Kertész Imre Ich ein anderer

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IMRE KERTÉSZ

Ich – ein anderer

ROMAN

Aus dem Ungarischen

von Ilma Rakusa

ROWOHLT TASCHENBUCH VERLAG

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2. Auflage Oktober 2002

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg, Oktober 1999

Copyright © 1998 by Rowohlt • Berlin Verlag GmbH, Berlin

Die ungarische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel

«Valaki más. A valtozas krónikája» bei Magveto, Budapest

Copyright © 1997 by Imre Kertész

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung Cordula Schmidt / Barbara Hanke

(Foto: The Image Bank)

Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 3 499 22573 5

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In dem ehemaligen Häftling Imre Kertész, dem

«unverbesserlichen Kind von Diktaturen», ist eine

Verwandlung geschehen. Er ist jetzt ständig unterwegs,

lebt immer aus dem Koffer. «Sein Nomadisieren

entzückt und bedrückt ihn zugleich» und hat ihn doch

«zum Leichtsinn eines späten Daseinsglücks

hingelenkt». (Sigrid Löffler, «Die Zeit»)

Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest, wurde 1944

nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald

befreit. Seit 1953 lebt er in Budapest als freier

Schriftsteller und Übersetzer (u. a. von Nietzsche, Freud,

Hofmannsthal). Für seine Romane, Erzählungen und

Theaterstücke wurde er mit mehreren Preisen

ausgezeichnet.

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«… denn ich bin es, den ich darstelle.»

Montaigne

«… ich habe nicht existiert, ich bin jemand anderer gewesen

(…) Heute auf einmal bin ich zu dem zurückgekehrt, der ich

bin oder zu sein träume.»

Pessoa

«‹Ich› ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Miturheber

sind.»

I. K.

«Ich ist ein anderer.»

Rimbaud

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_____Neunzehnhunderteinundneunzig. Herbst am kalten

Donauufer, die nahe Dämmerung tauchte die in ihrem

lügenhaften Prunk schäbig gewordenen Palais der Pester Seite

in herbes Apfelgrün.

Alles in mir schläft, tief und reglos. Ich rühre in meinen

Gedanken, Gefühlen, als wär’s eine Autoladung lauen Teers.

Warum fühle ich mich so verloren? Offenbar, weil ich

verloren bin.

Alles ist falsch (durch mich, wegen mir: meine Existenz

verfälscht es).

Wenn die Leere (meine innere Leere) Schuldgefühle auslöst,

so geht das womöglich auf unsern Ursprung zurück. Der

Schöpfung ging Beklemmung voraus: der Horror vacui ist

eine ethische Tatsache.

Gestern, auf einer albernen Konferenz mit dem albernen Titel

«Hungarian-jewish coexistence», kam im Vortragssaal ein

älterer Herr auf mich zu; sein Gesicht war teigig und formlos,

sein Haar in Streifen schütter wie ein abgewetztes

Plüschkanapee: kein einziger seiner Gesichtszüge kam mir

bekannt vor. Zu meinem Erstaunen umarmte er mich plötzlich

und stellte sich vor: ein Freund, wir hätten uns fünfunddreißig

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Jahre nicht gesehen. Er lebe im Ausland. Er habe von mir

gehört, lese meine Bücher. Meine «Verwandlung» könne er

nicht nachvollziehen. Damals habe er nichts Besonderes an

mir bemerkt, es hätte keinerlei Anzeichen für meine «höheren

Fähigkeiten» gegeben. Ich entschuldigte mich ein wenig für

diese unerwartete Entwicklung, in Wirklichkeit aber wühlten

mich seine Worte auf. Seit je neige ich dazu, mich für einen

«Jedermann» zu halten, der allerdings in einer Hinsicht keine

Anstrengung scheut: wenn es darum geht, klaren Kopf zu

behalten. Was sind meine «höheren Fähigkeiten»? Ich bin der

einzigen Inspiration dieses Landes nicht gefolgt: jenem

permanent verführerischen Sirenengesang, der zum seelischen,

geistigen und physischen Selbstmord verleitet, und das zeugt

von einer gewissen Vitalität. Doch wäre es höchst unbesonnen,

ja verblendet, dieses Minimum als Sieg zu werten. Was nun

hat sich durch die «Wende» gewandelt? Gibt es kein

Ausgeliefertsein mehr? Bin ich von mir selbst erlöst? Man hat

mir nur die conditio minima, meine persönliche Freiheit

zurückgegeben – die Tür zur Zelle, in der ich vierzig Jahre

lang festgehalten wurde, ging, wenn auch quietschend, auf,

und vielleicht genügt das, um mich zu verstören. Man kann die

Freiheit nicht am selben Ort kosten, wo man die Knechtschaft

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erduldet hat. Ich müßte weggehen, weit weg von hier. Ich

werde es nicht tun.

Also müßte ich wiedergeboren werden, mich verwandeln –

doch in wen, in was?

Es regnet. An einem Tisch im Kaffeehaus erklärt ein Mann

einer Frau etwas, das sich nicht erklären läßt. Er möchte

aufhören mit den unablässig scheiternden Glücksversuchen. Er

hat genug von der Jagd nach Freude – auf dem Irrweg der

Versprechen, die ins Nichts führen. Nein, keine andere Frau,

Gott behüte. Freiheit. Auftauchen aus dem jahrelangen trüben

Strudel aufeinanderfolgender Beziehungen. Er hat es satt, in

jedem Verhältnis seine eigene Unzulänglichkeit zu erkennen.

Ihm schwebt ein kurzes, intensives, schöpferisches Leben vor.

Treue, mürrische Pflichterfüllung als das nährende Feuer einer

Dauerdepression. Dieses Feuer ist eiskalt, doch lodert darin

große Genugtuung. «Was wußten sie, wer er war»

niemand

weiß, wer er ist, und er wünscht, daß man ihn mit seinem

Geheimnis allein läßt. Das Gesicht der Frau, während sie ihm

zuhört. Jetzt müßte sie aufstehen, stolz, müßte sich mit

unterdrücktem Schluchzen entfernen. Sie rührt sich nicht. Also

springt der Mann auf, küßt die Frau sachte, rasch auf die

Im Original deutsch

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Augen und eilt aus dem Kaffeehaus. Nein, er tut es nicht. Er

winkt den Kellner herbei, zahlt. Sie erheben sich gleichzeitig.

Durch die regennasse Fensterscheibe kann man sehen, wie sie

auf die Straße treten. Der Mann öffnet den Regenschirm. Sie

gehen ein paar Schritte nebeneinander, dann hakt sie ihn unter,

und nach kurzer Unkoordiniertheit sind ihre Schritte im Takt.

Von der Tür her weht ein leichter Luftzug durch den Raum,

wie das flüchtige Gekicher der Vergeblichkeit.

Es regnet. Alte Parteiführer äußern sich im Fernsehen. Sie

«glaubten» an die Partei. Sie «glaubten», daß «Irrtümer»,

«Fehler» passiert seien, aber sie «glaubten» zum Beispiel, daß

«Stalin davon nichts gewußt» habe. Usw. Doch wäre es falsch,

anzunehmen, sie hätten solche Gemeinplätze nicht mit echten

Inhalten, ihren sogenannten «Glauben» nicht mit echten

Gedanken oder Gefühlen verwechselt. Die daraus zu ziehende

Lehre: diese Menschen haben ihr Leben auf einen falschen

Gebrauch der Sprache gebaut. Schlimmer noch, sie haben

diesen falschen Sprachgebrauch zum gültigen Konsens

erhoben und haben bei ihrem Abgang lauter Sprachgeschädigte

zurückgelassen, die nun dringend moralische Soforthilfe

benötigen, da die durch den falschen Sprachgebrauch wertlos

gewordenen, wie Papierfetzen zerfasernden Worte plötzlich

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ihre moralischen Verletzungen zu enthüllen scheinen.

Moralische Prothesen klappern, moralische Krücken knarren,

moralische Rollstühle rollen, wohin ich auch blicke. Es geht

nicht darum, eine Epoche wie einen Alptraum zu vergessen:

sie waren ja der Alptraum, also müßten sie sich selber

vergessen, um leben zu können. Woher aber soll man wissen,

ob es nach einem langen Tod möglich, verlockend ist, wieder

zu leben. Ist denn je einer auferstanden – nicht um Wunder zu

verkünden, sondern um einfach weiter so dahinzuleben, im

wesentlichen aus dem gleichen Grund wie zuvor (nämlich

grundlos), und ohne das Ereignis der Auferstehung auch nur

bemerkt zu haben? Ist Lazarus in der Rolle eines Chaplin

denkbar?

Der feuchte, zehrende Wind der Tragödien heult. Die Erde tut

sich auf, der Himmel stürzt ein. Die Menschen verändern sich

jäh, fallen in sich zusammen, altern. Der Hauch der Hölle bläst

ihnen die Farbe vom Gesicht. Graue und weiße Gestalten,

Leichen nähern sich auf den Straßen. Metamorphosen der

Apokalypse. Als ich auf der Vermezó an dem mit Judensternen

vollgekritzelten Standbild von Bela Kun vorbeischlenderte,

begriff ich mit einemmal, daß das, was ich in jungen Jahren für

Feigheit, Dummheit, Blindheit und – im Grunde genommen –

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für eine unbegreifliche tragikomische Form von Selbstmord

gehalten hatte, in Wirklichkeit Hilflosigkeit ist, die in Würde

umschlägt. Es liegt eine gewisse Würde darin, daß der Mensch

schließlich den Befehl des Mörders ausführt und mit

Gleichmut erträgt, daß er gebrandmarkt und abgeschlachtet

wird. In der Bequemlichkeit – der Bequemlichkeit der

Opferrolle – liegt etwas Großzügiges. Was mich betrifft, so

ahne ich schon, daß ich an meinem Platz ausharren werde,

höchstens mein Ekel wird zunehmen. Das lange Leben hält

immer mehr Überraschungen für uns bereit – Überraschungen,

mit denen wir uns selber verblüffen.

«Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht,

annehmen»: Rilke. Kafka: «Ich muß viel allein sein. Was ich

geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.» Nietzsche:

«Das Pathos der Distanz…»

Welches ist das richtige Leben? Ein ewiges Geheimnis (für

mich).

Gestern abend im Bett versuchte ich lange und angestrengt,

mir mein Nichtsein vorzustellen. Das subjektive Nichts. Ich

spürte geradezu, wie ich aus meinem Körper herausschlüpfte –

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doch damit war das Abenteuer auch schon zu Ende. Kaum

verlasse ich die Hülle, verschwindet der Inhalt; alles hört auf.

Ich bin auf Gedeih und Verderb mit meinem Körper

verbunden, dieser Gemeinplatz ist manchmal fast nicht zu

fassen. Es wäre ein Fehler, zu glauben, mein Leben gehöre

mir. Aber es wäre ein noch größerer Fehler, dieses Leben zu

vernachlässigen, es zugrunde, flötengehen zu lassen. Dieses

Leben wurde mir anvertraut – ich frage nicht, von wem, da ich

die Antwort kenne und auch weiß, daß die Frage falsch gestellt

ist; ich kann mich nur auf mein eigenes, unleugbares Gespür

für Verantwortung verlassen (mein einziges Gespür). Mit

meinem Leben stehe ich in einer Wechselbeziehung. Diese

Beziehung heißt: Ausgeliefertsein. – Soweit wäre alles in

Ordnung. Doch welches Teilchen dieses gespaltenen Lebens

nennt sich «Ich»?

«Ich » ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Miturheber sind.

«Ich ist ein anderer.» (Rimbaud)

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«9. IV. 1951. ‹Weißt du, oder glaubst du nur, daß du L. W.

heißt?› Ist das eine sinnvolle Frage?» (Wittgenstein: Über

Gewißheit)

Und was habe ich am 9. April 1951 getan? Vor

einundvierzigeinhalb Jahren? Ich glaube, ich habe in der

MAVAG Eisen- und Maschinenfabrik gearbeitet, als

ausgebooteter Intellektueller. Wußte ich oder glaubte ich nur,

daß ich I. K. heiße?

Weder wußte ich es, noch glaubte ich es. Ich gehorchte

einfach, wenn man mich bei diesem Namen rief.

Immer schon haßte ich meinen Namen. Bereits in meiner

frühen Kindheit haftete zuviel Schmach an ihm.

Um genau zu sein: Ich glaube, ich habe mich vor meinem

Namen gefürchtet. Ein bißchen tue ich es noch heute.

Höre ich meinen Namen oder sehe ich ihn geschrieben, fühle

ich mich gewissermaßen aus dem friedlichen Versteck meiner

Anonymität herausgerissen – identifizieren jedoch werde ich

mich nie mit ihm.

(Tolstoi berauschte sich angeblich schon im Flegelalter an

seinem eigenen Namen, wie ein junger Hund.)

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Ich bin nach Wien gekommen, als wollte ich vor meinem

Leben flüchten. Und ich übersetze Wittgenstein (Vermischte

Bemerkungen), als wollte ich vor meinen Aufgaben flüchten.

Milder Winter 1992. Spaziergänge in der frühen Dämmerung.

Der Belvedere-Park. Die Umgebung der Karlskirche, die

Argentinierstraße, mit deren Namen sich ein silbriges

Klingelgeräusch verbindet. Die wohlproportionierten Palais,

ein in einer Toreinfahrt verstecktes geheimnisvolles Geschäft,

wo indonesischer Schmuck, krumme Säbel, exotische Nippes

verkauft werden. Vor Sonnenuntergang (hier kommen mir so

archaische Wörter wie zum Beispiel «Vesper» in den Sinn),

zur Vesperstunde also (wann ist denn Vesperstunde?), schaue

ich noch rasch in den Garten des Palais Schaumburg, auf den

mein Fenster geht. Der herbe Duft der Luft, die spärlichen

Passanten, die Farben des abendlichen Zwielichts, die

Einsamkeit, der leichte Rauchgeruch – alles, alles erinnert an

die langen, gramvollen, traumartigen Nachmittage meiner

Kindheit.

Wo ist die Stadt, die die Stille, die Altertümlichkeit dieses

Wiener Abends wie eine Metapher in mir… heraufbeschwört?

Ich glaube, ich wollte schon immer so leben: in einer

angenehmen Mietwohnung (die nicht mir gehört), zwischen

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freundlichen Möbeln (die nicht mir gehören), heimatlos,

unabhängig, mit dem beschäftigt, was sich ergibt (zur Zeit die

Wittgenstein-Übersetzung), ohne schwerwiegende Brotsorgen,

an einem fremden Ort, wo mich Erinnerungen an vertraute,

vielleicht nie gewesene Ereignisse heimsuchen…

Wittgenstein. In Wien stoße ich auf keinerlei Spuren von

ihm. Bei Wittgenstein jedoch stoße ich überall auf Wien. Bis

zur Perversion gesteigerte Genauigkeit; jüdischer Selbsthaß

(hier kann man auf bestem und höchstem Niveau studieren,

wie der Antisemitismus entsteht und funktioniert); generell

unsichere Selbsteinschätzung als verhängnisvolle Folge der

väterlichen und staatlichen Stiefelsohle, wobei diese

Unsicherheit an einem bestimmten Punkt der Verfallskurve

unerwartet fruchtbar und produktiv wird – das Denken als

Versuch, die Oberhand zu gewinnen, das Denken als Rache,

als letzter, rückwärtsgewandter Blick eines Flüchtigen,

verächtlich und luzid.

Mahler sei ein schlechter Komponist. Während ich diesen

Blödsinn übersetze, lege ich die Sechste Symphonie auf.

Thomas Bernhard hat in einem Interview gesagt, Ludwig

Wittgenstein sei – im Unterschied zu seinem Neffen Paul –

«unmusikalisch» gewesen. Aber nicht darum geht es. «Eines

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ist, in Gedanken säen, eines, in Gedanken ernten», übersetze

ich aus den Vermischten Bemerkungen: Nun, Wittgenstein war

nicht bereit, Mahlers Gedanken zu ernten, meiner Meinung

nach darum nicht, weil Mahler Jude war. So leicht ist es, ein

Werk zu verkennen. Oder: Sind Werke so fragil? Nein, sie sind

noch viel fragiler. Jedes Verstehen ist Mißverstehen. Können

wir also behaupten, das Mißverständnis halte die Werke am

Leben? Wohl kaum.

Mein erster Wiener Traum, der eine klare, plastische

Erinnerung hinterlassen hat. Ein schlechter, beklemmender,

erniedrigender Traum. Vermutliche Zusammenhänge mit

meiner gestrigen Abendlektüre («Der antisemitische Retter» in

der Zeitschrift

Transit),

ferner mit Wittgensteins

unglücklichem Verhältnis zu seinem eigenen Judentum. Heute

habe ich mich bei einem symptomatischen Übersetzungsfehler

ertappt: Es ist ein Widerspruch zu erwarten – schrieb ich –, ein

solcher Widerspruch, wonach einer das alte ästhetische Gefühl

für seinen Körper behält und die Beule willkommen heißt. (W.

apostrophiert sein Judentum als Beule.) Der korrekte Text

lautet selbstverständlich so: «Es ist ein Widerspruch zu

erwarten, daß einer das alte ästhetische Gefühl für seinen

Körper behalten und die Beule willkommen heißen wird.»

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Mein Übersetzungsfehler ist eine offensichtliche Freudsche

Fehlleistung, die bezeugt, was ich von Wittgenstein erwartet

hätte…

Was aber erwarte ich von mir selbst? Und wie soll ich

meinen Traum deuten, der die Sache nur von der Beulenseite

her betrachtet?

Kaum hatte ich mich von dieser Nacht erholt, ging ich heute

morgen – wie übrigens jeden Tag – an der Gedenktafel für

Moritz Schlick vorbei, die an einer Hauswand der Prinz-

Eugen-Straße angebracht ist. Kein gewöhnliches Haus, ein

großes Mietshaus. Die Gedenktafel hat mich schon am ersten

Tag stutzig gemacht, im Zusammenhang mit Wittgenstein.

Außerdem ist es seltsam, hier auf Namen zu stoßen, die in

Budapest bloß abstrakte Begriffe sind. Moritz Schlick wurde

von einem seiner Studenten in der Universitätsaula einfach

abgeknallt. Da das damals (1936) selbst in Österreich nicht

ganz den Anstandsregeln entsprach, wurde der Student zu zehn

Jahren verurteilt; doch schon nach zwei Jahren, anläßlich des

Anschlusses, wurde er rasch (und unter zahlreichen

Entschuldigungen) auf freien Fuß gesetzt. Bei der

Gerichtsverhandlung nannte er als Tatgrund Schlicks «böse

und schädliche» Philosophie (das heißt die Sprachkritik und

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den logischen Positivismus, da diese, zusammen mit der

Phänomenologie, äußerst judenverdächtige Dinge sind – zu

Recht: wessen

Interesse

ist denn die Entlarvung

metaphysischen Geschwätzes, auf dem das ideologische Blabla

seinen schiefen Turm erbaut?). – Ich habe keine Ahnung,

warum ich mich jeden Morgen mit dieser Geschichte

herumplage. Schlick wohnte an einem schönen Ort, seine

Fenster gingen auf den Rosengarten des Belvedere. Nebenan

wurde kürzlich ein Kellerlokal eröffnet, fremdartige Männer

mit knarrendem Idiom gehen hier ein und aus, am Sockel des

stolzen Gebäudes prangen verdächtige feuchte Flecken,

gestern morgen mußte ich den Blick rasch von Erbrochenem

abwenden. Seit 1989, das ist nun drei Jahre her, als ich zuletzt

(und zum erstenmal) in Wien gelebt habe, ist die Stadt deutlich

heruntergekommen. Doch warum klage ich darüber wie ein

Wiener Kleinbürger? Offenbar habe ich mit

Identitätsproblemen zu kämpfen; mit wem bin ich solidarisch?

Käme es zur Entscheidung, würden mich die Wiener

Ordnungshüter zweifellos jener Gruppe mit dem knarrenden

Idiom zuordnen, die ich aber nicht mag, weil sie die westliche

Kultur vollkotzt. Fragt sich freilich, ob es die westliche Kultur

überhaupt noch gibt. Nur mit Moritz Schlick darf ich getrost

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solidarisch sein; er hat nachgedacht und wurde aus diesem

Grunde erschossen, was letztlich ein angemessenes Schicksal

für einen Philosophen ist.

Wittgenstein: «Das Verständnis der Musik ist eine

Lebensäußerung des Menschen.»

Ich weiß nicht warum, doch verfolgt mich ein ständig

wiederkehrendes Bild, das einer Cellistin des Budapester

Kammerorchesters, die, wenn sie mit dem Bogen heftig über

die Saiten strich, ihren Kopf so schonungslos, so brüsk zur

Seite warf, so schief auf die linke Schulter senkte, als wär’s ein

fremder Gegenstand. Jede Note, jeder einzelne Bogenstrich

schien ein Opfer von ihr zu verlangen, eine Ekstase des

Körpers, die der Körper nicht aufzubringen vermochte, so daß

er den Zuschauer mit dem schmerzlichen Bild ständiger

Unerfülltheit quälte; zu alldem aber erklang klassische,

vollkommen rationale Musik, wenn ich mich recht erinnere,

Bach.

Die vielen damenhaften, feinen und hinfälligen alten Frauen in

Wien. Ich reiche ihnen die Hand, helfe ihnen beim Aussteigen

aus der Straßenbahn, beim Betreten des Fahrdamms. Einige

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bedanken sich, andere mustern mich argwöhnisch; nie jedoch

so argwöhnisch, wie ich mich selbst.

Die überaus quälende Frage, mit der sich Wittgenstein

fortwährend herumschlägt: ob das von ihm Zustandegebrachte

etwas «wert» sei oder nicht. Das ist, als würde die Muschel

den Marktwert der Perle abschätzen, während sie sie in der

Tiefe des Meeres absondert; es gilt einzusehen, daß die Natur

dieser Frage sich radikal von derjenigen der Muschel

unterscheidet…

Ein zwischen Begabung und Genialität bestehender –

mitunter unüberbrückbarer – Abgrund.

«Wenn einer nicht lügt, ist er originell genug», habe ich heute

nachmittag übersetzt.

Wen überrascht es, daß die Menschen ihre Gedanken (oder,

wie sie sich auszudrücken belieben, ihre «Überzeugungen»)

scheinbar so leicht ändern? Jede «Überzeugung» ist die Maske

eines bestimmten Menschentyps, und mit welcher

Überzeugung er sich auch maskiert, er bleibt doch immer der

gleiche, tut doch immer das gleiche.

Es stimmt tatsächlich, worauf mich Wittgenstein gebracht

hat: beim religiösen Glauben stimmt vor allem und in erster

Linie der Ausgangspunkt, die Tatsache nämlich, daß die Lage

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des Menschen hoffnungslos ist. Ich frage mich: Kann man

auch an die Hoffnungslosigkeit glauben? Denn mir genügt

dieser Glaube; und ich bin nicht hoffnungslos.

Die nie wiederkehrenden, unwiederholbaren Morgen dieses

kalten Wiener Frühlings; genieße ich sie zur Genüge, bin ich

nicht zu dumm, um glücklich zu sein?

Momentaufnahmen des belichtenden Gedächtnisses: auf dem

Stephansplatz läuft eine Frau in Pelzmantel und auffallend

hohen Stöckelschuhen lachend ihrem Freund entgegen – über

unebenes, teilweise schneebedecktes Pflaster.

Ein Paar auf dem nächtlichen Schwarzenbergplatz, fröstelnd

aneinandergeschmiegt, auf die Straßenbahn «D» wartend.

Der Tisch im warmen, duftenden Restaurant,

Kerzenschimmer. Der wichtigtuerische Oberkellner, der

wissen möchte, wer die Wiener Symphoniker im

Musikvereinssaal dirigiert habe, und der den Dirigenten mit

der typisch wienerischen Boshaftigkeit des Eingeweihten

heruntermacht.

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Heimweg durch die dunkle Goldeggasse, etwas wankend.

Das grelle Morgenlicht in der Imbißstube der Graf-

Starhemberg-Gasse. Die leichte Irrealität des Lebens, dieser

lockere Humus, auf dem später die Erinnerungen wie

flammender Mohn erblühen.

Die milde Melancholie der Bahnhöfe, zur Zeit der

Dämmerung und der Abschiede. Noch eine abendliche

Aufnahme im Schnellzug: das Profil einer Frau vor weinrotem

Polster.

Am Tag danach: ein Wiener Sonntag. Vormittags

Wittgenstein, mittags Spaziergang nach Hietzing. Der

Hietzinger Friedhof, der gepflegte Garten, die schönen Gräber

(fast hätte ich hinzugefügt: die wohlgenährten Toten). Gleich

gegenüber vom Eingang das monumentale Grabmal von

Dollfuß. Soviel ich weiß, war Dollfuß ein winziger Mann. Am

Rózsadomb, in der feinen und exklusiven Szemlóhegy-Straße,

gab es einmal einen Sommerkindergarten. Jemand – eine Frau

in weißem Kittel – wusch gerade meine Haare, über einem

großen Becken im Garten. Da ertönte ein Name (auf der

Straße? im Garten?): Dollfuß!! Man habe ihn erschossen. Die

Hand hörte auf, meinen Kopf zu reiben, in meinem Mund

sammelte sich prickelnder Seifenschaum. Ich hörte folgende

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Worte: «Er ist verblutet. Röchelnd.» An letzteres Wort

erinnere ich mich besonders, weil ich nicht genau verstand,

was es bedeutete. Ich stellte mir eine dicke rote Flüssigkeit vor

– das Blut eines Erwachsenen, also keineswegs jenes fröhliche,

hellrote, salzige Siegeselixier, das aus mir hervorsprudelte,

wenn ich mich schnitt oder hinfiel und mir das Knie

«aufschlug» usw. so eine ominöse, klebrige Masse, in der sich

die Zunge vergeblich zu bewegen versucht; das war für mich

das Wort «Dollfuß», und im Grunde genommen verbindet sich

«röcheln» in meiner Vorstellung noch heute mit diesem

spezifischen Ereignis und dem Geschmack von Seifenschaum.

– Aber wohin ist die Szemlóhegy-Straße entschwunden? Zwar

gehe ich manchmal auf einer Szemlóhegy-Straße spazieren,

doch erinnert diese nicht im entferntesten an jene Szemlóhegy-

Straße, wo ich zwischen den scheckigen, wie Riesenschlangen

sich windenden Wurzeln der alten, von merkwürdigen

Eisengittern umzäunten Platanen hin und wieder Schildkröten

fand, die ich dann zur Wiese am Ende der Straße trug, um sie

stolz ins Gras zu setzen; hier, auf dieser Höhenwiese, war das

letzte zu verteidigende Eckchen der Welt, von hier aus sah ich

über den Rand der Welt hinaus, und dieses Jenseits war eine

lockende, ahnungsvolle Bläue, in die sich meine Kinderaugen

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verloren, vernarrten, und in deren Weite ich dort, wo der

Horizont zwischen dem mäandernden Wasserspiegel und dem

glitzernden Himmel verschwamm, bisweilen staunend und

schauernd ein zauberhaftes weißes Schiff entdeckte…

Wittgenstein-Übung: Wenn ich sage, das Wasser sei kalt,

erklärt jeder sofort, es sei kalt, weil Winter sei, weil das

Höhleninnere kälter als… usw.; wenn ich aber sage, ich sei naß

und friere, reicht man mir ein Handtuch – oder auch nicht:

jedenfalls provoziere ich mit der Frage eine Entscheidung. (Ich

denke an den Antisemitismus, das Gerede über ihn.)

Die Welt nicht zu verstehen, bloß weil sie unverständlich sei,

ist Dilettantismus. Wir verstehen die Welt darum nicht, weil

das hienieden nicht unsere Aufgabe ist.

Zuviel Denken macht entweder unglücklich oder mystisch.

Wittgenstein war letzten Endes ein Mystiker, wie Kafka. Nur

arbeitete er mit anderem Material: mit der Logik. Er mußte

Welten zertrümmern, bis unter den Ruinen, wie ein

aufblitzender Edelstein, plötzlich sein Glaube

hervorschimmerte. Ich stelle ihn mir in diesem Augenblick

vor, mit dem Schatz in der Hand: er sieht ihn lange an und

findet keinen Namen dafür. Doch weiß er, daß ein Wunder

passiert, daß er gerettet ist.

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Dennoch hat der Schriftsteller vor allem zu befürchten, daß

er, wenn er nichts zu sagen hat, auf einmal geistreich wird.

Ein strahlender März. Vormittag. Harte Farben, blendendes

Licht. Sonnenschein, der durch die Vorhänge des Café Prückel

dringt; die Stille des Kaffeehauses; die diskret raschelnden

Zeitungen, wenn eine Hand sie umblättert; die Menschen mit

ihren langsamen, seltenen Bewegungen, ihrer Sicherheit und

Ruhe; hinter dem Vorhang, auf dem Ring, der gleichsam

lautlos dahinströmende Verkehr; die dienstfertigen, doch nie

aufdringlichen Kellner; mir gegenüber ein sympathischer

Mann mit offenem, porzellanfarbenem Gesicht: ein Literat;

klug, geistreich, unterhaltsam; die Greuel, die apokalyptischen

Phänomene, von denen wir sprechen und die in der sanften

Kaffeehausstille zu einer bedrohlichen Vision in uns

anwachsen. Wir sind uns einig, daß eine unheimliche

Entwicklung ihre Schatten vorauswirft. Die Vorzeichen des

Grauens sind überall und in allem erkennbar. Die rationale

Sprache vermag diese Symptome nicht annähernd zu fassen.

Man muß zur alten Sprache greifen, zur Bibel, die von Satan

weiß und das Weltende kennt. So faseln wir, listig, bequem,

während am Rande meiner Aufmerksamkeit der funkelnde

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Himmel, der nahe Frühling und mein süßes Freiheitsgefühl

einen glücklichen Reigen tanzen.

Später (am Nachmittag): urheberrechtliche Probleme im

Zusammenhang mit Wittgenstein (der Verlag, für den ich

übersetze, hat es versäumt, die Rechte einzuholen; der, der sie

besitzt, hat inzwischen jemand anderen mit der Übersetzung

betraut). Plötzlich erscheinen Ursache und Anlaß meines

Wiener Aufenthalts in Frage gestellt. Vielleicht muß ich

vorzeitig nach Hause; bei diesem Gedanken erfaßt mich

überraschend eine fast physischen Schmerz verursachende

Panik und mir kommt, wie eine Vision, dieses Gemälde in den

Sinn: der verlorene Sohn, seine nackten Füße, das Bündel, der

spindeldürre Hund, die zusammengefallene Hütte, kurz: mein

zurückgelassenes Heim.

Vergiß nicht den Traum, der dich wiedergeboren hat.

Vergiß nicht deine Eltern.

Vergiß nicht, daß du im tiefen Traum das von ihnen

empfangene Leben angenommen hast.

Vergiß nicht das Versprechen, das dieses Leben birgt.

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Vergiß nicht, daß dieses Versprechen an Bedingungen

geknüpft ist, ja daß du die Einlösung dieses Versprechens

einzig in der Erfüllung seiner Bedingungen suchen mußt.

Du verlangst doch nicht etwa eine Zugabe?

Hitze in Budapest. Gestern abend in der Straßenbahn der

Hund, ein semmelfarbener Dackel. Verzagt kauerte er unter

dem Sitz, zu Füßen seines Herrchens. Seine gramerfüllten

schwarzen Augen schlossen sich ganz langsam. Über seine

ergraute Schnauze liefen zwei Tränen. Das Schlagen der Tür

schreckte ihn auf, er erhob sich schwerfällig, doch herrschte

man ihn an: Sitz! und drückte seinen Schwanz hinunter.

Zwinkernd, apathisch gehorchte er. Die totale Vergeblichkeit

des Seins sprach aus jedem seiner Züge, zugleich aber die

unfreiwillige Geduld einer Verzauberung – als hätte er etwas

anderes zu tun, anderswo, in anderer Gestalt, in einer andern

Zeit, in einem andern Raum, und als würde er sich mit diesem

schrecklichen Irrtum nur abfinden, weil er völlig mürbe

gemacht worden war…

Manchmal taucht in mir die (unbeantwortbare) Frage auf:

Wer, was bin ich, und welches ist meine besondere

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Geschichte? Gestern hat mir J. jetzt bei einem neuen Verlag

tätig, erzählt, wie ich 1988, vor vier Jahren, zum Artisjus-

Stipendium gekommen sei. Auch er sei in der Jury gewesen.

Damals hätten sie schon alle im Turnhallengestank des

Spätkadarismus die frische Luft der Wende gewittert.

Gelangweilt hätten sie in der Namensliste der ewig gleichen

Stipendiatsbewerber gestochert, als jemand – J. behauptet, er

erinnere sich nicht mehr, wer – plötzlich meinen Namen «aufs

Tapet gebracht» habe. Es sei still geworden, alle hätten

versucht, vom Gesicht des andern abzulesen, ob es statthaft sei,

so zu provozieren… doch wodurch eigentlich? Außer meinen

zwei Büchern Roman eines Schicksallosen und Fiasko

belastete schließlich nichts mein Sündenregister. Es sei denn

die Anzeigen der Szigligeter Denunzianten, meinen Abscheu

vor dem Regime betreffend. Doch war dieser bloß platonisch

gewesen, an einer Widerstandsbewegung hatte ich nie

teilgenommen, mein Abscheu vor aktivem Widerstand

rivalisierte mit dem vor dem Regime. Ich lebte wie ein Hund,

an meinen einsamen Wahnglauben gekettet, und heulte

höchstens manchmal den Mond an. Ich meinte, niemand lese

meine Sachen, niemand wisse von mir. Sie aber wußten alles

ganz genau, und die kafkaesken Notare führten Buch über

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mein Schicksal. Wie eine meiner Romanfiguren sagt: «Wozu

ihn töten? Er geht auch von selbst zugrunde.» So dachten sie.

Meine Person, meine Lebensweise und das daraus

resultierende Werk waren ihnen so selbstverständlich

unannehmbar, daß stillschweigender Konsens herrschte, ohne

daß man mich hätte verurteilen müssen. Ich beobachte mich,

während ich J. zuhöre, und verabscheue, was in mir vorgeht.

Man sollte diese Gefühle nicht analysieren, der Taumel

negativer Genugtuung eint alle bitteren Freuden. Ich bin das

unverbesserliche Kind von Diktaturen, meine Besonderheit ist

das Gebrandmarktsein. Es ist meine unerklärlichste, zugleich

aber wahrhaftigste Erfahrung auf Erden, unter den Menschen.

Dabei glaube ich keinen Moment, ich sei daran unschuldig.

Offen gestanden kenne ich es seit meiner frühen Kindheit.

Unter vier Augen liebten sie mich, in der Öffentlichkeit

verrieten sie mich, und wenn es galt, eine Figur auf dem

Schachbrett zu eliminieren, ließen sie mich eilig fallen.

Anscheinend löste ich diese ambivalenten Gefühle aus, und

vielleicht war in mir tatsächlich eine Art Unschuld – oder

sagen wir lieber Naivität –, die meine Rolle in der Gesellschaft

determinierte. Das Gift der Subalternität hätte mich ohne

weiteres umbringen können, doch das geheimnisvolle

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Laboratorium meines Seelenhaushalts machte daraus die

stärkste Würze meines Lebens. Mein Gebrandmarktsein ist

meine Krankheit, zugleich aber der Garant, das Dopingmittel

meiner Vitalität, daraus beziehe ich meine Inspiration, wenn

ich jäh und mit einem verrückten Aufschrei, als hätte ich einen

Anfall erlitten, vom Sein zum Schreiben überwechsle. Das

Gebrandmarktsein ist mein Elend und mein Kapital, doch steht

jetzt zu befürchten, daß ich es immer schwerer ertrage, obwohl

ich es kaum missen mag. Fragt sich, ob ich zu einem normalen

Leben überhaupt noch fähig bin. Vermutlich werde ich diese

Frage nie klar und eindeutig beantworten können, jedenfalls

nicht, solange ich da lebe, wo ich lebe und wo mein

Gebrandmarktsein kein Ende hat, weil es mir wahrscheinlich

längst in Fleisch und Blut übergegangen ist.

In meinem heißen Zimmer lese ich Marai: Was nicht im

Tagebuch steht. Ein interessantes Buch, voll vom wirren

Ressentiment der Nachkriegszeit (das im Tagebuch tatsächlich

fehlt). Den Juden rät es zum Christentum. Dieser Vorschlag ist

schon darum inakzeptabel, weil es auch unter den Christen –

sehe ich mich da genauer um – nur sehr wenige Christen gibt.

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Gegen Abend: ungeduldiger Tatendrang, beflügelnder

Wortandrang, grimmiges Glücksgefühl. Ich habe oft

geschwollene Beine, oft Schwindel. Mir gefällt, wie sich mein

Leben langsam abbaut.

Gestern sah ich die fahrenden Ritter unserer Zeit. Nacht, ich

saß mit Albina im Auto von Z. wir kamen aus Miskolc zurück.

Beim Pester Brückenkopf der Árpád-Brücke, inmitten

unbeweglicher Staubwolken, die sich im bläulichen,

irrlichternden Schein der Straßenlampen zum Nebel ballten,

blieben wir vor einer Verkehrsampel hängen. Die Straße war

stickig und verlassen. Da fiel uns die Horde auf, Nibelungen,

die aus der Unterführung auftauchten, acht bis zehn

schwerfällige, sich seltsam bewegende Gestalten in

khakifarbener Kleidung, mit glattrasiertem Schädel, in der

Hand des einen ein langer Holzknüppel (vielleicht der

berühmte Baseballschläger). In stummem Gänsemarsch

trotteten sie durch das jenseitige, neblige Licht, eine traurige,

blutrünstige Gruppe mit geröteten Augen, die – wer weiß, was

für Dünste ausströmend – Jagd auf Menschenfleisch machte.

In ihren tarnfarbenen Hosen sahen sie wie gefleckte Hyänen

aus, die mit trägem, doch ausdauerndem Haß nach einem

Opfer suchen – ohne Gier, eher aus Langeweile, aus

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Gewohnheit, aus natürlichem Widerwillen gegen fremdes

Leben. Ich gestehe: Mit eisiger Angst wartete ich darauf, daß

die Ampel auf Grün geschaltet wird, bevor die Razziabande

einen Blick ins Auto wirft und an mir das verhängnisvolle,

untilgbare Zeichen entdeckt. Diese Menschengestalten

verkörperten für mich den reinen Höllenspuk, das «wüste

Land», wo nicht mehr geredet, nur gemordet wird, wo die

Leichen gefleddert und am Straßenrand liegengelassen werden.

Als wäre mir das nackte Naturgesetz erschienen, ein

Naturgesetz ohne Schöpfung und Geburt; und ich dachte, da

müsse sich ein furchtbarer Fehler in die Rechnung

eingeschlichen haben, obwohl ich nicht zu sagen wüßte,

welcher. Wie ich den erschreckenden Verfall dieses Landes,

seine selbstmörderische Paranoia beobachte, erlebe. Wie ich

mich durch die Nationalmannschaft des Hasses und durch

meine eigenen Erinnerungen täglich von ihm entfremde. Wie

meine Gleichgültigkeit ihm gegenüber zunimmt. Wie ich

langsam versuche, mich von ihm zu lösen. Die Sprache – sie

ist das einzige, das mich mit ihm verbindet. Eigenartig. Diese

fremde Sprache, meine Muttersprache, die mir meine Mörder

verstehen hilft. In letzter Zeit heißt es häufig, ich hätte mich

«verändert». Zu meinem Vorteil? Zu meinem Nachteil? Ich

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denke, eher zu meinem Vorteil, obwohl man mir das zu

verübeln scheint. V. warf mir neulich an den Kopf, ich hätte

«meine Tiefe verloren», redete nur noch von

urheberrechtlichen Fragen und von materiellen Dingen. Wie

denn das? Sollten das Sklaventum und der Diktatur-

Infantilismus meine «Tiefe» erzeugt haben? Die Tatsache, daß

ich vierzig Jahre lang gegen meine Natur, überhaupt gegen die

Natur gelebt habe? Das ist nicht ausgeschlossen… Ich stelle

meine Veränderung selber fest, allerdings anders. Ich grenze

mich deutlicher von meiner Umgebung ab, scheine mich von

ihr abzuheben, und obwohl ich mich starr an sie anklammere,

versinke ich mit ihr nicht in den Tiefen der Depression, wie

bisher; das aber wird bereits als Provokation empfunden, ja als

Mangel an Solidarität, als Verrat. Und wenn irgendwo das

winzige, blinkende Flämmchen einer möglichen Chance für

mich aufleuchtet, wird das auch schon als Unglücksbotschaft,

als Beginn meines Untergangs gedeutet. Es ist dies ein

besonderer Moment, eine besondere Station, bevor die Wege

auseinanderlaufen, und falls ich die Anstrengung nicht scheue,

kann ich einige mystische Details wie bunte Blumen am

Wegrand pflücken und hier zu einem Strauß zusammenbinden.

Vor allem zeitliche Koinzidenzen: Das Galeerentagebuch

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entstand und erschien zur selben Zeit, als die Veränderung

einer begrenzten Lebensform (meiner) mit einer

umfassenderen Wende (der des Landes) zusammenfiel. Ich

weiß, daß diese Koinzidenz nicht besonders für mich spricht:

Während im großen Weltstudio der Schleier fällt und eine

Ruinenlandschaft enthüllt, bekommt im hintersten Winkel ein

aus den Ruinen geborgenes Gebäude (vielleicht baufällig und

bei weitem nicht perfekt) ein neues Dach; eine solche

Kreativität – ich weiß und fühle es – ist unentschuldbar. Ich

würde schon gern weitergehen, doch etwas in mir zittert, eine

unüberwindliche Nostalgie. Ich bange um meine Einsamkeit,

um die vertrauten Stunden der Lektüre und der Kasteiung, um

die verborgene Energiequelle des Alleinseins, um diese alte,

mir zur zweiten Haut gewordene, gewissermaßen trotzige

Lebensform, um die Art, wie ich mich ständig den

zerstörerischen Kräften entgegenstellte, hart auf hart, wie eine

Pfeilspitze auf dem Bogen… Das war ein großes Abenteuer,

eine Freude, die ich mit vorsätzlicher Freudlosigkeit erlebte,

und nun blicke ich darauf zurück wie ein Greis auf seine

Jugend.

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___Ende Oktober in Leverkühns Feldafing – ich blättere im

Doktor Faustus, und natürlich heißt Leverkühns Dorf nicht

Feldafing, sondern Pfeiffering.

Egal.

Ich wohne jetzt seit drei Monaten hier, über dem Starnberger

See. Fahre weg und kehre wieder zurück, wie ein routinierter

Untermieter; komme ich im Dunkeln heim, spätabends, finde

ich die Schleichwege, wie ein nächtliches Tier die Wechsel.

Flüchtige Eindrücke aus Frankfurt. Die Buchmesse: Ich

kriege einen Messestempel auf meine zu Markte getragene

Haut gedrückt; von meinen eigenen Lesungen bekomme ich

selber kaum etwas mit, warte nur immer, daß die Hülle fällt

(habe aber keine Ahnung, die Hülle wovon); angenehme

Absurditäten. Der Taxichauffeur, der mich zum Bahnhof fährt;

sein vielversprechendes, vornehmexotisches Profil, das jedoch

von innerem Verfall bedroht ist – ob Zähne oder Lebensweise,

es geht um eine allgemeine Vernachlässigung. In einem

Pidgin-Deutsch beklagt er sich über die zunehmende

Fremdenfeindlichkeit der Deutschen. Plötzlich kurbelt er die

Scheibe herunter und ruft seinem Kollegen zu, der am

Taxistand dahindöst: «Hallo, General!», dann erzählt er mir

lachend, sein Kollege sei General in Sadats Armee gewesen,

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bevor er in Frankfurt Taxichauffeur geworden sei (vermutlich

ist mein exotischer Chauffeur selber auch Ägypter). Er redet

viel, und wie jeder geschädigte Angehörige einer geschädigten

Nation beginnt er gleich zu politisieren, das heißt, auf die

Juden zu schimpfen. Ich schweige wie ein gleichgültiger

Passagier, der zum Bahnhof muß und das Ziel nicht mit dem

dazugehörigen Mittel verwechselt. Ich gebe ihm ein

großzügiges Trinkgeld, verheimliche aber, daß es von einem

Juden stammt. – Berlin, die wechselvolle Vereinigung der

geteilten Stadt. Überhaupt verblüfft, daß die Vereinigung gar

nicht erwünscht ist. Eine antikreative Erfahrung. Sie löst Wut

aus, ohnmächtige Gereiztheit in Anbetracht der plötzlichen

Raumausdehnung, der wachsenden Möglichkeiten, vor allem

aber der drängenden, unaufschiebbaren Aufgaben. Ängstlich

horcht das altersschwache Europa auf: Es hat sein seit

Jahrzehnten verfolgtes angebliches Ziel erreicht, ist jetzt aber

äußerst erpicht, alles abzuwehren, was ihm Taten abverlangen,

was zum Nachdenken, zur Erneuerung, zur Kreativität anregen

könnte. Das bärtige Europa gleicht einem alten Geizkragen,

der dem Mädchen, das ihn bei der Damenwahl zum Tanz

auffordert, einen Stockhieb versetzt, da er nur eines mutmaßt:

man wolle sein Geld. In solcher Kleinkariertheit steckt die

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Vorahnung drohender Sklerose und des eigenen Endes. –

Lesung in der «Jüdischen Gemeinde»: Als die Organisatorin

des Abends, eine untersetzte, etwas fahrige Frau, vor mich tritt,

habe ich plötzlich den Eindruck, dieses Gesicht sei mir schon

lange von Budapest her bekannt, doch stellt sich heraus, daß

sie aus England, aus London stammt. Ich muß endlich

zugeben, was ich bislang nur ungern zugeben mochte, daß

Jude nicht bloß ein abstrakter Begriff ist (obwohl auch das),

sondern Rasse und Typus, kurz: Wenn auch nicht jeder Jude

Jude ist, wie Schönberg sagt, so kommt doch kein einziger

Jude um die Tatsache herum, daß er Jude ist (meine eigene

Erfahrung). (Man muß sich heute nur mal die Gesichter jener

Budapester Intellektuellen ansehen, die vierzig Jahre lang

glaubten, sie würden nie mehr mit dem Faktum ihres

Judentums konfrontiert, bloß weil in der Kadar-Gesellschaft,

diesem Sumpf, das Wort, die Erinnerung, die Trauer und die

Wahrheit als Tabus galten – ja, man muß sich nur mal diese

schmerzlich überraschten, diese verstörten und ratlosen,

manchmal zornigen Gesichter ansehen, muß sich ihre

überraschten, verstörten, ratlosen, manchmal zornigen Worte

anhören – über ihre törichte Nostalgie nach der Epoche des

Schweigens oder über ihr neu erwachtes jüdisches

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Selbstbewußtsein. Daneben gibt es aber auch solche, die

wegen ihrer plötzlich problematisch gewordenen Abstammung

in Raserei geraten, Juden, die in ihrer hilflosen Qual zu

antisemitischen Publizisten, zu den Leitschakalen der

heruntergekommenen Intelligenz geworden sind und die nun

das verödete ungarische Geistesleben vollheulen und –

schreien…) – Wien: Im Hotel treffe ich mich mit Albina, die

aus Budapest angereist ist; abends mein Amery-Vortrag an der

Universität – mir bangte ein wenig, der Titel («Der Holocaust

als Kultur») könnte provokativ klingen, aber es gab keine

negativen Reaktionen, im Gegenteil… Beim Abendessen sehe

ich auf Albinas Gesicht den glücklichen Abglanz dessen, was

sie meinen «Erfolg» nennt; zwei Tage später, an einem milden,

klaren Herbstmorgen, lade ich am Bahnhof mein Gepäck

hastig auf ein Wägelchen und eile, da die Zeit drängt, zum

Münchner Zug, als ich bei der Perrontür den Taxichauffeur

erblicke, der mich zum Bahnhof gebracht hat; keuchend hält er

Ausschau, bemerkt mich und reicht mir mit den Worten: «Das

können Sie vielleicht noch brauchen…»

meine Brieftasche mit

sämtlichen Ausweisen und allem Geld, die ich offensichtlich

auf den Wagensitz gelegt und dort liegengelassen hatte und die

Im Original deutsch

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ich jetzt so selbstverständlich, mit leichtem, dankbarem

Händedruck entgegennahm, als wäre es das Natürlichste der

Welt, daß großstädtische Taxichauffeure den Fremden ihre

liegengebliebenen Brieftaschen im Eilschritt zurückbringen;

wie ich nun mit meinem Gepäckwägelchen zum Zug hetzte,

verdichtete sich das Phantastische der letzten Tage und

Wochen zu einer Art flüchtigen Morgenandacht in mir, zu

einem heftigen, bislang kaum gekannten Identitätsgefühl, das

sich mit dem Transitorischen der Bahnhofsatmosphäre, mit

dem hellblauen Herbstmorgen, mit dem allgemeinen

Stimmengewirr, mit den herumrennenden oder -stehenden

Gestalten, mit meinem eigenen Sein und allem, was mir

geschah und noch geschehen mag, zu einer kurzen, feierlichen

Harmonie verband – selbst mit dem Tod, diesem wilden

Abenteuer, dessen Gedanke mich ständig begleitet und dessen

dunkles Licht von Zeit zu Zeit an meinem Horizont aufblitzt…

Erst als ich den Zug bestieg, fiel mir ein, daß ich in meinem

Taumel vergessen hatte, dem Taxichauffeur ein Trinkgeld zu

geben, und freudlos ließ ich mich durch dieses Versäumnis in

die Welt der widerwärtigen Tatsachen zurückstoßen.

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Vielleicht halten wir das Leben nur aus, weil es so

unwahrscheinlich ist; andererseits rührt das Denken ständig an

die sogenannte Wirklichkeit, sehnt sich nach Wirklichkeit.

«Ich bin heute so klarsichtig, als ob ich nicht existierte»:

Pessoa, Das Buch der Unruhe.

Nebel. Die fernen Alpen, die mal wie weiße Ungeheuer

auftauchen, mal in der braunen Luft verschwinden.

Ich kann nur schreiben unter der Voraussetzung geistiger

Intaktheit (womit ich sagen will, daß das Schreiben immer

schwieriger wird).

In Feldafing schreibe ich nicht. Ich arbeite nicht, weiß auch

nicht, ob ich je wieder arbeiten werde, weiß nicht, wie man

arbeitet, ob der Kaddisch-Roman, aus dem ich deutsch überall

unentwegt vorlese, wirklich von mir stammt, und wenn ja, wie

ich das gemacht habe – das Schreiben ist mir abhanden

gekommen.

Wißt ihr, daß Lenin die Nachtigallen mit Steinen

verscheuchte? So war es, ich habe es im Fernsehen, im Film

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eines jungen russischen Regisseurs gesehen. Dokumentarfotos

von Lenin, sein versteinertes Gesicht nach dem Schlaganfall.

Sie hatten ihn irgendwo auf die Krim gebracht, an die Sonne,

in den Frühling, damit er sich wohl fühle. Doch die

Nachtigallen rissen ihn im Morgengrauen regelmäßig aus dem

Schlaf. Und so lief er einmal in den Garten, um die

Nachtigallen zu verjagen. Er sammelte Steine und warf mit

ihnen nach den Vögeln. Plötzlich spürte er, daß er weder die

Steine noch den Arm hochheben konnte: er war gelähmt. Das

war die elegante, hauchzarte, doch eisern konsequente Rache

der Nachtigallen am großen Revolutionär, der ihren Gesang

nicht ausstehen konnte. Künstlerrache.

Die hohen, kerzengeraden Tannen im Garten der Feldafinger

Villa Waldberta tragen auf ihrem Stamm große, frische,

leuchtendweiße zweistellige Zahlen. Als M. diese numerierten

Bäume nachts, im gleißenden Licht der Autoscheinwerfer, zum

erstenmal sah, machten sie, wie zu erwarten, einen

erschütternden Eindruck auf sie.

Unsere «Flucht» nach Verona. Auf der Rückfahrt die in

ihrem Garten werkelnde alte Italienerin, die uns den Weg zu

erklären versuchte. «Capito?» Wir frühstücken wieder im

bleigrauen Starnberg, die Alpen sind nicht zu sehen, der See

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und die Luft grau, mit den weißen Tupfen der Schwäne. Wir

verfehlen den Weg zum Münchner Flughafen, von wo aus ich

mit der S-Bahn zurückfahren wollte; in Salzburg nehmen wir

bei einer Tankstelle Abschied, ich winke, das Auto

verschwindet rasch auf der Ausfallstraße, M. eilt zurück nach

Budapest, ich nach Hause, nach Feldafing. Im Zug nach

München eine Sonderprozedur: drei deutsche Zollbeamte

verlangen von einem Reisenden, der, wie ich zu verstehen

meinte, polnisch spricht, er solle seine Taschen auspacken. Sie

durchwühlen alles, beugen sich zu ihm, flüstern; die Szene

spielt sich ohne eine einzige auffällige Bewegung, ohne einen

lauten Ton ab. Selbst ich, der ich in Sachen Zollkontrolle

etliche Erfahrung besitze, vermag dem Geschehen nicht zu

folgen. Das ist diskrete, leise, zuvorkommende und tadellose

professionelle Arbeit.

In Feldafing elendes Gefühl des Verwaistseins. Nebel.

Nutzloser Kampf mit Feder, Papier und mir selbst.

Spaziergang in München. Ich suche das berühmte

Schwabing. Finde es nicht. Beziehungsweise was ich finde, ist

nicht das Erwartete. Düstere Straßen. München im Spätherbst,

bei strömendem Regen, ist ein ziemlich düsterer Ort.

Deutschland ist seit dem Gottesgericht vollkommen verwüstet.

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Diese Städte, diese Straßen, all das Wiederaufgebaute und

Neugebaute sind bloß die vernarbte Oberfläche einer riesigen

Wunde. Niemand weiß es, alle finden es schön.

Einladung zu einer Lesung nach Leipzig, bei winterlichem

Regen komme ich in der schwarzen, allseits verwitterten Stadt

an; ich bin im Gästehaus des Bürgermeisters untergebracht, es

ist Mittag, ich möchte Mittag essen, gehe von meinem Zimmer

im ersten Stock aus den Flur entlang, dann die Treppe hinunter

in den Speisesaal, verlange die Speisekarte, der Kellner

quittiert meine Bitte mit einem Lächeln, das mir irgendwie

bekannt vorkommt. Mit diesem Lächeln setzt er sich über

meinen Wunsch hinweg, fragt, was ich denn essen wolle, ich

sage, gegrilltes Steak mit Salat, davor, wenn möglich, Suppe,

dazu Wein. Ich bekomme das Gewünschte, alles schmeckt

vorzüglich, und als ich nach dem Essen zahlen will, läßt mich

der Kellner mit demselben, mir irgendwie bekannten Lächeln

wissen, es sei schon alles beglichen; in dem Moment geht mir

auf, daß ich mich in einer Gespensterstadt befinde, wo noch

die vor drei Jahren verabschiedete Vergangenheit herumspukt

und wo ich vielleicht zum letztenmal einen für privilegierte

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Kader eingerichteten privilegierten Betrieb in Funktion erlebe;

wie immer er heißen mochte oder heißt, das Personal ist

bestimmt das gleiche geblieben. Ich lege fünf Mark Trinkgeld

auf den Tisch und gehe verblüfft in mein Zimmer hoch, bald

wird man mich zu einer Stadtbesichtigung abholen. Rasch

werfe ich einen Blick durchs Fenster, schwarzer Regen ergießt

sich auf die schwarzen Häuser, der Garten meines Logis, des

Bürgermeisterhauses, ist aufgegraben und voll Erdhaufen, ich

sehe die Bretter, auf denen wir vorhin über den Schlamm ins

Haus gegangen sind. Dann kontrolliere ich, ob ich alle drei

Schlüssel bei mir habe: den Torschlüssel, den Hausschlüssel,

den Zimmerschlüssel – abends geht das Personal nach Hause,

die Villa ist unbeaufsichtigt, doch läßt man mich im voraus

wissen, ich könne die bereitgestellten Getränke nach Belieben

hinauf ins Zimmer nehmen – und eile in die Halle hinunter.

Mein Begleiter ist pünktlich auf die Minute, wir besichtigen

die Stadt, die genauso schwarz, naß und unfreundlich ist wie

ein paar Stunden zuvor, nur in der Innenstadt stoßen wir völlig

unerwartet auf eine Passage, die zu einer westlichen

Fußgängerzone passen würde und deren verschwenderische

Beleuchtung das dämmerige Dunkel der Stadt noch dunkler

erscheinen läßt. Wir besichtigen die Thomaskirche, Auerbachs

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Keller, ja selbst den Bahnhof, in dem bald schon ein buntes

Gewühl wie in Frankfurt, München oder sonstwo herrschen

dürfte, dessen zugige, menschenleere Halle vorläufig aber öde

vor sich hin dämmert. Tatsächlich kommt Wind auf, eisiger

Wind, und da ich vor der Lesung noch eine halbe Stunde

schlafen möchte, schlägt mein Begleiter vor, daß wir ein Taxi

nehmen, was wir auch tun, ich höre, wie er dem Taxichauffeur

die Adresse meiner Unterkunft nennt: Wächterstraße soundso,

ich steige aus, er fährt weiter, um mich später zu vereinbarter

Stunde abzuholen und zum Veranstaltungsort zu bringen. Ich

winke, suche im Dunkel nach dem Schlüsselloch, versuche das

Gartentor aufzuschließen, doch das Schloß gibt nicht nach. Ich

probiere auch die andern Schlüssel aus – vergeblich. Da

erblicke ich eine Klingel, läute. Eine Stimme ertönt aus der

Gegensprechanlage, ich sage: «Ich kann das Tor nicht öffnen.»

– «Was für ein Tor?» fragt die Stimme. «Das Gartentor», sage

ich. «Warum wollen Sie das Gartentor öffnen?» – «Um

hineinzugehen, ich wohne hier», sage ich. «Hier? Wo?» Die

Stimme wird immer unangenehmer. «Im Gästehaus des

Bürgermeisters», sage ich. «Mag sein, doch das hier ist das

Amerika-Haus.» Die Stimme ist jetzt schon ausgesprochen

unfreundlich, dann knackt es im Apparat und das Gespräch ist

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zu Ende. Ich stehe auf der Straße, es ist dunkel, gießt in

Strömen, der Wind bläst immer stärker und kälter, ich habe

keine Ahnung, was los ist, offenbar hat mich der Taxichauffeur

falsch abgesetzt, an der Häuserecke, wo ich mich befinde,

entdecke ich kein Straßenschild, es gibt weit und breit keine

Telefonzelle, kein Café, kein Geschäft, kein Restaurant, etwa

zehn Minuten irre ich, Ausschau haltend und suchend, umher;

in der Zwischenzeit ist kein einziges Taxi aufgetaucht, das

mich zu meiner Unterkunft, deren Adresse ich immer wieder

vor mich hin murmle, hätte bringen können. Die Straße ist

breit, menschenleer und schlecht beleuchtet, auf meiner Seite

schlummern hinter stummen Gärten stumm hingekauerte

Villen, auf der gegenüberliegenden Seite ragt die dunkle

Rückwand eines scheußlichen öffentlichen Gebäudes empor –

Museum, Universität oder Gefängnis –, nur aus einem einzigen

Fenster dringt Licht, nachgerade schadenfroh, um mich noch

deutlicher fühlen zu lassen, wie ausgeschlossen ich in dieser

düsteren, nunmehr offen feindlichen Stadt bin, die mich mit

der Indifferenz eines hungrigen Tiers zu packen und zu

verschlingen droht. Endlich taucht ein junger Mann auf, eilig,

mit hochgezogenem Kapuzenkragen, ich frage ihn, wo die

Wächterstraße sei, er weiß es nicht, ich frage, wie diese Straße

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hier heiße, er weiß es nicht, wie das denn möglich sei, frage

ich, er käme doch diese Straße entlang, er sagt, er gehe täglich

diese Straße entlang und wisse doch nicht, wie sie heiße, dann

eilt er schulterzuckend davon; ich stehe einige Minuten

unschlüssig da, als sich aus dem Dunkel die schwankende

Gestalt einer Frau mit Regenschirm nähert, sie weiß, daß wir

uns in der Wächterstraße befinden, das Haus sei nicht dort, wo

ich es suchte, meint sie, sondern hinter mir; ich drehe mich um,

überquere die Straße – da ist es, das Gästehaus des

Bürgermeisters! Ich war nur dreißig Meter davon entfernt,

hatte aber in der falschen Richtung gesucht. Der Schlüssel

dreht sich im Gartentorschloß, ich atme auf, gehe über die

vertrauten lieben Bretter, die Portiersloge ist leer, das Haus

dunkel, ich betrete es, drücke auf den Lichtknopf, keine Seele,

ich eile in mein Zimmer hinauf, entkleide mich, lege mich hin,

um ein Nickerchen zu machen – in diesem Augenblick ertönt

ein Lärmgeräusch, dann entsetzliches Geschrei. Die Stimme

kommt ohne Zweifel aus dem Haus, eine furchterregende

Männerstimme, die auf deutsch droht und fordert, wohl beides

zugleich, in einer endlosen Tirade. Wieder fühle ich meine

Einsamkeit, das Personal ist weg, ein Telefon gibt es zwar,

doch die Nummer der Polizei zum Beispiel weiß ich nicht,

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Telefonbuch und sonstige Informationen fehlen, zur Sicherheit

schließe ich meine Zimmertür ab. Die Stimme wird immer

furchterregender, nach kurzer Überlegung schleiche ich auf

Zehenspitzen aus meinem Zimmer. Vom Flur aus sehe ich ins

Eßzimmer, doch der kaum erhellte Raum ist leer, die Stimme

kommt von anderswoher, auf Zehenspitzen gehe ich weiter,

erreiche ein Geländer, von hier aus sehe ich, einen Stock tiefer,

den Fuß einer Treppe, eine Hintertür und im winzigen Raum

dazwischen einen untersetzten, fast kahlköpfigen Mann in

Weste: Besitzer der furchterregenden Stimme. Wie ein

Tobsüchtiger flucht er aus Leibeskräften, windet sich hin und

her, und als hätte er meine Schritte gehört, wendet er plötzlich

sein bebrilltes Gesicht forschend nach oben und schreit wie der

blinde Polyphem in zornerfülltem Schmerz: «Komm, komm!

Komm runter, du Gauner, komm mal, los, komm!»

Entsetzt

fliehe ich in mein Zimmer. Was soll das? Wer ist das? Was

soll ich tun? Bald kommt man mich abholen, beginnt die

Lesung; ich kleide mich für alle Fälle an. Seit ein paar Minuten

ist die Stimme verstummt. Ich warte noch ein wenig, dann

verlasse ich entschlossen mein Zimmer; das Haus ist still und

leer; ich gehe die Treppe hinunter bis zur Eingangstür – nichts.

Im Original deutsch

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Jetzt folgt der heikelste Moment, der mein Ausgeliefertsein

unerträglich steigert: Während ich mich mit dem

verschlossenen Haustor herumplage, das ich von innen öffnen

muß, ist mein Rücken ungeschützt, dahinter gähnt der Raum.

Endlich bin ich draußen. Ich atme auf, es regnet nicht mehr,

dafür aber bläst ein stürmischer Wind, die Bretter sind vereist.

Glücklich erreiche ich das Gartentor, im selben Augenblick

hält ein Auto an: man holt mich ab. Erleichtert setze ich mich

neben meinen Begleiter und dessen Frau und erzähle ihnen

aufgeregt, in miserablem Deutsch von meinen Abenteuern; sie

stellen einige Zwischenfragen, aber ich merke, daß sie meine

Geschichte gelinde gesagt für eine Übertreibung halten. Wir

gelangen zu einem zauberhaften Schloß, dem Gohliser

Schlößchen, wo ich lesen soll, eine zauberhafte Dame begrüßt

mich, auffallend liebenswürdig, äußerst vornehm und stilvoll,

sie läßt mich wissen, daß es vor der Lesung etwas Musik geben

werde und daß man eigentlich mit mehr Publikum gerechnet

habe, doch halte leider gerade heute abend ein gewisser

Professor M. seinen lange erwarteten Vortrag; dieser berühmte

Gelehrte sei in dieser Stadt von seinem Lehrstuhl abgesetzt

und in den Westen abgeschoben worden, jetzt kehre er

sozusagen im Triumph zurück, und natürlich wollten alle ihn

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sehen und hören. Der Abend läuft programmgemäß ab; eine

junge Frau spielt Cello, ein Herr Klavier, ich lese und

beantworte Fragen, man drückt mir einen Blumenstrauß in die

Hand, dann gehen wir in einem nahe gelegenen italienischen

Lokal essen. Der eisige Nordwind ist noch stürmischer

geworden. Ohne meine Geschichte überzustrapazieren, beharre

ich doch darauf, daß man mich nach dem Abendessen nicht

nur nach Hause fährt, sondern ins Haus hinein begleitet, ich

wisse ja nicht, was mich dort erwarte. Das Haus ist diesmal

erleuchtet, die Lampen brennen, wir gehen die Treppe hoch,

im Flur begegnen wir einer korpulenten, elegant gekleideten

Dame mittleren Alters mit heiterem Gesicht, die von meinen

Begleitern freundschaftlich-kollegial begrüßt wird. Es stellt

sich heraus, daß sie soeben Professor M. nach Hause gebracht

hat, der Abend sei glanzvoll gewesen, man habe M. lange und

enthusiastisch gefeiert. Ich bin erfreut, daß ich nicht allein in

diesem Geisterhaus übernachten muß, und erzähle kurz, was

mir vor der Lesung zugestoßen ist. Die fremde Dame lacht auf,

beugt sich zu mir und sagt mit gedämpfter Stimme, der

Wahnsinnige, den ich unter der Treppe habe toben sehen, sei

Professor M. gewesen. Ihre Worte tauchen den ganzen

Alptraum plötzlich in ein klares, nüchternes Licht. Der

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Professor sei zuckerkrank, etwas hysterisch und außerdem fast

blind. Am Nachmittag habe er gedacht, es sei Zeit, daß er

abgeholt und zur Universität gebracht würde. Also sei er in die

Halle hinuntergetappt, hier aber habe niemand auf ihn gewartet

(die Verabredung war nämlich eine halbe Stunde später),

zudem seien alle Türen verschlossen gewesen, mit dem

Schlüssel aber sei er nicht zurechtgekommen (weil er ihn

falsch ins Schloß gesteckt hat). Da seien in ihm die Reflexe aus

jenen alten Tagen erwacht, als er in dieser Stadt permanent

observiert wurde, seinen Lehrstuhl verlor und ins Exil mußte;

plötzlich habe er das Gefühl gehabt, er hätte nicht hierher

zurückkehren sollen, man habe ihn in eine Falle gelockt, habe

ihn in dieses Haus gesperrt, um andernorts über sein Schicksal

zu entscheiden, und aus panischer Angst habe er zu schreien

und an die Tür zu hämmern begonnen, bis er abgeholt und

beruhigt wurde. Um so erstaunlicher sei, daß er nach einer

solchen Nervenanspannung einen brillanten Vortrag gehalten

habe. Auch ich beruhige mich nun, denn die Geschichte, die

am Nachmittag so rätselhaft und erschreckend wirkte, hat ihre

rationale Erklärung gefunden; zum Schluß lachen wir alle,

wenn auch respektvoll, über den armen Professor M. Am

Morgen stehe ich früh auf, ein Taxi wird mich zum Flughafen

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bringen, es wurde schon am Vortag bestellt und kommt auch

auf die Minute genau. Prächtiger Morgen, strahlender Himmel,

blendender Sonnenschein, nur der gestrige Wind hat noch

zugenommen. Wir fahren durch eine deprimierende Gegend

stadtauswärts, zwischen Ruinen aus der Zeit der sogenannten

Deutschen Demokratischen Republik, nach den Außenbezirken

folgen verlassene, baufällige Schuppen, schwarze Scheunen,

nur da und dort bebaute Felder, der strohblonde,

schnurrbärtige, beleibte Taxichauffeur bekommt sehr schnell

heraus, woher ich stamme, welcher Nationalität ich angehöre;

als er «Ungar» hört, schaltet er den Zähler augenblicklich aus.

«Hohe Steuern», sagt er, an mein Verständnis appellierend, das

ihm natürlich sicher ist, obwohl mir der Gedanke kommt, daß

er die Steuer wohl anstandslos bezahlen würde, wenn ich

beispielsweise Engländer wäre; was bin ich für ein Mensch,

daß man mich aufgrund meiner bloßen Herkunft von

vornherein für einen natürlichen Verbündeten von

Gesetzesübertretern hält, ohne auch nur nach meiner Meinung,

nach meinem Wesen, meiner Lebensauffassung, meinen

Eigenheiten zu fragen. Ich überlege, ob ich nicht protestieren

soll, lasse es aber bleiben, weil mir einfällt, daß ich nur im

Namen des deutschen Staates protestieren könnte, was wirklich

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lächerlich wäre. Als ich in Leipzig das Flugzeug besteige,

herrschen, wie gesagt, blendender Sonnenschein und

stürmischer Wind, in München aber erwarten mich Nebel und

heftiges Schneetreiben. Trotz des unfreundlichen Wetters

steige ich am Marienplatz aus der S-Bahn; mein

geheimnisvoller Leipziger Gastgeber, der sich nie zu erkennen

gegeben hat, ließ mir zwar ein ausgiebiges Frühstück

bereitstellen, und auch im Flugzeug gab es eine Kleinigkeit,

doch setze ich mich in München gleich in ein Restaurant,

genieße es, meine Rechnung zu bezahlen, kaufe in einem

Geschäft etwas ein, stöbere in den Regalen, überlasse mich

Münchens nüchternem Kapitalismus, seiner Attraktivität,

seinen

– zumindest oberflächlich

– transparenten

Verhältnissen, wie einer, der nach einer langen Reise plötzlich

wieder zu Hause ist. Habe ich auf diesen Seiten zufällig einmal

gesagt, München sei nicht schön? München ist wunderbar…

Huldigung an Feldafing. Der See. Die Berge. Der Uferweg.

Die Freunde. Monika, die mich um den Starnberger See

herumfährt und zum Tee in ihre Villa einlädt. Susanne, die für

mich eine Lesung in der Bibliothek organisiert. Barbara, die

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die Künstler-Gäste der Villa Waldberta fotografiert. Albina,

die in ihrem gelben Mantel auf dem hoch über dem See

gelegenen Balkon sitzt und das Galeerentagebuch liest – bei

müdem Sonnenschein. Es wird Winter. Bald fahren wir nach

Hause.

Winterliche Budapest-Erlebnisse; als würde mein Bewußtsein

langsam krank.

Wovor fürchtest du dich, wo du doch weißt, daß du sterblich

bist?!

Am Vormittag der junge Mann in der Erzsebet Szilágyi-

Allee. «Mein lieber Herr (ja so: mein lieber Herr), bleiben Sie

doch einen Moment stehen!» Pelzmütze auf dem Kopf, heller

Teint, ziemlich blonder Schnurrbart, angenehme, wenn auch

leicht wäßrige blaue Augen. Mir schwant nichts Gutes, doch

bleibe ich stehen. Es ist klar, was folgen wird, dennoch muß

ich das ganze Ritual durchspielen. Ob ich nicht Arbeit für ihn

hätte? Nein. Ob ich nicht etwas rumänisches Geld eintauschen

würde? Ach wo, was soll ich damit. Er sei aus

Sepsiszentgyórgy nach Budapest gekommen, sagt er. Keine

Neuigkeit: in den letzten Tagen sprachen mich mindestens

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zehn Personen, Männer und Frauen, an, die alle aus

Sepsiszentgyórgy kamen. «Nur, damit ich was zu beißen

habe.» Irgendwie rührt mich dieses altmodische, an die

Kriegszeit gemahnende Argot. Aus meiner Magengrube

steigen KZ-Erinnerungen auf; ich versuche mir gar nicht

vorzustellen, was aus diesem hübschen, lebenstüchtigen und

kräftigen jungen Mann wird, den eine lügenhafte Propaganda

hierhergelockt hat, mitten in diese gemeine Gleichgültigkeit, in

diesen mörderischen Wahnsinn. Ich reiche ihm einen Hundert-

Forint-Schein. Er heitert sich auf: « Gott behüte Sie! » sagt er,

was auch mich aufheitert. Ich nehme seine Worte auf, wie einst

die Griechen die gütige Prophezeiung eines Hirtengottes. In

der Straßenbahn treffe ich zu meinem Pech Sz. an, der

sozusagen vor meinen Augen verfiel, zu einem senilen Greis

wurde. Er erkennt mich. Er sagt, er habe mich lange nicht

gesehen. Unvorsichtigerweise erwähne ich, ich sei in München

gewesen. Er kramt seine Münchner Erinnerungen aus den

sechziger Jahren hervor. Wie er am Oberlauf der Isar Kiesel

gesammelt, wie er von der Stadt sechzig Mark bekommen und

damit ein Gerät gekauft habe, das er aus Sparsamkeit bis heute

nicht in Gebrauch genommen hat usw. endlos. Seine

hervortretenden Augen werden bei jedem Satz feucht, sein

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zuckender Mund nimmt einen seltsamen, fremden Ausdruck an

– als wäre er schon mehrere tausend Jahre alt und erinnerte

sich jetzt an das zweite Jahrtausend, als dieser Planet noch

grün und voller Leben war.

Ein heftiges Gefühl der Verlogenheit jeglichen Trosts.

Neujahr 1993. Wintersonne, am Morgen Spaziergang über

den Rozsadomb. Die Stadt von oben, kühles Licht, kühler

Sonnenschein, stumme neujährliche Straßen. Ich betrachte das

reglose, starre Bild und spüre, daß sich vor meinen Augen auch

noch der letzte Rest jenes Schleiers lüftet (egal, ob wir ihn

Gewohnheit oder gar Kultur nennen), durch den ich bislang die

Welt zu betrachten pflegte, und daß ich plötzlich in die Weite

sehe, direkt und unmittelbar ins Nichts.

Doch scheine ich mich aus irgendeinem Grund nicht damit

abfinden zu wollen, daß dieser Augenblick vergeht, ohne daß

meine Empfindung des Nichts Form annimmt, ohne daß das

Nichts zur Erfahrung wird, zu einem Etwas.

Wenn die Schöpfung das Werk der Liebe ist, sind dann

Untergang und Tod das Werk des Hasses? Macht uns die Liebe

seiend, der Haß zunichte? Oder wäre denkbar, daß auch der

Tod das Werk der Liebe ist?

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Einige schwer zu beantwortende Fragen. Beckett, in Molloy:

«Was zum Teufel hat Gott vor der Schöpfung gemacht?»

(Augustinus-Paraphrase) Valery: «Muß jede Frage

aufgeworfen werden?» Und: «Was tut Gott, wenn er nicht

schafft?»

Borges in seinem Swedenborg-Aufsatz: «Die Höllen sind

sumpfige Landstriche, Zonen, in denen anscheinend durch

Feuersbrünste zerstörte Städte liegen; aber: hier sind die

Verworfenen glücklich. Glücklich auf ihre Art; das heißt, sie

sind voll von Haß, und es gibt keinen Herrscher, keine

Ordnung in diesem Reich; sie alle konspirieren unaufhörlich

gegeneinander. Es ist eine Welt der politischen Niedrigkeiten,

der Verschwörungen. Dies ist die Hölle.»

Eine gute Beschreibung. Ihr zufolge spricht alles dafür, daß

ich zu Hause bin. Aber warum fühle ich mich nicht wohl, wie

es laut Borges/Swedenborg doch der Fall sein sollte? Bin ich

vielleicht doch am falschen Ort? Durch eine falsche

Zuweisung? Könnte es sein, daß der Schreibfehler eines

fahrlässigen, schlechten Beamten zum Urteil wird?

Dann ist hier eine schreckliche Inkommensurabilität am

Werk. Dann muß doch jede Frage aufgeworfen werden. (Mag

es auch überflüssig sein.)

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Ich fürchte, daß ich nicht mehr in der Lage bin, seriös zu

sprechen. Meine Seele glaubt an etwas, was mein Verstand

leugnen muß.

Wer die Probleme als das nimmt, was sie sind (das heißt sie

erkennt), muß von ihrer Lösung absehen; das Problem liegt

nicht in den Problemen, sondern außerhalb. Die Probleme des

zerfallenden Roms zum Beispiel konnte nur Christus

formulieren, weil er von ihrer pragmatischen Lösung absah;

und schließlich bekam er recht, sein furchtbares Los bezeugt,

wie notwendig und zugleich aussichtslos eine radikale

Erneuerung war.

K. der Schriftsteller, zählte sein ganzes Hab und Gut

zusammen. «Nur meine Sünden gehören mir», notierte er dann

am untern Rand des vor ihm liegenden Zettels, der im übrigen

mit Telefonnummern vollgekritzelt war.

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Wieder unterwegs im Zug. Hamburg-Berlin-Köln-Frankfurt-

Zürich. Die Mahnungen: Ich verlöre meine Tiefe. Ich verlöre

mich selbst.

Mich selbst? Wer ist das? (Wenn ich nicht gerade Zahn- oder

Bauchweh habe…)

Bin ich denn aus meinem Zentrum herausgetreten, aus dem

Emersonschen Raum des Heros? Worauf muß ich achtgeben?

Ich weiß nicht, worauf ich achtgeben muß, und ich weiß

nicht, warum ich achtgeben muß.

Ich weiß nicht, warum das Natürliche (die Tatsache, daß ich

die Existenz des Schriftstellers I. K. lebe) widernatürlich sein

soll.

Ich weiß nicht, warum die Moral der Unterdrückung

natürlicher sein soll als die Schäden der Freiheit.

Die Platzangst des Diktaturzöglings.

Einige Fragen, die gleichwohl aufgeworfen werden müssen.

Bin ich nicht zu leicht, ja seicht geworden? Will ich noch

schreiben!

Köln. Heulender Wind, die breite Krempe meines schwarzen

Hutes hindert mich daran, zum Dom hochzublicken – komisch.

Wenn ich den Hut abnehme, wird mein Kopf vom eisigen

Wind und den Nadelstichen des Regens förmlich malträtiert.

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Der Dom sieht wie ein monumentales Märchenbuch aus.

Drinnen der Domherr in rotem Ornat. Er bittet mich, nicht

umherzugehen, sondern mich zu setzen, da die Mittagsandacht

beginne. Dann würde ich lieber gehen, sage ich erschrocken.

Nein, nein, sagt der Domherr, das Ganze dauere nur fünf

Minuten. Ich setze mich. Die Zeremonie spielt sich mit Hilfe

eines Tonbandgerätes ab. Nach fünf Minuten ist sie auch schon

zu Ende. Der Domherr lächelt mir zu. Der Dom ist innen öde

und kalt. So muß es sein. Eine überdekorierte Kirche hat etwas

von geschmacklosem Zauber, was schlicht unverzeihlich ist.

Wie ein mit Bändern geschmücktes Richtbeil.

Hamburg, Spaziergang zwischen den Docks, der Journalist

und seine Freundin. Die Linken lesen mein Buch. Ich kann es

auch umkehren: Wer mein Buch liest, ist Linker. Ästhetisch ist

das äußerst suspekt, aber was ist Ästhetik? Alles deutet darauf

hin, daß der Mensch nicht wirklich frei ist, seine Gedanken,

seine Gefühle sind determiniert, freilich nicht so, wie Marx

oder Freud es sich vorstellten, nämlich keineswegs

automatisch. Kann ich denn von den Lesern meiner Bücher auf

die Bücher selbst schließen? Können wir von denen, die

Quellwasser trinken, auf die Quelle schließen? Dennoch

scheint es eine Art chemisches Gesetz von Anziehung und

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Abstoßung zu geben… «Ist euch das Gefühl bekannt, in

jemandem klein zu werden?» (Gombrowicz, Ferdydurke, 1.

Kapitel)

In Basel die beflissene, doch etwas schrullig, wenn auch nicht

bekloppt wirkende Buchhändlerin und ihr charismatischer

Gehilfe, der schlanke, schwarzhaarige Thomas. Es kommen

mir Assoziationen wie: Dickens, Der Raritätenladen… Die

Buchhändlerin sucht etwas, Thomas findet es. Die

Buchhändlerin sagt etwas, Thomas berichtigt sie. Und immer

mit allergrößtem Takt. Eine Weile versucht sie den Schein zu

wahren, doch schließlich lächelt sie nur irr; ich gewinne den

Eindruck, ohne Thomas wäre sie verloren. Dann erfahre ich,

daß Thomas bald geht – er muß lernen, will er nicht in diesem

Laden, neben dem einsamen alten Fräulein langsam

verstauben, zwischen und mit den Büchern. Was wird nur aus

dem winzigen, zerbrechlichen Fräulein (das vielleicht Witwe

ist oder, was ich allerdings für ausgeschlossen halte, eine

aktive Frau)? Sie wackelt mit dem Kopf, beklagt sich, tut aber

so, als wäre sie sich über ihre Lage nicht im klaren, als könnte

sie den drohenden Verlust nicht voll erfassen. Ob sie das aus

Taktgefühl tut, um Thomas den Weggang zu erleichtern? Es ist

dies eine besondere, altertümliche Beziehung in einer

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friedlichen, altertümlichen Stadt; doch irgendwie werde auch

ich von Sorge ergriffen. Das Hotelzimmer, das die

Buchhändlerin für mich reserviert hat, ist kahl und äußerst

deprimierend. Ich mache keinen Hehl daraus. Wir suchen ein

anderes Hotel auf, das ebenfalls kahl und deprimierend ist,

offenbar muß es vor allem billig sein; und da es sich nur um

eine einzige Übernachtung handelt, willige ich ein. Wir essen

in einem als schäbiges Lokal getarnten, sehr feinen Lokal zu

Abend – ein lauter, fröhlicher Ort. Am nächsten Vormittag

schlendere ich noch ein wenig durch die Stadt, dann fährt mein

Zug. Obwohl ich protestiere, begleitet mich Thomas zum

Bahnhof, trägt meinen Koffer dienstfertig über die Brücke; ich

wage nicht vorzuschlagen, daß wir ein Taxi nehmen sollen.

In Frankfurt die kämpferische Jüdin mit schwarzem

Männerhut und dicker Brille, sympathisch, attraktiv, hübsch,

spricht davon, daß sie, daß ihre Generation (sie ist um die

dreißig) sich mit Auschwitz «auseinandersetzen müßten»

.

«Wir in Israel», sagt sie, «haben zumindest eines gelernt: uns

zu verteidigen.» Totale Nichtauthentizität, keiner versteht

etwas. Ich will auch niemanden von etwas überzeugen. Will

nur schreiben, solange ich kann, weil ich gerne schreibe, weil

Im Original deutsch

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ich die Sprache mag, weil ich es mag, wenn mir unerwartet ein

Vergleich einfällt usw. Alle erkundigen sich nach Auschwitz;

dabei sollte ich von den gemeinen Freuden des Schreibens

reden – verglichen damit ist Auschwitz fremde, unnahbare

Transzendenz.

K. der Schriftsteller, sagt folgendes:

– Eine Annäherung an Auschwitz ist unmöglich, es sei denn,

von Gott aus; Auschwitz ist eines jener großen Menetekel, die

in Gestalt eines schrecklichen Schlags auftreten, um den

Menschen hellhörig zu machen – falls er hinhört. Statt dessen

werden wissenschaftliche Motive vorgebracht, wird von der

Banalität des Mordens geredet, was wie ein Gruß aus der Hölle

klingt. Wenn Auschwitz vergeblich ist, so hat Gott Bankrott

gemacht; und wenn wir Gott zum Bankrotteur machen, so

werden wir Auschwitz nie verstehen. So bin ich denn bereit,

auf diesem riesigen, wüsten Schauplatz namens Erde, wo im

gräulichen Licht nur ein Häufchen Schutt, spitze

Stacheldrahtreste, ein entzweigebrochenes Kreuz und die

Trümmer einiger weiterer Symbole auszumachen sind, mich

unterm grauen Himmel in den Staub hinzuknien, das Gesicht

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mit Asche zu bedecken und Auschwitz im gräßlichen Zeichen

der Gnade anzunehmen…

Dazu hast du kein Recht – widerspreche ich sofort –,

höchstens dann, und selbst das ist fraglich, wenn du daran

zugrunde gehst.

– Aber das tue ich ja – erwidert K. der Schriftsteller –, die

Geschichte meines Lebens besteht aus meinen Toden, wollte

ich mein Leben erzählen, müßte ich von meinen Toden

berichten.

– Trotzdem ist etwas faul an der Sache – protestiere ich weiter.

– Wenn du Auschwitz so teleologisch auffaßt, glaubst du

offensichtlich auch, daß dein Leben einen Sinn hat. Vielleicht

glaubst du sogar, Gott habe dich am Leben gelassen, weil er

dich dazu ausersehen hat, Auschwitz als Menetekel zu

begreifen.

K. der Schriftsteller, hat darauf nichts mehr erwidert. Seither

schweigt er.

Ein Brief aus Salzburg: « Über Ostern habe ich Ihr Buch

gelesen, das mehr ein karfreitägliches Gefühl vermittelt.»

(Es

Im Original deutsch

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geht um Kaddisch.) In der Atmosphäre des ungarischen

Regime-Christentums ist es ein großer Trost, solche echt

christlichen Worte zu lesen.

Was trennt mich von der ungarischen christlichen

Mittelschicht (die freilich eher eine mittlere Intelligenzschicht

ist als eine wirkliche Mittelschicht)? Daß sie Wert auf die

Unterscheidung legt, ob Graf Pal Teleki oder ob Ferenc Szalasi

auf die Juden schimpft. Mir hingegen ist das im großen und

ganzen gleich, für mich ist allemal Auschwitz das Endresultat.

Dieser Sommer, dieser heiße Sommer 1993… Warum

erinnert er mich so sehr an den Sommer 1944? Ringsum

virulenter Haß, ununterbrochen tätiger Wahnsinn. Der Begriff

«Nation» als unglückliches Bewußtsein, das dem ganzen Land

aufgezwungen wurde.

Die Totalität dieses Bewußtseins schafft wiederum Rollen.

Ich verspüre keinerlei Lust, meine Rolle zu spielen. Keinerlei

Lust, so tief zu sinken, daß ich gegen den sogenannten

Antisemitismus protestieren muß (einst, zu Beginn der Zeiten,

habe ich es aus Hochmut, Dummheit, Dünkel und Hoffnung

getan).

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Mein Judentum ist viel zu interessant (oder: zu

bedeutungsvoll), um im gebrochenen Licht jenes Wahnsinns

namens Antisemitismus gesehen zu werden.

Andererseits ist es schwierig, im Gravitationsfeld des

Wahnsinns klaren Verstand zu bewahren.

Ihr verlangt doch nicht, daß ich meine nationale,

konfessionelle und rassische Zugehörigkeit formuliere? Ihr

verlangt doch nicht, daß ich eine Identität habe?

Ich verrate euch: Meine einzige Identität ist die des

Schreibens. (Eine sich selbst schreibende Identität.)

Wer ich sonst bin? Wer wüßte es?

Kurzer Spaziergang in Linz. Am Hang, wo es zum Schloß

hochgeht, das alte Starhemberg-Haus, das Ende des 17

Jahrhunderts dem Stadtrat vermacht wurde, zur Gründung

einer Schule. An der Wand eine gelbe Tafel: hier seien Anton

Bruckner und Rainer Maria Rilke zur Schule gegangen. Als ich

zur Donau hinunterblicke, die im strahlenden Sonnenschein

aus einer Krümmung auftaucht und fließt, weiterfließt

Richtung Osten, verstehe ich die große östliche Hauptstadt der

Im Original deutsch

background image

Österreicher, Wien; dort lebte Freud, der in die chaotische

Tiefe des Bewußtseins blickte, so wie ich in Linz mit

schüchtern zusammengekniffenen, dennoch wachsamen Augen

in die Weite, zum bedrohlichen Osten hinüberblicke…

Dann erfaßt mich, gleichsam hubartig, ein plötzlicher leichter

Taumel. Zeitweise wird auch der Mensch gereinigt – wie die

Natur, wenn frischer Wind die dichten Wolken vertreibt und

die stickige Luft den schwülen Dunst blank fegt; und wie diese

Naturerscheinungen sind auch innere Aufheiterung und Sonne

kaum erklärbar – oder bloß durch unzureichende und

willkürliche physische Ursachen.

_____Ich liebe mein Berliner Bett, auf dem man bequem und

hart liegt.

In diesem Jahr habe ich insgesamt nur drei Monate zu Hause

(in Budapest) verbracht.

Ich lebe wie ein Flüchtling.

Einzig was dies anbelangt, lebe ich richtig: ich bin ein

Flüchtling.

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Im Zug, irgendwo zwischen Zürich und Berlin, glaubte ich

das inspirationshaltige Magma des Theaterstücks, an dem ich

gerade arbeite, gefunden zu haben: im Selbstmörder (der

Hauptrolle) werde ich mein eigenes schöpferisches Sein

betrauern – jenes Wesen, das infolge dreißigjähriger geheimer,

fruchtbarer und im Grunde harmloser Arbeit aus seinem

Kokon eine Seidenraupe hervorgebracht hat, diesen andern,

der ich heute bin. Er aber, der eigentliche Schöpfer – ist tot.

Ich liebte – und liebe noch heute – mein früheres, leidendes,

hochstilisiertes Ich, in dem ich so lange gewohnt habe, diesen

großen Toten, den ich in meinem Theaterstück zu Grabe trage.

Ich wiederhole die Worte Ibsens – schreiben heiße soviel wie

über sich richten. Im Stück verurteile ich mich zum Tode (das

tue ich in jedem Werk, ich sterbe unentwegt); falls ich das

Urteil überlebe, werde ich weiterfliehen, neuen Toden

entgegen (bis ich eines Tages, vermutlich unerwartet und

völlig unvorbereitet, auf den richtigen stoße: was wird das für

eine Überraschung sein!).

Als ich in meine Berliner Wohnung zurückkam, wusch und

bügelte ich wie eine Studentin.

Heute: In der Abenddämmerung Spaziergang an der Spree

entlang, nicht enden wollender Nachmittag, mäanderndes

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Wasser, Weiden, die ihre Äste in den Fluß hängen lassen,

dazwischen einzelne Pappeln und Platanen, Stille und Frieden.

Beim Schloß Charlottenburg beziehungsweise in einer

Seitenstraße des Tegeler Wegs kaufte ich mir in einer schlecht

beleuchteten Papierwarenhandlung einen Radiergummi, ein

junger Mann mit Schnurrbart bediente mich, ermunternd

lächelnd; er suchte skrupulös einen Radierer aus und verlangte

dafür 40 Pfennig. Matte Herbstdämmerung, die in Abend

übergeht; sehnsüchtiger, zielloser, wie um Verluste trauernder

Schmerz, der uns in fremden Städten beim Anblick trauter

Heime, mit Kerzenlicht beleuchteter Kaffeehäuser überkommt,

wenn wir am Wasser entlangschlendern; ein namenloser,

archaischer Schmerz, mit Haut und Haar, mit Gepräge und

Gesicht, der Schmerz des Individuums, das im Ich-Kerker

schmachtet und sich aus der Gefängniszelle heraussehnt. Der

Hirschbock fängt in solchen Augenblicken fordernd und

dumpf zu röhren an und geht einer Hirschkuh auf den Leim –

aber nicht davon ist die Rede…

Stehe auf dem Potsdamer Platz herum; matte Vormittagssonne;

eine Einöde voll Staub und Schutt, mitten in der Stadt, wo

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einst die Mauer war und umliegendes Gelände. Wie nach

schweren, verheerenden Luftangriffen. Feiner Aschegeruch im

milden Licht, Straßen Richtung Nirgendwo, Stimmung und

Gerüche, die an das Frühjahr 1945 erinnern, unfaßbare

Melancholie des Überlebens… Wie oft habe ich so vor dem

Tor des Lagers Buchenwald gestanden, gleichsam die Freiheit

kostend, die nach Leichen stank, nach Frühling duftete und wie

Lagersuppe schmeckte… Weiter zur Synagoge in der

Oranienburger Straße. Vergeblich suchte ich die kleine

Konditorei, wo ich vor dreizehn Jahren, 1980, als dieser

Stadtteil noch zur DDR gehörte, eines Vormittags

Riesenappetit nach einem kohleschaufelgroßen grünen Stück

Torte verspürte. Durch das Konditoreifenster fiel mein Blick

auf eine ziegelrote Gebäuderuine, ich konnte ihn nicht

abwenden. Langsam kamen die Assoziationen. Die brennende

Synagoge – die Kristallnacht, die Oranienburger Straße, das

Gebäude im maurischen Stil, wie wir es von Dokumentarfotos

her kennen… Ich zahlte, lief auf die andere Straßenseite

hinüber. Ja, richtig. Ruinen, Mauerreste, aus deren Ritzen da

und dort ein Strauch wuchs. Nirgends ein Hinweis, drinnen

eine unauffällige Tafel, auf der lediglich die

Eigentumsverhältnisse festgehalten waren. Ein stummer, in

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Namenlosigkeit versunkener Ruinenhaufen, vom Vergessen

geschändet. Neulich nun bekam die Synagoge eine glänzende

Kuppel aus Gold, wie eine Dornenkrone. Doch ihre

Umgebung, die baufälligen Häuser, die triste Straße, erinnern

noch immer an den Krieg; der muffige Geruch in den

Torwegen, die Bilder des Verfalls, der Schimmel, die Fäulnis.

Als täte sich plötzlich ein geheimer Keller auf, dringt die ganze

Verwüstung und Verheerung der letzten Jahrzehnte an die

Oberfläche. In ein paar Jahren wird sie verschwunden sein,

wird sich alles, alles ändern – die Menschen, die Häuser, die

Straßen; die Erinnerungen werden eingemauert, die Wunden

zugebaut sein, der moderne Mensch mit seiner berüchtigten

Flexibilität wird alles vergessen haben, wird den trüben

Bodensatz seiner Vergangenheit wegfiltern, als wär’s

Kaffeesatz. Mich erfüllt eine gewisse Befriedigung, daß ich

dies, vielleicht zum letztenmal, sehen (und nicht nur sehen,

sondern verstehen) kann, so wie es einem Naturforscher

erginge, wenn er plötzlich ein Exemplar einer vor kurzem

ausgestorbenen Rasse erblickte, das ruhig sein

anachronistisches Leben lebt.

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Weimar. Oben auf dem Ettersberg. Ein frostiger, dunkler

Novembernachmittag. Irrelevanter Teilnehmer, der ich bin,

trapple ich hierhin und dorthin, bleibe stehen, gehe weiter, wie

es die Umstände und meine Begleiter verlangen. Es lohnt sich

manchmal, jene Schauplätze, wo die entscheidenden

Ereignisse unseres Lebens stattfanden, wieder aufzusuchen,

um zu erfahren, daß wir nichts mit uns selbst zu tun haben.

Eine gravierende Erkenntnis, die wir mit verschiedenen

Formen und Sublimationen von Treue zu kaschieren

versuchen, weil die Unbeständigkeit unserer Person sonst

schieren Wahnsinn enthüllen würde. – Unten in der Stadt die

sogenannte Konferenz. Professor H. eine Persönlichkeit im

klassischen Wortsinn; eine in ihrer Absonderlichkeit geradezu

unverfrorene Erscheinung. Seine überwältigende

Vortragsweise. Unter den Referaten der Historiker sticht seines

deutlich hervor: Es habe keinen Befehl zur Ausrottung der

Juden, zur «Endlösung»

gegeben. Keinerlei Führerbefehl

*

.

Was man als solchen bezeichne, seien lediglich vage, auf

mündlichen Äußerungen basierende Behauptungen. Alles sei

freiwillig, eigenmächtig, spontan geschehen. Bei

Befehlsverweigerung wäre es schwierig gewesen, sich auf

Im Original deutsch

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irgend etwas zu berufen – Beweis dafür seien die tatsächlichen

Befehlsverweigerungen.

In Kiel ein strahlender Himmel, vom Hotel am Waldrand aus

sehe ich direkt auf die südlich blaue Ostsee; am Ausgang der

Bucht halten mehrere acht- bis zehnstöckige Schiffe langsam

auf die blau-weiße Weite zu. Müdigkeit. Im Zug nach

Hamburg erwache ich jäh, weil mich jemand mustert. Zwei

schräg gegenübersitzende junge Frauen starren mich an. In

ihrem Blick ist noch immer etwas wie Verdutztheit, ja leiser

Schrecken. «Hab ich geschnarcht?»

frage ich, selber

erschrocken. «Nee, nee»

*

, wehren sie ab und beginnen sich

sofort lebhaft miteinander zu unterhalten. Ich zerbreche mir

den Kopf, womit ich diesen Mädchen wohl solchen Schrecken

eingejagt habe. Im Spiegel ihres befremdeten Gesichts erblicke

ich plötzlich mich selbst, einen älteren Ausländer, der mit

zurückgesunkenem Kopf und offenem Mund reglos dasitzt und

von dem man nicht weiß, ob er schläft oder vielleicht schon tot

ist. Ich muß ihnen ein unangenehmes Reiseerlebnis gewesen

sein.

Hamburgs weiße Villen. Der Flughafen. Dann München. Es

geht mir durch den Kopf, daß ich nach vierzig Jahren

Im Original deutsch

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Gefängnisleben nun plötzlich so viele Flughäfen und Bahnhöfe

kenne, mit völliger Selbstverständlichkeit die verschiedensten

U-Bahnen und Schnellzüge benutze. Bedeutet es mir etwas? Es

wäre gelogen, ich sagte nein. Ich bin der leicht skeptische, aber

durchaus empfängliche Protagonist meines

Lebens-

Entwicklungsromans

.

Draußen am Starnberger See, Tutzing, Evangelische

Akademie. Wieder eine sogenannte Konferenz, die unter dem

Titel «Deutsche und ungarische Intellektuelle im Gespräch»

angekündigt ist. Ich habe dafür eigens ein Elaborat verfaßt:

«Der überflüssige Intellektuelle». Eine verstörte Dame

empfängt mich mit seltsamen Nachrichten. Von zuständiger

ungarischer Seite sei verlautet, man halte die Liste der

ungarischen Geladenen für einseitig. Gegen mich wurde

vorgebracht, ich schriebe nur über ein einziges Thema

(nämlich Auschwitz) und sei somit nicht repräsentativ für das

Land (nämlich Ungarn). Die Worte der verstörten Dame

verstören mich; ich spüre, wie der offerierte Wahnsinn

hoffnungslos und unausweichlich von mir Besitz ergreift.

Zuerst nimmt er in mir die Züge von Selbstmitleid und

Entrüstung an; danach beginnt die Leidenschaft Argumente zu

Im Original deutsch

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sammeln, steigt in den Ring der Logik, obwohl klar ist, daß

man mich nur in den Ring zwingt, um mich k. o. zu schlagen.

Diese Logik offeriert brillante Wahrheiten, und jede Wahrheit

ist eine Fußangel. Je mehr Argumente für mich sprechen, desto

weiter entferne ich mich von der Wahrheit, weil ich an einem

Sprachspiel teilnehme, dessen Komponenten allesamt

wahrheitswidrig sind, weil ich mich in einer Ordnung des

Denkens bewege, die alles verfälscht. Wenn diese Ordnung des

Denkens Wirklichkeit schafft, kann meine Wirklichkeit, als

Teil davon, nur Mittel zum Zweck sein. Es scheint, als wäre ich

ein gefährlicher Gegner, während ich doch nur einem

perversen Bedürfnis diene, das mich an sich reißt und

schändet, wie ein Lustmörder sein Opfer.

Doch wie sollte ich nüchtern bleiben, wenn die Wollust des

Wahnsinns so verlockend ist? Hat man mich nicht beleidigt?

Hat man mich nicht ungerecht behandelt und diskreditiert?

Sind nicht antisemitische Affekte im Spiel? Sieht es nicht wie

eine Rückkehr alter Methoden aus, wenn die Kulturdiplomatie

eines postkommunistischen Staates im Ausland seine eigenen,

unerwünschten Bürger in den Dreck zieht? Und so weiter –

Argumente des Wahnsinns, die im Gewande juristischer Logik

daherkommen, um sich meiner zu entledigen.

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Wäre es nicht interessanter, der Wahrheit ins Auge zu

blicken? Sollte ich nicht lieber ein für allemal mit meinem

negativen Wahnsinn aufräumen, der mir den widerwärtigen

Stempel eines Opfers aufdrückt? Es ist evident: Eine kleine

Nation, die längst aus dem großen Prozeß der sogenannten

Weltgeschichte ausgeschieden ist und sich zudem schwertut,

ihre wahre, adäquate Rolle in Raum und Zeit zu finden

(vielleicht ist eine solche Rolle für sie gar nicht vorgesehen):

eine solche Nation kann sich als Nation nur wahnsinnig

gebärden.

Wenn sie nicht einsehen wollen, daß ihr kaputtes Privatleben

und die verfehlte Geschichte auf ihr eigenes Konto gehen,

wenn sie darin ein von bösen, fremden Kräften verursachtes

Unglück, einen nationalen Fluch, Schicksal, ja Verhängnis

sehen wollen: dann läßt sich wohl sagen, daß sie den

Antisemitismus brauchen.

Die an einem Vaterkomplex leidende, sadomasochistisch

perverse osteuropäische Kleinstaatenseele kann, wie es scheint,

nicht ohne den großen Unterdrücker leben, auf den sie ihr

historisches Mißgeschick abwälzt, und nicht ohne den

Sündenbock der Minderheiten, an dem sie all den Haß und all

das Ressentiment, das der tägliche Frust erzeugt, abreagiert.

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Wie soll einer, der permanent mit seiner spezifisch

ungarischen Identität beschäftigt ist, ohne Antisemitismus zu

einer Identität gelangen? Was aber ist das ungarische

Spezifikum? Zugespitzt formuliert, läßt es sich nur durch

negative Charakteristika bestimmen, deren einfachstes – redet

man nicht um die Sache herum – so lautet: Ungarisch ist, was

nicht jüdisch ist. Nun gut, was aber ist jüdisch? Das ist doch

klar: was nicht ungarisch ist. Jude ist der, über den man in der

Mehrzahl reden kann, der ist, wie die Juden im allgemeinen

sind, dessen Kennzeichen sich in einem Kompendium

zusammenfassen lassen wie die einer nicht allzu komplizierten

Tierrasse (dabei denke ich natürlich an ein schädliches Tier,

das – schiere Irreführung – ein seidiges Fell hat) usw.; und da

«Jude» im Ungarischen zum Schimpfwort geworden ist, macht

der als Kollaborateur ehrenhaft ergraute politische Redner und

schnellgebackene Ungar einen Bogen um den heißen Brei und

benutzt das Wort «Fremder» – doch weiß jedermann, wer

gegebenenfalls seiner Rechte beraubt, gebrandmarkt,

geplündert und totgeschlagen wird.

Und ich – was kann ich tun?

Schon seit langem nichts. Ich habe den Moment zum

Handeln verpaßt, bin bloßer Wächter und Zeuge. Vielleicht

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wird mir diese Fahrlässigkeit, im Zusammenhang mit der

isolierten Sprache und der unmöglichen Umgebung, als

Schriftsteller zum Verhängnis. Doch müßte ich mich schon

mehr für die Unsterblichkeit interessieren, um deswegen

betrübt zu sein.

In begrifflicher Klarheit steckt immer ein wenig Trost. Mit

Karl Kraus gesprochen ist die Lage hoffnungslos, aber (noch)

nicht total. Durch eine höfliche Verbeugung kann ich noch

immer der Einladung zur Hinrichtung entgehen – und das ist

meine Aufgabe, praktisch und mental.

Nachmittags um fünf Rendezvous am Münchner

Hauptbahnhof. Ich komme mit dem Zug aus Berlin, M. mit

dem Auto aus Budapest. Seit wann wage ich es, solche Treffen

zu vereinbaren? Woher nehme ich das unbegründete,

kosmische Vertrauen? Als ich nach siebenstündiger Zugfahrt

aussteige, sehe ich niemanden. Beziehungsweise ein

Gewimmel von Gesichtern, in dem ich mit dem Blick

vergeblich herumstochere. Langsam überkommt mich das

vertraute, watteartig gedämpfte Gefühl der Unwirklichkeit.

Doch siehe da, was für ein Lächeln taucht plötzlich in dem

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bunten Gewirr, zwischen den zerstiebenden Marionetten auf

und hält geradewegs auf mich zu? Ich höre ihre Worte: Die

achtstündige Autofahrt habe sich um zehn Minuten verzögert,

weil an einem Grenzübergang ein Stau entstanden sei – doch

mit einemmal wird diese lärmige, wimmelnde, turbulente

Halle, dieser absurde Schauplatz, wo unsere Wege

zusammenlaufen, zu einer Art archaischen Kulthöhle, erfüllt

mit der metaphysischen Bedeutung der Begegnung, mit der

affirmativen Suggestion einer gleichsam schicksalhaften

Zusammengehörigkeit, die ich einen Augenblick als völlig real

erlebe. Dann bahnen wir uns einen Weg durch die Menge, zum

Ausgang, zum Parkplatz, und fahren weiter, nach Florenz…

Budapest. Träume. In der vorigen Nacht meine Mutter, der

übliche vage Traum, voller Gewissensbisse. Vor zwei Tagen

ein hellbrauner tollwütiger Hund, ich sah seine scharfen Zähne,

spürte schon die grausam-böse Wirklichkeit seines Bisses, als

in einem Arkadenhof Feuer ausbrach, das blitzschnell um sich

griff und dunkle Rauchwolken bildete, wie wenn Öl oder

Benzin brennt.

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Es ist etwas anderes, zu Hause heimatlos zu sein als in der

Fremde, wo wir in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden

können.

Aus zahllosen kleinen, individuellen Irrtümern entsteht der

große, gemeinsame Irrtum. Und dieser Irrtum ist unsere

einzige Wahrheit.

Einige Fragen, auf die ich immer falsche Antworten gebe

(falsch meint: irrig, weil dies in der Natur der Sache liegt, doch

habe ich zuwenig beachtet, daß jeder Irrtum immer mein

Irrtum ist, das heißt meine einzig mögliche Wahrheit). Zum

Beispiel: Ob wirklich nur mörderische Umstände für mich eine

Kraftquelle seien? Das kann ich nicht wissen, weil diese

Kraftquelle immer nur zur Darstellung der mörderischen

Umstände diente, unter ebendiesen mörderischen Umständen.

Ließe sich der Akt der Unabhängigkeit oder Freiheit hier

zweifelsfrei nachweisen, dann wüßte ich, daß diese Kraftquelle

sich nicht den mörderischen Umständen, sondern einer viel

tieferen, wesentlicheren Notwendigkeit verdankt, dann könnte

ich sagen, daß ich zum Künstler geboren wurde. So aber kann

ich nur feststellen, daß ich mit diesen mörderischen

Umständen so heftig zusammengeprallt, dann

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zusammengewachsen bin, daß diese Fusion explosionsartig

eine neue Qualität erzeugt hat – durch mich und in mir.

Weiter: Warum ich am Ende des Galeerentagebuchs so viel

über Gott rede. Hier allerdings ist die Frage falsch gestellt,

denn über Gott kann man meines Erachtens nicht reden, Gott

ist weder Person noch Gegenstand, es ist zu befürchten, daß

wir es mit einem Sprachproblem zu tun haben. Ich spreche

davon, daß der Mensch in bestimmten Situationen Gott denken

muß beziehungsweise über Gott nachdenken muß – es handelt

sich also schlicht um ein Zeugnis, ein «documentum

humanum», um nichts weiter.

Schließlich: Das Thema des sogenannten Antisemitismus.

Darum «sogenannt», weil er nicht mehr der gleiche ist,

sondern ein anderer (obwohl man das nicht wahrhaben will).

Hier, bei der Unterscheidung zwischen Antisemitismus und

Antisemitismus, muß man das Faktum Auschwitz

berücksichtigen. In der Geschichte des Antisemitismus ist

Auschwitz ein Wendepunkt, wie beispielsweise in der Physik

die Quantentheorie. Womit ich nur sagen will, daß ein

Antisemit, der Auschwitz außer acht läßt, kein echter,

glaubwürdiger, ernster, auf dem Gebiet seines Wahns

bewanderter und gebildeter Antisemit sein kann

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ebensowenig wie der Physiker, der noch nie von der

Quantentheorie gehört hat. Es ist nämlich so, daß Auschwitz

die Antisemiten permanent in Verlegenheit bringt: auf

Auschwitz gibt es – sieht man von der schieren Billigung ab –

keine antisemitische Antwort. (Kürzlich erlebte ich, wie im

Lebensmittelgeschäft gegenüber ein Mann die Bierflasche

schwenkte und schrie: «Die opfern sich lieber selber, nur um

Schadenersatz zu bekommen!» Dieser unverblümte

Infantilismus war jedoch so komisch, daß ich laut lachen

mußte, worauf der Mann mir freundlich zublinzelte.) Der

Antisemitismus wurde zu Ende gedacht, und das Gedachte

wurde in die Tat umgesetzt: mit Auschwitz hat die klassische

Geschichte des Antisemitismus ihr Ende erreicht – freilich in

dem Sinne, wie für manche die Geschichte selbst an ihr Ende

gelangt ist. Das heißt, alles geht weiter, nur irgendwie matter,

wenn auch unverblümter: die Nebengeräusche der

antisemitischen Ideologie, die niemanden von nichts mehr zu

überzeugen vermag, werden in Zukunft höchstens als

unartikulierte Hetzrufe vonnöten sein, als Metronomschläge

zum Takt der Menschenvernichtung.

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_____Noch nie habe ich die gravierende Tatsache analysiert,

daß das Lieblingsmärchen meiner Kindheit Das häßliche

Entlein war. Ich habe es oft gelesen und jedesmal fleißig

geweint. Es ist mir häufig auf der Straße, im Bett vor dem

Einschlafen usw. in den Sinn gekommen, als Trost, der sich an

allen für alles rächt. Womöglich sagt es mehr über meine

geheimen Lebensgrundsätze aus als die großen

Jugendlektüren, von denen ich glaubte, sie hätten mein

Schicksal tiefgreifend verändert, hätten meine Wege – oder

Irrwege – bestimmt.

In Weiterführung von Freuds Idee, wonach sich im deutschen

Antisemitismus der einstige latente Widerstand der

heidnischen Germanen gegen das Christentum spiegeln dürfte

– denn das Christentum ist ja ein Kind des jüdischen

Monotheismus –, wäre zu erwähnen, daß für die

Tiefenpsychologie der «Endlösung»

auch eine gewisse Rolle

gespielt haben mag, daß die Juden das biblische Volk sind.

Man wollte die Schrift auslöschen. Wollte allein sein. Ohne

Gesetz.

Die Feinheiten der Tiefenpsychologie. Die unermeßliche

Drehbühne der historischen Analyse, Hannah Arendts

Im Original deutsch

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großräumige und tieflotende Vision vom Ursprung und

Aufkeimen des Antisemitismus zur Zeit der europäischen

Aufklärung, das heißt der Judenemanzipation. Wie aber erklärt

sie Auschwitz, die Sonderkommandos, den Alltag des

Lagerlebens? Hier nämlich muß jede historische, jede

wissenschaftliche Erklärung versagen. Hier spielt sogar der

Antisemitismus kaum noch eine Rolle. Hier quält nur noch ein

Mensch den andern, mordet zuhauf, schwelgt im Gestank

verwesenden Fleisches, hier werden nur noch Leichen von den

Händen Halbtoter verbrannt und Gegenstände von

Magazinarbeitern sortiert; die Welt geht im Innersten

zugrunde, was sowohl die Geschichte als auch Verstand und

Wissenschaft weit übersteigt…

Habt ihr bemerkt, daß in diesem Jahrhundert alles

eigentlicher wird, sein eigentliches Selbst offenbart? Der

Soldat wird zum Berufsmörder, die Politik zum Verbrechen,

das Kapital zu einem mit Krematorien ausgerüsteten

Menschenvernichtungsbetrieb, das Gesetz zur Spielregel für

schmutzige Spiele, die Weltfreiheit zum Völkergefängnis, der

Antisemitismus zu Auschwitz, das Nationalgefühl zum

Genozid. Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Wahrheit, ohne

jeden Zweifel. Doch aus purer Gewohnheit wird

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weitergelogen, obwohl jeder die Absicht durchschaut; schreien

sie: Liebe – weiß jeder, daß die Stunde des Mordens

gekommen ist; schreien sie: Gesetz – regieren Diebstahl und

Raub.

Vergessen wir nicht, daß man Auschwitz keineswegs wegen

Auschwitz liquidierte, sondern weil das Kriegsglück

umschlug; auch ist seit Auschwitz nichts geschehen, was wir

als Widerlegung von Auschwitz hätten begreifen können.

Indessen haben wir erlebt, daß Reiche von Ideologien

beherrscht wurden, die sich in praxi als bloße Wortspiele

entpuppten, wobei gerade ihr Wortspielcharakter sie tauglich,

das heißt zum wirksamen Instrument des Terrors gemacht hat.

Wir haben erlebt, daß Mörder und Opfer sich gleichermaßen

über die Leere, die Bedeutungslosigkeit solcher ideologischen

Befehle im klaren waren: und gerade dieses Bewußtsein

verlieh den im Namen solcher Ideologien verübten Greueltaten

jene besondere, unvergleichliche Schändlichkeit und

pervertierte die von solchen Ideologien beherrschten

Gesellschaften bis hinab an die Wurzeln. Mörderische Salven,

mehr noch die bloße Faust, «der mörderische Stockhieb» mit

dem gleichzeitigen Gebrüll eines wahrhaft mörderischen

Unsinns haben sich als das genüßlichste Machtgefühl

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erwiesen, das vernunftschändende Morden hat ein

orgiastisches Glücksgefühl erzeugt, das dem Menschen und

seiner Zukunft wahrhaft apokalyptische Perspektiven

eröffnet…

Man müßte einmal alle Ressentiments analysieren, welche

die zeitgenössische Intelligenz gegen die Vernunft hegt, müßte

eine Geistesgeschichte des Hasses auf den Geist verfassen…

Ich schreibe diese Zeilen mit besonderer Bitterkeit und

besonderer Genugtuung (um nicht zu sagen Wonne) und habe

zugleich eine starke Empfindung von der Vergeblichkeit und

Unzeitgemäßheit meines Seins. Was bewegt mich, warum

kritzle ich mit meinem Kugelschreiber aufs Papier? Wozu all

diese geheimen Morgen und geheimen Spaziergänge, all diese

einsamen, intimen Selbstquälereien? Bin ich etwa ein

Kryptoprophet? Ein unter den Trümmern der Zeit sich

versteckender Chronist? Formuliere ich Antworten auf Gottes

unablässige Fragen? Irgendwann muß ich mich um die äußere

Gestalt des Stoffes kümmern, um die impassibilite, die

künstlerische Makellosigkeit – aber wird ein solcher Moment

kommen? Und ist das überhaupt wichtig? Ist nicht viel

wichtiger, was am Schluß der Englischen Flagge steht: «Wer

sieht durch uns?» Denn wir müssen so denken, das heißt auch

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leben, als sähe einer – nicht uns, nicht mit unsern Augen,

sondern durch unser Leben.

Was bedeutet das, strenggenommen? Keineswegs eine

Lösung. «Ich bin nicht bereit, mit erlöster Seele in einer

unerlösbaren Welt zu wandeln» – sagt Buber (zitiert von Ervin

Nagy Valyi).

Budapest, Januar 1994. Ich spüre meinen inneren Verfall. Die

dumme Leidenschaft des Zeitungslesens. Die verhaßten

Fakten, die zerstörerische Umgebung – auf den Straßen und

Gehsteigen, in den Läden: die tägliche Aggression überall löst

den Reflex der täglichen Haßanfälle aus. Dieses dumme Leben

spielt sich auf einer einzigen Ebene ab, auf der Ebene des

Nachdenkens über lauter Ephemeres. Meine ewige Seele

(wenn ich mich so ausdrücken darf), meine ewige Seele läßt

mich langsam im Stich, und schon spüre ich ihren enttäuschten

Rückzug: auch in diesem Haus habe ich umsonst ein Nest zu

bauen versucht…

Heute morgen sah ich einen sechs- bis siebenjährigen Jungen

mit vornehmem, dunkelhäutigem Gesicht; schmutzig und

zerlumpt kauerte er auf dem kalten Asphalt Ecke Margit körút

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und Károly-Szasz-Straße, an eine Hauswand gelehnt. Stumm,

mit selbstvergessenem Gesichtsausdruck wühlte er in seinen

Taschen. Die Almosen nahm er wortlos und würdevoll

entgegen, ohne darauf zu achten, wer wieviel Kleingeld in das

mützenähnliche Ding vor ihm warf. Das Bild hatte etwas

Endgültiges, etwas unabänderlich, ja vollendet Apathisches.

Mich abwenden (weil ich nicht anders kann). Ich verliere

meine Empfänglichkeit für die Freude, für die absurde

Schönheit des Lebens – ich verliere die Empfänglichkeit für

mich selbst. Ich verliere den Überschuß, den Lebensüberschuß,

in dem mein Reichtum, die latente Quelle meines Schaffens

liegt; indes ist es einzig das sogenannte Schaffen, in dem sich

mein wahres Wesen manifestiert (warum aber muß es sich

überhaupt manifestieren? – nicht enden wollende Fragen).

Unzeitgemäß leben, das heißt tragisch leben, in den

weitläufigen Dimensionen des einmaligen Seins und des

unberechenbaren, schnellen Todes, wie jemand, dem zwischen

zwei faden Kokon-Existenzen dieser einzigartige, kurze

Sommer zuteil wird.

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_____In letzter Zeit habe ich keine großen, weg weisenden

Träume mehr. Ich schlafe vergebens und wache umsonst auf.

Diese unendliche Leere, wenn ein Gefühl vergeht. Wenn ein

langes Buch, in dessen Welt du dich eingenistet hast,

ausgelesen ist; wenn du eine Liebesbeziehung beendest; wenn

die anspornende Inspiration ausbleibt – da erfährst, da siehst

du die Welt mit einemmal ohne Ziel, ohne Sehnsucht, Willen

und sonstige Manipulationen, einfach so, wie sie ist, als das,

was sie ist.

Du erlebst dein Unglück und begreifst, daß diese Leere der

Welt gewissermaßen dein Werk ist.

Lange habe ich die Lebensträgheit meiner Väter verachtet;

daß sie in diesem Land lebten und sich gleichsam durch den

natürlichen Lauf der Dinge, sozusagen durch die organische

Entwicklung plötzlich mit der Wahrheit um sich herum

konfrontieren mußten. Es gibt keine größere geistig-moralische

Niederlage, als den Tod aus den Händen jener

entgegenzunehmen, die wir restlos verachten. Was spricht aus

solchem Versäumnis? Selbstverachtung? Blindheit?

Bequemlichkeit? Ungläubigkeit? Fatalismus?

Auch ich lebe so, abwartend, gleichgültig, schuldig. Es ist

März, die Sonne scheint, der Nationalfeiertag steht bevor. Als

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ich auf dem Szenater aus der Straßenbahn schaue, sehe ich

einen Aufmarsch von jungen Leuten in tarnfarbener Kleidung

und schwarzen Schnürstiefeln, mit Arpadfahne und

waffenähnlichen Dingern unterm Arm. Was haben sie vor? In

der Unterführung der Margit-Brücke ein weißbärtiger Greis in

gendarmgelbem Anzug, er trägt eine nationalfarbene

Armbinde mit schwarzem Doppelkreuz und auf dem Kopf

einen Pfadfinderhut mit Reiherbusch und bunten Federn… ein

vergreister nationalistischer Winnetou. Jungvolk, das sich in

leintuchgroße Trikoloren hüllt, haßerfüllte Blicke, die über

riesigen nationalen Abzeichen ihre Razzia machen. Flüchtig

taucht die Frage auf, ob es sich lohne, das Phänomen zu

analysieren; ich glaube, nein. Was dennoch auffallend daran

ist: das Fehlen von Veränderung. Als wären diese zumeist

jungen Leute, abgesehen vom Abstrahierbaren – der Person –

die gleichen, die ich in den vierziger Jahren gesehen habe –

gleiche Gesichter, gleiche Stimmen, gleiche Bewegungen

usw.; das läßt auf eine gewisse Konstanz der Wirklichkeit

schließen. Auffällig ist ihre mangelnde Anpassungsfähigkeit

und Flexibilität – sie wiederholen dasselbe, auf dieselbe Weise

–, was auf schwerwiegende Probleme im Bereich der Vitalität

hindeutet; ihre Aggressivität ist eine Dissimulation, das

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Zeichen offenkundiger Dekadenz und Lebensuntauglichkeit;

nicht ihr Antisemitismus, nicht ihr unbezwingbarer,

beschränkter, zu jeder Anpassung oder Erneuerung unfähiger

Egozentrismus wird diese Menschen ins Verderben stürzen,

vielmehr zeigt sich daran, daß sie schon längst verloren sind.

Es fehlt ihnen vollkommen der feine Instinkt der

Aufnahmebereitschaft, sie schließen sich ab und schließen

andere aus; wenn aber eine Gemeinschaft den Anschluß an die

Weltkultur verpaßt, blickt sie verständnislos in den Abgrund,

der sich vor ihr auftut, obwohl dieser Abgrund da ist, um sie zu

verschlingen.

Die Vergeblichkeit aller Luzidität. Der Mensch ist, mit

menschlichem Verstand beurteilt, einfach jämmerlich ridikül;

aber gibt es denn einen andern Verstand, mit dem er zu

beurteilen wäre? Ist der Verstand eine tätige Energie? Und

wenn er den Menschen ununterbrochen in Frage stellt, muß

man da nicht auf negative Kräfte im Menschen schließen, auf

seinen unvermeidlichen Untergang? Ist der Kampf hienieden

nicht auch zu begreifen als ein Kampf der Ratio gegen die

Trägheit der Materie? Das heißt, die Ratio kämpft in ihrem

Kampf für den Fortbestand sozusagen gegen die dem

Fortbestand dienenden Instinkte, und wenn sie diese nicht

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besiegen kann, muß sie zwangsläufig den Fortbestand selbst

verurteilen und das Urteil mit Hilfe der Instinkte vollstrecken.

So betrachtet könnte die Welt (und was ich von ihr sehe)

zweifellos Sinn gewinnen. Nur muß ich meine Augen sehr

anstrengen…

Eines Nachts (heute? gestern?) war ich im Traum in einem

Theater- (oder Konzert-)Saal, wo die Menschen stehend

applaudierten. Ich sah sie von hinten (an einen graublauen

Anzug und an den glattrasierten Nacken eines jungen Mannes

kann ich mich genau erinnern), somit muß ich wohl selber im

Publikum gewesen sein. – Oder war ich doch auf der

Bühne?…

Wenn ich mein Stück zu Ende bringe (was mir zur Zeit

immer unwahrscheinlicher vorkommt), möchte ich einige lang

hinausgeschobene Projekte in Angriff nehmen (die

Autobiographie Die Zone, in deren Mittelpunkt die

authentische Geschichte von A. steht; vielleicht werde ich die

Autobiographie aus dem Gesichtswinkel von A. das «Ich»

durch die «Sie»-Perspektive schildern, wodurch die Passion

eines gegen mich gerichteten Stils in vollem Maße moralisch

gerechtfertigt würde).

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Gestern, beim Anhören des Quartetts op. 127 (zweiter Satz),

fiel mir auf, daß ein solches Gefühl in der heutigen Kunst

völlig fehlt. Was für ein Gefühl? Müßte ich es benennen,

würde ich am ehesten sagen: Dankbarkeit.

Wir mögen das Leben nicht. Wir freuen uns nicht daran.

Und doch muß das Leben ein großes Privileg sein, wenn wir

es mit dem Tod bezahlen müssen.

Ich versuche weise Bücher zu lesen, aber sie machen mich nur

immer gereizter. Die Weisheit läßt das Leben gewissermaßen

als Gewohnheit erscheinen, während man sich an das Leben

niemals gewöhnen kann. Und gerade darin liegt das

Entscheidende – sein einziger Reiz.

Mitten in meinen Sechzigern muß ich plötzlich feststellen,

daß der grundlegende Fehler meiner Arbeitsmethode bislang

meine Arbeitsmethode war.

Gestern mit Freunden. Es umgaben mich die sanften, ruhigen

Wellen der Sympathie; ich wagte es nicht, mich darauf zu

wiegen.

Nachts, auf der Heimfahrt, G. N.s ernstes Gesicht hinter dem

Lenkrad. Er fragte: Wenn Auschwitz für mich eine gültige

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Metapher sei, ob ich dann die letzten Sätze meines Textes über

die überflüssigen Intellektuellen wirklich ernst meine, das

heißt, ob meines Erachtens zwischen einer «freien» und einer

«geschlossenen» Gesellschaft gewählt werden könne. Ich

sagte, was ich geschrieben hätte, sei mein Ernst; zwar könne

man das Bewußtsein der Schande nicht mehr aus unserm

Leben ausmerzen, doch dürfe diese Tatsache nicht zu weiteren

Schändlichkeiten verleiten.

Heute aber bin ich davon schon nicht mehr so ganz

überzeugt. Und auch nicht vom Gegenteil. Überhaupt bin ich

von meinen Worten nicht überzeugt, weil diese eine bloße

Meinung ausdrücken; unsere Meinungen müssen auf unserem

Leben gründen, in meinem Fall aber tun sie das nicht, schlicht

und einfach darum, weil mein Leben kein aktives Leben ist;

und so bin ich wieder einmal auf das Glatteis der Meinungen

geraten und prompt ausgerutscht; außerdem habe ich mich

plötzlich als Essayisten gesehen, und mich packte die Angst

vor dem Verdursten in der Wüste der Rhetorik…

Ich übe Einfluß auf andere aus und weiß selber gar nicht, wer

ich bin.

Mein Leben provoziert eine andere Frage, und diese könnte

so lauten: Bedarf es, um das Leben voranzutreiben, noch

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schlichten menschlichen Ernstes, oder kann man auf solchen

verzichten; ist Moral im klassischen Sinne noch wichtig, oder

genügt hemmungsloser Machtzuwachs; inwiefern können der

hemmungslose Machtzuwachs und die Unterordnung der

Moral (die Funktionalisierung des Individuums, der Person) zu

einem besseren und reicheren Leben beitragen? Und ist die

moralische Qualität des Lebens – das Bemühen, besser zu

werden – überhaupt noch eine Kategorie, über die sich

nachzudenken lohnt – oder ist die innere Kultur des Menschen

mit Tolstoi zu Ende gegangen?

Auch darüber habe ich keine Meinung, diese Frage könnte

ich lediglich verkörpern, die Antwort lediglich leben,

praktizieren, ohne sie selber je finden zu können…

«Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht

auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts»

Kafka. Ich bewege mich durch die Leere, um nicht zu sagen

abwärts.

Im Original deutsch

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György Ligeti: «Avantgarde und Moderne sind zwei

unterschiedliche Stilbegriffe» (Lettre, 1994, Nummer zwei). –

Ligeti hat damit, wie üblich, etwas Grundlegendes formuliert.

Die neue Romantechnik beruht alles in allem auf der

Einsicht, daß nicht der Schriftsteller die Welt (als sein

Erkenntnisobjekt) ergreift, sondern die Welt den Schriftsteller

(als Objekt ihrer unbeschränkten Willkür) ergriffen hat; solche

Einsicht hat jedoch verheerende Wirkungen auf die sogenannte

Literatur, diesen Kunstzweig, der immer kümmerlicher

dahinvegetiert. Noch holt sich die Literatur ihre letzte

Inspiration aus dem unwahrscheinlich rasanten Verfall

menschlichen Niveaus; doch bald schon wird dieser

unaufhaltbare Verfall jede Inspiration zunichte machen – außer

der des Untergangs. Schon jetzt: Wer spricht denn von

Literatur? Die letzten Zuckungen festhalten, das ist alles.

Ich ging durch eine öde, wüste Gegend; «eine flache und leere

Landschaft, wie am Ende der Welt, kaum noch als Landschaft

zu bezeichnen». Ich war ein emotional berührter Betrachter der

Dinge, nahm an ihnen aber nicht teil. Was wie eine Stadt

aussah, mündete in einen Schuttabladeplatz, in Moorland. Der

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hellbraune, zottige Hund war nicht lahm, sondern zog die

Hinterbeine aus Müdigkeit nach. Alles war von

«Dämmerlicht» übergossen, vom Widerschein eines Feuers. In

der Tiefe eines an eine Sandgrube erinnernden Höllenkreises

erblickte ich plötzlich altersschwache Menschen mit

malvenfarbenen, leichenfleckigen Gesichtern; an einen Mann

kann ich mich gut entsinnen, er trug eine Wollweste (wie sie

A. für mich gestrickt hat) und lag sanft im Sterben (wie alle

übrigen Menschen auch); ich sah auch den Hund wieder, er lag

auf dem Bauch; der vom Hunger Ausgezehrte streichelte

zärtlich-vertraut das vollkommen geschwächte Tier, das sich

an ihn schmiegte. Mich bedrückte das Schweigen in diesem

von Lebenden bevölkerten Massengrab, wo die Menschen sich

der friedlichen Beschäftigung der Agonie hingaben. Doch

gelang es mir ohne größere Schwierigkeiten, mich jetzt weder

als Sterbender noch als Betrachter zu empfinden; irgendwie

wurde ich ins Bild hineingesogen, das mich gleichwohl nicht

vollständig aufnahm. Ich erinnere mich an den Mann mit der

Weste, wie er im Liegen (zu mir?) hochsah, mit abweisendem

Gesichtsausdruck, wie nicht von dieser Welt, und dabei in

einem fort den Hund streichelte: gemeinsam warteten sie auf

die Erfüllung ihres Schicksals, unnahbar stolz und ruhig.

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Ich bin der Sache nicht nachgegangen, ich mußte aufwachen.

Dann aber habe ich sie rasch geklärt. Allmählich kenne ich die

Symbolwelt meiner Träume. Ich weiß, warum die Hungernden

hier hungern. Ich weiß, wer der Mann ist. Ich weiß, wer der

Hund ist. Ich weiß, warum sie hungern müssen. Ich weiß, was

ich ihnen vorenthalte. Ich weiß, warum ich sie sehen muß. Ich

weiß alles. Ich weiß auch, daß die Qual des Wissens mich nie

verlassen wird.

_____Im April erneut in Szigliget; der alte Ort, das alte

Zimmer. Als ich den oberen Spazierweg betrat, schlug mir der

Blumenduft entgegen und mit ihm die alte, alte abendliche

Wehmut… Das Ganze dauerte nur einen Augenblick, und

schon verwandelte sich die Nostalgie in ein Déjà-vu… Als

wäre ich hier schon einmal gegangen. Als hätte ich in diesem

Zimmer gerade Die Geburt der Tragödie übersetzt, die ersten

Sätze von Kaddisch… geschrieben, als hätte ich hier (vor 18

Jahren weniger einen Monat) jenes Gewitter erlebt, von dem in

Kaddisch… die Rede ist und in dessen rötlichen Blitzstrahlen

ich gleichsam meine künftigen Werke erblickte; in einem

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Licht, das den Blitzstrahlen glich, schienen sie auf und

verlöschten, um später im Wechsel von Inspiration und

Depression – gleich den Lichterscheinungen des Gewitters –

eins nach dem andern zu entstehen. Als hätte ich hier – für

mich selber unerwartet – das Haar der Schweizerin

gestreichelt, an der ich mich eines langen Nachmittags

wunderbar für eine arg verpfuschte Sache rächte, die ich

damals, mit der transzendenten Höflichkeit des Betrogenen,

«Liebe » nannte – und so weiter. Alles ist da, aber alles ist

anders, auch ich. Das Menschenleben hat Perioden, wie die

Erde geologische Zeitalter: die brodelnden Lavaströme, dann

die Eiszeit, Sintflut, Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit… Mein

erneutes Hiersein ist ein seltsames Spiel mit der Zeit. Es hat

keinen tieferen Sinn, keine geheime Bedeutung. Ich möchte

nur ein wenig an meinem Stück arbeiten, abgeschirmt, ruhig,

weitab vom tobenden Irrsinn der Stadt. Im Park habe ich einen

Hirsch gesehen, der die frischen Rosentriebe und -knospen

fraß.

Mein Stück – von jetzt an muß ich mir das ständig vor Augen

halten – handelt von Auschwitz’ Sieg, weil «der Geist der

Geschichte», die Welt als Geschichte ebenfalls davon handeln.

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Schriftstellergeplauder im Gemeinschaftsraum: einsame

Raubtiere kreisen um die leeren Schüsseln.

Der wüste Park. Vor meinem Fenster der Strauch mit den

nadelförmigen Blättern; einst strotzte er vor Kraft und wuchs

wie lodernd empor, so daß ich ihn jahrelang «grüne Flamme»

nannte, jetzt aber ist er ausgetrocknet, schlaff und welk.

Der vage Eindruck, von meinen Zunftgenossen kalt berührt

zu werden. Als hörte ich hinter meinem Rücken

vorbeihuschende Reptilien, doch wenn ich mich umdrehe,

verschwinden sie oder verziehen ihren Krokodilrachen rasch

zu einem Lächeln. Sie drücken mir eine Kritik in die Hand,

und ich kann nicht entscheiden, ob aus Boshaftigkeit oder

reinem Wohlwollen. An einer markanten Stelle bezeichnet

diese Kritik mich als «ungarischen Schriftsteller». Frage:

Warum muß man mich einen «ungarischen Schriftsteller»

nennen, wenn ich meine Geschichten doch (größtenteils) in

einer ungarischen Umgebung ansiedle und (immer) auf

ungarisch schreibe? Wozu diese fast provokative Feststellung:

«ungarischer Schriftsteller»? Offenkundig, weil ich keiner bin.

(Offenkundig, weil sie mich nicht für einen solchen halten.)

Für mein Ohr jedenfalls ist diese Aussage, diese

Wortverbindung nicht mehr als ein Gaumen-, Kehl- oder

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Zungenlaut. Einen Wahrheitswert, wie Wittgenstein sagen

würde, hat sie nicht. Was sollte diese Aussage schon bedeuten?

Etwa folgendes: Man möge mich, obwohl ich kein

«ungarischer Schriftsteller» bin, als «ungarischen

Schriftsteller» anerkennen und annehmen. Dies ist jedoch

keineswegs mein Wunsch (man hat mich ja nicht einmal

gefragt), vielmehr der Wunsch des Verfassers; und meist wird

er von Leuten geäußert, die selber (natürlich zusammen mit

ihren Problemen) irgendwo als irgendwer anerkannt und

angenommen werden möchten, hier vermutlich als «Ungarn»

(obwohl überhaupt nicht klar ist, was und wen der Begriff

genau meint). Was mich betrifft, so habe ich meinen

spezifischen Status längst akzeptiert und seit der neuesten

Zeitrechnung nicht nur erneut akzeptiert, sondern zugleich

gewählt: Aus bestimmten Gründen gehöre ich nicht hierher

(kann ich nicht hierhergehören), zum größten Teil schreibe ich

nicht für jene, deren Sprache ich spreche (kann es nicht), und

irgendwie tut es mir gut, dies so klar zu formulieren, nachdem

ich (in einer andern Situation, unter Hammer und Sichel, wo

ich sogar das trübe Spiegelbild nur durch einen Spiegel

wahrnehmen konnte) meine wahre Lage lange sozusagen

metaphysisch umschreiben mußte, als die eines Fremden in der

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Welt usw. Das stimmt schon, bloß: die «Welt» (die mich

umgibt) ist Ungarn, und der wahre Name meiner «Fremdheit»

heißt Judentum; damit aber ein Jude heutzutage (und dieses

Heutzutage dauert nun schon gut sieben Jahrzehnte) als Ungar

akzeptiert wird, muß er bestimmte Bedingungen erfüllen, die –

um es kurz und bündig zu sagen – im wesentlichen zur

Selbstverleugnung führen.

Das Leben ist nämlich entweder Demonstration oder

Kollaboration.

M.s Fähigkeit, glücklich zu machen – das außergewöhnlichste

aller Talente… Rasch ziehe ich meine Hand zurück, wenn sie

mich am Glück teilhaben lassen will, doch sie zwingt ihre

Finger zwischen meine und schmuggelt so ihren Schatz in

meine Hand; ich halte ihn erschrocken, fürchte, ihn

anzuschauen, fürchte, daß er unter meinem Blick zerfällt… –

Der unverhoffte Zauber verlassener Nebenstraßen; nach einer

Steigung taucht völlig unerwartet ein märchenhaftes Dorf vor

uns auf, mit leuchtenden, schneeweißen Säulenarkaden und

roten Ziegeldächern. Namen wie: Nemesvita, Nagyvazsony,

Vóróstó; schläfrig-zeitlose Stimmung, Glockengeläut, ein

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Obstgarten, ein Hund, der uns hinterm Zaun ankläfft, eine

dunkelgekleidete Frau auf der Dorfstraße. Sanfte Gegend,

lichter, verträumter Bakonywald; und plötzlich tut sich der

Horizont auf, und unten erstrahlt ein gelbes Rapsfeld im

Sonnenlicht.

Nicht Gott, nicht der Mensch, nicht die Gesellschaft, nicht

ausgetüftelte «Pflichten» – einzig das Bewußtsein des Todes

verpflichtet uns zu profundem künstlerischem Schaffen.

Ende Mai. Gestern noch habe ich im Americain Café an der

Amsterdamer Leidse Pleinen Kaffee getrunken. Die van Goghs

und Rembrandts. Plötzlich hat man, beim Betreten eines

Raums, die Nachtwache vor sich. Das Selbstbildnis mit

Turban, als Apostel Paulus. Die rissige Gesichtshaut, die

großporige Nase, der skeptische Blick, die hochgezogenen

Augenbrauen, die gerunzelte Stirn: dieses Gesicht kann man

nie mehr vergessen. Die portugiesische Synagoge (hier

«Esnagoga» genannt). In einer Amsterdamer Kneipe habe ich

Genever getrunken, den Wacholderschnaps, der in Camus’

Roman (Der Fall) die Hauptrolle spielt; zwischen den

Messinghähnen, der Theke, den an Bilder von Cezanne

gemahnenden traurigen Flaschen schenkt die füllige blonde

Wirtin Getränke aus, neben ihr, in einem großen Käfig, trippelt

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und lärmt ein Kakadu. Amsterdams Häuser, Amsterdams

Mythos, Amsterdams Geschichte, der «protestantische Geist».

Durch das Fenster meines Hotelzimmers sehe ich auf die

schmalen Puppenhäuser auf der andern Seite des Kanals, auf

die vorhanglosen Fenster, ich kann in die Küche hineinsehen,

darüber ein Schlafzimmer, ein kleines Büro, ein winziges

Wohnzimmer (vermutlich scheint es nur winzig). Abends um

halb zehn bricht zwischen den behäbigen flämischen

Haufenwolken plötzlich die Sonne hervor. Das Bordellviertel.

In einer engen Gasse eine undurchdringliche Menge vor den

Schaufenstern mit den Mädchen: Gedränge, Schreie, Schwüle,

das Vibrieren der Leidenschaft; dann greift eine Hand plötzlich

nach einem Hals und drückt einen Männerkopf mit

bräunlichem Teint an die Hauswand; nun hagelt es Fausthiebe,

über das zuckende Gesicht fließt Blut. Ja, auf diese Szene lief

hier alles hinaus, die Vorgeschichte mußte in diese Fausthiebe

münden, und offenkundig nicht nur heute, sondern jeden

Abend. Trotzdem läßt die seltsam rauhe Schönheit dieser

dämmrigen Gäßchen, dieser sonderbar geformten Häuschen,

dieser kleinen Brücken mit den roten Laternen, dieser

wimmelnden Kais all dies annehmbar erscheinen, verklärt es

mit ihrem Zauber.

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Seither spukt ständig ein Zauberwort, ein Hexenspruch in

meinem Kopf herum: «die westliche Kultur…» Heute nur noch

ein Zauberwort – Gewoge einer gesichtslosen Masse in einem

immer noch Europa genannten Museum –, doch wieviel

Vergangenheit verbirgt sich dahinter, wieviel atemberaubende

Schönheit, wieviel Verklärung des Lebens, unseres Lebens,

wieviel Tapferkeit, Wahrheit, Größe und Kraft… Da taucht

Kapitän Cocqs Kompanie flink und mit neugierigem

Tatendrang aus dem Dunkel auf – für einen Augenblick nur:

sie kommt mit ihren Laternen aus dem Dunkel und kehrt gleich

wieder ins Dunkel zurück, um seine Tiefen zu erkunden, um

ihre endlose Nachtwache fortzusetzen, die heute ein Ende

gefunden hat. «Und trotzdem» – wie der greise Oedipus sagt;

trotzdem geht mir das Zauberwort nicht aus dem Sinn; jetzt

verbinde ich damit zwei Werke, Die Nachtwache und das

Quartett op. 132 in a-Moll…

_____Die Erinnerungen sind wie verwahrloste herrenlose

Hunde, sie umringen und starren einen an, sie hecheln und

heulen zum Mond, du möchtest sie verscheuchen, aber sie

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weichen nicht, gierig lecken sie deine Hand, und hast du sie im

Rücken, beißen sie zu…

Die Bilder des verflossenen Sommers, als wären es Notizen

auf den abgefallenen Blättern, die der Wind vor meinem

Fenster hochwirbelt…

Plötzliche Dunkelheit an einem heißen Abend, unterhalb der

Wälder, auf der Straße nach Zugliget. Wie mich Einsamkeit

und Beklemmung befielen. Hinter den Zäunen das

unheilverkündende Gebell der Hunde; irgendwo das schnelle,

böse Geknatter von Luftgewehren. Sie üben. Wer? Warum?

Was für Feinde umgeben uns?

Die alte Frau, die mich auf der Varosmajor-Promenade

ansprach: wo das Janos-Krankenhaus sei. Die Frage war

überflüssig (denn augenscheinlich wußte sie es genau). Ihre

Augen, diese eingefallenen Augen, die das in ihrem Innern

tobende Chaos widerspiegelten, im übrigen aber vollkommen

gleichgültig auf die sogenannte reale Welt blickten, nicht

zuletzt auf mich. Sie trug gute Kleidung, hatte ein gepflegtes

Äußeres und auf dem Arm eine tiefe Wunde, auf der das Blut

schon geronnen war; keine gefährliche Wunde, doch die

verräterische Spur einer unsicheren, hilflosen Handlung, einer

halbverrückten Hantierung in der einsamen Wohnung.

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Als ich im Armsessel Hesses Demian lese, greift meine Hand

plötzlich nach einem kleinen Quittungszettel und kritzelt rasch

folgendes darauf: « Erschreckend, wie wenig mich das Wesen,

das ich bin, interessiert.» Ich erhebe mich, trete ans Fenster:

unten auf der Straße führt ein Hund einen andern, und ich kann

nicht unterscheiden, wer von beiden der Besitzer ist.

Ich begegne meinem Türnachbarn, den ich seit Jahrzehnten

kenne, und plötzlich fallen mir sein verändertes Gesicht, seine

Blässe, seine seltsam vergrößerten Zähne auf; er redet Unsinn,

und entsetzt stelle ich fest, daß er sich anders als bisher

bewegt, mit kleinen tapsigen Schritten. Der Verlagsleiter

empfängt mich in Shorts und verschwitztem Polohemd in

seinem Büro, und während er – wie man so sagt – mit mir

verhandelt, springt er jede Minute auf und stürzt aus dem

Zimmer, oder jemand kommt unangemeldet herein, teilt ihm

flüsternd, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, eine

offenkundig wichtige Nachricht mit, und er antwortet, indem

er unser Gespräch mitten im Satz unterbricht. In der

Straßenbahn die drückende Hitze, die wahnsinnigen, stumpfen

oder brutalen Gesichter, die junge Frau mit hochgerutschtem

Rock, die kokett «ihre Lippen befeuchtet», wobei ihre leicht

violette Zunge einem aufgequollenen Blutegel gleicht. Im

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Nachbarland mordet, vergewaltigt einer den andern. Aus

Afrika erreichen uns Bilder, die an Auschwitz erinnern,

russische und ungarische Agenten laufen mit

Atombombenteilen in ihren Taschen herum, und während sie

von ihren Auftraggebern das Honorar für ihren Schmuggel

entgegennehmen, werden ihnen Lenden, Nieren und Milz vom

Plutonium in ihren Gesäßtaschen zerfressen.

Der Zeitgeist ist das Weltende. Ich werde einen

Erzählungsband zusammenstellen mit dem Titel

«Weltendgeschichten ».

Der einzige große Inspirator und Inquisitor eines jeden

Werkes ist die Todesangst.

4. Juli: Ob strahlender Sonnenschein oder sternklare Nacht,

zwischen Mattersburg und Tatzmannsdorf rast unser Auto

dahin, M. und ich sitzen abwechselnd am Steuer, und

triumphal erklingt die Waldstein-Sonate…

Aus dem Notizheft: «Seit drei Jahren, seit der Englischen

Flagge, habe ich kein narratives Gebilde mehr zustande

gebracht. Als würde ich neuerdings lieber an österreichische

und schweizerische Seen fahren, als Reisen ins Seeleninnere

zu unternehmen…»

Ein auflösbarer Widerspruch.

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Wenn mich dennoch böse Vorahnungen in bezug auf mein

Leben heimsuchen, muß ich wissen, daß das nicht Todesangst

ist, sondern deren genaues Gegenteil: existentielle

Zerstreutheit. Immer wieder vergesse ich den Tod, und das

wirft Schatten auf den Ernst meines Daseins. Ist meine

Existenz nicht unerhört, ist sie nicht der Rede wert.

Im milden Spätsommer mit A. und Esterhazy in Salzburg.

Lesungen. Dann mit A. am Traunsee. Balkon auf den See. Wie

immer wir es betrachten (und obwohl Nachsaison ist): dies ist

ein Luxushotel, ein liebevolles Geschenk für A. ermöglicht

durch die verblüffenden Wendungen in meinem Leben. A.

nimmt es bedächtig an, mit der Melancholie und

unbestechlichen Zurückhaltung der Verspätung, so wie es ihr

die Treue zu den nicht wiedergutzumachenden, bitteren Jahren

auferlegt; und mich packt Entsetzen, weil ich sozusagen

greifbar etwas Unabänderliches (womöglich Schicksalhaftes)

spüre: daß der Mensch sich schließlich dem Starrsinn der

Dinge beugt und damit seinen eigenen Untergang befördert…

Lebe so, als ob jeder deiner Schritte von Segen begleitet

wäre. Du kannst auch wie ein Verfluchter leben. Aber dann

wirst du zum Verfluchten werden. Doch wie dem auch sei, die

Tatsache, daß du leben und arbeiten konntest, war an sich

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schon ein Segen; war ein Segen, weil du auch in deiner

Verfluchtheit imstande warst, die großen Chancen des Lebens

wahrzunehmen.

Wenn stimmt, was Camus sagt: daß das Glück eine Pflicht

sei, dann kann diese Wahrheit nur Bestand haben, wenn wir

klären: eine Pflicht gegenüber wem? Gegenüber uns selbst,

unsern Mitmenschen oder Gott?

Zu klären wäre auch die Beschaffenheit des Glücks. Wenn

dein Beruf – nein, lassen wir diesmal das Understatement:

wenn deine Leidenschaft die Schilderung menschlicher

Befindlichkeit ist, mußt du dein Herz all dem Elend öffnen, das

diese Befindlichkeit in sich birgt; dennoch kannst du dich der

sogenannten Schaffensfreude, wenn der Bleistift übers Papier

eilt, nicht verschließen. Bist du also ein Betrüger? Zweifellos;

doch jedes große Abenteuer enthält den Befehl, daß du dich

hingibst, daß man von deinem Fleisch esse und von deinem

Blut trinke… Am schlimmsten sind die kleinlichen Störungen

des Alltags: sie strafen alles Lügen. Nur nicht aus dem

Festglanz heraustreten – oh, der Schrecken der Langeweile: die

Langeweile ist Sünde.

Ist deine Existenz nicht unerhört, ist sie nicht der Rede wert.

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Die von Platanen gesäumte provenzalische Landstraße. In

Avignon die in den Fels gehauenen steilen Gäßchen, der

heulende Mistral und ein Hotel für Phäaken, das Mirande; auf

dem Felsvorsprung vor der Kirche das gebieterisch aufragende,

mächtige Kreuz, die kleine mittelalterliche Brücke über die

Rhone, der unvermindert tobende Sturm. In Cannes

Abendspaziergang unter den Palmen; in dieser Kitschwelt von

Hotels, Springbrunnen und Meeresbrandung strecke ich dem

sternenübersäten subtropischen Himmel die Zunge heraus…

Doch hinter unserm Hotel laufen Straßen kreuz und quer über

den Hügel, und ich stelle mir vor, daß man zwischen diesen

lieblichen Kulissen im Grunde auch leben, wohnen, arbeiten,

sich ergötzen und sterben könnte. Am Tag zuvor die roten

Felsen an der Küstenstraße von St-Sebastien nach Cannes. Die

Gespräche mit M. im Auto. Paris. Die Stadt ist mir so

«heimisch», daß ich – obwohl ich zum ersten Mal hier bin und

kein Wort Französisch verstehe – ohne weiteres zu unserm

Hotel in der Nähe des Boulevard de Courcelles finden könnte,

wenn M. die am Steuer sitzt, es nicht vorzöge, sich auf die

zweifellos fundierteren Ortskenntnisse eines Taxichauffeurs zu

verlassen.

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Als wir am Stadtrand von Avignon die Ausfallstraße suchten,

gerieten wir mit unserm Mietauto mit deutschem

Nummernschild in eine enge Straße, wo vermutlich Fahrverbot

herrschte; plötzlich schlug etwas hart aufs Wagendach, und

jemand schrie mit furchtbar haßerfüllter Stimme und stark

französischem Akzent: «Weg von hier!»

Nach dem Schrecken

begreife ich: ein schlichtes Mißverständnis, die Stimme war

die eines französischen Germanophoben, der mich, den

hergelaufenen Budapester Juden, als vermeintlichen Deutschen

am liebsten in ein von ihm ausgedachtes französisches Inferno

verbannt hätte. Aus einem verfolgten Juden wurde ich also

innerhalb von Sekunden zu einem verfolgten Deutschen – so

ist diese Welt, sie rächt sich immer an sich selbst, wenn sie

sich rächt.

Im Hotel in Paris fragt M. wie lange Frühstück serviert

werde. «Den ganzen Tag, Madame!» lautet die Antwort, und

plötzlich glauben wir uns in den Pariser Romanen von

Szomory oder, besser noch, Vaszary.

Vesper im Tal von Chamonix. Es wurde Abend, die Luft war

scharf… und würzig. Inmitten der einsamen Wälder, Täler und

Bergrücken ein seltsamer runder Glasbau, irgendein Museum.

Im Original deutsch

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Sonst niemand, nichts. An einem Steintisch aßen wir Brie und

Kekse vom Vortag und tranken hiesigen Rose dazu. Ich fror.

M. gab mir ihren Pullover, sie genoß die Kühle, ihr Gesicht

strahlte. Beim Essen überlegten wir, wie weit wir noch fahren

müßten und wo wir übernachten könnten. Die Schatten wurden

düster und nahmen immer dunklere Farben an, während oben

auf dem Berg die Bäume noch besonnt waren. Ich dachte nicht

darüber nach, aber ich glaube, ich war glücklich. Hier am Fuß

des Montblanc spürte ich, daß meine sechzigjährige Isolation

und Häftlingsexistenz durch eine solche Reise eher vollendet

als in Frage gestellt wurde. An der Schwelle zu einer andern

Daseinsform begriff ich die Schärfe der Trennlinie zwischen

Damals und Heute, begriff ich, daß der Abgrund zwischen mir

und mir so tief ist, daß er sich nur mit größter Anstrengung

überbrücken läßt. Als stünde ich am Rande eines verheerenden

Waldbrandes und müßte den Schaden, den Gewinn abschätzen;

abschätzen, was ich bislang erreicht habe und wo ich fortan die

kreativen Energien herholen soll. Ich weiß, daß mich

Trivialitäten in Versuchung führen werden, vielleicht auch die

Sorglosigkeit des Rausches, der so leicht mit Glück zu

verwechseln ist, und vielleicht werde ich vom Leben

fortgerissen werden, wie ein kielloses Segelboot von den

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Fluten. Ich begriff, daß das Glück – mein Glück – das

Gegenteil von Leichtigkeit ist. Das Glück – mein Glück – ist

die Leichtigkeit der Last, der Rausch des Rausches, wenn für

einen flüchtigen Moment die bestürzende Tatsache des Seins

auf die Bilder des Lebens übergreift und diese mit den wahren

Farben färbt.

Die Bilder des verflossenen Sommers…

Es ist kalt geworden.

In der kühlen Oktobersonne bin ich die Straße nach Zugliget

hinuntergegangen. Eine alte Frau stand auf dem Gehsteig, mit

strahlendem hebephrenem Lächeln, als wartete sie auf mich.

Auch ich lächelte ihr zu, sie hatte winzige, lebhafte blaue

Augen. «Wie heißen Sie?» fragte sie. Ich spürte, daß es mir

peinlich war, meinen Namen auszusprechen, als würde ich

etwas Unschickliches aus der Tasche hervorziehen. «Kennen

Sie mich vielleicht?» fragte ich. Sie nickte lebhaft, lächelte und

sah auf meine Hände. «Die Handschuhe», sagte sie. «Brauchen

Sie die?» Ich glaubte zu verstehen, was sie wollte, zog meine

Handschuhe aus und berührte sie, nahm für einen Augenblick

ihre Hand in meine. Ihr Gesicht strahlte vor Freude. Dann ging

ich leicht beschämt davon, wie ein Guru, der gerade jemanden

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vom ewigen Leben überzeugt hat, obwohl er weiß, daß in

seinem Körper der Tod nistet.

«Verstehen wir je, was wir denken?» (Jung)

Verstehe ich je mein Leben? Kann ich es verstehen? Alles

spricht dagegen: das in mir wurzelnde fremde Ich, der sich

selbst rechtfertigende Moralist, der lügnerische

Fabelproduzent.

Hannah Arendt behauptet, die einzige Motivation für ihr

Schreiben sei: etwas zu verstehen.

Doch überläßt sie uns dem Dämmer des Wortes «verstehen».

Verstehen heißt in Wirklichkeit soviel wie: in Besitz nehmen

(sonst wäre es nicht so wichtig).

Gibt es eine Art des Verstehens, bei der ich nicht besitzen,

nicht mich bemächtigen will? Zum Beispiel: indem ich mich in

eine Erzählung hineinbegebe, dort in einen Hinterhalt gerate

und gefangengenommen werde…

Ist mein Leben nicht eine solche Erzählung? Wie könnte ich

diese Erzählung zum Reden bringen? Nur als erzählbare

Wirklichkeit; als Wirklichkeit keineswegs, es sei denn, ich

finde ihren geheimen Sinn, die Triebfeder des

Marionettenspiels. Diese Erzählung würde dann von jenem

ständigen Kampf handeln, der einst unmerklich, wie ein sich

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entfaltender Urkeim, von mir Besitz ergriff, damit ich aus den

bodenlosen Tiefen des Seins an die Oberfläche des

Bewußtseins gelangte und mit diesem neuen Bewußtsein das

Sein (mein Dasein) annähme. Ganz klar: das Erreichen dieses

kritischen Punktes, wo das durch mich existierende

Bewußtsein und das von mir aufrechterhaltene Sein

zusammenfallen, bedeutet für mich, den ewig

Kampfversehrten, poetisch gesprochen ein ständiges

Unterwegssein zu den immerfort in der Ferne blauenden

Gipfeln; doch wenn ich einmal glauben sollte, ich hätte das

Ziel erreicht, würde mein Bewußtsein wie mein Sein vor dieser

schrecklichen Harmonie vergehen. Mit andern Worten: Mein

Leben ist ein harter Kampf um den Tod, und in diesem Kampf

schone ich sichtlich weder mich noch die andern. Alles

Weitere sind Details, ich kann anfangen, wo ich will; es reicht,

wenn ich Notizen mache zu den Notizen zu einem künftigen

Roman, Merkzeichen für ein alleiniges Gedächtnis – das meine

–, das im Augenblick noch nicht bereit ist, sich dem

versteinerten und universalen Gedächtnis zu öffnen: der Form.

Im Sommer, als wir aus Österreich zurückkamen, wollten wir

den Ort besichtigen, wo mein Vater starb: M. bestand noch

mehr darauf als ich. Wir passierten Sopron, dann kam zur

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Linken Sopronkóhida, eine nicht enden wollende

Gefängnisstadt, grau, bedrückend, unvergänglich. Schließlich

gelangten wir an einen Ort, wo weißer Staub in der Luft lag

und die Menschen in elenden Buden Bier tranken. Hier begann

eine Steinwelt, weiße Kiesel, weiße Steine, weiße Felsen im

harten Licht des Sommerabends. Auf einem Plakat war eine

Operette angekündigt. Hinter dem Eingang, auf einer

Kiesfläche, parkten burgenländische Touristenbusse, schwere,

schlurfende Schritte wirbelten trockenen Staub auf, eilten zum

Eingang des Höhlentheaters, aus dem schon das Stimmen des

Orchesters drang. Eine Art Platzanweiser bat uns um unsere

Eintrittskarten. Wir fragten ihn, ob es hier irgendwo eine

Gedenktafel gebe. Er war verblüfft: Eine Gedenktafel? Doch

versuchte er, uns behilflich zu sein: Eine Gedenktafel an

neunzehnhundertsechsundfünfzig? Nein, an neunzehnhundert-

fünfundvierzig. Da kam ein junger Polizist. Ja, er wisse von

einer Gedenktafel, habe sie auch gesehen, doch wo genau, das

habe er vergessen.

Auch er fragte, um welches Ereignis es sich handle. Um

Massenmord, sagten wir vorsichtig. Ja, aber wann? wollte er

wissen. In den fünfziger Jahren? Oder

neunzehnhundertsechsundfünfzig? Oder später? Nein,

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neunzehnhundertfünfundvierzig. Nun war er völlig sprachlos:

Neunzehnhundertfünfundvierzig?! – als würden wir nach

irgendwelchen altpersischen Überresten suchen. Wir machten

uns auf den Weg in die öde Steinwüste; in der Theatergrotte

schmetterte gerade die Ouvertüre los. Vor uns Steinhaufen,

Geröllflächen und etwas weiter ein von steilen Felswänden

umgebener Kessel. Wir verstummten, denn wir begriffen, daß

wir am gesuchten Ort waren. Auf dem beschwerlichen Marsch

nach Österreich – möglicherweise auf derselben Straße, auf der

wir aus der umgekehrten Richtung, aus einem Heilbad

kommend, hierhergelangt waren –, wurden die Todeszüge in

dieses natürliche Felsenverlies, vermutlich ihr letztes

ungarisches Quartier, getrieben, bevor man sie den Deutschen

übergab; von hier aus ging es dann weiter in die

Konzentrationslager auf österreichischem Gebiet. Tausende,

Zehntausende dürften hier im Winter und Vorfrühling 1945,

zwischen den Steinen, in bitterer Kälte haltgemacht haben.

Wer am Morgen nicht weiterkonnte – oder wollte –, wurde in

den Höhlen erschossen. Wir sprachen kein Wort, der trostlose

Schauplatz verriet alles. Nur hier konnte es geschehen sein, der

Genius dieses Ortes war die Salve, die Folter, der Mord. Eine

Zeitlang noch suchten wir zögernd nach einem Zeichen, einer

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Erinnerung, einem Relikt oder wer weiß wonach; wir

stolperten zwischen den Felsen, rutschten auf dem Geröll

herum. Dann gaben wir es auf und schlenderten wortlos, Hand

in Hand, zum Parkplatz zurück, wo uns die schrille

Operettenmusik einholte.

_____Englische Farben im Varosmajor. Ein nebliger

Dezembermorgen, von der Promenade sieht man hinunter auf

den tiefer liegenden braun-rot gelben Park, wo zwischen den

kahlen Bäumen große, hellbraune Setter durch das braune

Laub rennen, flink, graziös, stumm.

Man wird das Gefühl nicht los, daß das Leben nicht primär

eine organisch zusammenhanglose Masse von Phänomenen ist,

wie es den Anschein macht, sondern daß es eine Transzendenz

hat.

Lies den Baumeister Solness, um zu sehen, was aus den

Symbolen geworden ist. Der Kirchenbau ist kein Symbol

mehr.

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Gibt es noch gültige Sinnbilder? Die moderne Mythologie

beginnt mit einem gigantischen Negativum: Gott hat die Welt

erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen.

Ich stelle mir eine Theologie vor, die sämtliche schlechten

Erfahrungen der Schöpfung zu einer

Wissenschaft

zusammenfaßt, deren Sprache jedoch von einem göttlichen

Stil, von einem metaphysischen Kontrapunkt geprägt ist, aber

nur rhetorisch, nicht argumentativ.

Was sollen wir mit dem «Vorwurf» anfangen, die Juden

hätten sich nicht gegen ihre Deportation nach Auschwitz

gewehrt? Auch Christus hat sich weder gegen seine Geißelung

noch gegen seine Kreuzigung gewehrt. Es mußte geschehen,

und weil es geschehen ist, vergeht es nicht. In diesem Sinne

glaube ich, daß weder das Kreuz noch Auschwitz vergänglich

sind.

Ist das «aufklärerisches» Denken? Ich weiß es nicht, doch für

den Künstler ist es fruchtbar, weil es ihm die Perspektive eines

guten Stils eröffnet.

Nur der Glaube ist Wirklichkeit. (Auch der Irrglaube.) Nur

der Glaube erschafft Wirklichkeit. (Auch der Irrglaube.)

«Es herrschte solch höllische Hitze, daß in den Gärten das

Wehklagen der Blumen zu hören war und die Männer

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schwanger wurden. Einer von ihnen gebar Adolf Hitler»

(Kazimierz Brandys: Charaktere und Schriften). Aus

demselben Buch: «Anfang des 17. Jahrhunderts versammelten

sich in Wilna mehrere Dutzend der bekanntesten

aschkenasischen Rabbis, Weise der Initiation und Erforscher

der Kabbala. (…) Die Rabbis berieten sich dreißig Monate

lang, dann fanden sie die Antwort. Sie war verblüffend: ‹Es

besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß es besser wäre,

wenn die wirkliche Welt, von deren Existenz wir Kenntnis

haben, nie erschaffen worden wäre. Und ohne Zweifel wäre es

für die Menschheit am besten, sie würde aussterben und sich

im Unendlichen auflösen.›» – Diese Antwort gleicht auffallend

derjenigen von Silenos, die König Midas von ihm erpreßt hat:

«… am besten wäre es für dich, nie geboren worden zu sein,

nichts und niemand zu sein. Am zweitbesten aber wäre es für

dich – möglichst bald zu sterben.»

Der Augenblick, der offenbar jeden Sterbenden ereilt: wenn

auf seinem Gesicht plötzlich ein jähes Staunen erscheint.

Anwesende sehen es zwar, können das Staunen jedoch kaum

verstehen, das den Sterbenden in fast bewußtlosem Zustand

überrascht. Er scheint etwas zu erfahren – etwas

Nichtwiedergutzumachendes, etwas Furchtbares, dem

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gegenüber er machtlos ist, womit er sich vier-fünf-sechs-

sieben-acht Jahrzehnte, sein ganzes Leben lang betrogen hat.

Dies dürfte der Schrecken des Todes sein, diese Bestürzung,

wenn der Mensch seiner ganzen Verlorenheit inne wird – und

nicht der Tod selbst, der ihn schließlich auslöscht, zusammen

mit seiner Angst.

Man müßte jenes Gefühl der «Dunkelheit» analysieren,

welches uns das Leben als Flamme erscheinen läßt (eine der

ältesten Metaphern): Denken wir an das Dunkel der Toten und

der Ungeborenen? Oder handelt es sich dabei bloß um

Analogie, ein Vergleichssystem der Lebenden, um schiere

Psychologie, um Todesangst, Bewußtseinstrübung,

Umnachtung, Sinnestäuschung? Jedes dieser Worte verweist

auf eine andere Welt. «Sinnestäuschung»? Eine Täuschung in

bezug auf was? Was ist das für eine Substanz, die von unsern

Sinnen falsch wahrgenommen wird? Die Sprache verweist auf

etwas, was die Erkenntnis nicht nachzuvollziehen vermag. Ist

die Sprache also auch Sinnestäuschung? Seltsam: in meiner

Jugend konnte ich die radikale Erkenntnis, daß ich von

nirgendwo komme und nach nirgendwo gehe, ohne weiteres

akzeptieren. Aber je länger ich lebe, desto unzulänglicher

erscheint mir dieser Radikalismus. Je länger ich lebe, desto

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deutlicher sehe ich, daß dieser Radikalismus nur eine mögliche

Lebensform ist und daß noch zahllose andere Lebensformen

denkbar wären. Indes betrachte ich es als Tatsache, daß wir in

einem System leben, und dieses System betrachte ich als

System der Analogien, als Labyrinth, als ein Labyrinth freilich,

das letztlich geplant wurde. Und auch wenn es nicht unbedingt

von jemandem geplant wurde, kommt es mir doch geplant vor

(obwohl ich die Entwürfe nicht kenne, sowenig wie mich

selbst). Und nun können wir unsere bereitstehenden Begriffe

hervorholen: Gott, das Absurde, die Katastrophe, die

allgemeine Relativität, wie es beliebt… Für den Menschen –

nein: für mich ist dies aber, solange ich lebe, ein Wertproblem,

im Sinne einer Auf- oder Abwertung meines Lebens, genauer

einer Wertdefinition, von der ich dann abhängig mache, was

ich mit diesem Irrlicht, meinem Leben, anfangen soll. Ich

erinnere mich noch genau, ich war acht oder neun Jahre alt, als

ich mir zu Weihnachten (vielleicht auch zum Geburtstag) ein

Tagebuch wünschte: etwas prickelte in mir, und ich glaubte es

nur durch eine systematische, minuziöse Tätigkeit ableiten zu

können. Meine vage Unruhe rief eine vage Bilderfolge hervor:

ich trödle mit etwas langwierig herum, zum Beispiel mit einem

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Schreibwerkzeug auf dem Papier, und diese einsame Operation

beruhigt mich schließlich.

Doch welche Erregung trieb mich um?

Ich bin im Nichts aufgewachsen und habe es von Kindheit an

gelernt, mich mit klarem – oder besser praktischem – Verstand

ans Nichts anzupassen, mich im Nichts zu bewegen und zu

orientieren, als wäre dieses Nichts mein Leben, in dem ich

mich zurechtfinden muß, und das fiel mir nicht schwerer als

einem Kind das Erlernen der Sprache. Wäre mein kindlicher

Glaube an ursprüngliche – dem Ursprung verhaftete – Werte

nicht intakt geblieben, ich hätte wohl nie etwas zustande

gebracht. Woher aber kannte ich diese Werte, die von meiner

Umgebung geleugnet wurden, warum vertraute ich diesen

Werten, die im praktischen Leben widerlegt wurden? Mit

Vertrauen meine ich hier, daß man auf diese Werte sein Leben

baut und dann allein bleibt mit ihnen, wie der Häftling in

Einzelhaft, der nicht auf die Gerichtsverhandlung, sondern nur

noch auf das Urteil wartet, wobei ein günstiges Urteil

schlichtweg die Widerlegung seiner Bemühungen bedeuten

kann.

Es bedarf eines äußerst scharfen Auges und eines äußerst

flexiblen Geistes, um im Leben irgendwelche

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Gesetzmäßigkeiten auszumachen; kommt noch leiser Starrsinn

hinzu, in dem sich Scharfblick und Blindheit in einem Maße

mischen, daß daraus das Spezifische der Begabung entsteht, so

entdeckt man diese Gesetzmäßigkeiten.

Erzieht uns das Leben womöglich zur radikalen Erkenntnis,

daß es sich nicht weiterzuleben lohnt? Ja, so scheint es. Unser

Leben ist sinnlos, aber offenbar nur dem Anschein nach, gibt

es doch zwischen Leben und Sinn keinen Zusammenhang. Es

sei denn, wir selbst sind dieser Zusammenhang. Wir sind

Vermittler, die Leben und Sinn verknüpfen, und obwohl wir

praktisch auf beiden Gebieten versagen, bedeutet das nichts im

Vergleich zu jener außergewöhnlichen Dimension, die von

einem jeden Menschenleben verkörpert wird. Vielleicht

verwirklichen wir just dann ein Ziel, wenn wir diese

Verwirklichung

– vor lauter Alltagsaktivitäten

geringschätzen oder gar nicht bemerken, so daß wir – während

wir unser Lebensziel verwirklichen – unser Leben für sinnlos

halten. Doch was anderes sollten wir tun? Schließlich ist das

«Leben» personengebunden; und auch wenn wir zur Einsicht

gelangen, daß unser Dasein ein Irrtum ist, können wir –

zumindest was unsere Person betrifft – schwerlich im Tod eine

würdige Korrektur dieses Irrtums sehen.

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_____Neunzehnhundertfünfundneunzig, nasser,

kalter

Frühling. «No pasaran» – warum nur kommt mir plötzlich

dieser legendäre Wahlspruch in den Sinn? Die Lagerfeuer, die

Lieder, die Gesichter der Führer, die eine große

Entschlossenheit, eine heldenhafte Notwendigkeit ausstrahlen

und die rechtzeitig von der Bühne verschwinden werden, um

auf andern Bühnen, in neuen Rollen wiederaufzutauchen – und

die vom Rausch benommenen Massengesichter, die bald schon

Erde in ihre Augenhöhlen und Münder schaufeln werden.

Auf die dumme Frage, ob ich «einen Unterschied zwischen

Faschismus und Kommunismus sehe», könnte ich folgende

knappe Antwort geben: Der Kommunismus ist Utopie, der

Faschismus Praxis – Parteiwesen und Macht verbinden beide,

wobei auch der Kommunismus von Faschisten in Praxis

umgesetzt wird.

Abends, als ich den alptraumhaften Moszkva-Platz

überquerte, hörte ich von den schlecht beleuchteten

Straßenbahnschienen her einen Plumps: ein schwerer Körper

schlug zu Boden, der Mann warf die Arme komisch und abrupt

in die Höhe, fiel hin und rollte dann mühsam auf den Rücken.

Mehrere Personen eilten ihm zu Hilfe (auch ich), von seinem

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Nasenrücken strömte Blut (auch auf meinen Handschuh). Man

half ihm auf die Beine, ich ging weiter Richtung

Straßenbahnhaltestelle, doch als ich mich nochmals umdrehte,

sah ich, daß der Mann schon wieder auf dem Straßenpflaster

lag. Nun beugten sich mehrere über ihn, bald war er ganz

umringt, größtenteils von schlecht oder sogar lumpig

gekleideten Menschen, und selbst aus der Ferne richteten sich

Blicke auf das Opfer, gierig funkelnde Hyänenblicke. Eine

dieser hyänenartigen Gestalten, mit dem kräftigen Körperbau

eines Raubtiers, das an ausdauernde Verfolgungsjagden

gewöhnt ist, mit nach vorne hängenden Schultern und

unverhältnismäßig langen Armen, hatte die Ereignisse bisher

nur aus der Distanz beobachtet und ging gerade in dem

Moment auf die ameisenhaft wimmelnde Menge zu, als ich in

die Straßenbahn stieg. – In meinem Büro in der Tórók-Straße,

in diesen verhängnisvollen 28 Quadratmetern, die A. und mir

während 35 Jahren als Wohnung dienten, untersuchte ich

meinen Handschuh, auf dessen linkem Daumen tatsächlich ein

verschmierter Blutfleck zu sehen war. Noch im Mantel

versuchte ich, diesen über dem Lavabo mit kaltem Wasser und

einem Schwamm zu entfernen. Was war wohl inzwischen mit

dem Opfer passiert? Lag es, völlig ausgeraubt und entkleidet,

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auf dem Moszkva-Platz? Oder hatte man ihm auf die Beine

geholfen und es in eine Straßenbahn gesetzt, wo es dann das

Fehlen seiner Geldbörse bemerkte? War es bei Bewußtsein?

Wußte es, was mit ihm geschah? Weiß es, daß ich seine

Geschichte aufschreibe? Weiß ich, wie egal ihm das ist?

Wissen wir um die Absurdität unseres Schicksals, unseres

Lebens, um seine schändliche Zufälligkeit, um die schändliche

Zufälligkeit eines jeden Augenblicks, an dem wir so

schändlich und schwächlich hängen, weil diese absurde Folge

von Augenblicken unser Leben ausmacht? Gibt es hier ein

seriöses, fundiertes Gegenargument? Ich finde kein einziges…

Im Mai wieder in Berlin. Filmaufnahmen. Über der

Gedenkstätte der nazistischen Bücherverbrennung werden

meine Bücher aufgebaut und gefilmt. Ich müßte Triumph

verspüren. Verspüre keinen.

Münster. Am Turm der wunderbaren Sankt-Lamberti-Kirche

hängen merkwürdige Käfige. Es wird mir erklärt, in diesen

Käfigen hätte man einst die aufrührerischen protestantischen

Ketzer gefangengehalten und gefoltert.

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Heidelberg. Mein Gastgeber, ein sympathischer jüngerer

Universitätsprofessor, schildert bei Tisch ausführlich den

qualvollen Weg der Tiertransporte vom Balkan hierher, nach

Norden. Wenn die Rinder schließlich zur Schlachtbank geführt

würden, brächen sie unter dem Fleischerbeil (oder dem

entsprechenden modernen Mordwerkzeug) von selbst in die

Knie, weil sie ihr Los begriffen hätten. («Das Urteil kommt

nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil

über.»)

Hamburg: Ich lese meinen Vortragstext, danach tritt aus dem

nicht sehr zahlreichen Publikum ein weißhaariger, strahlender

Mann in Pullover auf mich zu. Er stellt sich vor: György

Ligeti. Für einen Moment versagt mir die Stimme.

Bei Kälte und strömendem Regen fliege ich am nächsten Tag

von Hamburg nach Frankfurt; hier irre ich endlos per Bus und

zu Fuß auf dem Flughafenareal herum, bis ich schließlich in

einen engen, gespenstisch beleuchteten, unheimlichen Korridor

gelange, wo zu beiden Seiten Soldaten und Soldatinnen –

hübsche blonde Mädchen – kaum einen Meter voneinander in

einer Reihe stehen, mit gleichgültigem Gesicht, Waffe und

Blick nach vorne gerichtet. Es folgt ein trostloser Raum, wo

Im Original deutsch

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ich aus meinem Koffer jedes einzelne Kleidungsstück

herausnehmen und hastig wieder einpacken muß. Verstört,

entwürdigt und ergeben mache ich mich zum nächsten Raum

auf, wie die Rinder des Heidelberger Professors.

Tel Aviv: vertraute, sozusagen seit ewig bekannte Fremdheit.

Doch ist es endlich warm. Das Meer. An der Ecke der Mair

Dizengoff und der Rehov Frischmann Street esse ich zu

Abend. Der Wirt winkt mich einfach herein. Mit einladender

Geste zeigt er auf einen Stuhl auf der Terrasse: «S’il vous plaît,

monsieur.» Er versucht französisch mit mir zu sprechen. Das

ist schmeichelhaft, aber leider kann ich kein Französisch. Zum

Huhn wird die ganze Pracht des Südostens aufgetischt: grüne

und schwarze Oliven, Tomaten, Obst, Gewürze, kunterbunter

Salat. Beim Anblick einzelner dunkelhäutiger Frauen

verschlägt es mir fast den Atem. Orthodoxe Juden, mittel- und

osteuropäische Keinerlei-Juden gehen vorbei. Ich versuche zu

begreifen, daß hier alle Juden sind, mein afrikanisch

aussehender Wirt, das nordisch hochgewachsene rotblonde

Mädchen, der alte Mann mit Bart und Peies, der schlurfend des

Weges kommt. Schließlich sehe ich nur noch den lärmigen

Nachtverkehr, als wäre ich in Italien. Oder in Budapest.

Merkwürdige kubische Häuser, Balkone mit Sonnendach, alles

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ein bißchen schäbig, manchmal erinnert es geradewegs an

Ujlipótvóros.

Ich biege in eine elegante Seitenstraße ein. Palmen,

phantastische Pflanzen, schön gebaute Villen, verwahrloste

Innenhöfe – alles in bunter Mischung, diese Stadt lebt und läßt

leben. Doch das Erlebnis der «Heimkehr» bleibt aus. Im

Grunde bleiben im voraus kalkulierte Erlebnisse immer aus.

Bin ich also doch kein Jude? Aber was bin ich dann? In

Deutschland war ich natürlich noch weniger zu Hause, «zu

Hause», in Ungarn aber ist meine Fremdheit deklariert. Die

Abreise aus Frankfurt, die wiederholten Durchsuchungen, die

um den Flugsteig herum konzentrierten Sicherheitskräfte. Bei

der Paßkontrolle gibt es nun schon eine klare Trennung: EU-

Bürger nach rechts, Bürger anderer Staaten nach links. Fast

durfte ich nicht nach Berlin fliegen, weil sie mein

Rückflugticket nicht fanden. Erst als die Bestätigung kam, daß

ich das Land via Israel verlasse – mit Sicherheit verlasse –,

durfte ich in Budapest das Flugzeug besteigen.

Neben meinem Judentum erfahre ich jetzt auch eine

Diskriminierung als Ungar; mit ersterem habe ich keine

Probleme, das hat sozusagen Stil; letzteres aber empfinde ich

als ungerecht. Es verletzt nicht mein Ungarntum, sondern mein

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strapaziertes Judentum, weil mich jede Diskriminierung

ausschließlich in meiner Eigenschaft als Jude trifft. Vielleicht

wird das Identität genannt? Vielleicht bin ich doch ein Jude?

Vollmond in Tel Aviv. Hinter den Hochhäusern des Marriott,

Hilton, Sheraton ein einfacher alter Wellenbrecher aus Stein,

von dem die Gischt seidig auf mich zueilt und sich an meine

Füße schmiegt, wie die Tel Aviver Katzen.

Am nächsten Vormittag in der Schule. Meine Lektorin liest

den israelischen Schülern aus dem hebräischen Roman eines

Schicksallosen vor. Ist auch das nicht…? O doch. Obwohl die

Sprachschwierigkeiten und meine – wie soll ich sagen –

jüdische Hemmung vor der Unverdorbenheit die ganze Sache

erschweren. – Dann nach Beer Sheva. Sanfte, etwas kahle

Gegend. Doch ein göttlicher Lichtstrahl, der vielleicht von

einem Renaissancebild auf die Landschaft fällt, hüllt alles ein,

überzieht es wie mit feinem Lack.

Jerusalem; die arabische Altstadt. Die Farben. Der Ölberg.

Die Klagemauer. Flüchtig blicke ich auf ein Straßenschild, die

Straße heißt: Via Dolorosa. In der sephardischen Synagoge,

dann an der Klagemauer erfaßt mich plötzlich das Gefühl eines

großen Bruchs. Das lebhafte Memento an eine – in andern

Weltgegenden schon längst verblaßte mythische Tragödie

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schwebt hier sozusagen fühlbar in der goldenen Luft. Mit

Christi Tod kam es zu einem schrecklichen Bruch im ethischen

Gebäude, das – wenn man so sagen darf – der Stützpfeiler der

menschlichen Seelengeschichte ist. Worin besteht dieser

Bruch? Darin, daß die Väter das Kind zum Tode verurteilten.

Das hat keiner jemals verschmerzt. Damit dies jedoch zum

Weltereignis werden konnte, bedurfte es natürlich der

einzigartigen ethischen Genialität des jüdischen Volkes. Die

Strafe, die schreckliche Strafe, die das jüdische Volk für

immer auf sich lud, hat durch diese Wende einen besonderen

Sinn bekommen. Man könnte die Linie von Christus zu

Auschwitz ziehen, doch darf man sich solcher Mystik nur für

einen Augenblick hingeben, und nur, um die bodenlose Tiefe

der menschlichen Geschichte zu ermessen, die

außergewöhnliche Aktivität des Lebens, die sich als

Wirklichkeit kaschiert, Kreativität und Destruktion, die

pausenlos am Werk sind. Dieser Auffassung zufolge ist Jesus

nicht der Sohn Gottes, sondern der Sohn des Vaters. Kafkas

Erzählung Das Urteil weiß einiges über diese Beziehung…

Am Nachmittag führt mich mein Schriftstellerfreund

Appelfeld ins orthodoxe Viertel. Wir schauen in verschiedene

Synagogen hinein. Es ist Samstag abend, eines der

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Gebetshäuser ist mit Männern und Kindern überfüllt. Sie

essen, beten, singen. Frauen haben hier keinen Zutritt. Ein

Porträtmaler könnte schwelgen in diesen Gesichtern, Bärten,

Gewändern. Eine Geruchskunst existiert nicht, doch könnte

man auch auf diesem Gebiet etwas Interessantes hervorbringen

– eine nostalgische Duftmischung, dominiert von Vanille und

dem Geruch staubiger Gebetbücher. Appelfeld sitzt reserviert

neben mir, auf einer Art Sitzbank, ohne jedoch sein tiefes

Zugehörigkeitsgefühl zu verheimlichen. Freilich sitzt er in

Hemdsärmeln da, mit glattrasiertem Gesicht und einer

Hamburger Mütze, ich aber trage meinen weißen Leinenhut

aus Venedig. Mehrere Blicke sind auf uns gerichtet. Ich bange

ein wenig. Ein sehr hübscher und sehr mürrischer Mann,

dessen pechschwarzer Bart schon ins Weißliche spielt und der

mehrmals an unserm Platz vorbeiging, als würde er uns nicht

bemerken, stellt uns plötzlich, fast grob, zwei Gläser Tee hin.

Er sagt kein Wort, dreht sich wieder um und drückt uns rasch

noch zwei Semmeln in die Hand. Wir sitzen da, sehen den

Betenden, Redenden, Essenden zu. Verlassene, isolierte

Menschen bewachen hier – ich weiß nicht, was. Vielleicht

wird eines Tages der säkularisierte jüdische Staat der jüdischen

Lebensform, der archaischen, der Galut, der Lebensform des

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mittelalterlichen europäischen Judentums, den Todesstoß

versetzen. Appelfeld zeigt mir das Fenster jenes Zimmers, das

er vor dreißig Jahren bewohnt hat: er war bei einer

fünfköpfigen Familie eingemietet und kam so der orthodoxen

Lebensform nahe – wohl eher der Lebensform als dem

Glauben. Jedenfalls stelle ich mir das so vor, wissen kann ich

es nicht. Ich höre ihm zu und bin verlegen. Ich spüre eine

linkische Schüchternheit unter diesen Menschen – nicht mehr

und nicht weniger übrigens als sonst unter Menschen. Ich bin

ein anderer Jude. Was für einer denn? Ein Keinerlei-Jude.

Schon seit langem suche ich weder Heimat noch Identität. Ich

bin anders als sie, anders als die andern, anders als ich. Bei den

Orthodoxen waren nicht die Orthodoxen das Erlebnis, sondern

Appelfeld. Appelfeld mit seiner kühlen Fremdenführerstimme,

die manchmal jäh versagte, mit seiner Brille, deren Gläser sich

von Zeit zu Zeit trübten, so daß er sie sorgfältig putzen

mußte… Wir übten uns in Kameradschaft und wurden

Freunde; so wie wir uns auch mit Iris Murdoch und John

Bailey befreundeten, diesem wunderbaren alten Paar, das

einem Stück von Beckett entsprungen schien. Wir schlenderten

zusammen auf der Festung Massada umher; Johnny mit seiner

abgetragenen Stoffmütze, unter der sein Haar besenartig

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abstand, in Strickweste und zerschlissenem Sakko, ging bei 37

Grad Celsius unerschütterlich über die glühenden Felspfade,

neben ihm die hitzegerötete Iris, die nur darauf wartete, daß sie

ihr Badekleid aus der Tasche kramen und in irgendein Wasser

springen konnte. Wir unterhielten uns über tiefsinnige Dinge,

ohne daß wir gegenseitig auch nur ein Wort verstanden. –

Später wieder in Tel Aviv, dieser nunmehr vertrauten,

aufregenden Stadt. Mittagessen und Kaffee auf einer Terrasse

im Freien. Dann setze ich mich ans Meeresufer, das Meer ist

meerfarben, heute etwas bewegt, weiße Schaumkronen eilen

auf mich zu, am Horizont die düsterbedrohlichen Umrisse

eines Schiffes, unweit davon ein munteres Segelboot. Morgen

früh fliege ich nach Hause zurück, in Budapest ist angeblich

acht Grad und strömender Regen. Es fällt mir schwer, die

Sonne, das Meer, das Leben zurückzulassen.

_____Auf der Order stand: «Keiner kehrt lebend heim!» – Und

statt diese Menschen mit Respekt und Anteilnahme zu

behandeln, schlugen und stießen sie sie, waren grausam zu

ihnen.

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Ferenc Herczeg, einstmaliger Literaturpapst, über seinen

Verleger (István Farkas, den Sohn von József Wolfner): «Nach

dem Tod seines Vaters mußte István Farkas Paris, wo er als

Maler ernsthaft Erfolg hatte, verlassen; er kehrte nach

Budapest zurück und übernahm die Leitung des Verlags.

Obwohl er sich gegen seinen Willen in den Direktorensessel

setzte, entpuppte er sich zu aller Erstaunen als ausgezeichneter

Verleger. Doch wurde ihm Budapest zum Verhängnis: zur Zeit

der Pfeilkreuzler kamen er und seine Frau tragisch ums Leben.

Wenn wir einbeziehen (sic!), daß ein Bruder jung Selbstmord

beging und die Mutter in einer Irrenanstalt starb, müssen wir

feststellen, daß diese Familie recht eigentlich vom Schicksal

verfolgt war» (Ferenc Herczeg: Húvósvólgy, S. 176). Mit

«ernsthaft Erfolg hatte» ist gemeint, daß István Farkas eine der

großen Gestalten der zeitgenössischen Malerei war; mit

«tragisch ums Leben kam», daß er in Auschwitz ermordet

wurde. (Im übrigen ist auch «die Zeit der Pfeilkreuzler» eine

Verfälschung: István Farkas wurde angezeigt, interniert und im

Juni 1944, also zur Zeit der deutschen Okkupation, doch unter

der kontinuierlichen, legitimen ungarischen Regierung, nach

Auschwitz deportiert – wie eine halbe Million weiterer Juden.)

Man darf jedoch nicht vergessen, daß der Wolfner-Verlag mit

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Vorliebe solch mittelmäßige, als politisches Sprachrohr

dienende offizielle Autoren herausgab, wie F. H. einer war –

warum, das interpretiert Herczeg selbst folgendermaßen:

«József Wolfner war ein einfaches Gemüt, doch gleichzeitig

ein genialer Geschäftsmann, der ein ausgezeichnetes Gespür

bei der Beurteilung literarischer Werke hatte. Er erriet immer,

was das Publikum brauchte. Die Leser seiner Bücher und

Zeitschriften rekrutierten sich aus den Kreisen der damals noch

mächtigen christlichen Mittelschicht. Obwohl er selber Jude

war, gab er den christlichen Schriftstellern eindeutig den

Vorzug» (Húvósvólgy, S. 175). Wäre der Verfasser – Ferenc

Herczeg – nicht so unbedarft, könnte man aus diesem

mörderisch dummen Lob das ganze sogenannte ungarische

Verhängnis herauslesen, das eher als radikaler Mangel an

gesellschaftlicher Solidarität zu bezeichnen wäre. Wohin ist

diese assimilierte jüdische obere Mittelschicht, die ihre eigene

Vernichtung mit solch streberhaftem Eifer betrieb,

verschwunden? Wolfner starb im eigenen Bett, doch seine

Nachfahren wurden verfolgt oder umgebracht, die

wunderbaren Bilder seines Sohnes István Farkas wurden später

aus dem Kulturleben des ungarischen «Proletarierstaates»

verbannt, so wie schließlich auch Ferenc Herczeg von der

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sogenannten sozialistischen Kulturpolitik zum Schweigen

gebracht wurde. Die Wahrheitsmaschinerie der Totalitarismen

ist wie ein Fleischwolf ununterbrochen in Betrieb. Was Ferenc

Herczeg, diese repräsentative Gestalt der sogenannten

ungarischen christlichen Mittelschicht betrifft, so könnte seine

heuchlerische Jovialität in bezug auf die Judenvernichtung in

Ungarn für die Zukunft – beziehungsweise für die Gegenwart

– beispielhaft werden, zeigt sie doch den tölpelhaften

Antisemiten, wie man das Thema Auschwitz in weißen

Handschuhen und mit abgespreiztem kleinem Finger

anzufassen hat…

Große Dinge werden angemessen nur in großen Epochen

erlebt; denn eine Epoche ist gerade dadurch groß, daß in ihr

großer Stil herrscht.

Der «moderne» Stil ist nicht jung, sondern alt. Nicht Anfang,

sondern Ende. Nehmen wir zum Beispiel Duchamp, der vom

perfekten Porträt zur perfekten Abstraktion gelangte und – in

seinem vorletzten Bild – zur Synthese. Die Kunst ist

diesbezüglich wie ein Embryo: bevor er zur Welt kommt, muß

er sämtliche Entwicklungsstadien durchlaufen.

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Mit den Visionen, großen Erkenntnissen und inneren

Erlebnissen, wie sie mir noch vor vier, fünf Jahren zuteil

wurden, ist es offenbar zu Ende; wenn jedoch der Verstand die

Stelle des Seelenlebens einnimmt, beginnt jener Niedergang,

dem schließlich auch der Verstand zum Opfer fällt.

Nichts ist vollkommen, nicht einmal die Vollkommenheit

selbst, weil ihre Verwirklichung nur mit unvollkommenen

Mitteln erfolgen kann.

Melancholie am Fenster: Ich sehe auf der Straße ein

Gewimmel von behaarten, schmutzigen Wichten, die wie

Giftpilze aus dem Boden schießen und sich, auf Beute lauernd,

prekär bewegen, eigengesetzlich, unverständlich, wie die Flora

und Fauna eines fremden Planeten.

Frühmorgens ein leichter Anfall von Angina; aus

körperlichen Gründen verläßt mich die Seele.

Jetzt kommen mir die apokalyptischen Regenfälle dieses

Frühjahrs in den Sinn. Jener bestimmte Punkt auf der

Autobahn zwischen Venedig und Mailand, wo uns, wie ein

schicksalhaftes Rendezvous, täglich ein Wolkenbruch

erwartete. Die Sintflut auf dem Klagenfurter Ring, die

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biblische Dunkelheit am Mittag; hinter der regennassen

Windschutzscheibe M.s ungläubiges, konzentriertes Gesicht,

auf dem sich das rote Bremslicht des dinosauriergroßen

Lastwagens vor uns widerspiegelte. Und jene Wassermasse,

die nicht in Schauern, sondern in zusammenhängenden

Strähnen niederging, in einer reglosen Nebelnacht bei

Nickelsdorf, wo uns der österreichische Zollbeamte

aufforderte, aus dem Schutz des Autos in die strömende Flut

hinauszutreten, nur weil M. einige Meter über die Zollstation

hinausgefahren war. Er selbst stand unter dem Dach derselben,

wippte auf den Stiefelabsätzen, schrie und versperrte uns den

Weg, damit wir möglichst viel Regen abbekamen. Später –

oder vorher? – in Basel, ich renne zur Straßenbahn, der Regen

rinnt mir über den Nacken in die Kleider, in meinen Schuhen

gluckert das Wasser. – Das überwältigend reiche Basler

Kunstmuseum; vor dem Theater ein Brunnen mit Mobile,

kataton oder manisch sich bewegende wasserspeiende,

wasserschluckende, wassermessende, wassergießende, im

Wasser sich drehende Apparate, ein niederschmetternder

Anblick; das Restaurant mit Rheinterrasse, der geschickt

kaschierte Hedonismus, der bedrohliche Reichtum. Dieser

Reichtum – das sieht man auf Schritt und Tritt – wird sich

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verteidigen. Die kunterbunte rempelnde Menschenmenge um

mich herum wird ihn verteidigen, weil sie nur so in den Genuß

der von ihm fallen gelassenen Brosamen kommen kann –

herbeigeströmte Nomaden, deren Präsenz in dieser

zurückhaltend-eleganten Stadt unterschwellig überall spürbar

ist, wie die von Algen unter einem glitzernden Wasserspiegel.

Ein Brief von Cioran an Dieter Schlesak gerät mir in die

Hände: «Für den Westen ist der Tag unvermeidlich, da seine

Fremdarbeiter über ihn herrschen werden. Die Zukunft gehört

immer den Sklaven und den Einwanderern…» Ganz

Westeuropa hat sich auf Verteidigung eingestellt, mit seinen

nach Osten vorgeschobenen Wachposten, den Österreichern.

Aber nie taucht die Frage auf, was es denn außer Geld noch zu

verteidigen gebe (etwa die westliche Kultur, die schon lange

nicht mehr existiert?); auch schaden die Methoden der

Verteidigung den Überresten der westlichen Demokratie mehr,

als daß sie ihr wirksamen Schutz bieten. Westeuropas

klaustrophobische Angst läßt Adolf Hitler wiederauferstehen,

mithin den Superioritätswahn der Inferioren. Wieder werden

die Besitzer von Geld und Macht, um zu retten, was es zu

retten gibt, die vollkommene Zerstörung der Gesellschaft

billigen und schließlich um den Preis eines neuen

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Totalitarismus sowie neuer gesellschaftlicher Katastrophen

davonkommen; doch was für ein Davonkommen, was für ein

Totalitarismus wird das sein? Wer wird behaupten können,

diese drohenden Ideologien verfügten über ein Ideal, über

etwas, das nicht bereits ausprobiert, nicht bereits durchgespielt

worden wäre? Es fällt mir eine (diesmal trockene und milde)

Nacht in Solothurn ein, die zufällige Begegnung mit einem

Schweizer Schriftsteller; er führte mich über einen

märchenhaften Platz in eine märchenhafte Kneipe und erklärte

mir in dieser märchenhaften Sieben-Zwerge-Umgebung mit

vor Beschwipstheit leicht schiefem Mund und mit

angsterfüllten Augen, daß bald der Faschismus siegen und

überall regieren würde, doch käme er diesmal nicht aus

Deutschland… Etwa eine halbe Stunde lang sprach er so, tief

verbittert, und ich teilte seine Meinung voll und ganz. Dann

machten wir, eine Gruppe von vier nomadischen

Schriftstellern, einen ausgedehnten Spaziergang in der lauen

Nacht, zwischen Solothurns unwahrscheinlichen Kulissen, was

den Schweizer endgültig aufbrachte: Hinter den Fassaden

dieser mittelalterlichen, barocken und Rokoko-Häuschen

wohne niemand, erklärte er, weil die Wohnungen unbezahlbar

seien, hier gebe es nur Büros, Banken, Vertretungen von

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millionenschweren Firmen… Ich hatte den Eindruck, die Welt

sieche bereits in Lüge dahin, sie warte nur noch auf den

Gnadenstoß, den sie jedoch durch Bestechung mittels

gigantischer Geldwäsche und durch verworrene Gesten und

Reden im letzten Augenblick abgewendet habe

beziehungsweise ständig hinauszögere. Aber wenn sie einmal,

ein einziges Mal nicht mehr zahlen kann…

K. der Schriftsteller, sagt folgendes: «Wovon bin ich

ausgegangen? Ich weiß es nicht. Unsere Existenz ist eine solch

gravierende Tatsache, daß wir ihr nicht nur nicht ins Auge

sehen wollen, sondern vermutlich auch nicht können. Mal

respektvoll, mal lachend, mal erschüttert, mal – ich gestehe es

– leicht verständnislos bewundere ich unsere Unwissenheit,

Zerbrechlichkeit, Hinfälligkeit sowie unseren unbegreiflichen

Mut (oder ist es Ohnmacht?), uns überhaupt zum Leben zu

erkühnen…»

Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: «Mein Leben, meine

sogenannte ‹Laufbahn› funktionierten nur beziehungsweise

kamen nur in Schwung, indem ich mich zu einem andern

machte, als ich bin (obwohl ich natürlich nicht weiß, wer ich

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bin – und statt ‹obwohl› müßte hier eher weil stehen). Nie

vermochte ich mit meiner Lage, mit meinem wirklichen Leben

identisch zu sein – und hier wäre hinter ‹wirklich› ein großes

Fragezeichen zu setzen, denn die Tatsache, daß ich mich zu

einem andern machte, mithin meine Phantasie und meine

Kreativität ja ebenfalls ‹wirklich› waren, ‹wirklicher› sogar als

die Wirklichkeit, schufen sie doch ihrerseits Wirklichkeit.»

Hier machte er wieder eine Pause, bevor er so schloß: «Ja,

mein Freiheitsdrang erwies sich oft als stärker als die

sogenannten realen Verhältnisse, und daß er schließlich die

Oberhand gewann, ist natürlich vor allem glücklichen

Umständen, doch nicht minder dem Wesen dieser Verhältnisse

zuzuschreiben: es scheint, daß Energien wie der Freiheitsdrang

nicht weniger Realien sind als die ihnen gegenüberstehende

Wirklichkeit selbst.»

Jetzt verstummte er, sichtlich erfüllt von dem, was er am

Anfang «die gravierende Tatsache unserer Existenz» genannt

hatte, so daß ich ihn diesmal nicht mit Einwänden belästigen

wollte (obwohl ich einige parat habe).

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_____«In einem Tag kann man die Schrecken der Hölle

erleben; es ist reichlich Zeit dazu.» (Wittgenstein)

Ich habe sie in einer halben Stunde erlebt.

Und A., meine arme Frau?

Wir saßen im Vorraum des «Computertomographie-Labors».

Es war der 1. August, schreckliche Hitze. Wir warteten

stundenlang, und ich versuchte unter Aufbietung all meiner

körperlichen und seelischen Kräfte, an diesem

außergewöhnlichen Ort, in dessen dicker Luft das Unglück

gleichsam zu greifen war, eine gewisse Alltäglichkeit oder

beruhigende Banalität herzustellen und aufrechtzuerhalten.

Nachdem man A. zur Schädeldurchleuchtung zitiert hatte,

mußten wir nicht einmal zehn Minuten auf das Urteil warten.

In einem verdächtigen Nebenzimmer teilte mir ein junger

blonder Arzt mit Brille, über ein Papier gebeugt, furchtbare

Dinge mit – eilig, sachlich, unwiderruflich.

Ich taumelte nach Hause, um zusammenzupacken, was ein

Menschenwesen auf der letzten Etappe seines Erdenwandels

braucht: Nachthemd, Zahnbürste, Pantoffeln…

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In diesen Wochen mache ich ununterbrochen Notizen über die

Verhältnisse, in denen ich lebe, wobei diese Notizen in keiner

Weise den Verhältnissen gleichen, in denen ich lebe.

Nie werde ich erfahren, wie ich das Grauen von A.s Agonie

durchgestanden habe, so wie ich – letzten Endes – nie etwas

Wesentliches über mich erfahren kann. Meine Gegenwart ist

jetzt schon eine meinen Erinnerungen zugedachte Zeit, eine

Zukunft, in der ich über meine gegenwärtige Gegenwart

urteilen muß; also dringt offenbar in all meine Gedanken und

Taten, wie ein heimtückisches Gift, etwas Verfälschendes ein.

Zu registrieren bleibt: der minütliche Verrat am Lebendigen,

die wohlbekannte und unüberwindliche Schande der

Selbsterhaltung. Früher oder später findet sich der Mensch in

der Lage, daß er einen Kampf ums Überleben ficht, um ein

Überleben, das vom Chaos des Sterbenden verschlungen zu

werden droht. Zuerst erfahren wir, die von uns geliebte Person

sei todkrank, dann gewöhnen wir uns an den Gedanken, finden

uns damit ab und überlassen sie den Fachleuten. In gewisser

Weise werden wir zu Mördern, und nur wenigen gelingt es,

dies zu vermeiden, vielleicht den Einsamen, den

Alleinstehenden. Aber auch diese hatten vielleicht einmal

einen Vater oder eine Mutter, die unter dem Mülleimerdeckel

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hervor zu ihnen sprach. Hierzu ist zu sagen, daß Situationen,

die eine solche Praxis, und eine Praxis, die solche Gedanken

hervorbringt, typisch für die moderne Lebensweise sind. Der

Tod – genauer das Sterben – waren auch früher ein Problem,

doch ein sozusagen natürliches Problem. Die modernen Zeiten

reimen sich irgendwie immer auf Auschwitz; immer ist

Auschwitz in ihnen präsent.

Eines Tages werde ich erkennen, daß dieser Tod auch der

Anfang meines Todes war. Ich überquere eine Straße, die eher

in die Szenerie der äußeren Ferencvaros passen würde, zufällig

aber in der Umgebung der Oper liegt und die Andrássy- mit

der Király-Straße verbindet: die Pál-Vasváry-Straße – dort, vor

einem verwitterten, baufälligen Haus, das gleichsam aus allen

Wunden seines vernachlässigten alten Körpers blutet, staut

sich plötzlich die Zeit, kehren die Anfänge zurück… Oben im

ersten Stock war jenes «überaus unwirtliche Untermietzimmer,

das ein eiskalter Abort auf dem Außengang besonders

denkwürdig machte» – wie ich achtunddreißig Jahre später,

das heißt vor vier Jahren, in meiner Erzählung Die englische

Flagge schrieb. Es war Winter, der grausame Winter 1953/54.

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Wie soll ich unser damaliges Leben charakterisieren, jene

Stimmung, jenen Zustand allgemeinen Vertrauensverlustes?

Jene vollkommen unwirkliche oder besser unwahrscheinliche

Realität? Wir lernten uns am Abend des 14. September 1953 in

einer Espresso-Bar kennen und verbrachten die Nacht in

meinem Zimmer an der Logodi-Straße… Ich war

vierundzwanzig, sie dreiunddreißig. Ich kam aus den

nazistischen Konzentrationslagern, direkt von der

«Endlösung»

, und aus den trostlosen Tiefen der harten

«fünfziger Jahre» – und obwohl es nach außen nicht sichtbar

war, wirkte das alles eher inspirierend als vernichtend auf

mich. Auch sie kam aus dem Krieg, als Flüchtling, ihre

Familie war ausgerottet, der Familienbesitz – das Erbe –

zerstreut worden, sie mußte von vorne anfangen, ihr Mann

wurde zu Beginn der Schauprozesse inhaftiert, sein Geld, seine

Habe wurden beschlagnahmt, sie mußte von vorne anfangen,

schließlich wurde sie selber verhaftet, war ein Jahr lang in

Gefängnissen und Internierungslagern – das alles brach ihren

Willen, höhlte ihr Selbstvertrauen aus. Jede Wahl, so auch ich,

insbesondere ich, war für sie eine Selbstbestrafung wegen

eines mystischen Vergehens, dessen sie sich nie schuldig

Im Original deutsch

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gemacht hatte. Unser Gefängnisleben setzten wir fort, doch

nun zu zweit, denn wir kannten nichts außer Gefängnissen,

waren nur in Gefängnissen heimisch. Wir fanden und

erkannten einander, wie dies in Gefängnissen geschieht: unsere

Beziehung war eine Gefängnis-Solidarität, ein aussichtsloses,

hart geprüftes Aufeinanderangewiesensein. Aber dies ist bloß

Beschreibung, Formulierung, Deutung, und jede Deutung ist

zwangsläufig auf eine dritte Dimension ausgerichtet; das

unaussprechliche Geheimnis zwischen zwei Menschen, deren

einzigartige, geschlossene Welt entzieht sich ihr. Mit

einemmal werde ich mir bewußt, daß diese Welt nicht mehr

existiert, daß ich nur noch Erinnerungen an sie habe. Und diese

Erinnerungen sind meine Erinnerungen, keine zweite

Dimension, kein Beweis vermag sie zu bekräftigen: vielleicht

stimmt es gar nicht, daß ich gelebt habe, vielleicht stimmt gar

nichts. Sie ist gegangen und hat den größten Teil meines

Lebens mitgenommen – die Zeit, als mein Schaffen anfing und

sich erfüllte und wir uns – in unserer unglücklichen Ehe – so

innig liebten. Unsere Liebe war wie ein taubstummes Kind,

das mit ausgebreiteten Armen und lachendem Gesicht

dahinrennt, dessen Mund sich aber langsam zu einem Weinen

verzieht, weil keiner es versteht und weil es kein Ziel sieht.

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Mir wird fast schwindlig angesichts der Gewißheit, daß die

Vergangenheit in einem einzigen Moment zu dem wird, was

ihr Name besagt: vergangen, zu einem verlassenen Depot von

alten Dingen, Erlebnissen, Klängen und Bildern, die längst

losgelöst sind von ihrem lebendigen Ursprung, vom Leben, das

sie einst hervorgebracht und eine Zeitlang intakt behalten hat.

Meine Geschichte ist von mir abgefallen: mich erfaßt eine jähe

Gleichgewichtsstörung, als hätte ich mich verirrt und wäre

zwischen Vergangenheit und Zukunft aus der Zeit

herausgeglitten. Irgendwann einmal werde ich mich von

diesem Zusammenbruch erholen, werde der beharrlichen

Stimme folgen, die mich hinter meinem grauen Nebel hervor

zurück ins Leben ruft. Im Augenblick aber stehe ich,

unwissend und verständnislos, gleichsam auf der Schwelle

zwischen Leben und Tod, mein Körper strebt Richtung Tod,

mein Kopf dreht sich zum Leben um, mein Fuß holt

unschlüssig zu einem Schritt aus. Einem Schritt wohin? Egal,

denn wer den Schritt tut, bin schon nicht mehr ich, das ist ein

anderer…


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