Stadtarchiv
und
Stadtgeschichte
Forschungen und Innovationen
Festschrift für Fritz Mayrhofer
zur Vollendung seines 60. Lebensjahres
L i n z 2 0 0 4
A r c h i v d e r S t a d t L i n z
H I S T O R I S C H E S
J A H R B U C H
D E R
S T A D T L I N Z
2 0 0 3 / 2 0 0 4
HERAUSGEGEBEN
VON
WALTER SCHUSTER,
MAXIMILIAN SCHIMBÖCK
UND
ANNELIESE SCHWEIGER
Umschlaggestaltung: Walter Litzlbauer
Porträtfoto Fritz Mayrhofer: Maximilian Schimböck
Für den Inhalt der Abhandlungen sind ausschließlich die
AutorInnen verantwortlich.
Der teilweise oder vollständige Abdruck von Arbeiten
aus der vorliegenden Publikation ist nur mit Bewilligung
der HerausgeberInnen nach Genehmigung der AutorInnen gestattet.
ISBN 3-900388-56-3
Medieninhaber: Archiv der Stadt Linz,
Hauptstraße 1–5, 4041 Linz
Hersteller: Trauner Druck, Linz
INHALT
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Vorwort des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Vorwort des Kulturreferenten der Landeshauptstadt Linz . . . . . . . . . . . . . . .
21
Vorwort von Herausgeberin und Herausgebern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
A
R C H I V T H E O R I E U N D
A
R C H I V M A N A G E M E N T
Erich Wolny:
Zeitgemäße Leitung des Stadtarchivs – verlangt sie
eine neue Sicht der Funktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Wilhelm Rausch:
„Vor fünfzig Jahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Lorenz Mikoletzky:
Wozu ein Archiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Peter Csendes:
Metaphern für Archive – das Archiv als Metapher? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
Walter Schuster:
Zur Strategie für Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Ferdinand Opll:
Öffentlichkeitsarbeit in Kommunalarchiven
Überlegungen am Beispiel des Wiener Stadt- und Landesarchivs . . . . . . . .
73
Lukas Morscher:
Zukunft der Archive – Archive der Zukunft
Vorschläge für ein zukünftiges Marketing von Archiven . . . . . . . . . . . . . . .
95
Gerhart Marckhgott:
Paradigmenwechsel
Das Oberösterreichische Landesarchiv vor der „digitalen Revolution“ . . .
109
Josef Riegler:
Digitalisierung mittelalterlicher Urkunden – Aspekte der
Medienkonvertierung im Steiermärkischen Landesarchiv . . . . . . . . . . . .
119
Maximilian Schimböck:
Kommunalarchive als Dienstleistungsbetriebe
Das Beispiel Linz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Werner Matt:
„Linz als das pulsierende Herz der Kommunalarchivare“
Fritz Mayrhofer und der Arbeitskreis der Kommunalarchivare
Österreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
Siegfried Haider:
Das Oberösterreichische Archivgesetz in seinen Auswirkungen
auf die Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147
Thomas Klagian:
Die Abenteuer eines jungen Archivars in Bregenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Hans Eugen Specker:
Arbeitsgemeinschaften zum Erfahrungsaustausch und als
Interessenvertretung von Kommunalarchiven in Deutschland . . . . . . . . .
165
Josef Nössing:
Gemeindearchive in Südtirol
Zur Geschichte der Gemeindearchive in Südtirol sowie
deren Erhaltung und Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
( S
T A D T
)
G E S C H I C H T S F O R S C H U N G
–
T
H E O R I E U N D
P
R O J E K T E
Wilfried Ehbrecht:
30 Jahre Westfälischer Städteatlas
Ein regionaler historischer Städteatlas im Kontext
europäischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Gabriella Hauch:
„Zukunft heißt erinnern“
Zur Genese der historischen Frauenforschung im gesellschaftlichen
und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
8
Peter Johanek:
Stadt und Zisterzienserinnenkonvent
Ausblick auf ein Forschungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
Anton Eggendorfer:
Fünf Jahre Projekt „Netzwerk Geschichte“ in Niederösterreich
Eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
Georg Heilingsetzer:
Alfred Hoffmann und die Stadtgeschichte
Bemerkungen anlässlich des 100. Geburtstages des Archivars,
Historikers und Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Helmut Konrad:
Universitäten in Bewegung: Zur Dynamisierung des Bildungssystems . .
253
Q
U E L L E N
Walter Asper nig:
Grundlagenforschung und Stadtgeschichte in Oberösterreich:
Anmerkungen zur Edition der „Quellen zur Geschichte von Wels“ . . . . .
265
Leopold Auer:
Materialien zur Linzer Stadtgeschichte im Haus-, Hof- und Staatsarchiv . .
273
Fritz Koller:
Die „Linzer Akten“ im Salzburger Landesarchiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
279
Johannes Seidl:
Von der Immatrikulation zur Promotion
Ausgewählte Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts zur biographischen
Erforschung von Studierenden der Philosophischen Fakultät
aus den Beständen des Archivs der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . .
289
Brigitte Kepplinger:
Fürsorgeakten als historische Quelle
Die Betreuungsakten des Linzer Jugendamtes (1918–1950) . . . . . . . . . . .
303
9
L
I N Z E R
S
T A D T G E S C H I C H T E
Erwin M. Ruprechtsberger – Otto H. Urban:
Eine bronzene Schwertklinge vom Luftenberg – Zur Spätbronzezeit
im Linzer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313
Willibald Katzinger:
Linz ohne Phantomzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327
Anneliese Schweiger:
Weinbau im alten Linz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
Georg Wacha:
Albrecht Dürer in Linz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349
Herta Hageneder:
Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation in Linz . . . . . . . . . . . .
355
Rainer F. Schraml:
Bernhard Weidner (1640–1709)
Ein Linzer Schusterssohn als Abt des Zisterzienserstiftes Wilhering
in Oberösterreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Alfred Og ris:
Die Linzer Wollzeugfabrik und die Orientalische Kompanie:
Reaktionen in Kärnten (1725/26) auf eine Privilegierung . . . . . . . . . . . . .
375
Gerhard Winkler:
Johann Puchner und seine Weltsprache Nuove-Roman . . . . . . . . . . . . . . .
387
Wieland Mittmannsg r uber:
Bürger der Stadt Linz
Erwerb, Inhalt und Verlust des Gemeindebürgerrechts
im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
395
Monika Wür thinger:
Gruß aus Linz
Correspondenzkarten dokumentieren Bau des Neuen Domes . . . . . . . . .
411
Rudolf Zinnhobler:
Franz Sales Maria Doppelbauer
Korrekturen zu einem Bischofsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
427
Emil Puffer:
Hans Rösler – der letzte Stadtamtsleiter von Urfahr . . . . . . . . . . . . . . . . .
441
10
Oskar Dohle:
Geld für den Krieg
Die Kriegsanleihe-Zeichnungen der Städte Linz und Urfahr
im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
Andrea Kammerhofer:
„Lebende Bilder“ in Linz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
475
Harry Slapnicka:
Knapp über der Wahrnehmungsgrenze
Oberösterreichs Gauleiter der DNSAP fast so bedeutungslos
wie die Partei selbst – weit über Hitlers Machtübernahme
vom Jahre 1926 hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
491
Kurt Tweraser:
Wirtschaftspolitik zwischen „Führerstaat“ und „Gaupartikularismus“
Eigruber und Hinterleitner: Der „Gaufürst“ und sein Wirtschaftsberater . .
499
Birgit Kirchmayr:
Der Briefwechsel August Zöhrer – Elise Posse im Archiv der Stadt Linz
Eine „Fußnote“ zur Geschichte des „Linzer Führermuseums“ . . . . . . . . .
515
Hermann Rafetseder:
Das „KZ der Linzer Gestapo“
Neue Quellen im Rahmen des Österreichischen Versöhnungsfonds
zum „Arbeitserziehungslager“ Schörgenhub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
523
Michael John:
Maghrebinien in Linz
Beobachtungen über eine verborgene Seite der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . .
541
Winfried R. Garscha – Claudia Kuretsidis-Haider:
„Traurige Helden der Inneren Front“
Die Linzer Tagespresse und die Anfänge der gerichtlichen Ahndung
von NS-Verbrechen in Oberösterreich 1945/46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
561
Helmut Fiereder:
Die Wiederbegründung der jüdischen Gemeinde von Linz 1945–1948 . .
583
Johannes Ebner:
Im Boot des Bischofs Franz S. Zauner
„Porträts“ der Bistumsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
595
Siegbert Janko:
Linz – Von der Stahlstadt zur Kulturstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
607
11
A
L L G E M E I N E
G
E S C H I C H T E U N D
S
T A D T G E S C H I C H T E
Karl Vocelka:
Vom himmlischen Jerusalem bis Brasilia
Zur utopischen Stadt in der Geschichte der Menschheit . . . . . . . . . . . . . .
625
Herwig Wolfram:
Die Stadt der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
635
Georg Scheibelreiter:
Der König verlässt die Stadt
Überlegungen zur räumlichen Veränderung der Herrschaft
im 7. und 8. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
641
Walter Br unner:
Neues und Interessantes zur Frühgeschichte der Stadt Graz . . . . . . . . . . .
657
Alois Niederstätter:
Die Städte der Grafen von Montfort und von Werdenberg
Ein strukturgeschichtlicher Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
677
Hannes Ober mair:
Vormoderne Übergangsregion?
Die Städtelandschaft im Raum Trient-Bozen im Hoch- und
Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
697
Susanne Claudine Pils:
Wem gehört die Stadt?
Von der Nutzung des städtischen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
711
Heinrich Koller:
Stadt und Staat
Das Hauptstadtproblem unter Kaiser Friedrich III. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
719
Rudolf Kropf:
Die spätmittelalterliche Gründung einer Kleinstadt im westungarisch-
österreichischen Grenzraum (Stadtschlaining) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
739
Roman Sandg r uber:
Die Grenzen der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
749
Kurt Mühlberger:
Bemerkungen zum Wiener Poetenkolleg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
763
12
Franz-Heinz Hye:
Ein unbekanntes, spätes Dokument – vom 11. Juni 1646 – zur
Geschichte des Bauernaufstandes des Stefan Fadinger von 1626 . . . . . . .
779
Helmut Kretschmer:
Zur Geschichte des Wiener Mozart-Denkmals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
785
Johann Seedoch:
Eingemeindungen im Stadtgebiet von Eisenstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
797
Helmut Lackner:
Ein „blutiges Geschäft“ – Zur Geschichte kommunaler Vieh-
und Schlachthöfe
Ein Beitrag zur historischen Städtetechnik am Beispiel Österreich . . . . .
805
Wolfgang Mader thaner:
Pathologie der Großstadt – Geschichten um den Praterstern . . . . . . . . . .
829
Evan Burr Bukey:
Ein bitterer Triumph: Die Kampfmoral der deutschen
Zivilbevölkerung 1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
839
Wolfgang Weber:
Gibraltar liegt in Jamaika
Zur Geschichte des Internierungslagers Gibraltar
in Kingston 1940–1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
863
Wolfgang Neugebauer – Herwig Czech:
Medizin und Gedächtnis
Zum Umgang mit den NS-Medizinverbrechen in Österreich nach 1945 . .
873
Publikationen von Fritz Mayrhofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
885
Verwendete Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
891
13
H
ERWIG
W
OLFRAM
DIE STADT DER FRAUEN
Der Jubilar hat sein Lebenswerk der Stadtgeschichtsforschung in ihrer ganzen
Breite gewidmet und dabei so gut wie keinen weißen Fleck stehen lassen. Er
wird jedoch bei seiner so erfolgreichen Arbeit kaum auf die „Stadt der Frauen“
gestoßen sein, was man ihm freilich nicht verübeln kann. Der Letzte, der
angeblich genaue Kenntnis von der geographischen Lage der Amazonenstadt
besaß, lebte nämlich vor mehr als 1000 Jahren und war kein geringerer als Otto
der Große. Um 968, zur Zeit der Gründung des Erzbistums Magdeburg, dessen
erster Erzbischof Adalbert 962 als erfolgloser Missionar von der Kiever Rus’
zurückgekehrt war, bereiste Ibrahim ibn Jakub, ein Kaufmann spanisch-
jüdischer Herkunft, Ostmitteleuropa und hat auf seiner intensiven Wanderschaft
auch den Kaiser persönlich getroffen. Dabei teilte ihm Otto der Große vertrau-
lich mit, westlich der Kiever Rus’ liege die Stadt der Frauen.
1
Woher der Kaiser
dieses Wissen hatte, ist selbstverständlich nicht mit Sicherheit zu sagen. Aller-
dings galt Otto der Zeit als Herr der Sclavinia, die bekanntlich die größte Provinz
der Germania war, bis über die Oder nach Byzanz reichte, Kiev jedoch
aussparte.
2
Daher schrieb Adam von Bremen etwa 100 Jahre später von Kiev als
der Konkurrentin, „aemula“, Konstantinopels und nannte nicht letztere, sondern
die Stadt am Dnjepr eine herrliche Zierde Griechenlands.
3
Über die Kiever Rus’
regierte ab 945 zwei Jahrzehnte lang die mächtige Fürstin Olga, deren Gesandte
Otto 959 in Frankfurt am Main empfangen hatte. Olgas Residenz lag aber nicht
in Kiev, sondern im heute ukrainischen Vysˇgorod.
4
Versucht man alle diese
Nachrichten auf einen Nenner zu bringen, könnte man sich vorstellen, wie Otto
der Große und seine Umgebung auf die Idee kamen, im Osten des angenomme-
635
1
Georg Jacob, Arabische Berichte von Gesandten an germanische Fürstenhöfe aus dem 9. und 10. Jahr-
hundert (Quellen zur deutschen Volkskunde 1). Berlin-Leipzig 1927, 11–15, bes. 14; Christian
Lübke, Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder (vom Jahr 900 an). Bd. 2, n. 139; H.
Rüß, Olga. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Bd. 22. Göttingen
2
2003, 90;
Adalbert, Continuatio Reginonis. Hrsg. und übers. von Adalbert Bauer und Reinhold Rau. In: Quel-
len zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des
Mittelalters 8). Darmstadt
2
1997, a. 962.
2
Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum. Hrsg. von Bernhard Schmeidler
(MGH SS 7 rerum Germanicarum in usum scolarum 2). Hannover-Leipzig
3
1917 (Nachdruck
Hannover 1993), II 21 (18) bis 23.
3
Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum (wie Anm. 2), II 22.
4
Adalbert, Continuatio Reginonis (wie Anm. 1), a. 959; Rüß, Olga (wie Anm. 1) 88 ff.
5
Otta Wenskus, Amazonen zwischen Mythos und Ethnographie. Das Geschlecht, das sich (un)eins ist?
Innsbruck 1999, 63 ff; Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten
Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. München
4
2001, 39 und 550, s. v. Amazonen;
Patrick J. Geary, Woman at the Beginning. Four Essays on Medieval Imagination (in Vorbereitung), II
Anm. 11.
6
Walter Pohl, Gender and ethnicity in the early middle ages. Gender and the Transformation of the
Roman world. Hrsg. von Leslie Brubaker und Julia Smith. Cambridge 2004 (im Druck), Anm. 58 f.
7
Herwig Wolfram, Origo gentis. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 22. Göttin-
gen
2
2003, 175.
8
Wolfram, Goten (wie Anm. 5), 394 f., Anm. 55; Geary, Four Essays (wie Anm. 5), II Anm. 10 ff.
nen eigenen kaiserlichen Herrschaftsgebiets und damit westlich von Kiev liege
die Stadt der Frauen.
Warum aber stellte sich die Assoziation zwischen der Sclavinia und den
Amazonen so leicht ein? Die Slawen lebten dort, wo die antike Ethnographie die
Skythen angesiedelt hatte. Grund genug die Slawen wie Goten, Vandalen,
Hunnen und Awaren als Skythen zu verstehen. Zu diesen zählten aber auch
allerlei periphere und höchst gefährliche Ostvölker, wie etwa die biblischen Gog
und Magog, aber eben auch die antiken Amazonen.
5
Kriegerinnen sind der
Inbegriff einer verkehrten Welt der Männer. Das gleiche gilt von Herakles, der
als weiblicher und weibischer Sklave an Omphale verkauft wurde und mit dem
Spinnrocken hantierte, während seine Herrin das Löwenfell und die Keule trug.
Die verkehrte Welt lag am Rande der Erde. Daher verdankt noch heute der
größte Strom seinen Namen der bis in die Neuzeit nicht aufgegebenen Suche
nach den kriegerischen „Busenlosen“.
6
Die Suche nach ihnen und ihren Sitzen
ist zugleich Teil der Suche nach den eigenen Ursprüngen der westlichen Völker.
Die Geschichte der Herkunft diente jedoch nicht nur der Legitimation und Be-
stätigung des Herrschaftsanspruchs der „reges et gentes“, die Ursprünge sind
auch im dialektischen Sinne aufzuheben, um allgemeine, bis je in eine Gegen-
wart reichende und diese motivierende Geschichte, „historia“, werden zu kön-
nen. Oder mit anderen Worten, um nach Ausschaltung der verkehrten, barbari-
schen Welt Kultur und Zivilisation entstehen zu lassen.
7
So trifft im 8. und 11.
Buch der Aeneis der Held wie selbstverständlich auf eine königliche Amazone
namens Camilla – Namensgleichheit mit noch lebenden Personen ist rein
zufällig – und muss sie bezwingen, ja sie – wie weiland Achill die Amazonenkö-
nigin Penthesileia – sogar höchst widerwillig töten, bevor die Ethnogenese von
zugewanderten Trojanern und Einheimischen erfolgreich beginnen kann. Die für
ihre Fabelgeschichten bekannten Scriptores historiae Augustae erzählen von
einem Triumphzug Kaiser Aurelians, in dem auch zehn gotische Frauen mitmar-
schiert seien, denen eine Tafel mit der Aufschrift „Amazonen“ voran getragen
wurde. Die gotischen Kriegerinnen seien die Überlebenden einer ganzen Ab-
teilung von Frauen gewesen, die gemeinsam mit ihren Männern gegen die
Römer gekämpft hätten und dabei gefangen wurden.
8
Cassiodor bedachte zwar
Herwig Wo l f r a m
636
auch die Herkunft der Goten von Magog, aber nicht weil er wie Isidor von
Sevilla zwischen beiden eine etymologische Beziehung herstellte, sondern weil
er beide für Skythen hielt.
9
Ebenso machte er – wie vor ihm Orosius
10
– die
skythischen Amazonen zu gotischen Kriegerinnen, mit denen Herkules kämpften
musste, die sich mit dem athenischen Sagenkönig Theseus maßen, unter Penthe-
sileia beinahe Troja erobert hätten, den Dianatempel von Ephesus erbauten und
an die 100 Jahre über Asien herrschten.
11
Kurz: Sie waren so tapfer, dass ihnen
die gotische Herkunftsgeschichte – gegen die Grammatik – maskulines Ge-
schlecht zuteilt.
12
Am Beginn der langobardischen Herkunftssage steht die Erzählung von einer
existentiellen Tat von Frauen menschlicher wie göttlicher Herkunft, die sich mit
Mut und List in einer mit geringeren IQ ausgestatteten Männerwelt behaupten.
Dabei sind sie sogar bereit, ihre eigene Überlieferung zum Segen des Volkes zu
opfern. Neben diesem positiven, von aktuellen Königinnen bestimmten Frauen-
bild kennt die Origo gentis Langobardorum auch ein anderes ambivalentes bis
gefährliches Handeln von Frauen.
13
In diesem Bereich dürfen die Amazonen
selbstverständlich nicht fehlen: Lamissio, der „Lehmgeborene“, wird von seiner
Mutter, einer „meretrix“, im Sumpf ausgesetzt, vom König jedoch gefunden und
aufgezogen. „Als später die Amazonen einen Flußübergang sperrten, überwand
Lamissio eine von ihnen im Zweikampf.“
14
Amazonen, Stadt der Frauen und
Wasser wird noch zu bedenken sein. Als Herakles die Amazonenkönigin Hyppo-
lite tötete, Achill die Amazonenkönigin Penthesileia überwand und Camilla auf
Seiten des verräterischen Turnus in der primordialen Schlacht gegen Aeneas fiel,
deutete dies an, dass auch das Zeitalter der Amazonen in einer bestimmten, zur
Historie aufsteigenden Origo zu Ende ging. Noch Cosmas von Prag folgt diesem
Muster, als er am Beginn des 12. Jahrhunderts seine böhmische Chronik schrieb.
Die tschechischen Ursprünge gehen dem Auftreten der Prˇemysliden voraus. Sie
beginnen vielmehr bei den drei zauberkundigen Töchtern des Crocco, deren
jüngste Libusˇe-Libussa heißt und – gleich der biblischen Deborah – eine weise
fürstliche Richterin ist. Die Anhängerinnen Libussas aber gründen die Burg
Devin, die Burg der Mädchen. Nach dem Tod der Fürstin übernimmt nicht bloß
der ihr vom Volk aufgezwungene Gemahl Prˇemysl die Alleinherrschaft, sondern
Die Stadt der Frauen
637
9
Iordanes, Getica. Hrsg. von Theodor Mommsen. (MGH Auctores antiquissimi 5.1). Berlin 1882
(Nachdr. 1982), c. 29.
10
Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos libri VII. Hrsg. von Carl Zangemeister. Leipzig 1889,
I 15 f.
11
Iordanes, Getica (wie Anm. 9), c. 49 ff.
12
Iordanes, Getica (wie Anm. 9), c. 51.
13
Pohl, Gender and ethnicity (wie Anm. 6), Anm. 65 ff und 71 ff. (Königinnen).
14
Paulus Diaconus, Historia Langobardorum. Hrsg. von Georg Waitz (MGH SS rerum Langobardi-
carum). Weimar 1878, Nachdr. 1988, I 8 und II 15; Walter Pohl, Origo gentis. In: Reallexikon der
Germanischen Altertumskunde Bd. 22. Göttingen
2
2003, 183 f.
die jungen Männer erstürmen auch die Mädchenburg, nehmen die Mädchen mit
Gewalt zur Ehe und beenden damit in und für Böhmen das Zeitalter der
Amazonen.
15
So weit, so gut. Alle diese Geschichten sind ethnographische Literatur, mögen
sie auch ethnische Identitäten gestiftet und königliche Herrschaftsansprüche
bestätigt haben. Archäologische Funde lehren jedoch, dass es vor allem reiter-
nomadische Frauengräber mit Waffenbeigaben gibt, und zwar aus vorchristlicher
Zeit ebenso wie noch im awarischen Mitteleuropa.
16
Solange Britannien ein
wildes Land war, gab es dort zahlreiche Kriegerinnen und kriegerische Königin-
nen. Die antike Vorstellung, dass dies ein Zeichen für Mangel an Zivilisation sei,
hat das Mittelalter übernommen. Aber die Königin Boudicca hat es wirklich
gegeben. Das gleiche gilt für folgende Geschichte: Als die Byzantiner im Jahre
626 den awarisch-slawisch-persischen Angriff auf ihre Hauptstadt abwehrten
und die Belagerer unter großen Verlusten abzogen, lagen dort, wo die Slawen mit
ihren Einbäumen angegriffen hatten, unter den Toten zahlreiche Frauen.
17
Der
von Cosmas überlieferte Ortsname Devin an der Moldau ist kein Einzelfall.
Duino am Meer westlich von Triest oder Lengyvár an der Donau unterhalb von
Komorn sind ebenso Mädchenburgen, wie schon eine der wichtigsten mähri-
schen Festungen des 9. Jahrhunderts Dovina (Theben am Zusammenfluß von
March und Donau westlich von Preßburg?), auf lateinisch „Puella“, das jung-
fräuliche Mädchen, hieß.
18
Gleich alt, wenn nicht älter ist das bereits 805
bezeugte Magathaburg-Magdeburg an der Elbe, das – nach Ansicht der philolo-
gischen Fachleute – nicht Maria, sondern nur einer slawischen eher als germani-
schen Göttin nachbenannt sein kann.
19
Alle diese Mädchenburgen liegen an
bedeutenden Gewässern, an Elbe, Moldau und March, an der Donau und selbst
am Meer. Es kann daher nicht heißen, die Literaten von Konstantinopel hätten
tote Amazonen bloß deswegen wahrgenommen, weil sie davon in der Schule
gelernt und bereits in der Ilias vom Kampf des Achilles mit Penthesileia gelesen
hätten, während die einfachen Leute keine toten slawischen Kriegerinnen am
Strand vor ihrer Stadt sahen. Es ist zwar richtig: Die Amazonen und ihre Über-
Herwig Wo l f r a m
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15
Cosmas von Prag, Chronica Boemorum. Hrsg. von Berthold Bretholz (MGH SS rerum Germani-
carum, Nova Series 2). Weimar 1923, Nachdr. 1980, I 3–9; siehe zukünftig Geary, Four Essays (wie
Anm. 5), II Anm. 23 ff.
16
Wenskus, Amazonen (wie Anm. 5), 66; Geary, Four Essays (wie Anm. 5), II Anm. 8 ff.; Pohl, Gender
and Ethnicity (wie Anm. 6), Anm. 55.
17
Walther Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567-822 n. Chr. München
2
2002, 253,
nach Nikephoros, Breviarium Historicum. Hrsg. von Cyril Mango. Washington D.C. 1990, 13.
18
Annales Fuldenses. Hrsg. von Friedrich Kurze und Heinrich Haefele (MGH SS rerum Germani-
carum). 21891, Nachdr. 1993, a. 864 oder hrsg. und übers.von Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen
zur deutschen Geschichte des Mittelalters 7). Darmstadt 1992, 1–77.
19
Capitularia regum Francorum. Hrsg. von Alfred Boretius und Vikor Krause (MGH Capitularia regum
Francorum 1). Hannover 1883, Nachdr. Stuttgart 1984, n. 44; 1, 122–126.
windung sind seit jeher eine, wenn nicht die – nicht erst nach der Annahme des
Christentums – wichtigste Eintrittskarte in die zivilisierte Welt gewesen. Aber
woher kamen dann die zahlreichen slawischen „Magdeburgen“, die auch in die
deutsche wie ungarische Sprache übernommen wurden? Mit dekonstruktiver
Kritik schriftlicher Quellen allein ist den toponymischen wie archäologischen
Realien nicht beizukommen. Die Suche nach der Stadt der Frauen hat daher
zunächst die Antwort auf die Frage zu finden, „wie es eigentlich gewesen“ sein
könnte, bevor man sie als Gegenstand traditioneller Wahrnehmung untersucht
und darstellt. Vorher kann diese Suche – gleich vielen anderen – nicht als abge-
schlossen gelten.
Die Stadt der Frauen
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