ordneten und Zufalligen (wozu auch der Tod gehórte) und verglich den werdenden neuen Harry, diesen etwas schiich-ternen und komischen Dilettanten der Tanzsale, hóhnisch und voll Neid mit jenem einstigen, verlogen-idealen Harry-bild, an welchem er inzwischen allc fatalen Ziige entdeckt hatte, die ihn damals an des Profcssors Goethe-Radierung so sehr gestórt hatten. Er selbst, der alte Harry, war genau solch ein biirgerlich idealisierter Goethe gewesen, so ein Geistesheld mit allzu edlem Blick, von Erhabenheit, Geist und Menschlichkeit strahlend wic von Brillantine und bei-nahe iiber den eigcnen Seelenadel geriihrt! Teufel, dies holde Bild hatte nun allerdings arge Locher bekommen, klaglich war der ideale Herr Haller demonticrt worden. Wie ein von StraGenraubern gepliinderter Wiirdentrager in zer-fetzten Hosen sah er aus, der klug daran getan hatte, jetzt die Rollc des Abgerissenen zu iernen, der aber sein Lum-pen trug, ais hingen noch Orden drań, und die verlorene Wiirde weinerlich weiter pratendierte.
Immer wieder traf ich mit dem Musikanten Pablo zusam-men, und mein Urteil iiber ihn mufite schon darum revi-diert wcrden, weil Hermine ihn so gern hatte und seine Ge-sellschaft eifcig suchte. Ich hatte Pablo in meinem Gedacht-nis ais eine hiibsche Nuli verzeichnet, einen kleinen, etwas eitlen Beau, ein vergniigtes und problemloses Kind, das mit Freude in seine Jahrmarktstrompete faucht und mit Lob und Schokolade leicht zu regieren ist. Aber Pablo fragte nicht nach meinen Urteilen, sic waren ihm ebenso gleich-gultig wie meine musikalischen Theorien. Hóflich und freundlich hórte er mich an, immerzu lachelnd, gab jedoch nic eine wirkliche Antwort. Dagegen schien ich trotzdem sein Interesse erregt zu haben, er gab sich sichtlich Miihe, mir zu gefallen und mir Wohlwollen zu zeigen. Ais ich bei einem dieser ergcbnislosen Gesprache einmal gereizt und beinahe grób wurde, sah er mir bestiirzt und traurig ins Ge-sicht, nahm meine linkę Hand und strcichelte sie, und bot j mir aus einer kleinen vergoldeten Dose etwas zum Schnup- ! fen an, das werde mir gut tun. Ich fragte Hermine mit ei- | nem Blick, sie nickte ja, und ich nahm und schnupfte. In der Tat wurde ich in kurzem frischer und munterer, wahr-schcinlich war etwas Kokain in dem Pulver gewesen. Hermine erzahlte mir. daG Pablo viele solchc Mittel habe, die er
auf geheimen Wegen erhalte, die er zuweilen Freundcn vorsetze und in dereń Mischung und Dosierung er ein Mei-ster sei: Mittel zum Betauben von Schmerzen, zum Schla-fen, zur Erzeugung schóner Traume, zum Lustigmachen, /,um Verliebtmachen.
liinmal traf ich ihn auf der StraGe, ara Kai, und er schloG sich mir ohne weiteres an. Diesmal gelang es mir endlich, ihn zum Sprechen zu bringen.
„Herr Pablo“, sagte ich zu ihm, der mit einem diinnen schwarz und silbernen Stockchen spielte, „Sie sind ein I reund von Hermine, dies ist der Grund, weshalb ich mich litr Sie interessiere. Aber Sie machen mir, das muG ich sa-gen, die Unterhaltung nicht eben leicht. Ich habe mehrmals den Versuch gemacht, mit Ihnen iiber Musik zu sprechen -es hatte mich interessiert, Ihre Meinung, Ihren Wider-spruch, Ihr Urteil zu hóren; aber Sie haben es verschmaht, mir auch nur die geringste Antwort zu geben." lir lachtc mich herzlich an und blieb diesmal die Antwort nicht schuldig, sondcrn sagte gleichmiitig: „Sehen Sie, es hat nach meiner Meinung gar keinen Wert, iiber Musik zu sprechen. Ich spreche niemals iiber Musik. Was hatte ich Ihnen denn auch antwonen sollen auf Ihre klugcn und rich-ligen Worte? Sie hattcn ja so recht mit allem, was Sie sag-ien. Aber sehen Sie, ich bin Musikant, nicht Gelehrter, und Ich glaube nicht, daG in der Musik das Rechthaben den ge-rmgsten Wen hat. Es kommt ja in der Musik nicht darauf un. daG man recht hat, daG man Geschmack und Bildung hat und all das.“
„Nun ja. Aber auf was denn kommt es an?“
.Darauf, daG man musiziert, Herr Haller, daG man so gut und so viel und so intensiv wie móglich musizien! Das ist es, Monsieur. Wenn ich samtliche Werke von Bach und I laydn im Kopf habe und die gescheitesten Sachen dariiber „igen kann, so ist damit noch keinem Menschen gedient. Wenn ich aber mein Blaserohr nehme und einen ziigigen Shimmy spiele, so mag der Shimmy gut sein oder schlecht, ci wird doch den Leutcn Freude machen, er fahrt ihnen in die Beine und ins Blut. Darauf allein kommt es an. Sehen Sie einmal in einem Ballsaal die Gesichter an in dem Au-pcnblick, wo nach einer langeren Pause die Musik wiedcr luslcgt - wie da die Augcn blitzen, die Beine zucken, die
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