein
langsam krank.
Wovor fürchtest du dich, wo du doch weißt, daß du sterblich
bist?!
Am Vormittag der junge Mann in der Erzsebet Szilágyi-
Allee. «Mein lieber Herr (ja so: mein lieber Herr), bleiben Sie
doch einen Moment stehen!» Pelzmütze auf dem Kopf, heller
Teint, ziemlich blonder Schnurrbart, angenehme, wenn auch
leicht wäßrige blaue Augen. Mir schwant nichts Gutes, doch
bleibe ich stehen. Es ist klar, was folgen wird, dennoch muß
ich das ganze Ritual durchspielen. Ob ich nicht Arbeit für ihn
hätte? Nein. Ob ich nicht etwas rumänisches Geld eintauschen
würde? Ach wo, was soll ich damit. Er sei aus
Sepsiszentgyórgy nach Budapest gekommen, sagt er. Keine
Neuigkeit: in den letzten Tagen sprachen mich mindestens
zehn Personen, Männer und Frauen, an, die alle aus
Sepsiszentgyórgy kamen. «Nur, damit ich was zu beißen
habe.» Irgendwie rührt mich dieses altmodische, an die
Kriegszeit gemahnende Argot. Aus meiner Magengrube
steigen KZ-Erinnerungen auf; ich versuche mir gar nicht
vorzustellen, was aus diesem hübschen, lebenstüchtigen und
kräftigen jungen Mann wird, den eine lügenhafte Propaganda
hierhergelockt hat, mitten in diese gemeine Gleichgültigkeit, in
diesen mörderischen Wahnsinn. Ich reiche ihm einen Hundert-
Forint-Schein. Er heitert sich auf: « Gott behüte Sie! » sagt er,
was auch mich aufheitert. Ich nehme seine Worte auf, wie einst
die Griechen die gütige Prophezeiung eines Hirtengottes. In
der Straßenbahn treffe ich zu meinem Pech Sz. an, der
sozusagen vor meinen Augen verfiel, zu einem senilen Greis
wurde. Er erkennt mich. Er sagt, er habe mich lange nicht
gesehen. Unvorsichtigerweise erwähne ich, ich sei in München
gewesen. Er kramt seine Münchner Erinnerungen aus den
sechziger Jahren hervor. Wie er am Oberlauf der Isar Kiesel
gesammelt, wie er von der Stadt sechzig Mark bekommen und
damit ein Gerät gekauft habe, das er aus Sparsamkeit bis heute
nicht in Gebrauch genommen hat usw. endlos. Seine
hervortretenden Augen werden bei jedem Satz feucht, sein
zuckender Mund nimmt einen seltsamen, fremden Ausdruck an
– als wäre er schon mehrere tausend Jahre alt und erinnerte
sich jetzt an das zweite Jahrtausend, als dieser Planet noch
grün und voller Leben war.
Ein heftiges Gefühl der Verlogenheit jeglichen Trosts.
Neujahr 1993. Wintersonne, am Morgen Spaziergang über
den Rozsadomb. Die Stadt von oben, kühles Licht, kühler
Sonnenschein, stumme neujährliche Straßen. Ich betrachte das
reglose, starre Bild und spüre, daß sich vor meinen Augen auch
noch der letzte Rest jenes Schleiers lüftet (egal, ob wir ihn
Gewohnheit oder gar Kultur nennen), durch den ich bislang die
Welt zu betrachten pflegte, und daß ich plötzlich in die Weite
sehe, direkt und unmittelbar ins Nichts.
Doch scheine ich mich aus irgendeinem Grund nicht damit
abfinden zu wollen, daß dieser Augenblick vergeht, ohne daß
meine Empfindung des Nichts Form annimmt, ohne daß das
Nichts zur Erfahrung wird, zu einem Etwas.
Wenn die Schöpfung das Werk der Liebe ist, sind dann
Untergang und Tod das Werk des Hasses? Macht uns die Liebe
seiend, der Haß zunichte? Oder wäre denkbar, daß auch der
Tod das Werk der Liebe ist?
Einige schwer zu beantwortende Fragen. Beckett, in Molloy:
«Was zum Teufel hat Gott vor der Schöpfung gemacht?»
(Augustinus-Paraphrase) Valery: «Muß jede Frage
aufgeworfen werden?» Und: «Was tut Gott, wenn er nicht
schafft?»
Borges in seinem Swedenborg-Aufsatz: «Die Höllen sind
sumpfige Landstriche, Zonen, in denen anscheinend durch
Feuersbrünste zerstörte Städte liegen; aber: hier sind die
Verworfenen glücklich. Glücklich auf ihre Art; das heißt, sie
sind voll von Haß, und es gibt keinen Herrscher, keine
Ordnung in diesem Reich; sie alle konspirieren unaufhörlich
gegeneinander. Es ist eine Welt der politischen Niedrigkeiten,
der Verschwörungen. Dies ist die Hölle.»
Eine gute Beschreibung. Ihr zufolge spricht alles dafür, daß
ich zu Hause bin. Aber warum fühle ich mich nicht wohl, wie
es laut Borges/Swedenborg doch der Fall sein sollte? Bin ich
vielleicht doch am falschen Ort? Durch eine falsche
Zuweisung? Könnte es sein, daß der Schreibfehler eines
fahrlässigen, schlechten Beamten zum Urteil wird?
Dann ist hier eine schreckliche Inkommensurabilität am
Werk. Dann muß doch jede Frage aufgeworfen werden. (Mag
es auch überflüssig sein.)
Ich fürchte, daß ich nicht mehr in der Lage bin, seriös zu
sprechen. Meine Seele glaubt an etwas, was mein Verstand
leugnen muß.
Wer die Probleme als das nimmt, was sie sind (das heißt sie
erkennt), muß von ihrer Lösung absehen; das Problem liegt
nicht in den Problemen, sondern außerhalb. Die Probleme des
zerfallenden Roms zum Beispiel konnte nur Christus
formulieren, weil er von ihrer pragmatischen Lösung absah;
und schließlich bekam er recht, sein furchtbares Los bezeugt,
wie notwendig und zugleich aussichtslos eine radikale
Erneuerung war.
K. der Schriftsteller, zählte sein ganzes Hab und Gut
zusammen. «Nur meine Sünden gehören mir», notierte er dann
am untern Rand des vor ihm liegenden Zettels, der im übrigen
mit Telefonnummern vollgekritzelt war.
Wieder unterwegs im Zug. Hamburg-Berlin-Köln-Frankfurt-
Zürich. Die Mahnungen: Ich verlöre meine Tiefe. Ich verlöre
mich selbst.
Mich selbst? Wer ist das? (Wenn ich nicht gerade Zahn- oder
Bauchweh habe…)
Bin ich denn aus meinem Zentrum herausgetreten, aus dem
Emersonschen Raum des Heros? Worauf muß ich achtgeben?
Ich weiß nicht, worauf ich achtgeben muß, und ich weiß
nicht, warum ich achtgeben muß.
Ich weiß nicht, warum das Natürliche (die Tatsache, daß ich
die Existenz des Schriftstellers I. K. lebe) widernatürlich sein
soll.
Ich weiß nicht, warum die Moral der Unterdrückung
natürlicher sein soll als die Schäden der Freiheit.
Die Platzangst des Diktaturzöglings.
Einige Fragen, die gleichwohl aufgeworfen werden müssen.
Bin ich nicht zu leicht, ja seicht geworden? Will ich noch
schreiben!
Köln. Heulender Wind, die breite Krempe meines schwarzen
Hutes hindert mich daran, zum Dom hochzublicken – komisch.
Wenn ich den Hut abnehme, wird mein Kopf vom eisigen
Wind und den Nadelstichen des Regens förmlich malträtiert.
Der Dom sieht wie ein monumentales Märchenbuch aus.
Drinnen der Domherr in rotem Ornat. Er bittet mich, nicht
umherzugehen, sondern mich zu setzen, da die Mittagsandacht
beginne. Dann würde ich lieber gehen, sage ich erschrocken.
Nein, nein, sagt der Domherr, das Ganze dauere nur fünf
Minuten. Ich setze mich. Die Zeremonie spielt sich mit Hilfe
eines Tonbandgerätes ab. Nach fünf Minuten ist sie auch schon
zu Ende. Der Domherr lächelt mir zu. Der Dom ist innen öde
und kalt. So muß es sein. Eine überdekorierte Kirche hat etwas
von geschmacklosem Zauber, was schlicht unverzeihlich ist.
Wie ein mit Bändern geschmücktes Richtbeil.
Hamburg, Spaziergang zwischen den Docks, der Journalist
und seine Freundin. Die Linken lesen mein Buch. Ich kann es
auch umkehren: Wer mein Buch liest, ist Linker. Ästhetisch ist
das äußerst suspekt, aber was ist Ästhetik? Alles deutet darauf
hin, daß der Mensch nicht wirklich frei ist, seine Gedanken,
seine Gefühle sind determiniert, freilich nicht so, wie Marx
oder Freud es sich vorstellten, nämlich keineswegs
automatisch. Kann ich denn von den Lesern meiner Bücher auf
die Bücher selbst schließen? Können wir von denen, die
Quellwasser trinken, auf die Quelle schließen? Dennoch
scheint es eine Art chemisches Gesetz von Anziehung und
Abstoßung zu geben… «Ist euch das Gefühl bekannt, in
jemandem klein zu werden?» (Gombrowicz, Ferdydurke, 1.
Kapitel)
In Basel die beflissene, doch etwas schrullig, wenn auch nicht
bekloppt wirkende Buchhändlerin und ihr charismatischer
Gehilfe, der schlanke, schwarzhaarige Thomas. Es kommen
mir Assoziationen wie: Dickens, Der Raritätenladen… Die
Buchhändlerin sucht etwas, Thomas findet es. Die
Buchhändlerin sagt etwas, Thomas berichtigt sie. Und immer
mit allergrößtem Takt. Eine Weile versucht sie den Schein zu
wahren, doch schließlich lächelt sie nur irr; ich gewinne den
Eindruck, ohne Thomas wäre sie verloren. Dann erfahre ich,
daß Thomas bald geht – er muß lernen, will er nicht in diesem
Laden, neben dem einsamen alten Fräulein langsam
verstauben, zwischen und mit den Büchern. Was wird nur aus
dem winzigen, zerbrechlichen Fräulein (das vielleicht Witwe
ist oder, was ich allerdings für ausgeschlossen halte, eine
aktive Frau)? Sie wackelt mit dem Kopf, beklagt sich, tut aber
so, als wäre sie sich über ihre Lage nicht im klaren, als könnte
sie den drohenden Verlust nicht voll erfassen. Ob sie das aus
Taktgefühl tut, um Thomas den Weggang zu erleichtern? Es ist
dies eine besondere, altertümliche Beziehung in einer
friedlichen, altertümlichen Stadt; doch irgendwie werde auch
ich von Sorge ergriffen. Das Hotelzimmer, das die
Buchhändlerin für mich reserviert hat, ist kahl und äußerst
deprimierend. Ich mache keinen Hehl daraus. Wir suchen ein
anderes Hotel auf, das ebenfalls kahl und deprimierend ist,
offenbar muß es vor allem billig sein; und da es sich nur um
eine einzige Übernachtung handelt, willige ich ein. Wir essen
in einem als schäbiges Lokal getarnten, sehr feinen Lokal zu
Abend – ein lauter, fröhlicher Ort. Am nächsten Vormittag
schlendere ich noch ein wenig durch die Stadt, dann fährt mein
Zug. Obwohl ich protestiere, begleitet mich Thomas zum
Bahnhof, trägt meinen Koffer dienstfertig über die Brücke; ich
wage nicht vorzuschlagen, daß wir ein Taxi nehmen sollen.
In Frankfurt die kämpferische Jüdin mit schwarzem
Männerhut und dicker Brille, sympathisch, attraktiv, hübsch,
spricht davon, daß sie, daß ihre Generation (sie ist um die
dreißig) sich mit Auschwitz «auseinandersetzen müßten»
∗
.
«Wir in Israel», sagt sie, «haben zumindest eines gelernt: uns
zu verteidigen.» Totale Nichtauthentizität, keiner versteht
etwas. Ich will auch niemanden von etwas überzeugen. Will
nur schreiben, solange ich kann, weil ich gerne schreibe, weil
∗
Im Original deutsch
ich die Sprache mag, weil ich es mag, wenn mir unerwartet ein
Vergleich einfällt usw. Alle erkundigen sich nach Auschwitz;
dabei sollte ich von den gemeinen Freuden des Schreibens
reden – verglichen damit ist Auschwitz fremde, unnahbare
Transzendenz.
K. der Schriftsteller, sagt folgendes:
– Eine Annäherung an Auschwitz ist unmöglich, es sei denn,
von Gott aus; Auschwitz ist eines jener großen Menetekel, die
in Gestalt eines schrecklichen Schlags auftreten, um den
Menschen hellhörig zu machen – falls er hinhört. Statt dessen
werden wissenschaftliche Motive vorgebracht, wird von der
Banalität des Mordens geredet, was wie ein Gruß aus der Hölle
klingt. Wenn Auschwitz vergeblich ist, so hat Gott Bankrott
gemacht; und wenn wir Gott zum Bankrotteur machen, so
werden wir Auschwitz nie verstehen. So bin ich denn bereit,
auf diesem riesigen, wüsten Schauplatz namens Erde, wo im
gräulichen Licht nur ein Häufchen Schutt, spitze
Stacheldrahtreste, ein entzweigebrochenes Kreuz und die
Trümmer einiger weiterer Symbole auszumachen sind, mich
unterm grauen Himmel in den Staub hinzuknien, das Gesicht
mit Asche zu bedecken und Auschwitz im gräßlichen Zeichen
der Gnade anzunehmen…
Dazu hast du kein Recht – widerspreche ich sofort –,
höchstens dann, und selbst das ist fraglich, wenn du daran
zugrunde gehst.
– Aber das tue ich ja – erwidert K. der Schriftsteller –, die
Geschichte meines Lebens besteht aus meinen Toden, wollte
ich mein Leben erzählen, müßte ich von meinen Toden
berichten.
– Trotzdem ist etwas faul an der Sache – protestiere ich weiter.
– Wenn du Auschwitz so teleologisch auffaßt, glaubst du
offensichtlich auch, daß dein Leben einen Sinn hat. Vielleicht
glaubst du sogar, Gott habe dich am Leben gelassen, weil er
dich dazu ausersehen hat, Auschwitz als Menetekel zu
begreifen.
K. der Schriftsteller, hat darauf nichts mehr erwidert. Seither
schweigt er.
Ein Brief aus Salzburg: « Über Ostern habe ich Ihr Buch
gelesen, das mehr ein karfreitägliches Gefühl vermittelt.»
∗
(Es
∗
Im Original deutsch
geht um Kaddisch.) In der Atmosphäre des ungarischen
Regime-Christentums ist es ein großer Trost, solche echt
christlichen Worte zu lesen.
Was trennt mich von der ungarischen christlichen
Mittelschicht (die freilich eher eine mittlere Intelligenzschicht
ist als eine wirkliche Mittelschicht)? Daß sie Wert auf die
Unterscheidung legt, ob Graf Pal Teleki oder ob Ferenc Szalasi
auf die Juden schimpft. Mir hingegen ist das im großen und
ganzen gleich, für mich ist allemal Auschwitz das Endresultat.
Dieser Sommer, dieser heiße Sommer 1993… Warum
erinnert er mich so sehr an den Sommer 1944? Ringsum
virulenter Haß, ununterbrochen tätiger Wahnsinn. Der Begriff
«Nation» als unglückliches Bewußtsein, das dem ganzen Land
aufgezwungen wurde.
Die Totalität dieses Bewußtseins schafft wiederum Rollen.
Ich verspüre keinerlei Lust, meine Rolle zu spielen. Keinerlei
Lust, so tief zu sinken, daß ich gegen den sogenannten
Antisemitismus protestieren muß (einst, zu Beginn der Zeiten,
habe ich es aus Hochmut, Dummheit, Dünkel und Hoffnung
getan).
Mein Judentum ist viel zu interessant (oder: zu
bedeutungsvoll), um im gebrochenen Licht jenes Wahnsinns
namens Antisemitismus gesehen zu werden.
Andererseits ist es schwierig, im Gravitationsfeld des
Wahnsinns klaren Verstand zu bewahren.
Ihr verlangt doch nicht, daß ich meine nationale,
konfessionelle und rassische Zugehörigkeit formuliere? Ihr
verlangt doch nicht, daß ich eine Identität habe?
Ich verrate euch: Meine einzige Identität ist die des
Schreibens. (Eine sich selbst schreibende Identität.)
∗
Wer ich sonst bin? Wer wüßte es?
Kurzer Spaziergang in Linz. Am Hang, wo es zum Schloß
hochgeht, das alte Starhemberg-Haus, das Ende des 17
Jahrhunderts dem Stadtrat vermacht wurde, zur Gründung
einer Schule. An der Wand eine gelbe Tafel: hier seien Anton
Bruckner und Rainer Maria Rilke zur Schule gegangen. Als ich
zur Donau hinunterblicke, die im strahlenden Sonnenschein
aus einer Krümmung auftaucht und fließt, weiterfließt
Richtung Osten, verstehe ich die große östliche Hauptstadt der
∗
Im Original deutsch
Österreicher, Wien; dort lebte Freud, der in die chaotische
Tiefe des Bewußtseins blickte, so wie ich in Linz mit
schüchtern zusammengekniffenen, dennoch wachsamen Augen
in die Weite, zum bedrohlichen Osten hinüberblicke…
Dann erfaßt mich, gleichsam hubartig, ein plötzlicher leichter
Taumel. Zeitweise wird auch der Mensch gereinigt – wie die
Natur, wenn frischer Wind die dichten Wolken vertreibt und
die stickige Luft den schwülen Dunst blank fegt; und wie diese
Naturerscheinungen sind auch innere Aufheiterung und Sonne
kaum erklärbar – oder bloß durch unzureichende und
willkürliche physische Ursachen.
_____Ich liebe mein Berliner Bett, auf dem man bequem und
hart liegt.
In diesem Jahr habe ich insgesamt nur drei Monate zu Hause
(in Budapest) verbracht.
Ich lebe wie ein Flüchtling.
Einzig was dies anbelangt, lebe ich richtig: ich bin ein
Flüchtling.
Im Zug, irgendwo zwischen Zürich und Berlin, glaubte ich
das inspirationshaltige Magma des Theaterstücks, an dem ich
gerade arbeite, gefunden zu haben: im Selbstmörder (der
Hauptrolle) werde ich mein eigenes schöpferisches Sein
betrauern – jenes Wesen, das infolge dreißigjähriger geheimer,
fruchtbarer und im Grunde harmloser Arbeit aus seinem
Kokon eine Seidenraupe hervorgebracht hat, diesen andern,
der ich heute bin. Er aber, der eigentliche Schöpfer – ist tot.
Ich liebte – und liebe noch heute – mein früheres, leidendes,
hochstilisiertes Ich, in dem ich so lange gewohnt habe, diesen
großen Toten, den ich in meinem Theaterstück zu Grabe trage.
Ich wiederhole die Worte Ibsens – schreiben heiße soviel wie
über sich richten. Im Stück verurteile ich mich zum Tode (das
tue ich in jedem Werk, ich sterbe unentwegt); falls ich das
Urteil überlebe, werde ich weiterfliehen, neuen Toden
entgegen (bis ich eines Tages, vermutlich unerwartet und
völlig unvorbereitet, auf den richtigen stoße: was wird das für
eine Überraschung sein!).
Als ich in meine Berliner Wohnung zurückkam, wusch und
bügelte ich wie eine Studentin.
Heute: In der Abenddämmerung Spaziergang an der Spree
entlang, nicht enden wollender Nachmittag, mäanderndes
Wasser, Weiden, die ihre Äste in den Fluß hängen lassen,
dazwischen einzelne Pappeln und Platanen, Stille und Frieden.
Beim Schloß Charlottenburg beziehungsweise in einer
Seitenstraße des Tegeler Wegs kaufte ich mir in einer schlecht
beleuchteten Papierwarenhandlung einen Radiergummi, ein
junger Mann mit Schnurrbart bediente mich, ermunternd
lächelnd; er suchte skrupulös einen Radierer aus und verlangte
dafür 40 Pfennig. Matte Herbstdämmerung, die in Abend
übergeht; sehnsüchtiger, zielloser, wie um Verluste trauernder
Schmerz, der uns in fremden Städten beim Anblick trauter
Heime, mit Kerzenlicht beleuchteter Kaffeehäuser überkommt,
wenn wir am Wasser entlangschlendern; ein namenloser,
archaischer Schmerz, mit Haut und Haar, mit Gepräge und
Gesicht, der Schmerz des Individuums, das im Ich-Kerker
schmachtet und sich aus der Gefängniszelle heraussehnt. Der
Hirschbock fängt in solchen Augenblicken fordernd und
dumpf zu röhren an und geht einer Hirschkuh auf den Leim –
aber nicht davon ist die Rede…
Stehe auf dem Potsdamer Platz herum; matte Vormittagssonne;
eine Einöde voll Staub und Schutt, mitten in der Stadt, wo
einst die Mauer war und umliegendes Gelände. Wie nach
schweren, verheerenden Luftangriffen. Feiner Aschegeruch im
milden Licht, Straßen Richtung Nirgendwo, Stimmung und
Gerüche, die an das Frühjahr 1945 erinnern, unfaßbare
Melancholie des Überlebens… Wie oft habe ich so vor dem
Tor des Lagers Buchenwald gestanden, gleichsam die Freiheit
kostend, die nach Leichen stank, nach Frühling duftete und wie
Lagersuppe schmeckte… Weiter zur Synagoge in der
Oranienburger Straße. Vergeblich suchte ich die kleine
Konditorei, wo ich vor dreizehn Jahren, 1980, als dieser
Stadtteil noch zur DDR gehörte, eines Vormittags
Riesenappetit nach einem kohleschaufelgroßen grünen Stück
Torte verspürte. Durch das Konditoreifenster fiel mein Blick
auf eine ziegelrote Gebäuderuine, ich konnte ihn nicht
abwenden. Langsam kamen die Assoziationen. Die brennende
Synagoge – die Kristallnacht, die Oranienburger Straße, das
Gebäude im maurischen Stil, wie wir es von Dokumentarfotos
her kennen… Ich zahlte, lief auf die andere Straßenseite
hinüber. Ja, richtig. Ruinen, Mauerreste, aus deren Ritzen da
und dort ein Strauch wuchs. Nirgends ein Hinweis, drinnen
eine unauffällige Tafel, auf der lediglich die
Eigentumsverhältnisse festgehalten waren. Ein stummer, in
Namenlosigkeit versunkener Ruinenhaufen, vom Vergessen
geschändet. Neulich nun bekam die Synagoge eine glänzende
Kuppel aus Gold, wie eine Dornenkrone. Doch ihre
Umgebung, die baufälligen Häuser, die triste Straße, erinnern
noch immer an den Krieg; der muffige Geruch in den
Torwegen, die Bilder des Verfalls, der Schimmel, die Fäulnis.
Als täte sich plötzlich ein geheimer Keller auf, dringt die ganze
Verwüstung und Verheerung der letzten Jahrzehnte an die
Oberfläche. In ein paar Jahren wird sie verschwunden sein,
wird sich alles, alles ändern – die Menschen, die Häuser, die
Straßen; die Erinnerungen werden eingemauert, die Wunden
zugebaut sein, der moderne Mensch mit seiner berüchtigten
Flexibilität wird alles vergessen haben, wird den trüben
Bodensatz seiner Vergangenheit wegfiltern, als wär’s
Kaffeesatz. Mich erfüllt eine gewisse Befriedigung, daß ich
dies, vielleicht zum letztenmal, sehen (und nicht nur sehen,
sondern verstehen) kann, so wie es einem Naturforscher
erginge, wenn er plötzlich ein Exemplar einer vor kurzem
ausgestorbenen Rasse erblickte, das ruhig sein
anachronistisches Leben lebt.
Weimar. Oben auf dem Ettersberg. Ein frostiger, dunkler
Novembernachmittag. Irrelevanter Teilnehmer, der ich bin,
trapple ich hierhin und dorthin, bleibe stehen, gehe weiter, wie
es die Umstände und meine Begleiter verlangen. Es lohnt sich
manchmal, jene Schauplätze, wo die entscheidenden
Ereignisse unseres Lebens stattfanden, wieder aufzusuchen,
um zu erfahren, daß wir nichts mit uns selbst zu tun haben.
Eine gravierende Erkenntnis, die wir mit verschiedenen
Formen und Sublimationen von Treue zu kaschieren
versuchen, weil die Unbeständigkeit unserer Person sonst
schieren Wahnsinn enthüllen würde. – Unten in der Stadt die
sogenannte Konferenz. Professor H. eine Persönlichkeit im
klassischen Wortsinn; eine in ihrer Absonderlichkeit geradezu
unverfrorene Erscheinung. Seine überwältigende
Vortragsweise. Unter den Referaten der Historiker sticht seines
deutlich hervor: Es habe keinen Befehl zur Ausrottung der
Juden, zur «Endlösung»
∗
gegeben. Keinerlei Führerbefehl
*
.
Was man als solchen bezeichne, seien lediglich vage, auf
mündlichen Äußerungen basierende Behauptungen. Alles sei
freiwillig, eigenmächtig, spontan geschehen. Bei
Befehlsverweigerung wäre es schwierig gewesen, sich auf
∗
Im Original deutsch
irgend etwas zu berufen – Beweis dafür seien die tatsächlichen
Befehlsverweigerungen.
In Kiel ein strahlender Himmel, vom Hotel am Waldrand aus
sehe ich direkt auf die südlich blaue Ostsee; am Ausgang der
Bucht halten mehrere acht- bis zehnstöckige Schiffe langsam
auf die blau-weiße Weite zu. Müdigkeit. Im Zug nach
Hamburg erwache ich jäh, weil mich jemand mustert. Zwei
schräg gegenübersitzende junge Frauen starren mich an. In
ihrem Blick ist noch immer etwas wie Verdutztheit, ja leiser
Schrecken. «Hab ich geschnarcht?»
∗
frage ich, selber
erschrocken. «Nee, nee»
*
, wehren sie ab und beginnen sich
sofort lebhaft miteinander zu unterhalten. Ich zerbreche mir
den Kopf, womit ich diesen Mädchen wohl solchen Schrecken
eingejagt habe. Im Spiegel ihres befremdeten Gesichts erblicke
ich plötzlich mich selbst, einen älteren Ausländer, der mit
zurückgesunkenem Kopf und offenem Mund reglos dasitzt und
von dem man nicht weiß, ob er schläft oder vielleicht schon tot
ist. Ich muß ihnen ein unangenehmes Reiseerlebnis gewesen
sein.
Hamburgs weiße Villen. Der Flughafen. Dann München. Es
geht mir durch den Kopf, daß ich nach vierzig Jahren
∗
Im Original deutsch
Gefängnisleben nun plötzlich so viele Flughäfen und Bahnhöfe
kenne, mit völliger Selbstverständlichkeit die verschiedensten
U-Bahnen und Schnellzüge benutze. Bedeutet es mir etwas? Es
wäre gelogen, ich sagte nein. Ich bin der leicht skeptische, aber
durchaus empfängliche Protagonist meines
Lebens-
Entwicklungsromans
∗
.
Draußen am Starnberger See, Tutzing, Evangelische
Akademie. Wieder eine sogenannte Konferenz, die unter dem
Titel «Deutsche und ungarische Intellektuelle im Gespräch»
angekündigt ist. Ich habe dafür eigens ein Elaborat verfaßt:
«Der überflüssige Intellektuelle». Eine verstörte Dame
empfängt mich mit seltsamen Nachrichten. Von zuständiger
ungarischer Seite sei verlautet, man halte die Liste der
ungarischen Geladenen für einseitig. Gegen mich wurde
vorgebracht, ich schriebe nur über ein einziges Thema
(nämlich Auschwitz) und sei somit nicht repräsentativ für das
Land (nämlich Ungarn). Die Worte der verstörten Dame
verstören mich; ich spüre, wie der offerierte Wahnsinn
hoffnungslos und unausweichlich von mir Besitz ergreift.
Zuerst nimmt er in mir die Züge von Selbstmitleid und
Entrüstung an; danach beginnt die Leidenschaft Argumente zu
∗
Im Original deutsch
sammeln, steigt in den Ring der Logik, obwohl klar ist, daß
man mich nur in den Ring zwingt, um mich k. o. zu schlagen.
Diese Logik offeriert brillante Wahrheiten, und jede Wahrheit
ist eine Fußangel. Je mehr Argumente für mich sprechen, desto
weiter entferne ich mich von der Wahrheit, weil ich an einem
Sprachspiel teilnehme, dessen Komponenten allesamt
wahrheitswidrig sind, weil ich mich in einer Ordnung des
Denkens bewege, die alles verfälscht. Wenn diese Ordnung des
Denkens Wirklichkeit schafft, kann meine Wirklichkeit, als
Teil davon, nur Mittel zum Zweck sein. Es scheint, als wäre ich
ein gefährlicher Gegner, während ich doch nur einem
perversen Bedürfnis diene, das mich an sich reißt und
schändet, wie ein Lustmörder sein Opfer.
Doch wie sollte ich nüchtern bleiben, wenn die Wollust des
Wahnsinns so verlockend ist? Hat man mich nicht beleidigt?
Hat man mich nicht ungerecht behandelt und diskreditiert?
Sind nicht antisemitische Affekte im Spiel? Sieht es nicht wie
eine Rückkehr alter Methoden aus, wenn die Kulturdiplomatie
eines postkommunistischen Staates im Ausland seine eigenen,
unerwünschten Bürger in den Dreck zieht? Und so weiter –
Argumente des Wahnsinns, die im Gewande juristischer Logik
daherkommen, um sich meiner zu entledigen.
Wäre es nicht interessanter, der Wahrheit ins Auge zu
blicken? Sollte ich nicht lieber ein für allemal mit meinem
negativen Wahnsinn aufräumen, der mir den widerwärtigen
Stempel eines Opfers aufdrückt? Es ist evident: Eine kleine
Nation, die längst aus dem großen Prozeß der sogenannten
Weltgeschichte ausgeschieden ist und sich zudem schwertut,
ihre wahre, adäquate Rolle in Raum und Zeit zu finden
(vielleicht ist eine solche Rolle für sie gar nicht vorgesehen):
eine solche Nation kann sich als Nation nur wahnsinnig
gebärden.
Wenn sie nicht einsehen wollen, daß ihr kaputtes Privatleben
und die verfehlte Geschichte auf ihr eigenes Konto gehen,
wenn sie darin ein von bösen, fremden Kräften verursachtes
Unglück, einen nationalen Fluch, Schicksal, ja Verhängnis
sehen wollen: dann läßt sich wohl sagen, daß sie den
Antisemitismus brauchen.
Die an einem Vaterkomplex leidende, sadomasochistisch
perverse osteuropäische Kleinstaatenseele kann, wie es scheint,
nicht ohne den großen Unterdrücker leben, auf den sie ihr
historisches Mißgeschick abwälzt, und nicht ohne den
Sündenbock der Minderheiten, an dem sie all den Haß und all
das Ressentiment, das der tägliche Frust erzeugt, abreagiert.
Wie soll einer, der permanent mit seiner spezifisch
ungarischen Identität beschäftigt ist, ohne Antisemitismus zu
einer Identität gelangen? Was aber ist das ungarische
Spezifikum? Zugespitzt formuliert, läßt es sich nur durch
negative Charakteristika bestimmen, deren einfachstes – redet
man nicht um die Sache herum – so lautet: Ungarisch ist, was
nicht jüdisch ist. Nun gut, was aber ist jüdisch? Das ist doch
klar: was nicht ungarisch ist. Jude ist der, über den man in der
Mehrzahl reden kann, der ist, wie die Juden im allgemeinen
sind, dessen Kennzeichen sich in einem Kompendium
zusammenfassen lassen wie die einer nicht allzu komplizierten
Tierrasse (dabei denke ich natürlich an ein schädliches Tier,
das – schiere Irreführung – ein seidiges Fell hat) usw.; und da
«Jude» im Ungarischen zum Schimpfwort geworden ist, macht
der als Kollaborateur ehrenhaft ergraute politische Redner und
schnellgebackene Ungar einen Bogen um den heißen Brei und
benutzt das Wort «Fremder» – doch weiß jedermann, wer
gegebenenfalls seiner Rechte beraubt, gebrandmarkt,
geplündert und totgeschlagen wird.
Und ich – was kann ich tun?
Schon seit langem nichts. Ich habe den Moment zum
Handeln verpaßt, bin bloßer Wächter und Zeuge. Vielleicht
wird mir diese Fahrlässigkeit, im Zusammenhang mit der
isolierten Sprache und der unmöglichen Umgebung, als
Schriftsteller zum Verhängnis. Doch müßte ich mich schon
mehr für die Unsterblichkeit interessieren, um deswegen
betrübt zu sein.
In begrifflicher Klarheit steckt immer ein wenig Trost. Mit
Karl Kraus gesprochen ist die Lage hoffnungslos, aber (noch)
nicht total. Durch eine höfliche Verbeugung kann ich noch
immer der Einladung zur Hinrichtung entgehen – und das ist
meine Aufgabe, praktisch und mental.
Nachmittags um fünf Rendezvous am Münchner
Hauptbahnhof. Ich komme mit dem Zug aus Berlin, M. mit
dem Auto aus Budapest. Seit wann wage ich es, solche Treffen
zu vereinbaren? Woher nehme ich das unbegründete,
kosmische Vertrauen? Als ich nach siebenstündiger Zugfahrt
aussteige, sehe ich niemanden. Beziehungsweise ein
Gewimmel von Gesichtern, in dem ich mit dem Blick
vergeblich herumstochere. Langsam überkommt mich das
vertraute, watteartig gedämpfte Gefühl der Unwirklichkeit.
Doch siehe da, was für ein Lächeln taucht plötzlich in dem
bunten Gewirr, zwischen den zerstiebenden Marionetten auf
und hält geradewegs auf mich zu? Ich höre ihre Worte: Die
achtstündige Autofahrt habe sich um zehn Minuten verzögert,
weil an einem Grenzübergang ein Stau entstanden sei – doch
mit einemmal wird diese lärmige, wimmelnde, turbulente
Halle, dieser absurde Schauplatz, wo unsere Wege
zusammenlaufen, zu einer Art archaischen Kulthöhle, erfüllt
mit der metaphysischen Bedeutung der Begegnung, mit der
affirmativen Suggestion einer gleichsam schicksalhaften
Zusammengehörigkeit, die ich einen Augenblick als völlig real
erlebe. Dann bahnen wir uns einen Weg durch die Menge, zum
Ausgang, zum Parkplatz, und fahren weiter, nach Florenz…
Budapest. Träume. In der vorigen Nacht meine Mutter, der
übliche vage Traum, voller Gewissensbisse. Vor zwei Tagen
ein hellbrauner tollwütiger Hund, ich sah seine scharfen Zähne,
spürte schon die grausam-böse Wirklichkeit seines Bisses, als
in einem Arkadenhof Feuer ausbrach, das blitzschnell um sich
griff und dunkle Rauchwolken bildete, wie wenn Öl oder
Benzin brennt.
Es ist etwas anderes, zu Hause heimatlos zu sein als in der
Fremde, wo wir in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden
können.
Aus zahllosen kleinen, individuellen Irrtümern entsteht der
große, gemeinsame Irrtum. Und dieser Irrtum ist unsere
einzige Wahrheit.
Einige Fragen, auf die ich immer falsche Antworten gebe
(falsch meint: irrig, weil dies in der Natur der Sache liegt, doch
habe ich zuwenig beachtet, daß jeder Irrtum immer mein
Irrtum ist, das heißt meine einzig mögliche Wahrheit). Zum
Beispiel: Ob wirklich nur mörderische Umstände für mich eine
Kraftquelle seien? Das kann ich nicht wissen, weil diese
Kraftquelle immer nur zur Darstellung der mörderischen
Umstände diente, unter ebendiesen mörderischen Umständen.
Ließe sich der Akt der Unabhängigkeit oder Freiheit hier
zweifelsfrei nachweisen, dann wüßte ich, daß diese Kraftquelle
sich nicht den mörderischen Umständen, sondern einer viel
tieferen, wesentlicheren Notwendigkeit verdankt, dann könnte
ich sagen, daß ich zum Künstler geboren wurde. So aber kann
ich nur feststellen, daß ich mit diesen mörderischen
Umständen so heftig zusammengeprallt, dann
zusammengewachsen bin, daß diese Fusion explosionsartig
eine neue Qualität erzeugt hat – durch mich und in mir.
Weiter: Warum ich am Ende des Galeerentagebuchs so viel
über Gott rede. Hier allerdings ist die Frage falsch gestellt,
denn über Gott kann man meines Erachtens nicht reden, Gott
ist weder Person noch Gegenstand, es ist zu befürchten, daß
wir es mit einem Sprachproblem zu tun haben. Ich spreche
davon, daß der Mensch in bestimmten Situationen Gott denken
muß beziehungsweise über Gott nachdenken muß – es handelt
sich also schlicht um ein Zeugnis, ein «documentum
humanum», um nichts weiter.
Schließlich: Das Thema des sogenannten Antisemitismus.
Darum «sogenannt», weil er nicht mehr der gleiche ist,
sondern ein anderer (obwohl man das nicht wahrhaben will).
Hier, bei der Unterscheidung zwischen Antisemitismus und
Antisemitismus, muß man das Faktum Auschwitz
berücksichtigen. In der Geschichte des Antisemitismus ist
Auschwitz ein Wendepunkt, wie beispielsweise in der Physik
die Quantentheorie. Womit ich nur sagen will, daß ein
Antisemit, der Auschwitz außer acht läßt, kein echter,
glaubwürdiger, ernster, auf dem Gebiet seines Wahns
bewanderter und gebildeter Antisemit sein kann
–
ebensowenig wie der Physiker, der noch nie von der
Quantentheorie gehört hat. Es ist nämlich so, daß Auschwitz
die Antisemiten permanent in Verlegenheit bringt: auf
Auschwitz gibt es – sieht man von der schieren Billigung ab –
keine antisemitische Antwort. (Kürzlich erlebte ich, wie im
Lebensmittelgeschäft gegenüber ein Mann die Bierflasche
schwenkte und schrie: «Die opfern sich lieber selber, nur um
Schadenersatz zu bekommen!» Dieser unverblümte
Infantilismus war jedoch so komisch, daß ich laut lachen
mußte, worauf der Mann mir freundlich zublinzelte.) Der
Antisemitismus wurde zu Ende gedacht, und das Gedachte
wurde in die Tat umgesetzt: mit Auschwitz hat die klassische
Geschichte des Antisemitismus ihr Ende erreicht – freilich in
dem Sinne, wie für manche die Geschichte selbst an ihr Ende
gelangt ist. Das heißt, alles geht weiter, nur irgendwie matter,
wenn auch unverblümter: die Nebengeräusche der
antisemitischen Ideologie, die niemanden von nichts mehr zu
überzeugen vermag, werden in Zukunft höchstens als
unartikulierte Hetzrufe vonnöten sein, als Metronomschläge
zum Takt der Menschenvernichtung.
_____Noch nie habe ich die gravierende Tatsache analysiert,
daß das Lieblingsmärchen meiner Kindheit Das häßliche
Entlein war. Ich habe es oft gelesen und jedesmal fleißig
geweint. Es ist mir häufig auf der Straße, im Bett vor dem
Einschlafen usw. in den Sinn gekommen, als Trost, der sich an
allen für alles rächt. Womöglich sagt es mehr über meine
geheimen Lebensgrundsätze aus als die großen
Jugendlektüren, von denen ich glaubte, sie hätten mein
Schicksal tiefgreifend verändert, hätten meine Wege – oder
Irrwege – bestimmt.
In Weiterführung von Freuds Idee, wonach sich im deutschen
Antisemitismus der einstige latente Widerstand der
heidnischen Germanen gegen das Christentum spiegeln dürfte
– denn das Christentum ist ja ein Kind des jüdischen
Monotheismus –, wäre zu erwähnen, daß für die
Tiefenpsychologie der «Endlösung»
∗
auch eine gewisse Rolle
gespielt haben mag, daß die Juden das biblische Volk sind.
Man wollte die Schrift auslöschen. Wollte allein sein. Ohne
Gesetz.
Die Feinheiten der Tiefenpsychologie. Die unermeßliche
Drehbühne der historischen Analyse, Hannah Arendts
∗
Im Original deutsch
großräumige und tieflotende Vision vom Ursprung und
Aufkeimen des Antisemitismus zur Zeit der europäischen
Aufklärung, das heißt der Judenemanzipation. Wie aber erklärt
sie Auschwitz, die Sonderkommandos, den Alltag des
Lagerlebens? Hier nämlich muß jede historische, jede
wissenschaftliche Erklärung versagen. Hier spielt sogar der
Antisemitismus kaum noch eine Rolle. Hier quält nur noch ein
Mensch den andern, mordet zuhauf, schwelgt im Gestank
verwesenden Fleisches, hier werden nur noch Leichen von den
Händen Halbtoter verbrannt und Gegenstände von
Magazinarbeitern sortiert; die Welt geht im Innersten
zugrunde, was sowohl die Geschichte als auch Verstand und
Wissenschaft weit übersteigt…
Habt ihr bemerkt, daß in diesem Jahrhundert alles
eigentlicher wird, sein eigentliches Selbst offenbart? Der
Soldat wird zum Berufsmörder, die Politik zum Verbrechen,
das Kapital zu einem mit Krematorien ausgerüsteten
Menschenvernichtungsbetrieb, das Gesetz zur Spielregel für
schmutzige Spiele, die Weltfreiheit zum Völkergefängnis, der
Antisemitismus zu Auschwitz, das Nationalgefühl zum
Genozid. Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Wahrheit, ohne
jeden Zweifel. Doch aus purer Gewohnheit wird
weitergelogen, obwohl jeder die Absicht durchschaut; schreien
sie: Liebe – weiß jeder, daß die Stunde des Mordens
gekommen ist; schreien sie: Gesetz – regieren Diebstahl und
Raub.
Vergessen wir nicht, daß man Auschwitz keineswegs wegen
Auschwitz liquidierte, sondern weil das Kriegsglück
umschlug; auch ist seit Auschwitz nichts geschehen, was wir
als Widerlegung von Auschwitz hätten begreifen können.
Indessen haben wir erlebt, daß Reiche von Ideologien
beherrscht wurden, die sich in praxi als bloße Wortspiele
entpuppten, wobei gerade ihr Wortspielcharakter sie tauglich,
das heißt zum wirksamen Instrument des Terrors gemacht hat.
Wir haben erlebt, daß Mörder und Opfer sich gleichermaßen
über die Leere, die Bedeutungslosigkeit solcher ideologischen
Befehle im klaren waren: und gerade dieses Bewußtsein
verlieh den im Namen solcher Ideologien verübten Greueltaten
jene besondere, unvergleichliche Schändlichkeit und
pervertierte die von solchen Ideologien beherrschten
Gesellschaften bis hinab an die Wurzeln. Mörderische Salven,
mehr noch die bloße Faust, «der mörderische Stockhieb» mit
dem gleichzeitigen Gebrüll eines wahrhaft mörderischen
Unsinns haben sich als das genüßlichste Machtgefühl
erwiesen, das vernunftschändende Morden hat ein
orgiastisches Glücksgefühl erzeugt, das dem Menschen und
seiner Zukunft wahrhaft apokalyptische Perspektiven
eröffnet…
Man müßte einmal alle Ressentiments analysieren, welche
die zeitgenössische Intelligenz gegen die Vernunft hegt, müßte
eine Geistesgeschichte des Hasses auf den Geist verfassen…
Ich schreibe diese Zeilen mit besonderer Bitterkeit und
besonderer Genugtuung (um nicht zu sagen Wonne) und habe
zugleich eine starke Empfindung von der Vergeblichkeit und
Unzeitgemäßheit meines Seins. Was bewegt mich, warum
kritzle ich mit meinem Kugelschreiber aufs Papier? Wozu all
diese geheimen Morgen und geheimen Spaziergänge, all diese
einsamen, intimen Selbstquälereien? Bin ich etwa ein
Kryptoprophet? Ein unter den Trümmern der Zeit sich
versteckender Chronist? Formuliere ich Antworten auf Gottes
unablässige Fragen? Irgendwann muß ich mich um die äußere
Gestalt des Stoffes kümmern, um die impassibilite, die
künstlerische Makellosigkeit – aber wird ein solcher Moment
kommen? Und ist das überhaupt wichtig? Ist nicht viel
wichtiger, was am Schluß der Englischen Flagge steht: «Wer
sieht durch uns?» Denn wir müssen so denken, das heißt auch
leben, als sähe einer – nicht uns, nicht mit unsern Augen,
sondern durch unser Leben.
Was bedeutet das, strenggenommen? Keineswegs eine
Lösung. «Ich bin nicht bereit, mit erlöster Seele in einer
unerlösbaren Welt zu wandeln» – sagt Buber (zitiert von Ervin
Nagy Valyi).
Budapest, Januar 1994. Ich spüre meinen inneren Verfall. Die
dumme Leidenschaft des Zeitungslesens. Die verhaßten
Fakten, die zerstörerische Umgebung – auf den Straßen und
Gehsteigen, in den Läden: die tägliche Aggression überall löst
den Reflex der täglichen Haßanfälle aus. Dieses dumme Leben
spielt sich auf einer einzigen Ebene ab, auf der Ebene des
Nachdenkens über lauter Ephemeres. Meine ewige Seele
(wenn ich mich so ausdrücken darf), meine ewige Seele läßt
mich langsam im Stich, und schon spüre ich ihren enttäuschten
Rückzug: auch in diesem Haus habe ich umsonst ein Nest zu
bauen versucht…
Heute morgen sah ich einen sechs- bis siebenjährigen Jungen
mit vornehmem, dunkelhäutigem Gesicht; schmutzig und
zerlumpt kauerte er auf dem kalten Asphalt Ecke Margit körút
und Károly-Szasz-Straße, an eine Hauswand gelehnt. Stumm,
mit selbstvergessenem Gesichtsausdruck wühlte er in seinen
Taschen. Die Almosen nahm er wortlos und würdevoll
entgegen, ohne darauf zu achten, wer wieviel Kleingeld in das
mützenähnliche Ding vor ihm warf. Das Bild hatte etwas
Endgültiges, etwas unabänderlich, ja vollendet Apathisches.
Mich abwenden (weil ich nicht anders kann). Ich verliere
meine Empfänglichkeit für die Freude, für die absurde
Schönheit des Lebens – ich verliere die Empfänglichkeit für
mich selbst. Ich verliere den Überschuß, den Lebensüberschuß,
in dem mein Reichtum, die latente Quelle meines Schaffens
liegt; indes ist es einzig das sogenannte Schaffen, in dem sich
mein wahres Wesen manifestiert (warum aber muß es sich
überhaupt manifestieren? – nicht enden wollende Fragen).
Unzeitgemäß leben, das heißt tragisch leben, in den
weitläufigen Dimensionen des einmaligen Seins und des
unberechenbaren, schnellen Todes, wie jemand, dem zwischen
zwei faden Kokon-Existenzen dieser einzigartige, kurze
Sommer zuteil wird.
_____In letzter Zeit habe ich keine großen, weg weisenden
Träume mehr. Ich schlafe vergebens und wache umsonst auf.
Diese unendliche Leere, wenn ein Gefühl vergeht. Wenn ein
langes Buch, in dessen Welt du dich eingenistet hast,
ausgelesen ist; wenn du eine Liebesbeziehung beendest; wenn
die anspornende Inspiration ausbleibt – da erfährst, da siehst
du die Welt mit einemmal ohne Ziel, ohne Sehnsucht, Willen
und sonstige Manipulationen, einfach so, wie sie ist, als das,
was sie ist.
Du erlebst dein Unglück und begreifst, daß diese Leere der
Welt gewissermaßen dein Werk ist.
Lange habe ich die Lebensträgheit meiner Väter verachtet;
daß sie in diesem Land lebten und sich gleichsam durch den
natürlichen Lauf der Dinge, sozusagen durch die organische
Entwicklung plötzlich mit der Wahrheit um sich herum
konfrontieren mußten. Es gibt keine größere geistig-moralische
Niederlage, als den Tod aus den Händen jener
entgegenzunehmen, die wir restlos verachten. Was spricht aus
solchem Versäumnis? Selbstverachtung? Blindheit?
Bequemlichkeit? Ungläubigkeit? Fatalismus?
Auch ich lebe so, abwartend, gleichgültig, schuldig. Es ist
März, die Sonne scheint, der Nationalfeiertag steht bevor. Als
ich auf dem Szenater aus der Straßenbahn schaue, sehe ich
einen Aufmarsch von jungen Leuten in tarnfarbener Kleidung
und schwarzen Schnürstiefeln, mit Arpadfahne und
waffenähnlichen Dingern unterm Arm. Was haben sie vor? In
der Unterführung der Margit-Brücke ein weißbärtiger Greis in
gendarmgelbem Anzug, er trägt eine nationalfarbene
Armbinde mit schwarzem Doppelkreuz und auf dem Kopf
einen Pfadfinderhut mit Reiherbusch und bunten Federn… ein
vergreister nationalistischer Winnetou. Jungvolk, das sich in
leintuchgroße Trikoloren hüllt, haßerfüllte Blicke, die über
riesigen nationalen Abzeichen ihre Razzia machen. Flüchtig
taucht die Frage auf, ob es sich lohne, das Phänomen zu
analysieren; ich glaube, nein. Was dennoch auffallend daran
ist: das Fehlen von Veränderung. Als wären diese zumeist
jungen Leute, abgesehen vom Abstrahierbaren – der Person –
die gleichen, die ich in den vierziger Jahren gesehen habe –
gleiche Gesichter, gleiche Stimmen, gleiche Bewegungen
usw.; das läßt auf eine gewisse Konstanz der Wirklichkeit
schließen. Auffällig ist ihre mangelnde Anpassungsfähigkeit
und Flexibilität – sie wiederholen dasselbe, auf dieselbe Weise
–, was auf schwerwiegende Probleme im Bereich der Vitalität
hindeutet; ihre Aggressivität ist eine Dissimulation, das
Zeichen offenkundiger Dekadenz und Lebensuntauglichkeit;
nicht ihr Antisemitismus, nicht ihr unbezwingbarer,
beschränkter, zu jeder Anpassung oder Erneuerung unfähiger
Egozentrismus wird diese Menschen ins Verderben stürzen,
vielmehr zeigt sich daran, daß sie schon längst verloren sind.
Es fehlt ihnen vollkommen der feine Instinkt der
Aufnahmebereitschaft, sie schließen sich ab und schließen
andere aus; wenn aber eine Gemeinschaft den Anschluß an die
Weltkultur verpaßt, blickt sie verständnislos in den Abgrund,
der sich vor ihr auftut, obwohl dieser Abgrund da ist, um sie zu
verschlingen.
Die Vergeblichkeit aller Luzidität. Der Mensch ist, mit
menschlichem Verstand beurteilt, einfach jämmerlich ridikül;
aber gibt es denn einen andern Verstand, mit dem er zu
beurteilen wäre? Ist der Verstand eine tätige Energie? Und
wenn er den Menschen ununterbrochen in Frage stellt, muß
man da nicht auf negative Kräfte im Menschen schließen, auf
seinen unvermeidlichen Untergang? Ist der Kampf hienieden
nicht auch zu begreifen als ein Kampf der Ratio gegen die
Trägheit der Materie? Das heißt, die Ratio kämpft in ihrem
Kampf für den Fortbestand sozusagen gegen die dem
Fortbestand dienenden Instinkte, und wenn sie diese nicht
besiegen kann, muß sie zwangsläufig den Fortbestand selbst
verurteilen und das Urteil mit Hilfe der Instinkte vollstrecken.
So betrachtet könnte die Welt (und was ich von ihr sehe)
zweifellos Sinn gewinnen. Nur muß ich meine Augen sehr
anstrengen…
Eines Nachts (heute? gestern?) war ich im Traum in einem
Theater- (oder Konzert-)Saal, wo die Menschen stehend
applaudierten. Ich sah sie von hinten (an einen graublauen
Anzug und an den glattrasierten Nacken eines jungen Mannes
kann ich mich genau erinnern), somit muß ich wohl selber im
Publikum gewesen sein. – Oder war ich doch auf der
Bühne?…
Wenn ich mein Stück zu Ende bringe (was mir zur Zeit
immer unwahrscheinlicher vorkommt), möchte ich einige lang
hinausgeschobene Projekte in Angriff nehmen (die
Autobiographie Die Zone, in deren Mittelpunkt die
authentische Geschichte von A. steht; vielleicht werde ich die
Autobiographie aus dem Gesichtswinkel von A. das «Ich»
durch die «Sie»-Perspektive schildern, wodurch die Passion
eines gegen mich gerichteten Stils in vollem Maße moralisch
gerechtfertigt würde).
Gestern, beim Anhören des Quartetts op. 127 (zweiter Satz),
fiel mir auf, daß ein solches Gefühl in der heutigen Kunst
völlig fehlt. Was für ein Gefühl? Müßte ich es benennen,
würde ich am ehesten sagen: Dankbarkeit.
Wir mögen das Leben nicht. Wir freuen uns nicht daran.
Und doch muß das Leben ein großes Privileg sein, wenn wir
es mit dem Tod bezahlen müssen.
Ich versuche weise Bücher zu lesen, aber sie machen mich nur
immer gereizter. Die Weisheit läßt das Leben gewissermaßen
als Gewohnheit erscheinen, während man sich an das Leben
niemals gewöhnen kann. Und gerade darin liegt das
Entscheidende – sein einziger Reiz.
Mitten in meinen Sechzigern muß ich plötzlich feststellen,
daß der grundlegende Fehler meiner Arbeitsmethode bislang
meine Arbeitsmethode war.
Gestern mit Freunden. Es umgaben mich die sanften, ruhigen
Wellen der Sympathie; ich wagte es nicht, mich darauf zu
wiegen.
Nachts, auf der Heimfahrt, G. N.s ernstes Gesicht hinter dem
Lenkrad. Er fragte: Wenn Auschwitz für mich eine gültige
Metapher sei, ob ich dann die letzten Sätze meines Textes über
die überflüssigen Intellektuellen wirklich ernst meine, das
heißt, ob meines Erachtens zwischen einer «freien» und einer
«geschlossenen» Gesellschaft gewählt werden könne. Ich
sagte, was ich geschrieben hätte, sei mein Ernst; zwar könne
man das Bewußtsein der Schande nicht mehr aus unserm
Leben ausmerzen, doch dürfe diese Tatsache nicht zu weiteren
Schändlichkeiten verleiten.
Heute aber bin ich davon schon nicht mehr so ganz
überzeugt. Und auch nicht vom Gegenteil. Überhaupt bin ich
von meinen Worten nicht überzeugt, weil diese eine bloße
Meinung ausdrücken; unsere Meinungen müssen auf unserem
Leben gründen, in meinem Fall aber tun sie das nicht, schlicht
und einfach darum, weil mein Leben kein aktives Leben ist;
und so bin ich wieder einmal auf das Glatteis der Meinungen
geraten und prompt ausgerutscht; außerdem habe ich mich
plötzlich als Essayisten gesehen, und mich packte die Angst
vor dem Verdursten in der Wüste der Rhetorik…
Ich übe Einfluß auf andere aus und weiß selber gar nicht, wer
ich bin.
Mein Leben provoziert eine andere Frage, und diese könnte
so lauten: Bedarf es, um das Leben voranzutreiben, noch
schlichten menschlichen Ernstes, oder kann man auf solchen
verzichten; ist Moral im klassischen Sinne noch wichtig, oder
genügt hemmungsloser Machtzuwachs; inwiefern können der
hemmungslose Machtzuwachs und die Unterordnung der
Moral (die Funktionalisierung des Individuums, der Person) zu
einem besseren und reicheren Leben beitragen? Und ist die
moralische Qualität des Lebens – das Bemühen, besser zu
werden – überhaupt noch eine Kategorie, über die sich
nachzudenken lohnt – oder ist die innere Kultur des Menschen
mit Tolstoi zu Ende gegangen?
Auch darüber habe ich keine Meinung, diese Frage könnte
ich lediglich verkörpern, die Antwort lediglich leben,
praktizieren, ohne sie selber je finden zu können…
«Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht
auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts»
∗
–
Kafka. Ich bewege mich durch die Leere, um nicht zu sagen
abwärts.
∗
Im Original deutsch
György Ligeti: «Avantgarde und Moderne sind zwei
unterschiedliche Stilbegriffe» (Lettre, 1994, Nummer zwei). –
Ligeti hat damit, wie üblich, etwas Grundlegendes formuliert.
Die neue Romantechnik beruht alles in allem auf der
Einsicht, daß nicht der Schriftsteller die Welt (als sein
Erkenntnisobjekt) ergreift, sondern die Welt den Schriftsteller
(als Objekt ihrer unbeschränkten Willkür) ergriffen hat; solche
Einsicht hat jedoch verheerende Wirkungen auf die sogenannte
Literatur, diesen Kunstzweig, der immer kümmerlicher
dahinvegetiert. Noch holt sich die Literatur ihre letzte
Inspiration aus dem unwahrscheinlich rasanten Verfall
menschlichen Niveaus; doch bald schon wird dieser
unaufhaltbare Verfall jede Inspiration zunichte machen – außer
der des Untergangs. Schon jetzt: Wer spricht denn von
Literatur? Die letzten Zuckungen festhalten, das ist alles.
Ich ging durch eine öde, wüste Gegend; «eine flache und leere
Landschaft, wie am Ende der Welt, kaum noch als Landschaft
zu bezeichnen». Ich war ein emotional berührter Betrachter der
Dinge, nahm an ihnen aber nicht teil. Was wie eine Stadt
aussah, mündete in einen Schuttabladeplatz, in Moorland. Der
hellbraune, zottige Hund war nicht lahm, sondern zog die
Hinterbeine aus Müdigkeit nach. Alles war von
«Dämmerlicht» übergossen, vom Widerschein eines Feuers. In
der Tiefe eines an eine Sandgrube erinnernden Höllenkreises
erblickte ich plötzlich altersschwache Menschen mit
malvenfarbenen, leichenfleckigen Gesichtern; an einen Mann
kann ich mich gut entsinnen, er trug eine Wollweste (wie sie
A. für mich gestrickt hat) und lag sanft im Sterben (wie alle
übrigen Menschen auch); ich sah auch den Hund wieder, er lag
auf dem Bauch; der vom Hunger Ausgezehrte streichelte
zärtlich-vertraut das vollkommen geschwächte Tier, das sich
an ihn schmiegte. Mich bedrückte das Schweigen in diesem
von Lebenden bevölkerten Massengrab, wo die Menschen sich
der friedlichen Beschäftigung der Agonie hingaben. Doch
gelang es mir ohne größere Schwierigkeiten, mich jetzt weder
als Sterbender noch als Betrachter zu empfinden; irgendwie
wurde ich ins Bild hineingesogen, das mich gleichwohl nicht
vollständig aufnahm. Ich erinnere mich an den Mann mit der
Weste, wie er im Liegen (zu mir?) hochsah, mit abweisendem
Gesichtsausdruck, wie nicht von dieser Welt, und dabei in
einem fort den Hund streichelte: gemeinsam warteten sie auf
die Erfüllung ihres Schicksals, unnahbar stolz und ruhig.
Ich bin der Sache nicht nachgegangen, ich mußte aufwachen.
Dann aber habe ich sie rasch geklärt. Allmählich kenne ich die
Symbolwelt meiner Träume. Ich weiß, warum die Hungernden
hier hungern. Ich weiß, wer der Mann ist. Ich weiß, wer der
Hund ist. Ich weiß, warum sie hungern müssen. Ich weiß, was
ich ihnen vorenthalte. Ich weiß, warum ich sie sehen muß. Ich
weiß alles. Ich weiß auch, daß die Qual des Wissens mich nie
verlassen wird.
_____Im April erneut in Szigliget; der alte Ort, das alte
Zimmer. Als ich den oberen Spazierweg betrat, schlug mir der
Blumenduft entgegen und mit ihm die alte, alte abendliche
Wehmut… Das Ganze dauerte nur einen Augenblick, und
schon verwandelte sich die Nostalgie in ein Déjà-vu… Als
wäre ich hier schon einmal gegangen. Als hätte ich in diesem
Zimmer gerade Die Geburt der Tragödie übersetzt, die ersten
Sätze von Kaddisch… geschrieben, als hätte ich hier (vor 18
Jahren weniger einen Monat) jenes Gewitter erlebt, von dem in
Kaddisch… die Rede ist und in dessen rötlichen Blitzstrahlen
ich gleichsam meine künftigen Werke erblickte; in einem
Licht, das den Blitzstrahlen glich, schienen sie auf und
verlöschten, um später im Wechsel von Inspiration und
Depression – gleich den Lichterscheinungen des Gewitters –
eins nach dem andern zu entstehen. Als hätte ich hier – für
mich selber unerwartet – das Haar der Schweizerin
gestreichelt, an der ich mich eines langen Nachmittags
wunderbar für eine arg verpfuschte Sache rächte, die ich
damals, mit der transzendenten Höflichkeit des Betrogenen,
«Liebe » nannte – und so weiter. Alles ist da, aber alles ist
anders, auch ich. Das Menschenleben hat Perioden, wie die
Erde geologische Zeitalter: die brodelnden Lavaströme, dann
die Eiszeit, Sintflut, Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit… Mein
erneutes Hiersein ist ein seltsames Spiel mit der Zeit. Es hat
keinen tieferen Sinn, keine geheime Bedeutung. Ich möchte
nur ein wenig an meinem Stück arbeiten, abgeschirmt, ruhig,
weitab vom tobenden Irrsinn der Stadt. Im Park habe ich einen
Hirsch gesehen, der die frischen Rosentriebe und -knospen
fraß.
Mein Stück – von jetzt an muß ich mir das ständig vor Augen
halten – handelt von Auschwitz’ Sieg, weil «der Geist der
Geschichte», die Welt als Geschichte ebenfalls davon handeln.
Schriftstellergeplauder im Gemeinschaftsraum: einsame
Raubtiere kreisen um die leeren Schüsseln.
Der wüste Park. Vor meinem Fenster der Strauch mit den
nadelförmigen Blättern; einst strotzte er vor Kraft und wuchs
wie lodernd empor, so daß ich ihn jahrelang «grüne Flamme»
nannte, jetzt aber ist er ausgetrocknet, schlaff und welk.
Der vage Eindruck, von meinen Zunftgenossen kalt berührt
zu werden. Als hörte ich hinter meinem Rücken
vorbeihuschende Reptilien, doch wenn ich mich umdrehe,
verschwinden sie oder verziehen ihren Krokodilrachen rasch
zu einem Lächeln. Sie drücken mir eine Kritik in die Hand,
und ich kann nicht entscheiden, ob aus Boshaftigkeit oder
reinem Wohlwollen. An einer markanten Stelle bezeichnet
diese Kritik mich als «ungarischen Schriftsteller». Frage:
Warum muß man mich einen «ungarischen Schriftsteller»
nennen, wenn ich meine Geschichten doch (größtenteils) in
einer ungarischen Umgebung ansiedle und (immer) auf
ungarisch schreibe? Wozu diese fast provokative Feststellung:
«ungarischer Schriftsteller»? Offenkundig, weil ich keiner bin.
(Offenkundig, weil sie mich nicht für einen solchen halten.)
Für mein Ohr jedenfalls ist diese Aussage, diese
Wortverbindung nicht mehr als ein Gaumen-, Kehl- oder
Zungenlaut. Einen Wahrheitswert, wie Wittgenstein sagen
würde, hat sie nicht. Was sollte diese Aussage schon bedeuten?
Etwa folgendes: Man möge mich, obwohl ich kein
«ungarischer Schriftsteller» bin, als «ungarischen
Schriftsteller» anerkennen und annehmen. Dies ist jedoch
keineswegs mein Wunsch (man hat mich ja nicht einmal
gefragt), vielmehr der Wunsch des Verfassers; und meist wird
er von Leuten geäußert, die selber (natürlich zusammen mit
ihren Problemen) irgendwo als irgendwer anerkannt und
angenommen werden möchten, hier vermutlich als «Ungarn»
(obwohl überhaupt nicht klar ist, was und wen der Begriff
genau meint). Was mich betrifft, so habe ich meinen
spezifischen Status längst akzeptiert und seit der neuesten
Zeitrechnung nicht nur erneut akzeptiert, sondern zugleich
gewählt: Aus bestimmten Gründen gehöre ich nicht hierher
(kann ich nicht hierhergehören), zum größten Teil schreibe ich
nicht für jene, deren Sprache ich spreche (kann es nicht), und
irgendwie tut es mir gut, dies so klar zu formulieren, nachdem
ich (in einer andern Situation, unter Hammer und Sichel, wo
ich sogar das trübe Spiegelbild nur durch einen Spiegel
wahrnehmen konnte) meine wahre Lage lange sozusagen
metaphysisch umschreiben mußte, als die eines Fremden in der
Welt usw. Das stimmt schon, bloß: die «Welt» (die mich
umgibt) ist Ungarn, und der wahre Name meiner «Fremdheit»
heißt Judentum; damit aber ein Jude heutzutage (und dieses
Heutzutage dauert nun schon gut sieben Jahrzehnte) als Ungar
akzeptiert wird, muß er bestimmte Bedingungen erfüllen, die –
um es kurz und bündig zu sagen – im wesentlichen zur
Selbstverleugnung führen.
Das Leben ist nämlich entweder Demonstration oder
Kollaboration.
M.s Fähigkeit, glücklich zu machen – das außergewöhnlichste
aller Talente… Rasch ziehe ich meine Hand zurück, wenn sie
mich am Glück teilhaben lassen will, doch sie zwingt ihre
Finger zwischen meine und schmuggelt so ihren Schatz in
meine Hand; ich halte ihn erschrocken, fürchte, ihn
anzuschauen, fürchte, daß er unter meinem Blick zerfällt… –
Der unverhoffte Zauber verlassener Nebenstraßen; nach einer
Steigung taucht völlig unerwartet ein märchenhaftes Dorf vor
uns auf, mit leuchtenden, schneeweißen Säulenarkaden und
roten Ziegeldächern. Namen wie: Nemesvita, Nagyvazsony,
Vóróstó; schläfrig-zeitlose Stimmung, Glockengeläut, ein
Obstgarten, ein Hund, der uns hinterm Zaun ankläfft, eine
dunkelgekleidete Frau auf der Dorfstraße. Sanfte Gegend,
lichter, verträumter Bakonywald; und plötzlich tut sich der
Horizont auf, und unten erstrahlt ein gelbes Rapsfeld im
Sonnenlicht.
Nicht Gott, nicht der Mensch, nicht die Gesellschaft, nicht
ausgetüftelte «Pflichten» – einzig das Bewußtsein des Todes
verpflichtet uns zu profundem künstlerischem Schaffen.
Ende Mai. Gestern noch habe ich im Americain Café an der
Amsterdamer Leidse Pleinen Kaffee getrunken. Die van Goghs
und Rembrandts. Plötzlich hat man, beim Betreten eines
Raums, die Nachtwache vor sich. Das Selbstbildnis mit
Turban, als Apostel Paulus. Die rissige Gesichtshaut, die
großporige Nase, der skeptische Blick, die hochgezogenen
Augenbrauen, die gerunzelte Stirn: dieses Gesicht kann man
nie mehr vergessen. Die portugiesische Synagoge (hier
«Esnagoga» genannt). In einer Amsterdamer Kneipe habe ich
Genever getrunken, den Wacholderschnaps, der in Camus’
Roman (Der Fall) die Hauptrolle spielt; zwischen den
Messinghähnen, der Theke, den an Bilder von Cezanne
gemahnenden traurigen Flaschen schenkt die füllige blonde
Wirtin Getränke aus, neben ihr, in einem großen Käfig, trippelt
und lärmt ein Kakadu. Amsterdams Häuser, Amsterdams
Mythos, Amsterdams Geschichte, der «protestantische Geist».
Durch das Fenster meines Hotelzimmers sehe ich auf die
schmalen Puppenhäuser auf der andern Seite des Kanals, auf
die vorhanglosen Fenster, ich kann in die Küche hineinsehen,
darüber ein Schlafzimmer, ein kleines Büro, ein winziges
Wohnzimmer (vermutlich scheint es nur winzig). Abends um
halb zehn bricht zwischen den behäbigen flämischen
Haufenwolken plötzlich die Sonne hervor. Das Bordellviertel.
In einer engen Gasse eine undurchdringliche Menge vor den
Schaufenstern mit den Mädchen: Gedränge, Schreie, Schwüle,
das Vibrieren der Leidenschaft; dann greift eine Hand plötzlich
nach einem Hals und drückt einen Männerkopf mit
bräunlichem Teint an die Hauswand; nun hagelt es Fausthiebe,
über das zuckende Gesicht fließt Blut. Ja, auf diese Szene lief
hier alles hinaus, die Vorgeschichte mußte in diese Fausthiebe
münden, und offenkundig nicht nur heute, sondern jeden
Abend. Trotzdem läßt die seltsam rauhe Schönheit dieser
dämmrigen Gäßchen, dieser sonderbar geformten Häuschen,
dieser kleinen Brücken mit den roten Laternen, dieser
wimmelnden Kais all dies annehmbar erscheinen, verklärt es
mit ihrem Zauber.
Seither spukt ständig ein Zauberwort, ein Hexenspruch in
meinem Kopf herum: «die westliche Kultur…» Heute nur noch
ein Zauberwort – Gewoge einer gesichtslosen Masse in einem
immer noch Europa genannten Museum –, doch wieviel
Vergangenheit verbirgt sich dahinter, wieviel atemberaubende
Schönheit, wieviel Verklärung des Lebens, unseres Lebens,
wieviel Tapferkeit, Wahrheit, Größe und Kraft… Da taucht
Kapitän Cocqs Kompanie flink und mit neugierigem
Tatendrang aus dem Dunkel auf – für einen Augenblick nur:
sie kommt mit ihren Laternen aus dem Dunkel und kehrt gleich
wieder ins Dunkel zurück, um seine Tiefen zu erkunden, um
ihre endlose Nachtwache fortzusetzen, die heute ein Ende
gefunden hat. «Und trotzdem» – wie der greise Oedipus sagt;
trotzdem geht mir das Zauberwort nicht aus dem Sinn; jetzt
verbinde ich damit zwei Werke, Die Nachtwache und das
Quartett op. 132 in a-Moll…
_____Die Erinnerungen sind wie verwahrloste herrenlose
Hunde, sie umringen und starren einen an, sie hecheln und
heulen zum Mond, du möchtest sie verscheuchen, aber sie
weichen nicht, gierig lecken sie deine Hand, und hast du sie im
Rücken, beißen sie zu…
Die Bilder des verflossenen Sommers, als wären es Notizen
auf den abgefallenen Blättern, die der Wind vor meinem
Fenster hochwirbelt…
Plötzliche Dunkelheit an einem heißen Abend, unterhalb der
Wälder, auf der Straße nach Zugliget. Wie mich Einsamkeit
und Beklemmung befielen. Hinter den Zäunen das
unheilverkündende Gebell der Hunde; irgendwo das schnelle,
böse Geknatter von Luftgewehren. Sie üben. Wer? Warum?
Was für Feinde umgeben uns?
Die alte Frau, die mich auf der Varosmajor-Promenade
ansprach: wo das Janos-Krankenhaus sei. Die Frage war
überflüssig (denn augenscheinlich wußte sie es genau). Ihre
Augen, diese eingefallenen Augen, die das in ihrem Innern
tobende Chaos widerspiegelten, im übrigen aber vollkommen
gleichgültig auf die sogenannte reale Welt blickten, nicht
zuletzt auf mich. Sie trug gute Kleidung, hatte ein gepflegtes
Äußeres und auf dem Arm eine tiefe Wunde, auf der das Blut
schon geronnen war; keine gefährliche Wunde, doch die
verräterische Spur einer unsicheren, hilflosen Handlung, einer
halbverrückten Hantierung in der einsamen Wohnung.
Als ich im Armsessel Hesses Demian lese, greift meine Hand
plötzlich nach einem kleinen Quittungszettel und kritzelt rasch
folgendes darauf: « Erschreckend, wie wenig mich das Wesen,
das ich bin, interessiert.» Ich erhebe mich, trete ans Fenster:
unten auf der Straße führt ein Hund einen andern, und ich kann
nicht unterscheiden, wer von beiden der Besitzer ist.
Ich begegne meinem Türnachbarn, den ich seit Jahrzehnten
kenne, und plötzlich fallen mir sein verändertes Gesicht, seine
Blässe, seine seltsam vergrößerten Zähne auf; er redet Unsinn,
und entsetzt stelle ich fest, daß er sich anders als bisher
bewegt, mit kleinen tapsigen Schritten. Der Verlagsleiter
empfängt mich in Shorts und verschwitztem Polohemd in
seinem Büro, und während er – wie man so sagt – mit mir
verhandelt, springt er jede Minute auf und stürzt aus dem
Zimmer, oder jemand kommt unangemeldet herein, teilt ihm
flüsternd, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, eine
offenkundig wichtige Nachricht mit, und er antwortet, indem
er unser Gespräch mitten im Satz unterbricht. In der
Straßenbahn die drückende Hitze, die wahnsinnigen, stumpfen
oder brutalen Gesichter, die junge Frau mit hochgerutschtem
Rock, die kokett «ihre Lippen befeuchtet», wobei ihre leicht
violette Zunge einem aufgequollenen Blutegel gleicht. Im
Nachbarland mordet, vergewaltigt einer den andern. Aus
Afrika erreichen uns Bilder, die an Auschwitz erinnern,
russische und ungarische Agenten laufen mit
Atombombenteilen in ihren Taschen herum, und während sie
von ihren Auftraggebern das Honorar für ihren Schmuggel
entgegennehmen, werden ihnen Lenden, Nieren und Milz vom
Plutonium in ihren Gesäßtaschen zerfressen.
Der Zeitgeist ist das Weltende. Ich werde einen
Erzählungsband zusammenstellen mit dem Titel
«Weltendgeschichten ».
Der einzige große Inspirator und Inquisitor eines jeden
Werkes ist die Todesangst.
4. Juli: Ob strahlender Sonnenschein oder sternklare Nacht,
zwischen Mattersburg und Tatzmannsdorf rast unser Auto
dahin, M. und ich sitzen abwechselnd am Steuer, und
triumphal erklingt die Waldstein-Sonate…
Aus dem Notizheft: «Seit drei Jahren, seit der Englischen
Flagge, habe ich kein narratives Gebilde mehr zustande
gebracht. Als würde ich neuerdings lieber an österreichische
und schweizerische Seen fahren, als Reisen ins Seeleninnere
zu unternehmen…»
Ein auflösbarer Widerspruch.
Wenn mich dennoch böse Vorahnungen in bezug auf mein
Leben heimsuchen, muß ich wissen, daß das nicht Todesangst
ist, sondern deren genaues Gegenteil: existentielle
Zerstreutheit. Immer wieder vergesse ich den Tod, und das
wirft Schatten auf den Ernst meines Daseins. Ist meine
Existenz nicht unerhört, ist sie nicht der Rede wert.
Im milden Spätsommer mit A. und Esterhazy in Salzburg.
Lesungen. Dann mit A. am Traunsee. Balkon auf den See. Wie
immer wir es betrachten (und obwohl Nachsaison ist): dies ist
ein Luxushotel, ein liebevolles Geschenk für A. ermöglicht
durch die verblüffenden Wendungen in meinem Leben. A.
nimmt es bedächtig an, mit der Melancholie und
unbestechlichen Zurückhaltung der Verspätung, so wie es ihr
die Treue zu den nicht wiedergutzumachenden, bitteren Jahren
auferlegt; und mich packt Entsetzen, weil ich sozusagen
greifbar etwas Unabänderliches (womöglich Schicksalhaftes)
spüre: daß der Mensch sich schließlich dem Starrsinn der
Dinge beugt und damit seinen eigenen Untergang befördert…
Lebe so, als ob jeder deiner Schritte von Segen begleitet
wäre. Du kannst auch wie ein Verfluchter leben. Aber dann
wirst du zum Verfluchten werden. Doch wie dem auch sei, die
Tatsache, daß du leben und arbeiten konntest, war an sich
schon ein Segen; war ein Segen, weil du auch in deiner
Verfluchtheit imstande warst, die großen Chancen des Lebens
wahrzunehmen.
Wenn stimmt, was Camus sagt: daß das Glück eine Pflicht
sei, dann kann diese Wahrheit nur Bestand haben, wenn wir
klären: eine Pflicht gegenüber wem? Gegenüber uns selbst,
unsern Mitmenschen oder Gott?
Zu klären wäre auch die Beschaffenheit des Glücks. Wenn
dein Beruf – nein, lassen wir diesmal das Understatement:
wenn deine Leidenschaft die Schilderung menschlicher
Befindlichkeit ist, mußt du dein Herz all dem Elend öffnen, das
diese Befindlichkeit in sich birgt; dennoch kannst du dich der
sogenannten Schaffensfreude, wenn der Bleistift übers Papier
eilt, nicht verschließen. Bist du also ein Betrüger? Zweifellos;
doch jedes große Abenteuer enthält den Befehl, daß du dich
hingibst, daß man von deinem Fleisch esse und von deinem
Blut trinke… Am schlimmsten sind die kleinlichen Störungen
des Alltags: sie strafen alles Lügen. Nur nicht aus dem
Festglanz heraustreten – oh, der Schrecken der Langeweile: die
Langeweile ist Sünde.
Ist deine Existenz nicht unerhört, ist sie nicht der Rede wert.
Die von Platanen gesäumte provenzalische Landstraße. In
Avignon die in den Fels gehauenen steilen Gäßchen, der
heulende Mistral und ein Hotel für Phäaken, das Mirande; auf
dem Felsvorsprung vor der Kirche das gebieterisch aufragende,
mächtige Kreuz, die kleine mittelalterliche Brücke über die
Rhone, der unvermindert tobende Sturm. In Cannes
Abendspaziergang unter den Palmen; in dieser Kitschwelt von
Hotels, Springbrunnen und Meeresbrandung strecke ich dem
sternenübersäten subtropischen Himmel die Zunge heraus…
Doch hinter unserm Hotel laufen Straßen kreuz und quer über
den Hügel, und ich stelle mir vor, daß man zwischen diesen
lieblichen Kulissen im Grunde auch leben, wohnen, arbeiten,
sich ergötzen und sterben könnte. Am Tag zuvor die roten
Felsen an der Küstenstraße von St-Sebastien nach Cannes. Die
Gespräche mit M. im Auto. Paris. Die Stadt ist mir so
«heimisch», daß ich – obwohl ich zum ersten Mal hier bin und
kein Wort Französisch verstehe – ohne weiteres zu unserm
Hotel in der Nähe des Boulevard de Courcelles finden könnte,
wenn M. die am Steuer sitzt, es nicht vorzöge, sich auf die
zweifellos fundierteren Ortskenntnisse eines Taxichauffeurs zu
verlassen.
Als wir am Stadtrand von Avignon die Ausfallstraße suchten,
gerieten wir mit unserm Mietauto mit deutschem
Nummernschild in eine enge Straße, wo vermutlich Fahrverbot
herrschte; plötzlich schlug etwas hart aufs Wagendach, und
jemand schrie mit furchtbar haßerfüllter Stimme und stark
französischem Akzent: «Weg von hier!»
∗
Nach dem Schrecken
begreife ich: ein schlichtes Mißverständnis, die Stimme war
die eines französischen Germanophoben, der mich, den
hergelaufenen Budapester Juden, als vermeintlichen Deutschen
am liebsten in ein von ihm ausgedachtes französisches Inferno
verbannt hätte. Aus einem verfolgten Juden wurde ich also
innerhalb von Sekunden zu einem verfolgten Deutschen – so
ist diese Welt, sie rächt sich immer an sich selbst, wenn sie
sich rächt.
Im Hotel in Paris fragt M. wie lange Frühstück serviert
werde. «Den ganzen Tag, Madame!» lautet die Antwort, und
plötzlich glauben wir uns in den Pariser Romanen von
Szomory oder, besser noch, Vaszary.
Vesper im Tal von Chamonix. Es wurde Abend, die Luft war
scharf… und würzig. Inmitten der einsamen Wälder, Täler und
Bergrücken ein seltsamer runder Glasbau, irgendein Museum.
∗
Im Original deutsch
Sonst niemand, nichts. An einem Steintisch aßen wir Brie und
Kekse vom Vortag und tranken hiesigen Rose dazu. Ich fror.
M. gab mir ihren Pullover, sie genoß die Kühle, ihr Gesicht
strahlte. Beim Essen überlegten wir, wie weit wir noch fahren
müßten und wo wir übernachten könnten. Die Schatten wurden
düster und nahmen immer dunklere Farben an, während oben
auf dem Berg die Bäume noch besonnt waren. Ich dachte nicht
darüber nach, aber ich glaube, ich war glücklich. Hier am Fuß
des Montblanc spürte ich, daß meine sechzigjährige Isolation
und Häftlingsexistenz durch eine solche Reise eher vollendet
als in Frage gestellt wurde. An der Schwelle zu einer andern
Daseinsform begriff ich die Schärfe der Trennlinie zwischen
Damals und Heute, begriff ich, daß der Abgrund zwischen mir
und mir so tief ist, daß er sich nur mit größter Anstrengung
überbrücken läßt. Als stünde ich am Rande eines verheerenden
Waldbrandes und müßte den Schaden, den Gewinn abschätzen;
abschätzen, was ich bislang erreicht habe und wo ich fortan die
kreativen Energien herholen soll. Ich weiß, daß mich
Trivialitäten in Versuchung führen werden, vielleicht auch die
Sorglosigkeit des Rausches, der so leicht mit Glück zu
verwechseln ist, und vielleicht werde ich vom Leben
fortgerissen werden, wie ein kielloses Segelboot von den
Fluten. Ich begriff, daß das Glück – mein Glück – das
Gegenteil von Leichtigkeit ist. Das Glück – mein Glück – ist
die Leichtigkeit der Last, der Rausch des Rausches, wenn für
einen flüchtigen Moment die bestürzende Tatsache des Seins
auf die Bilder des Lebens übergreift und diese mit den wahren
Farben färbt.
Die Bilder des verflossenen Sommers…
Es ist kalt geworden.
In der kühlen Oktobersonne bin ich die Straße nach Zugliget
hinuntergegangen. Eine alte Frau stand auf dem Gehsteig, mit
strahlendem hebephrenem Lächeln, als wartete sie auf mich.
Auch ich lächelte ihr zu, sie hatte winzige, lebhafte blaue
Augen. «Wie heißen Sie?» fragte sie. Ich spürte, daß es mir
peinlich war, meinen Namen auszusprechen, als würde ich
etwas Unschickliches aus der Tasche hervorziehen. «Kennen
Sie mich vielleicht?» fragte ich. Sie nickte lebhaft, lächelte und
sah auf meine Hände. «Die Handschuhe», sagte sie. «Brauchen
Sie die?» Ich glaubte zu verstehen, was sie wollte, zog meine
Handschuhe aus und berührte sie, nahm für einen Augenblick
ihre Hand in meine. Ihr Gesicht strahlte vor Freude. Dann ging
ich leicht beschämt davon, wie ein Guru, der gerade jemanden
vom ewigen Leben überzeugt hat, obwohl er weiß, daß in
seinem Körper der Tod nistet.
«Verstehen wir je, was wir denken?» (Jung)
Verstehe ich je mein Leben? Kann ich es verstehen? Alles
spricht dagegen: das in mir wurzelnde fremde Ich, der sich
selbst rechtfertigende Moralist, der lügnerische
Fabelproduzent.
Hannah Arendt behauptet, die einzige Motivation für ihr
Schreiben sei: etwas zu verstehen.
Doch überläßt sie uns dem Dämmer des Wortes «verstehen».
Verstehen heißt in Wirklichkeit soviel wie: in Besitz nehmen
(sonst wäre es nicht so wichtig).
Gibt es eine Art des Verstehens, bei der ich nicht besitzen,
nicht mich bemächtigen will? Zum Beispiel: indem ich mich in
eine Erzählung hineinbegebe, dort in einen Hinterhalt gerate
und gefangengenommen werde…
Ist mein Leben nicht eine solche Erzählung? Wie könnte ich
diese Erzählung zum Reden bringen? Nur als erzählbare
Wirklichkeit; als Wirklichkeit keineswegs, es sei denn, ich
finde ihren geheimen Sinn, die Triebfeder des
Marionettenspiels. Diese Erzählung würde dann von jenem
ständigen Kampf handeln, der einst unmerklich, wie ein sich
entfaltender Urkeim, von mir Besitz ergriff, damit ich aus den
bodenlosen Tiefen des Seins an die Oberfläche des
Bewußtseins gelangte und mit diesem neuen Bewußtsein das
Sein (mein Dasein) annähme. Ganz klar: das Erreichen dieses
kritischen Punktes, wo das durch mich existierende
Bewußtsein und das von mir aufrechterhaltene Sein
zusammenfallen, bedeutet für mich, den ewig
Kampfversehrten, poetisch gesprochen ein ständiges
Unterwegssein zu den immerfort in der Ferne blauenden
Gipfeln; doch wenn ich einmal glauben sollte, ich hätte das
Ziel erreicht, würde mein Bewußtsein wie mein Sein vor dieser
schrecklichen Harmonie vergehen. Mit andern Worten: Mein
Leben ist ein harter Kampf um den Tod, und in diesem Kampf
schone ich sichtlich weder mich noch die andern. Alles
Weitere sind Details, ich kann anfangen, wo ich will; es reicht,
wenn ich Notizen mache zu den Notizen zu einem künftigen
Roman, Merkzeichen für ein alleiniges Gedächtnis – das meine
–, das im Augenblick noch nicht bereit ist, sich dem
versteinerten und universalen Gedächtnis zu öffnen: der Form.
Im Sommer, als wir aus Österreich zurückkamen, wollten wir
den Ort besichtigen, wo mein Vater starb: M. bestand noch
mehr darauf als ich. Wir passierten Sopron, dann kam zur
Linken Sopronkóhida, eine nicht enden wollende
Gefängnisstadt, grau, bedrückend, unvergänglich. Schließlich
gelangten wir an einen Ort, wo weißer Staub in der Luft lag
und die Menschen in elenden Buden Bier tranken. Hier begann
eine Steinwelt, weiße Kiesel, weiße Steine, weiße Felsen im
harten Licht des Sommerabends. Auf einem Plakat war eine
Operette angekündigt. Hinter dem Eingang, auf einer
Kiesfläche, parkten burgenländische Touristenbusse, schwere,
schlurfende Schritte wirbelten trockenen Staub auf, eilten zum
Eingang des Höhlentheaters, aus dem schon das Stimmen des
Orchesters drang. Eine Art Platzanweiser bat uns um unsere
Eintrittskarten. Wir fragten ihn, ob es hier irgendwo eine
Gedenktafel gebe. Er war verblüfft: Eine Gedenktafel? Doch
versuchte er, uns behilflich zu sein: Eine Gedenktafel an
neunzehnhundertsechsundfünfzig? Nein, an neunzehnhundert-
fünfundvierzig. Da kam ein junger Polizist. Ja, er wisse von
einer Gedenktafel, habe sie auch gesehen, doch wo genau, das
habe er vergessen.
Auch er fragte, um welches Ereignis es sich handle. Um
Massenmord, sagten wir vorsichtig. Ja, aber wann? wollte er
wissen. In den fünfziger Jahren? Oder
neunzehnhundertsechsundfünfzig? Oder später? Nein,
neunzehnhundertfünfundvierzig. Nun war er völlig sprachlos:
Neunzehnhundertfünfundvierzig?! – als würden wir nach
irgendwelchen altpersischen Überresten suchen. Wir machten
uns auf den Weg in die öde Steinwüste; in der Theatergrotte
schmetterte gerade die Ouvertüre los. Vor uns Steinhaufen,
Geröllflächen und etwas weiter ein von steilen Felswänden
umgebener Kessel. Wir verstummten, denn wir begriffen, daß
wir am gesuchten Ort waren. Auf dem beschwerlichen Marsch
nach Österreich – möglicherweise auf derselben Straße, auf der
wir aus der umgekehrten Richtung, aus einem Heilbad
kommend, hierhergelangt waren –, wurden die Todeszüge in
dieses natürliche Felsenverlies, vermutlich ihr letztes
ungarisches Quartier, getrieben, bevor man sie den Deutschen
übergab; von hier aus ging es dann weiter in die
Konzentrationslager auf österreichischem Gebiet. Tausende,
Zehntausende dürften hier im Winter und Vorfrühling 1945,
zwischen den Steinen, in bitterer Kälte haltgemacht haben.
Wer am Morgen nicht weiterkonnte – oder wollte –, wurde in
den Höhlen erschossen. Wir sprachen kein Wort, der trostlose
Schauplatz verriet alles. Nur hier konnte es geschehen sein, der
Genius dieses Ortes war die Salve, die Folter, der Mord. Eine
Zeitlang noch suchten wir zögernd nach einem Zeichen, einer
Erinnerung, einem Relikt oder wer weiß wonach; wir
stolperten zwischen den Felsen, rutschten auf dem Geröll
herum. Dann gaben wir es auf und schlenderten wortlos, Hand
in Hand, zum Parkplatz zurück, wo uns die schrille
Operettenmusik einholte.
_____Englische Farben im Varosmajor. Ein nebliger
Dezembermorgen, von der Promenade sieht man hinunter auf
den tiefer liegenden braun-rot gelben Park, wo zwischen den
kahlen Bäumen große, hellbraune Setter durch das braune
Laub rennen, flink, graziös, stumm.
Man wird das Gefühl nicht los, daß das Leben nicht primär
eine organisch zusammenhanglose Masse von Phänomenen ist,
wie es den Anschein macht, sondern daß es eine Transzendenz
hat.
Lies den Baumeister Solness, um zu sehen, was aus den
Symbolen geworden ist. Der Kirchenbau ist kein Symbol
mehr.
Gibt es noch gültige Sinnbilder? Die moderne Mythologie
beginnt mit einem gigantischen Negativum: Gott hat die Welt
erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen.
Ich stelle mir eine Theologie vor, die sämtliche schlechten
Erfahrungen der Schöpfung zu einer
Wissenschaft
zusammenfaßt, deren Sprache jedoch von einem göttlichen
Stil, von einem metaphysischen Kontrapunkt geprägt ist, aber
nur rhetorisch, nicht argumentativ.
Was sollen wir mit dem «Vorwurf» anfangen, die Juden
hätten sich nicht gegen ihre Deportation nach Auschwitz
gewehrt? Auch Christus hat sich weder gegen seine Geißelung
noch gegen seine Kreuzigung gewehrt. Es mußte geschehen,
und weil es geschehen ist, vergeht es nicht. In diesem Sinne
glaube ich, daß weder das Kreuz noch Auschwitz vergänglich
sind.
Ist das «aufklärerisches» Denken? Ich weiß es nicht, doch für
den Künstler ist es fruchtbar, weil es ihm die Perspektive eines
guten Stils eröffnet.
Nur der Glaube ist Wirklichkeit. (Auch der Irrglaube.) Nur
der Glaube erschafft Wirklichkeit. (Auch der Irrglaube.)
«Es herrschte solch höllische Hitze, daß in den Gärten das
Wehklagen der Blumen zu hören war und die Männer
schwanger wurden. Einer von ihnen gebar Adolf Hitler»
(Kazimierz Brandys: Charaktere und Schriften). Aus
demselben Buch: «Anfang des 17. Jahrhunderts versammelten
sich in Wilna mehrere Dutzend der bekanntesten
aschkenasischen Rabbis, Weise der Initiation und Erforscher
der Kabbala. (…) Die Rabbis berieten sich dreißig Monate
lang, dann fanden sie die Antwort. Sie war verblüffend: ‹Es
besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß es besser wäre,
wenn die wirkliche Welt, von deren Existenz wir Kenntnis
haben, nie erschaffen worden wäre. Und ohne Zweifel wäre es
für die Menschheit am besten, sie würde aussterben und sich
im Unendlichen auflösen.›» – Diese Antwort gleicht auffallend
derjenigen von Silenos, die König Midas von ihm erpreßt hat:
«… am besten wäre es für dich, nie geboren worden zu sein,
nichts und niemand zu sein. Am zweitbesten aber wäre es für
dich – möglichst bald zu sterben.»
Der Augenblick, der offenbar jeden Sterbenden ereilt: wenn
auf seinem Gesicht plötzlich ein jähes Staunen erscheint.
Anwesende sehen es zwar, können das Staunen jedoch kaum
verstehen, das den Sterbenden in fast bewußtlosem Zustand
überrascht. Er scheint etwas zu erfahren – etwas
Nichtwiedergutzumachendes, etwas Furchtbares, dem
gegenüber er machtlos ist, womit er sich vier-fünf-sechs-
sieben-acht Jahrzehnte, sein ganzes Leben lang betrogen hat.
Dies dürfte der Schrecken des Todes sein, diese Bestürzung,
wenn der Mensch seiner ganzen Verlorenheit inne wird – und
nicht der Tod selbst, der ihn schließlich auslöscht, zusammen
mit seiner Angst.
Man müßte jenes Gefühl der «Dunkelheit» analysieren,
welches uns das Leben als Flamme erscheinen läßt (eine der
ältesten Metaphern): Denken wir an das Dunkel der Toten und
der Ungeborenen? Oder handelt es sich dabei bloß um
Analogie, ein Vergleichssystem der Lebenden, um schiere
Psychologie, um Todesangst, Bewußtseinstrübung,
Umnachtung, Sinnestäuschung? Jedes dieser Worte verweist
auf eine andere Welt. «Sinnestäuschung»? Eine Täuschung in
bezug auf was? Was ist das für eine Substanz, die von unsern
Sinnen falsch wahrgenommen wird? Die Sprache verweist auf
etwas, was die Erkenntnis nicht nachzuvollziehen vermag. Ist
die Sprache also auch Sinnestäuschung? Seltsam: in meiner
Jugend konnte ich die radikale Erkenntnis, daß ich von
nirgendwo komme und nach nirgendwo gehe, ohne weiteres
akzeptieren. Aber je länger ich lebe, desto unzulänglicher
erscheint mir dieser Radikalismus. Je länger ich lebe, desto
deutlicher sehe ich, daß dieser Radikalismus nur eine mögliche
Lebensform ist und daß noch zahllose andere Lebensformen
denkbar wären. Indes betrachte ich es als Tatsache, daß wir in
einem System leben, und dieses System betrachte ich als
System der Analogien, als Labyrinth, als ein Labyrinth freilich,
das letztlich geplant wurde. Und auch wenn es nicht unbedingt
von jemandem geplant wurde, kommt es mir doch geplant vor
(obwohl ich die Entwürfe nicht kenne, sowenig wie mich
selbst). Und nun können wir unsere bereitstehenden Begriffe
hervorholen: Gott, das Absurde, die Katastrophe, die
allgemeine Relativität, wie es beliebt… Für den Menschen –
nein: für mich ist dies aber, solange ich lebe, ein Wertproblem,
im Sinne einer Auf- oder Abwertung meines Lebens, genauer
einer Wertdefinition, von der ich dann abhängig mache, was
ich mit diesem Irrlicht, meinem Leben, anfangen soll. Ich
erinnere mich noch genau, ich war acht oder neun Jahre alt, als
ich mir zu Weihnachten (vielleicht auch zum Geburtstag) ein
Tagebuch wünschte: etwas prickelte in mir, und ich glaubte es
nur durch eine systematische, minuziöse Tätigkeit ableiten zu
können. Meine vage Unruhe rief eine vage Bilderfolge hervor:
ich trödle mit etwas langwierig herum, zum Beispiel mit einem
Schreibwerkzeug auf dem Papier, und diese einsame Operation
beruhigt mich schließlich.
Doch welche Erregung trieb mich um?
Ich bin im Nichts aufgewachsen und habe es von Kindheit an
gelernt, mich mit klarem – oder besser praktischem – Verstand
ans Nichts anzupassen, mich im Nichts zu bewegen und zu
orientieren, als wäre dieses Nichts mein Leben, in dem ich
mich zurechtfinden muß, und das fiel mir nicht schwerer als
einem Kind das Erlernen der Sprache. Wäre mein kindlicher
Glaube an ursprüngliche – dem Ursprung verhaftete – Werte
nicht intakt geblieben, ich hätte wohl nie etwas zustande
gebracht. Woher aber kannte ich diese Werte, die von meiner
Umgebung geleugnet wurden, warum vertraute ich diesen
Werten, die im praktischen Leben widerlegt wurden? Mit
Vertrauen meine ich hier, daß man auf diese Werte sein Leben
baut und dann allein bleibt mit ihnen, wie der Häftling in
Einzelhaft, der nicht auf die Gerichtsverhandlung, sondern nur
noch auf das Urteil wartet, wobei ein günstiges Urteil
schlichtweg die Widerlegung seiner Bemühungen bedeuten
kann.
Es bedarf eines äußerst scharfen Auges und eines äußerst
flexiblen Geistes, um im Leben irgendwelche
Gesetzmäßigkeiten auszumachen; kommt noch leiser Starrsinn
hinzu, in dem sich Scharfblick und Blindheit in einem Maße
mischen, daß daraus das Spezifische der Begabung entsteht, so
entdeckt man diese Gesetzmäßigkeiten.
Erzieht uns das Leben womöglich zur radikalen Erkenntnis,
daß es sich nicht weiterzuleben lohnt? Ja, so scheint es. Unser
Leben ist sinnlos, aber offenbar nur dem Anschein nach, gibt
es doch zwischen Leben und Sinn keinen Zusammenhang. Es
sei denn, wir selbst sind dieser Zusammenhang. Wir sind
Vermittler, die Leben und Sinn verknüpfen, und obwohl wir
praktisch auf beiden Gebieten versagen, bedeutet das nichts im
Vergleich zu jener außergewöhnlichen Dimension, die von
einem jeden Menschenleben verkörpert wird. Vielleicht
verwirklichen wir just dann ein Ziel, wenn wir diese
Verwirklichung
– vor lauter Alltagsaktivitäten
–
geringschätzen oder gar nicht bemerken, so daß wir – während
wir unser Lebensziel verwirklichen – unser Leben für sinnlos
halten. Doch was anderes sollten wir tun? Schließlich ist das
«Leben» personengebunden; und auch wenn wir zur Einsicht
gelangen, daß unser Dasein ein Irrtum ist, können wir –
zumindest was unsere Person betrifft – schwerlich im Tod eine
würdige Korrektur dieses Irrtums sehen.
_____Neunzehnhundertfünfundneunzig, nasser,
kalter
Frühling. «No pasaran» – warum nur kommt mir plötzlich
dieser legendäre Wahlspruch in den Sinn? Die Lagerfeuer, die
Lieder, die Gesichter der Führer, die eine große
Entschlossenheit, eine heldenhafte Notwendigkeit ausstrahlen
und die rechtzeitig von der Bühne verschwinden werden, um
auf andern Bühnen, in neuen Rollen wiederaufzutauchen – und
die vom Rausch benommenen Massengesichter, die bald schon
Erde in ihre Augenhöhlen und Münder schaufeln werden.
Auf die dumme Frage, ob ich «einen Unterschied zwischen
Faschismus und Kommunismus sehe», könnte ich folgende
knappe Antwort geben: Der Kommunismus ist Utopie, der
Faschismus Praxis – Parteiwesen und Macht verbinden beide,
wobei auch der Kommunismus von Faschisten in Praxis
umgesetzt wird.
Abends, als ich den alptraumhaften Moszkva-Platz
überquerte, hörte ich von den schlecht beleuchteten
Straßenbahnschienen her einen Plumps: ein schwerer Körper
schlug zu Boden, der Mann warf die Arme komisch und abrupt
in die Höhe, fiel hin und rollte dann mühsam auf den Rücken.
Mehrere Personen eilten ihm zu Hilfe (auch ich), von seinem
Nasenrücken strömte Blut (auch auf meinen Handschuh). Man
half ihm auf die Beine, ich ging weiter Richtung
Straßenbahnhaltestelle, doch als ich mich nochmals umdrehte,
sah ich, daß der Mann schon wieder auf dem Straßenpflaster
lag. Nun beugten sich mehrere über ihn, bald war er ganz
umringt, größtenteils von schlecht oder sogar lumpig
gekleideten Menschen, und selbst aus der Ferne richteten sich
Blicke auf das Opfer, gierig funkelnde Hyänenblicke. Eine
dieser hyänenartigen Gestalten, mit dem kräftigen Körperbau
eines Raubtiers, das an ausdauernde Verfolgungsjagden
gewöhnt ist, mit nach vorne hängenden Schultern und
unverhältnismäßig langen Armen, hatte die Ereignisse bisher
nur aus der Distanz beobachtet und ging gerade in dem
Moment auf die ameisenhaft wimmelnde Menge zu, als ich in
die Straßenbahn stieg. – In meinem Büro in der Tórók-Straße,
in diesen verhängnisvollen 28 Quadratmetern, die A. und mir
während 35 Jahren als Wohnung dienten, untersuchte ich
meinen Handschuh, auf dessen linkem Daumen tatsächlich ein
verschmierter Blutfleck zu sehen war. Noch im Mantel
versuchte ich, diesen über dem Lavabo mit kaltem Wasser und
einem Schwamm zu entfernen. Was war wohl inzwischen mit
dem Opfer passiert? Lag es, völlig ausgeraubt und entkleidet,
auf dem Moszkva-Platz? Oder hatte man ihm auf die Beine
geholfen und es in eine Straßenbahn gesetzt, wo es dann das
Fehlen seiner Geldbörse bemerkte? War es bei Bewußtsein?
Wußte es, was mit ihm geschah? Weiß es, daß ich seine
Geschichte aufschreibe? Weiß ich, wie egal ihm das ist?
Wissen wir um die Absurdität unseres Schicksals, unseres
Lebens, um seine schändliche Zufälligkeit, um die schändliche
Zufälligkeit eines jeden Augenblicks, an dem wir so
schändlich und schwächlich hängen, weil diese absurde Folge
von Augenblicken unser Leben ausmacht? Gibt es hier ein
seriöses, fundiertes Gegenargument? Ich finde kein einziges…
Im Mai wieder in Berlin. Filmaufnahmen. Über der
Gedenkstätte der nazistischen Bücherverbrennung werden
meine Bücher aufgebaut und gefilmt. Ich müßte Triumph
verspüren. Verspüre keinen.
Münster. Am Turm der wunderbaren Sankt-Lamberti-Kirche
hängen merkwürdige Käfige. Es wird mir erklärt, in diesen
Käfigen hätte man einst die aufrührerischen protestantischen
Ketzer gefangengehalten und gefoltert.
Heidelberg. Mein Gastgeber, ein sympathischer jüngerer
Universitätsprofessor, schildert bei Tisch ausführlich den
qualvollen Weg der Tiertransporte vom Balkan hierher, nach
Norden. Wenn die Rinder schließlich zur Schlachtbank geführt
würden, brächen sie unter dem Fleischerbeil (oder dem
entsprechenden modernen Mordwerkzeug) von selbst in die
Knie, weil sie ihr Los begriffen hätten. («Das Urteil kommt
nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil
über.»)
∗
Hamburg: Ich lese meinen Vortragstext, danach tritt aus dem
nicht sehr zahlreichen Publikum ein weißhaariger, strahlender
Mann in Pullover auf mich zu. Er stellt sich vor: György
Ligeti. Für einen Moment versagt mir die Stimme.
Bei Kälte und strömendem Regen fliege ich am nächsten Tag
von Hamburg nach Frankfurt; hier irre ich endlos per Bus und
zu Fuß auf dem Flughafenareal herum, bis ich schließlich in
einen engen, gespenstisch beleuchteten, unheimlichen Korridor
gelange, wo zu beiden Seiten Soldaten und Soldatinnen –
hübsche blonde Mädchen – kaum einen Meter voneinander in
einer Reihe stehen, mit gleichgültigem Gesicht, Waffe und
Blick nach vorne gerichtet. Es folgt ein trostloser Raum, wo
∗
Im Original deutsch
ich aus meinem Koffer jedes einzelne Kleidungsstück
herausnehmen und hastig wieder einpacken muß. Verstört,
entwürdigt und ergeben mache ich mich zum nächsten Raum
auf, wie die Rinder des Heidelberger Professors.
Tel Aviv: vertraute, sozusagen seit ewig bekannte Fremdheit.
Doch ist es endlich warm. Das Meer. An der Ecke der Mair
Dizengoff und der Rehov Frischmann Street esse ich zu
Abend. Der Wirt winkt mich einfach herein. Mit einladender
Geste zeigt er auf einen Stuhl auf der Terrasse: «S’il vous plaît,
monsieur.» Er versucht französisch mit mir zu sprechen. Das
ist schmeichelhaft, aber leider kann ich kein Französisch. Zum
Huhn wird die ganze Pracht des Südostens aufgetischt: grüne
und schwarze Oliven, Tomaten, Obst, Gewürze, kunterbunter
Salat. Beim Anblick einzelner dunkelhäutiger Frauen
verschlägt es mir fast den Atem. Orthodoxe Juden, mittel- und
osteuropäische Keinerlei-Juden gehen vorbei. Ich versuche zu
begreifen, daß hier alle Juden sind, mein afrikanisch
aussehender Wirt, das nordisch hochgewachsene rotblonde
Mädchen, der alte Mann mit Bart und Peies, der schlurfend des
Weges kommt. Schließlich sehe ich nur noch den lärmigen
Nachtverkehr, als wäre ich in Italien. Oder in Budapest.
Merkwürdige kubische Häuser, Balkone mit Sonnendach, alles
ein bißchen schäbig, manchmal erinnert es geradewegs an
Ujlipótvóros.
Ich biege in eine elegante Seitenstraße ein. Palmen,
phantastische Pflanzen, schön gebaute Villen, verwahrloste
Innenhöfe – alles in bunter Mischung, diese Stadt lebt und läßt
leben. Doch das Erlebnis der «Heimkehr» bleibt aus. Im
Grunde bleiben im voraus kalkulierte Erlebnisse immer aus.
Bin ich also doch kein Jude? Aber was bin ich dann? In
Deutschland war ich natürlich noch weniger zu Hause, «zu
Hause», in Ungarn aber ist meine Fremdheit deklariert. Die
Abreise aus Frankfurt, die wiederholten Durchsuchungen, die
um den Flugsteig herum konzentrierten Sicherheitskräfte. Bei
der Paßkontrolle gibt es nun schon eine klare Trennung: EU-
Bürger nach rechts, Bürger anderer Staaten nach links. Fast
durfte ich nicht nach Berlin fliegen, weil sie mein
Rückflugticket nicht fanden. Erst als die Bestätigung kam, daß
ich das Land via Israel verlasse – mit Sicherheit verlasse –,
durfte ich in Budapest das Flugzeug besteigen.
Neben meinem Judentum erfahre ich jetzt auch eine
Diskriminierung als Ungar; mit ersterem habe ich keine
Probleme, das hat sozusagen Stil; letzteres aber empfinde ich
als ungerecht. Es verletzt nicht mein Ungarntum, sondern mein
strapaziertes Judentum, weil mich jede Diskriminierung
ausschließlich in meiner Eigenschaft als Jude trifft. Vielleicht
wird das Identität genannt? Vielleicht bin ich doch ein Jude?
Vollmond in Tel Aviv. Hinter den Hochhäusern des Marriott,
Hilton, Sheraton ein einfacher alter Wellenbrecher aus Stein,
von dem die Gischt seidig auf mich zueilt und sich an meine
Füße schmiegt, wie die Tel Aviver Katzen.
Am nächsten Vormittag in der Schule. Meine Lektorin liest
den israelischen Schülern aus dem hebräischen Roman eines
Schicksallosen vor. Ist auch das nicht…? O doch. Obwohl die
Sprachschwierigkeiten und meine – wie soll ich sagen –
jüdische Hemmung vor der Unverdorbenheit die ganze Sache
erschweren. – Dann nach Beer Sheva. Sanfte, etwas kahle
Gegend. Doch ein göttlicher Lichtstrahl, der vielleicht von
einem Renaissancebild auf die Landschaft fällt, hüllt alles ein,
überzieht es wie mit feinem Lack.
Jerusalem; die arabische Altstadt. Die Farben. Der Ölberg.
Die Klagemauer. Flüchtig blicke ich auf ein Straßenschild, die
Straße heißt: Via Dolorosa. In der sephardischen Synagoge,
dann an der Klagemauer erfaßt mich plötzlich das Gefühl eines
großen Bruchs. Das lebhafte Memento an eine – in andern
Weltgegenden schon längst verblaßte mythische Tragödie
schwebt hier sozusagen fühlbar in der goldenen Luft. Mit
Christi Tod kam es zu einem schrecklichen Bruch im ethischen
Gebäude, das – wenn man so sagen darf – der Stützpfeiler der
menschlichen Seelengeschichte ist. Worin besteht dieser
Bruch? Darin, daß die Väter das Kind zum Tode verurteilten.
Das hat keiner jemals verschmerzt. Damit dies jedoch zum
Weltereignis werden konnte, bedurfte es natürlich der
einzigartigen ethischen Genialität des jüdischen Volkes. Die
Strafe, die schreckliche Strafe, die das jüdische Volk für
immer auf sich lud, hat durch diese Wende einen besonderen
Sinn bekommen. Man könnte die Linie von Christus zu
Auschwitz ziehen, doch darf man sich solcher Mystik nur für
einen Augenblick hingeben, und nur, um die bodenlose Tiefe
der menschlichen Geschichte zu ermessen, die
außergewöhnliche Aktivität des Lebens, die sich als
Wirklichkeit kaschiert, Kreativität und Destruktion, die
pausenlos am Werk sind. Dieser Auffassung zufolge ist Jesus
nicht der Sohn Gottes, sondern der Sohn des Vaters. Kafkas
Erzählung Das Urteil weiß einiges über diese Beziehung…
Am Nachmittag führt mich mein Schriftstellerfreund
Appelfeld ins orthodoxe Viertel. Wir schauen in verschiedene
Synagogen hinein. Es ist Samstag abend, eines der
Gebetshäuser ist mit Männern und Kindern überfüllt. Sie
essen, beten, singen. Frauen haben hier keinen Zutritt. Ein
Porträtmaler könnte schwelgen in diesen Gesichtern, Bärten,
Gewändern. Eine Geruchskunst existiert nicht, doch könnte
man auch auf diesem Gebiet etwas Interessantes hervorbringen
– eine nostalgische Duftmischung, dominiert von Vanille und
dem Geruch staubiger Gebetbücher. Appelfeld sitzt reserviert
neben mir, auf einer Art Sitzbank, ohne jedoch sein tiefes
Zugehörigkeitsgefühl zu verheimlichen. Freilich sitzt er in
Hemdsärmeln da, mit glattrasiertem Gesicht und einer
Hamburger Mütze, ich aber trage meinen weißen Leinenhut
aus Venedig. Mehrere Blicke sind auf uns gerichtet. Ich bange
ein wenig. Ein sehr hübscher und sehr mürrischer Mann,
dessen pechschwarzer Bart schon ins Weißliche spielt und der
mehrmals an unserm Platz vorbeiging, als würde er uns nicht
bemerken, stellt uns plötzlich, fast grob, zwei Gläser Tee hin.
Er sagt kein Wort, dreht sich wieder um und drückt uns rasch
noch zwei Semmeln in die Hand. Wir sitzen da, sehen den
Betenden, Redenden, Essenden zu. Verlassene, isolierte
Menschen bewachen hier – ich weiß nicht, was. Vielleicht
wird eines Tages der säkularisierte jüdische Staat der jüdischen
Lebensform, der archaischen, der Galut, der Lebensform des
mittelalterlichen europäischen Judentums, den Todesstoß
versetzen. Appelfeld zeigt mir das Fenster jenes Zimmers, das
er vor dreißig Jahren bewohnt hat: er war bei einer
fünfköpfigen Familie eingemietet und kam so der orthodoxen
Lebensform nahe – wohl eher der Lebensform als dem
Glauben. Jedenfalls stelle ich mir das so vor, wissen kann ich
es nicht. Ich höre ihm zu und bin verlegen. Ich spüre eine
linkische Schüchternheit unter diesen Menschen – nicht mehr
und nicht weniger übrigens als sonst unter Menschen. Ich bin
ein anderer Jude. Was für einer denn? Ein Keinerlei-Jude.
Schon seit langem suche ich weder Heimat noch Identität. Ich
bin anders als sie, anders als die andern, anders als ich. Bei den
Orthodoxen waren nicht die Orthodoxen das Erlebnis, sondern
Appelfeld. Appelfeld mit seiner kühlen Fremdenführerstimme,
die manchmal jäh versagte, mit seiner Brille, deren Gläser sich
von Zeit zu Zeit trübten, so daß er sie sorgfältig putzen
mußte… Wir übten uns in Kameradschaft und wurden
Freunde; so wie wir uns auch mit Iris Murdoch und John
Bailey befreundeten, diesem wunderbaren alten Paar, das
einem Stück von Beckett entsprungen schien. Wir schlenderten
zusammen auf der Festung Massada umher; Johnny mit seiner
abgetragenen Stoffmütze, unter der sein Haar besenartig
abstand, in Strickweste und zerschlissenem Sakko, ging bei 37
Grad Celsius unerschütterlich über die glühenden Felspfade,
neben ihm die hitzegerötete Iris, die nur darauf wartete, daß sie
ihr Badekleid aus der Tasche kramen und in irgendein Wasser
springen konnte. Wir unterhielten uns über tiefsinnige Dinge,
ohne daß wir gegenseitig auch nur ein Wort verstanden. –
Später wieder in Tel Aviv, dieser nunmehr vertrauten,
aufregenden Stadt. Mittagessen und Kaffee auf einer Terrasse
im Freien. Dann setze ich mich ans Meeresufer, das Meer ist
meerfarben, heute etwas bewegt, weiße Schaumkronen eilen
auf mich zu, am Horizont die düsterbedrohlichen Umrisse
eines Schiffes, unweit davon ein munteres Segelboot. Morgen
früh fliege ich nach Hause zurück, in Budapest ist angeblich
acht Grad und strömender Regen. Es fällt mir schwer, die
Sonne, das Meer, das Leben zurückzulassen.
_____Auf der Order stand: «Keiner kehrt lebend heim!» – Und
statt diese Menschen mit Respekt und Anteilnahme zu
behandeln, schlugen und stießen sie sie, waren grausam zu
ihnen.
Ferenc Herczeg, einstmaliger Literaturpapst, über seinen
Verleger (István Farkas, den Sohn von József Wolfner): «Nach
dem Tod seines Vaters mußte István Farkas Paris, wo er als
Maler ernsthaft Erfolg hatte, verlassen; er kehrte nach
Budapest zurück und übernahm die Leitung des Verlags.
Obwohl er sich gegen seinen Willen in den Direktorensessel
setzte, entpuppte er sich zu aller Erstaunen als ausgezeichneter
Verleger. Doch wurde ihm Budapest zum Verhängnis: zur Zeit
der Pfeilkreuzler kamen er und seine Frau tragisch ums Leben.
Wenn wir einbeziehen (sic!), daß ein Bruder jung Selbstmord
beging und die Mutter in einer Irrenanstalt starb, müssen wir
feststellen, daß diese Familie recht eigentlich vom Schicksal
verfolgt war» (Ferenc Herczeg: Húvósvólgy, S. 176). Mit
«ernsthaft Erfolg hatte» ist gemeint, daß István Farkas eine der
großen Gestalten der zeitgenössischen Malerei war; mit
«tragisch ums Leben kam», daß er in Auschwitz ermordet
wurde. (Im übrigen ist auch «die Zeit der Pfeilkreuzler» eine
Verfälschung: István Farkas wurde angezeigt, interniert und im
Juni 1944, also zur Zeit der deutschen Okkupation, doch unter
der kontinuierlichen, legitimen ungarischen Regierung, nach
Auschwitz deportiert – wie eine halbe Million weiterer Juden.)
Man darf jedoch nicht vergessen, daß der Wolfner-Verlag mit
Vorliebe solch mittelmäßige, als politisches Sprachrohr
dienende offizielle Autoren herausgab, wie F. H. einer war –
warum, das interpretiert Herczeg selbst folgendermaßen:
«József Wolfner war ein einfaches Gemüt, doch gleichzeitig
ein genialer Geschäftsmann, der ein ausgezeichnetes Gespür
bei der Beurteilung literarischer Werke hatte. Er erriet immer,
was das Publikum brauchte. Die Leser seiner Bücher und
Zeitschriften rekrutierten sich aus den Kreisen der damals noch
mächtigen christlichen Mittelschicht. Obwohl er selber Jude
war, gab er den christlichen Schriftstellern eindeutig den
Vorzug» (Húvósvólgy, S. 175). Wäre der Verfasser – Ferenc
Herczeg – nicht so unbedarft, könnte man aus diesem
mörderisch dummen Lob das ganze sogenannte ungarische
Verhängnis herauslesen, das eher als radikaler Mangel an
gesellschaftlicher Solidarität zu bezeichnen wäre. Wohin ist
diese assimilierte jüdische obere Mittelschicht, die ihre eigene
Vernichtung mit solch streberhaftem Eifer betrieb,
verschwunden? Wolfner starb im eigenen Bett, doch seine
Nachfahren wurden verfolgt oder umgebracht, die
wunderbaren Bilder seines Sohnes István Farkas wurden später
aus dem Kulturleben des ungarischen «Proletarierstaates»
verbannt, so wie schließlich auch Ferenc Herczeg von der
sogenannten sozialistischen Kulturpolitik zum Schweigen
gebracht wurde. Die Wahrheitsmaschinerie der Totalitarismen
ist wie ein Fleischwolf ununterbrochen in Betrieb. Was Ferenc
Herczeg, diese repräsentative Gestalt der sogenannten
ungarischen christlichen Mittelschicht betrifft, so könnte seine
heuchlerische Jovialität in bezug auf die Judenvernichtung in
Ungarn für die Zukunft – beziehungsweise für die Gegenwart
– beispielhaft werden, zeigt sie doch den tölpelhaften
Antisemiten, wie man das Thema Auschwitz in weißen
Handschuhen und mit abgespreiztem kleinem Finger
anzufassen hat…
Große Dinge werden angemessen nur in großen Epochen
erlebt; denn eine Epoche ist gerade dadurch groß, daß in ihr
großer Stil herrscht.
Der «moderne» Stil ist nicht jung, sondern alt. Nicht Anfang,
sondern Ende. Nehmen wir zum Beispiel Duchamp, der vom
perfekten Porträt zur perfekten Abstraktion gelangte und – in
seinem vorletzten Bild – zur Synthese. Die Kunst ist
diesbezüglich wie ein Embryo: bevor er zur Welt kommt, muß
er sämtliche Entwicklungsstadien durchlaufen.
Mit den Visionen, großen Erkenntnissen und inneren
Erlebnissen, wie sie mir noch vor vier, fünf Jahren zuteil
wurden, ist es offenbar zu Ende; wenn jedoch der Verstand die
Stelle des Seelenlebens einnimmt, beginnt jener Niedergang,
dem schließlich auch der Verstand zum Opfer fällt.
Nichts ist vollkommen, nicht einmal die Vollkommenheit
selbst, weil ihre Verwirklichung nur mit unvollkommenen
Mitteln erfolgen kann.
Melancholie am Fenster: Ich sehe auf der Straße ein
Gewimmel von behaarten, schmutzigen Wichten, die wie
Giftpilze aus dem Boden schießen und sich, auf Beute lauernd,
prekär bewegen, eigengesetzlich, unverständlich, wie die Flora
und Fauna eines fremden Planeten.
Frühmorgens ein leichter Anfall von Angina; aus
körperlichen Gründen verläßt mich die Seele.
Jetzt kommen mir die apokalyptischen Regenfälle dieses
Frühjahrs in den Sinn. Jener bestimmte Punkt auf der
Autobahn zwischen Venedig und Mailand, wo uns, wie ein
schicksalhaftes Rendezvous, täglich ein Wolkenbruch
erwartete. Die Sintflut auf dem Klagenfurter Ring, die
biblische Dunkelheit am Mittag; hinter der regennassen
Windschutzscheibe M.s ungläubiges, konzentriertes Gesicht,
auf dem sich das rote Bremslicht des dinosauriergroßen
Lastwagens vor uns widerspiegelte. Und jene Wassermasse,
die nicht in Schauern, sondern in zusammenhängenden
Strähnen niederging, in einer reglosen Nebelnacht bei
Nickelsdorf, wo uns der österreichische Zollbeamte
aufforderte, aus dem Schutz des Autos in die strömende Flut
hinauszutreten, nur weil M. einige Meter über die Zollstation
hinausgefahren war. Er selbst stand unter dem Dach derselben,
wippte auf den Stiefelabsätzen, schrie und versperrte uns den
Weg, damit wir möglichst viel Regen abbekamen. Später –
oder vorher? – in Basel, ich renne zur Straßenbahn, der Regen
rinnt mir über den Nacken in die Kleider, in meinen Schuhen
gluckert das Wasser. – Das überwältigend reiche Basler
Kunstmuseum; vor dem Theater ein Brunnen mit Mobile,
kataton oder manisch sich bewegende wasserspeiende,
wasserschluckende, wassermessende, wassergießende, im
Wasser sich drehende Apparate, ein niederschmetternder
Anblick; das Restaurant mit Rheinterrasse, der geschickt
kaschierte Hedonismus, der bedrohliche Reichtum. Dieser
Reichtum – das sieht man auf Schritt und Tritt – wird sich
verteidigen. Die kunterbunte rempelnde Menschenmenge um
mich herum wird ihn verteidigen, weil sie nur so in den Genuß
der von ihm fallen gelassenen Brosamen kommen kann –
herbeigeströmte Nomaden, deren Präsenz in dieser
zurückhaltend-eleganten Stadt unterschwellig überall spürbar
ist, wie die von Algen unter einem glitzernden Wasserspiegel.
Ein Brief von Cioran an Dieter Schlesak gerät mir in die
Hände: «Für den Westen ist der Tag unvermeidlich, da seine
Fremdarbeiter über ihn herrschen werden. Die Zukunft gehört
immer den Sklaven und den Einwanderern…» Ganz
Westeuropa hat sich auf Verteidigung eingestellt, mit seinen
nach Osten vorgeschobenen Wachposten, den Österreichern.
Aber nie taucht die Frage auf, was es denn außer Geld noch zu
verteidigen gebe (etwa die westliche Kultur, die schon lange
nicht mehr existiert?); auch schaden die Methoden der
Verteidigung den Überresten der westlichen Demokratie mehr,
als daß sie ihr wirksamen Schutz bieten. Westeuropas
klaustrophobische Angst läßt Adolf Hitler wiederauferstehen,
mithin den Superioritätswahn der Inferioren. Wieder werden
die Besitzer von Geld und Macht, um zu retten, was es zu
retten gibt, die vollkommene Zerstörung der Gesellschaft
billigen und schließlich um den Preis eines neuen
Totalitarismus sowie neuer gesellschaftlicher Katastrophen
davonkommen; doch was für ein Davonkommen, was für ein
Totalitarismus wird das sein? Wer wird behaupten können,
diese drohenden Ideologien verfügten über ein Ideal, über
etwas, das nicht bereits ausprobiert, nicht bereits durchgespielt
worden wäre? Es fällt mir eine (diesmal trockene und milde)
Nacht in Solothurn ein, die zufällige Begegnung mit einem
Schweizer Schriftsteller; er führte mich über einen
märchenhaften Platz in eine märchenhafte Kneipe und erklärte
mir in dieser märchenhaften Sieben-Zwerge-Umgebung mit
vor Beschwipstheit leicht schiefem Mund und mit
angsterfüllten Augen, daß bald der Faschismus siegen und
überall regieren würde, doch käme er diesmal nicht aus
Deutschland… Etwa eine halbe Stunde lang sprach er so, tief
verbittert, und ich teilte seine Meinung voll und ganz. Dann
machten wir, eine Gruppe von vier nomadischen
Schriftstellern, einen ausgedehnten Spaziergang in der lauen
Nacht, zwischen Solothurns unwahrscheinlichen Kulissen, was
den Schweizer endgültig aufbrachte: Hinter den Fassaden
dieser mittelalterlichen, barocken und Rokoko-Häuschen
wohne niemand, erklärte er, weil die Wohnungen unbezahlbar
seien, hier gebe es nur Büros, Banken, Vertretungen von
millionenschweren Firmen… Ich hatte den Eindruck, die Welt
sieche bereits in Lüge dahin, sie warte nur noch auf den
Gnadenstoß, den sie jedoch durch Bestechung mittels
gigantischer Geldwäsche und durch verworrene Gesten und
Reden im letzten Augenblick abgewendet habe
beziehungsweise ständig hinauszögere. Aber wenn sie einmal,
ein einziges Mal nicht mehr zahlen kann…
K. der Schriftsteller, sagt folgendes: «Wovon bin ich
ausgegangen? Ich weiß es nicht. Unsere Existenz ist eine solch
gravierende Tatsache, daß wir ihr nicht nur nicht ins Auge
sehen wollen, sondern vermutlich auch nicht können. Mal
respektvoll, mal lachend, mal erschüttert, mal – ich gestehe es
– leicht verständnislos bewundere ich unsere Unwissenheit,
Zerbrechlichkeit, Hinfälligkeit sowie unseren unbegreiflichen
Mut (oder ist es Ohnmacht?), uns überhaupt zum Leben zu
erkühnen…»
Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: «Mein Leben, meine
sogenannte ‹Laufbahn› funktionierten nur beziehungsweise
kamen nur in Schwung, indem ich mich zu einem andern
machte, als ich bin (obwohl ich natürlich nicht weiß, wer ich
bin – und statt ‹obwohl› müßte hier eher weil stehen). Nie
vermochte ich mit meiner Lage, mit meinem wirklichen Leben
identisch zu sein – und hier wäre hinter ‹wirklich› ein großes
Fragezeichen zu setzen, denn die Tatsache, daß ich mich zu
einem andern machte, mithin meine Phantasie und meine
Kreativität ja ebenfalls ‹wirklich› waren, ‹wirklicher› sogar als
die Wirklichkeit, schufen sie doch ihrerseits Wirklichkeit.»
Hier machte er wieder eine Pause, bevor er so schloß: «Ja,
mein Freiheitsdrang erwies sich oft als stärker als die
sogenannten realen Verhältnisse, und daß er schließlich die
Oberhand gewann, ist natürlich vor allem glücklichen
Umständen, doch nicht minder dem Wesen dieser Verhältnisse
zuzuschreiben: es scheint, daß Energien wie der Freiheitsdrang
nicht weniger Realien sind als die ihnen gegenüberstehende
Wirklichkeit selbst.»
Jetzt verstummte er, sichtlich erfüllt von dem, was er am
Anfang «die gravierende Tatsache unserer Existenz» genannt
hatte, so daß ich ihn diesmal nicht mit Einwänden belästigen
wollte (obwohl ich einige parat habe).
_____«In einem Tag kann man die Schrecken der Hölle
erleben; es ist reichlich Zeit dazu.» (Wittgenstein)
Ich habe sie in einer halben Stunde erlebt.
Und A., meine arme Frau?
Wir saßen im Vorraum des «Computertomographie-Labors».
Es war der 1. August, schreckliche Hitze. Wir warteten
stundenlang, und ich versuchte unter Aufbietung all meiner
körperlichen und seelischen Kräfte, an diesem
außergewöhnlichen Ort, in dessen dicker Luft das Unglück
gleichsam zu greifen war, eine gewisse Alltäglichkeit oder
beruhigende Banalität herzustellen und aufrechtzuerhalten.
Nachdem man A. zur Schädeldurchleuchtung zitiert hatte,
mußten wir nicht einmal zehn Minuten auf das Urteil warten.
In einem verdächtigen Nebenzimmer teilte mir ein junger
blonder Arzt mit Brille, über ein Papier gebeugt, furchtbare
Dinge mit – eilig, sachlich, unwiderruflich.
Ich taumelte nach Hause, um zusammenzupacken, was ein
Menschenwesen auf der letzten Etappe seines Erdenwandels
braucht: Nachthemd, Zahnbürste, Pantoffeln…
In diesen Wochen mache ich ununterbrochen Notizen über die
Verhältnisse, in denen ich lebe, wobei diese Notizen in keiner
Weise den Verhältnissen gleichen, in denen ich lebe.
Nie werde ich erfahren, wie ich das Grauen von A.s Agonie
durchgestanden habe, so wie ich – letzten Endes – nie etwas
Wesentliches über mich erfahren kann. Meine Gegenwart ist
jetzt schon eine meinen Erinnerungen zugedachte Zeit, eine
Zukunft, in der ich über meine gegenwärtige Gegenwart
urteilen muß; also dringt offenbar in all meine Gedanken und
Taten, wie ein heimtückisches Gift, etwas Verfälschendes ein.
Zu registrieren bleibt: der minütliche Verrat am Lebendigen,
die wohlbekannte und unüberwindliche Schande der
Selbsterhaltung. Früher oder später findet sich der Mensch in
der Lage, daß er einen Kampf ums Überleben ficht, um ein
Überleben, das vom Chaos des Sterbenden verschlungen zu
werden droht. Zuerst erfahren wir, die von uns geliebte Person
sei todkrank, dann gewöhnen wir uns an den Gedanken, finden
uns damit ab und überlassen sie den Fachleuten. In gewisser
Weise werden wir zu Mördern, und nur wenigen gelingt es,
dies zu vermeiden, vielleicht den Einsamen, den
Alleinstehenden. Aber auch diese hatten vielleicht einmal
einen Vater oder eine Mutter, die unter dem Mülleimerdeckel
hervor zu ihnen sprach. Hierzu ist zu sagen, daß Situationen,
die eine solche Praxis, und eine Praxis, die solche Gedanken
hervorbringt, typisch für die moderne Lebensweise sind. Der
Tod – genauer das Sterben – waren auch früher ein Problem,
doch ein sozusagen natürliches Problem. Die modernen Zeiten
reimen sich irgendwie immer auf Auschwitz; immer ist
Auschwitz in ihnen präsent.
Eines Tages werde ich erkennen, daß dieser Tod auch der
Anfang meines Todes war. Ich überquere eine Straße, die eher
in die Szenerie der äußeren Ferencvaros passen würde, zufällig
aber in der Umgebung der Oper liegt und die Andrássy- mit
der Király-Straße verbindet: die Pál-Vasváry-Straße – dort, vor
einem verwitterten, baufälligen Haus, das gleichsam aus allen
Wunden seines vernachlässigten alten Körpers blutet, staut
sich plötzlich die Zeit, kehren die Anfänge zurück… Oben im
ersten Stock war jenes «überaus unwirtliche Untermietzimmer,
das ein eiskalter Abort auf dem Außengang besonders
denkwürdig machte» – wie ich achtunddreißig Jahre später,
das heißt vor vier Jahren, in meiner Erzählung Die englische
Flagge schrieb. Es war Winter, der grausame Winter 1953/54.
Wie soll ich unser damaliges Leben charakterisieren, jene
Stimmung, jenen Zustand allgemeinen Vertrauensverlustes?
Jene vollkommen unwirkliche oder besser unwahrscheinliche
Realität? Wir lernten uns am Abend des 14. September 1953 in
einer Espresso-Bar kennen und verbrachten die Nacht in
meinem Zimmer an der Logodi-Straße… Ich war
vierundzwanzig, sie dreiunddreißig. Ich kam aus den
nazistischen Konzentrationslagern, direkt von der
«Endlösung»
∗
, und aus den trostlosen Tiefen der harten
«fünfziger Jahre» – und obwohl es nach außen nicht sichtbar
war, wirkte das alles eher inspirierend als vernichtend auf
mich. Auch sie kam aus dem Krieg, als Flüchtling, ihre
Familie war ausgerottet, der Familienbesitz – das Erbe –
zerstreut worden, sie mußte von vorne anfangen, ihr Mann
wurde zu Beginn der Schauprozesse inhaftiert, sein Geld, seine
Habe wurden beschlagnahmt, sie mußte von vorne anfangen,
schließlich wurde sie selber verhaftet, war ein Jahr lang in
Gefängnissen und Internierungslagern – das alles brach ihren
Willen, höhlte ihr Selbstvertrauen aus. Jede Wahl, so auch ich,
insbesondere ich, war für sie eine Selbstbestrafung wegen
eines mystischen Vergehens, dessen sie sich nie schuldig
∗
Im Original deutsch
gemacht hatte. Unser Gefängnisleben setzten wir fort, doch
nun zu zweit, denn wir kannten nichts außer Gefängnissen,
waren nur in Gefängnissen heimisch. Wir fanden und
erkannten einander, wie dies in Gefängnissen geschieht: unsere
Beziehung war eine Gefängnis-Solidarität, ein aussichtsloses,
hart geprüftes Aufeinanderangewiesensein. Aber dies ist bloß
Beschreibung, Formulierung, Deutung, und jede Deutung ist
zwangsläufig auf eine dritte Dimension ausgerichtet; das
unaussprechliche Geheimnis zwischen zwei Menschen, deren
einzigartige, geschlossene Welt entzieht sich ihr. Mit
einemmal werde ich mir bewußt, daß diese Welt nicht mehr
existiert, daß ich nur noch Erinnerungen an sie habe. Und diese
Erinnerungen sind meine Erinnerungen, keine zweite
Dimension, kein Beweis vermag sie zu bekräftigen: vielleicht
stimmt es gar nicht, daß ich gelebt habe, vielleicht stimmt gar
nichts. Sie ist gegangen und hat den größten Teil meines
Lebens mitgenommen – die Zeit, als mein Schaffen anfing und
sich erfüllte und wir uns – in unserer unglücklichen Ehe – so
innig liebten. Unsere Liebe war wie ein taubstummes Kind,
das mit ausgebreiteten Armen und lachendem Gesicht
dahinrennt, dessen Mund sich aber langsam zu einem Weinen
verzieht, weil keiner es versteht und weil es kein Ziel sieht.
Mir wird fast schwindlig angesichts der Gewißheit, daß die
Vergangenheit in einem einzigen Moment zu dem wird, was
ihr Name besagt: vergangen, zu einem verlassenen Depot von
alten Dingen, Erlebnissen, Klängen und Bildern, die längst
losgelöst sind von ihrem lebendigen Ursprung, vom Leben, das
sie einst hervorgebracht und eine Zeitlang intakt behalten hat.
Meine Geschichte ist von mir abgefallen: mich erfaßt eine jähe
Gleichgewichtsstörung, als hätte ich mich verirrt und wäre
zwischen Vergangenheit und Zukunft aus der Zeit
herausgeglitten. Irgendwann einmal werde ich mich von
diesem Zusammenbruch erholen, werde der beharrlichen
Stimme folgen, die mich hinter meinem grauen Nebel hervor
zurück ins Leben ruft. Im Augenblick aber stehe ich,
unwissend und verständnislos, gleichsam auf der Schwelle
zwischen Leben und Tod, mein Körper strebt Richtung Tod,
mein Kopf dreht sich zum Leben um, mein Fuß holt
unschlüssig zu einem Schritt aus. Einem Schritt wohin? Egal,
denn wer den Schritt tut, bin schon nicht mehr ich, das ist ein
anderer…