Herbert, Frank Die Riten Der Götter

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Lewis Orne, ein Neuling im Dienst des R&R, einer interstella-
ren Nachrichtenorganisation, hat die Aufgabe, einen Planeten zu
beobachten. Er hat nach Anzeichen zu forschen, ob die techno-
logische und soziologische Entwicklung dieser Welt zum Milita-
rismus führen könnte. Die nach verheerenden Kriegen mühsam
wieder aufgebaute galaktische Zivilisation will nicht das Risiko
eingehen, daß sich irgendwo in ihrem Körper neue militaristische
Krebsgeschwülste bilden, und scheut nicht vor radikalen Maß-
nahmen zurück, um den Anfängen zu wehren.

Während seiner Tätigkeit entdeckt Lewis Orne, daß er über bemer-
kenswerte PSI-Fähigkeiten verfügt, aber er entdeckt auch, daß er
damit keineswegs allein steht. Und schließlich muß er feststellen,
daß sein Werdegang aus konsequenten, genau vorgezeichneten
Schri en bestand, die zu einer merkwürdigen Berufung führen.
Doch damit ha e er erst die niederen Weihen empfangen. Nun
erst begannen die Riten der Gö er – und um ein Go zu werden,
muß man nicht nur über gewisse Gaben verfügen, man muß auch
durch die Hölle gegangen sein.

FRANK HERBERT, bekannt vor allem durch seine Romane DER
WÜSTENPLANET (Heyne-Buch Nr. 3108) und EIN CYBORG FÄLLT
AUS (Heyne-Buch Nr. 3384), hat mit THE GOD MAKERS ein eigen-
williges Werk geschaff en, in dem die spannende Handlung durchdrun-
gen ist von tiefen religiösen und philosophischen Einsichten in die Natur
menschlicher Existenz.

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FRANK HERBERT

DIE RITEN DER GÖTTER

Science Fiction-Roman

Deutsche Erstveröff entlichung

h

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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HEYNE-BUCH Nr. 3460

im Wilhelm Heyne-Verlag, München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE GOD MAKERS

Deutsche Übersetzung von Birgit Reß-Bohusch

Redaktion: Wolfgang Jeschke

Copyright © 1972 by Frank Herbert

Copyright © der deutschen Übersetzung 1975

by Wilhelm Heyne Verlag, München

Printed in Germany 1975

Umschlagzeichnung: C. A. M. Thole, Mailand

Umschlag: Atelier Heinrichs, München

Gesamtherstellung: Ebner, Ulm

ISBN 3-453-50336-6

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Um sich in einen Go zu verwandeln, muß ein Lebewesen die Körper-
lichkeit überwinden. Die drei Stufen auf dem Wege zur Transzendenz
sind bekannt. Erstens muß sich das Geschöpf seiner geheimen Aggressio-
nen bewußt werden. Zweitens muß es die Zweckmäßigkeit der äußeren
Gestalt durchschauen. Dri ens muß es den Tod erleiden.

Ist dies geschehen, so muß der werdende Go eine Prüfung ohneglei-

chen bestehen, die ihm die Wiedergeburt bringt und ihn jenen erkennen
läßt, der ihn gerufen hat.

›Die Erschaff ung eines Go es‹

Das Amel-Handbuch

Lewis Orne konnte sich nicht erinnern, daß es je eine Zeit gegeben
ha e, in der er frei von jenem merkwürdigen, stets gleichen Traum
gewesen war; eine Zeit, in der er einschlafen konnte, ohne daß der
verrückte Wirklichkeitssinn dieser Vision sein inneres Gleichge-
wicht bedrohte.

Der Traum begann mit Musik, Klängen, die sich wie Sirup hin-

zogen – ein gespenstischer Sphärenchor. Nebelgestalten drangen
aus der Musik und unterstrichen ihren spukha en Charakter.
Dann übertönte eine Stimme das alberne Theater mit beunruhi-
genden Sprüchen:

›Gö er werden nicht geboren, sondern erschaff en.‹
Oder:
›Wer behauptet, er sei neutral, meint in Wirklichkeit, daß er die

Notwendigkeit des Krieges anerkennt.‹

Wenn man Lewis Orne ansah, konnte man sich nicht vorstellen,

daß er von Träumen dieser Art geplagt wurde. Er stammte von
Chargon im Gemma-System, einem Planeten mit dichter Atmo-
sphäre, und war ein robuster Typ mit knorrigen Muskelpaketen.
Sein Gesichtsausdruck erinnerte entfernt an eine Bulldogge, und

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

sein ruhiger, fester Blick weckte zuweilen Unbehagen bei anderen
Menschen.

Trotz seines merkwürdigen Traums, vielleicht auch deswegen,

besuchte Orne in regelmäßigen Abständen Amel, den Planeten
der Gö er. Und da ihn die Sätze jener Traumstimme auch am Tage
nicht losließen, trat er am Morgen seines neunzehnten Geburts-
tags in den Dienst des Reintegrations- und Reedukations-Korps,
kurz R&R genannt. Er wollte sein Scherfl ein zum Wiederau au
des von Kriegen zerfetzten galaktischen Imperiums beisteuern.

So setzte ihn das R&R nach Abschluß der berühmten Friedens-

schule von Marak an einem wolkenverhangenen Vormi ag auf
dem wiederentdeckten Planeten Hamal ab – einer Welt, deren
Terra-Index bis auf acht Stellen nach dem Komma stimmte und
deren Eingeborene rassisch so nahe an den Homo sapiens heran-
kamen, daß sie genetische Verbindungen mit den Bewohnern der
Inneren Welten eingehen konnten.

Zehn Hamal-Wochen später stand Orne am Rande eines staubi-

gen kleinen Dorfes im Zentralhochland des Nordkontinents und
drückte auf den Notschalter des grünen Minisenders in seiner
rechten Uniformtasche. In diesem Moment war er sich zum ersten-
mal der Tatsache bewußt, daß viele Agenten des R&R von ihren
Missionen nicht zurückkehrten.

Was ihn zu seinem Tun bewogen ha e, war der Anblick von

etwa dreißig Hamaliten: Sie starrten mit düsteren Mienen einen
Gefährten an, der sich versehentlich in einen Korb mit sa igen
weichen Früchten gesetzt ha e.

Kein Gelächter, nicht der geringste Stimmungsumschwung.
Dieser Sturz in den Obstkorb bekrä igte, was Orne anhand

einer Reihe ähnlicher Vorfälle registriert ha e: Ein Hauch von Ver-
derben lag über Hamal.

Orne seufzte. Es war geschehen. Er ha e ein Signal in den

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Raum hinausgesandt und damit eine Lawine ins Rollen gebracht,
die ihn, den Planeten oder beide vernichten konnte.

Wie er später entdeckte, ha e er gleichzeitig seine beharrlichen

Visionen abgeschü elt. Aber die Ereignisse, die sie verdrängten,
weckten in ihm manchmal den Verdacht, daß er seine geheimnis-
volle Traumwelt betreten ha e.

*

Eine Religion besteht aus zahlreichen gegensätzlichen Beziehungen. Sie
braucht Gläubige und Ungläubige. Sie braucht jene, welche die Myste-
rien kennen, und jene, die sie nur fürchten. Sie braucht den Teilnehmer
und den Außenstehenden. Sie braucht einen Go und einen Teufel. Sie
braucht absolute und relative Werte. Sie braucht Ungeformtes (wenn
auch im Prozeß des Formens begriff en) und das bereits Geformte.

Religionswissenscha

Geheime Schri en von Amel

»Wir stehen im Begriff , einen Go zu erschaff en«, sagte Abt Hal-
myrach.

Er war ein kleiner, dunkelhäutiger Mann, eingehüllt in eine

blaßorange Ku e, die in weichen Falten bis zum Boden fi el. Sein
gla es, schmales Gesicht mit dem kahlen Schädel wurde von der
Nase beherrscht, die wie ein Felsvorsprung über die zusammen-
gekniff enen Lippen hing.

»Wir wissen nicht, aus welchem Geschöpf oder Ding der Go

geboren wird«, fuhr der Abt fort. »Vielleicht aus einem von
euch.«

Seine Blicke ruhten auf den Schülern, die auf dem harten Boden

des nüchternen Raums kauerten. Schräg fi elen die Strahlen von

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Amels Sonne durch die Fenster. Der Saal stellte eine Psi-Festung
dar. Die geheimnisvollen Krä e des Unterbewußtseins durch-
woben ihn, von Instrumenten zu gigantischen Dimensionen ver-
stärkt. Zwanzig Meter lang war er und drei Meter hoch. Jenseits
der Fenster lagen die Parkdächer von Amels engem, verwinkel-
tem Wohnbezirk. Die Stirnseiten des Raums sahen aus wie heller
Stein, geädert von dünnen braunen Linien, die an Insektenspuren
erinnerten. Ein stumpfes, bläulichweißes Licht hüllte die Wände
ein.

Der Abt spürte die Energie, die zwischen den beiden Stirnsei-

ten hin und her fl oß, und einen Moment lang setzte sich in seinem
Innern jenes Gemisch aus Furcht und Schuldgefühl fest, das auch
seine Schüler ergriff en ha e. Offi

ziell hieß die Vorlesung ›Religi-

onswissenscha ‹ aber die jungen Leute kannten weder Frömmig-
keit noch Demut. Sie sprachen nur davon, einen Go zu erschaf-
fen. Und sie waren fortgeschri en genug, um die Gefahren ihres
Tuns zu erkennen.

»Alles, was ich hier sage und tue, ist das Ergebnis einer langen,

sorgfältigen Vorbereitung«, erklärte der Abt. »Zufallsfaktoren
bringen Gefahren mit sich. Der Raum hier wurde absichtlich so
nüchtern gehalten, um jede Ablenkung auszuschalten. Der gering-
ste Fremdeinfl uß kann das Ergebnis unseres Vorhabens maßlos
verändern. Wenn also einer von euch jetzt noch die Klasse verlas-
sen möchte, so soll er es ohne Scham tun.«

Die weißen Ku en der Schüler wisperten über den Boden, aber

niemand folgte Abt Almyrachs Auff orderung. Bis jetzt verlief alles
nach Plan.

»Wie wir wissen«, sagte der Abt, »besteht die Hauptgefahr unse-

res Vorhabens darin, daß wir Erfolg haben. Wenn es uns gelingt,
einen Go zu erschaff en, so entsteht paradoxerweise etwas, das
nicht mehr unsere Schöpfung ist. Wir selbst könnten die Schöp-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

fung dessen werden, den wir ins Leben rufen.«

Der Abt nickte vor sich hin. Er dachte über die Gö er nach, die

im Laufe der Menschheitsgeschichte aufgetaucht waren: wahnsin-
nig oder vernun begabt, primitiv oder hochentwickelt ... aber alle
unberechenbar. Wie auch immer erschaff en, der Go ging seinen
eigenen Weg. Und die Launen eines Go es dur e man nicht auf
die leichte Schulter nehmen.

»Der Go ersteht jedesmal neu aus dem Chaos«, erklärte der

Abt. »Wir besitzen keine Macht über diesen Vorgang; wir kennen
nur die allgemeinen Regeln.«

Er spürte in der Mundhöhle die trockene Elektrizität der Furcht,

erkannte, wie sich die notwendige Spannung um ihn au aute.
Der Go mußte zum Teil aus der Furcht geboren werden, aber
nicht allein aus der Furcht.

»Wir müssen uns in Ehrfurcht vor unserer Schöpfung vernei-

gen«, sagte er. »Es gilt, sie anzubeten und ihr zu gehorchen.«

Die Schüler kannten ihren Einsatz. »Anbeten und gehorchen«,

murmelten sie. Demut strahlte von ihnen aus.

Ja, dachte der Abt, unser Tun enthält unendliche Möglichkei-

ten und unendliche Gefahren. Die Fäden des Universums sind mit
diesem Augenblick verfl ochten.

Er sagte: »Rufen wir zuerst die Zwischenform ins Leben, als

Mi ler des Go es, den wir erschaff en wollen!« Er hob die Arme.
Der Energiestrom zerriß, bildete Strudel. Die Geschehnisse scho-
ben sich ineinander. Vor seinem inneren Auge tauchten drei
Szenen gleichzeitig auf, verke et und doch ohne Zusammenhang.
Er sah seinen Bruder Ag Emolirdo im dunstigen Licht des Planeten
Marak stehen; das schmale Gesicht mit dem Raubvogelprofi l war
tränenüberströmt. Die Vision ging in das Bild einer Hand über,
deren Zeigefi nger den Schalter eines kleinen grünen Kästchens
herunterdrückte. Zugleich sah der Abt sich selbst, mit erhobenen

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Armen, während aus der Psi-Wand im Hintergrund ein Shriggar,
die Todesechse von Chargon, trat.

Die Schüler hielten den Atem an.
Steif, halb gelähmt vor Entsetzen, senkte er die Arme und drehte

sich um. Ja, es war ein Shriggar – ein mächtiges Exemplar, denn
es mußte sich ducken, um nicht die Decke zu streifen. Von den
kurzen Armen spreizten sich messerscharfe Klauen. Der Schnabel
stand off en; eine lange, gespaltene Zunge zuckte hin und her. Die
Stielaugen kreisten, und der Atem der Bestie erfüllte den Raum
mit dem Gestank von Faulschlamm.

Das Maul schnappte zu. ›Chunk!‹
Dann dröhnte eine Stimme durch den Saal, dumpf, geisterha .

Sie kam nicht von dem Shriggar, denn der stand reglos da.

»Der Go , den ihr erscha

, kann bei der Geburt sterben. Solche

Ereignisse wählen ihre eigene Stunde. Ich stehe bereit und wache.
Ein Krieg wird sta fi nden, in einer Stadt aus Glas, wo Geschöpfe
von hoher Intelligenz leben. Es kommt eine Zeit der Politik. Und
es kommt eine Zeit der Priester, in der sie bangen vor den Folgen
ihres Wagemuts. All dies muß geschehen um eines unbekannten
Zieles willen.«

Langsam löste sich der Shriggar auf – erst der Kopf, dann der

große gelbschuppige Leib. Wo er gestanden ha e, breitete sich
eine dampfende braune Pfütze aus. Das zähe Zeug umfl oß die
Füße des Abtes und drang bis zu den Schülern vor, die am Boden
knieten.

Keiner von ihnen wagte sich zu rühren. Sie wußten, was es

bedeutete, einen Zufallsparameter einzuführen, solange die zuk-
kenden Psi-Ströme den Raum beherrschten.

*

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Jeder, der irgendwann mit einem Kribbeln auf der Haut die elektrisie-
rende Nähe eines unsichtbaren Wesens gespürt hat, kennt das Urgefühl
der Psi-Energie.

HALMYRACH, ABT VON AMEL

Psi und Religion, Vorwort

Lewis Orne verkramp e die Hände auf dem Rücken, bis die Knö-
chel weiß hervortraten. Er stand am Fenster seines im zweiten
Stock gelegenen Zimmers und starrte düster in den Hamal-Morgen
hinaus. Über den fernen Bergen war die Sonne groß und gelb auf-
gegangen. Der wolkenlose Himmel verhieß sengende Hitze.

Im Hintergrund zeichnete der Beamte des Untersuchungsaus-

schusses das Gespräch auf, das sie eben beendet ha en. Ein harter
Sti kratzte über den Transmi erstreifen, der den Bericht an das
Schiff des UA-Mannes weitergab.

Na

schön, dann war es vielleicht falsch, das Notsignal auszulösen,

dachte Orne. Das gibt dem Klugscheißer noch lange nicht das Recht,
mich zu schikanieren. Schließlich war es mein erster Job. Da kann schon
mal was schiefgehen.

Das Kratzen des Sti es machte Orne allmählich nervös. Er

umklammerte mit einer Hand den Fensterriegel und fuhr sich mit
der anderen durch das kurzgeschorene rote Haar. Der pluderige
weiße R&R-Coverall unterstrich seine vierschrötige Erscheinung.
Das volle Gesicht mit der breiten Stirn war zorngerötet. Im allge-
meinen beherrschte er sich recht gut, doch im Moment ha e er
Mühe, ruhig zu bleiben.

Er dachte: Wenn sich mein Verdacht als unbegründet erweist, feuern

sie mich. Es gibt ohnehin schon genug Reibereien zwischen dem R&R
und dem Untersuchungsausschuß. Dieser Bollerkopf hier wartet nur
darauf, uns zu blamieren. Aber wenn auf Hamal tatsächlich etwas faul
ist – Mann, das gibt ein Theater!

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Orne schü elte den Kopf. Sicher habe ich mich getäuscht.
Je länger er darüber nachsann, desto mehr ärgerte er sich, daß

er den Untersuchungsausschuß eingeschaltet ha e. Die Hamaliten
waren vielleicht nicht von Natur aus aggressiv. Die Gefahr, daß
der R&R die technische Grundlage für den Au au einer Kriegsin-
dustrie schuf, erschien gering.

Dennoch ...
Orne seufzte. Er spürte eine vage, traumha e Unruhe. Das

Gefühl erinnerte ihn an den Schwebezustand kurz vor dem Erwa-
chen, wenn Handeln, Denken und Empfi nden miteinander ver-
schmolzen.

Jemand polterte die Treppe am anderen Ende des Korridors

hinunter. Der Boden unter Ornes Füßen zi erte. Er befand sich im
Gästehaus der Regierung, einem uralten Holzbau, der muffi

g und

vergammelt roch.

Vom Fenster aus konnte er den Marktplatz von Pitsiben mit

seinem holperigen Kopfsteinpfl aster überblicken. Dahinter
erstreckte sich der breite Dammweg, der aus der Rogga-Ebene
herauff ührte. In langen Kolonnen kamen die Bauern und Jäger
der Umgebung zum Mark ag nach Pitsiben. Goldgetönter Staub
hing über der Straße. Er dämp e die Farben, verlieh der Szene
etwas malerisch Verschwommenes.

Die Bauern stemmten sich in die Zuggeschirre ihrer fl achen

zweirädrigen Karren und tro eten schwerfällig schwankend
dahin. Sie trugen lange grüne Umhänge, gelbe Baskenmützen,
die schräg über dem linken Ohr saßen, gelbe Hosen mit breiten,
staubbedeckten Aufschlägen und Riemensandalen. Ihre Karren
waren hoch mit Feldfrüchten beladen. Auch hier herrschten die
gelben und grünen Farbtöne vor.

Die Jäger in ihren braunen Gewändern hielten sich ein wenig

abseits, wie zum Flankenschutz. Sie schri en hocherhobenen

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Hauptes dahin, bewaff net mit Vogelfl inten, ein Lederetui mit
Feldstecher über die linke Schulter gehängt. In einigem Abstand
folgten die Jagdgehilfen. Sie schoben Wildkarren, auf denen sich
erlegte Sump iere türmten, vor allem buntgefi ederte Enten und
Porjos,

die kleinen schlangenschwänzigen Nagetiere, die von den

Hamaliten als besondere Delikatesse geschätzt wurden.

In der Ferne erkannte Orne die dunkelrote Spitze des UA-Schif-

fes, das kurz vor Sonnenaufgang im Tal gelandet war. Von den
Farmen ringsum stiegen bläuliche Rauchsäulen auf und hüllten es
in einen Dunstschleier. Es sah aus wie ein Spielzeug, das vergeßli-
che Riesen zurückgelassen ha en.

Einer der Jäger blieb auf dem Dammweg stehen, hob den Feld-

stecher an die Augen und betrachtete das Schiff . Er zeigte keine
übergroße Neugier und auch kein Erstaunen. Diese Handlungs-
weise entsprach nicht der Norm – irgend etwas stimmte hier ein-
fach nicht.

Der Rauch und das fl irrende gelbe Sonnenlicht verliehen der

Landscha ein blühendes, sommerliches Aussehen. Orne spürte,
wie bei dem Anblick tiefe Bi erkeit in ihm au eimte. Es ist mir
scheißegal, was dieser Blödmann denkt! Ich ha e recht, als ich das Not-
signal auslöste. Irgend etwas verbergen die Hamaliten. Sie sind nicht
friedfertig. Der Fehler liegt nicht bei mir, sondern bei dem Pfuscher, der
die ersten Kontakte knüp e. Mußte er davon sabbern, daß wir kriegeri-
sche Rassen nicht unterstützen!

Das Kratzen des Sti es war verstummt. Orne drehte sich um.

Der Beamte des Untersuchungsausschusses saß auf der Kante von
Ornes ungemachtem Be . Er ha e seine Akten und Papiere auf
dem ganzen Tisch verteilt. Der Mann wirkte lang und schlaksig.
Er ha e dunkle, widerspenstige Locken und eine we ergegerbte
Haut. Die halbgeschlossenen Lider gaben seinem Gesicht jenen
arroganten Zug, der so typisch für die UA-Leute war. Er trug

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

gefl ickte blaue Drillichsachen ohne Rangabzeichen. Umbo Stet-
son, Sektorchef – so ha e er sich vorgestellt.

Sektorchef,

dachte Orne. Warum schicken die gleich ihren Obermak-

ker!

Stetson bemerkte, daß Orne ihn ansah und räusperte sich. »Das

Wichtigste hä en wir wohl. Aber kauen wir die Sache zur Sicher-
heit noch mal durch. Sie sind also vor zehn Wochen hier gelan-
det?«

»Jawohl. Eine Fähre des R&R-Transporters Arneb setzte mich

hier ab.«

»Und es ist Ihre erste Mission?«
»Das sagte ich bereits. Ich schloß meine Ausbildung auf Uni-

Galacta mit 0,07 ab und praktizierte anschließend auf Timur-
lain.«

Stetson zog die Stirn kraus. »Und dann schickte man Sie gleich

in diesen go verlassenen Winkel des Universums?«

»Ja.«
»Hmm. Da standen Sie nun, erfüllt vom missionarischen Eifer

des R&R, was? Die Menschheit muß mit vereinten Krä en zu
neuen Ufern au rechen ...«

Orne lief rot an.
Stetson nickte. »Ich sehe schon, auf Uni-Galacta wird immer

noch der faule Zauber von einer Kulturrenaissance gelehrt.« Er
preßte eine Hand an die Brust und dozierte: »Wir müssen die
verlorenen Welten wieder mit den Zentren der Zivilisation und
Industrie vereinen und den ruhmreichen Aufstieg unserer Rasse
fördern, der durch die Randweltenkriege so brutal unterbrochen
wurde!«

Er spuckte auf den Boden.
»Ich glaube, das können wir uns sparen«, murmelte Orne.
»Sie haben ja sooo recht«, spö elte Stetson. »Und was‘ hat man

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Ihnen für das idyllische Fleckchen hier mitgegeben?«

»Ein Wörterbuch, zusammengestellt von unserem ersten Kon-

taktmann – aber es taugte nicht viel ...«

»Wie hieß der Kerl?«
»Andre Bullone – der Name steht zumindest auf dem Buch.«
»Oh – irgendwie verwandt mit Hochkommissar Bullone?«
»Keine Ahnung.«
Stetson machte sich eine Notiz. »Und er war der Ansicht, daß

Hamal eine friedfertige Welt mit einer primitiven Jagd- und Acker-
baukultur ist?«

»Genau.«
»Tja – sonst noch etwas?«
»Berichtformulare und den Minisender.«
»Ich nehme an, Sie besitzen wie Ihre Kollegen ein eidetisches

Gedächtnis und sind vollgestop mit all dem Kram über Medizin,
Industrie, Technik und Kultur fremder Völker?«

»Der R&R bildet seine Agenten gründlich aus.«
»Legen wir eine Gedenkminute ein!« Unvermi elt schlug Stet-

son mit der Faust auf den Tisch. »Verdammter Quatsch – ein poli-
tisches Lockmi el, mehr nicht!«

Orne sah ihn erstaunt an. »Was?«
»Die R&R-Masche, mein Junge! Volksverblödung, die ein paar

politische Karrieren verlängert und uns alle in Gefahr bringt!
Merken Sie sich meine Worte: Eines Tages wird eine Welt zuviel
wiederentdeckt. Wir geben ihren Bewohnern die Industrie, die sie
nicht verdienen – und wir haben einen neuen Randweltenkrieg
am Hals ...«

Orne spürte erneut, wie Zorn in ihm hochstieg. »Weshalb habe

ich wohl das Notsignal ausgelöst?« fauchte er.

»Eben das möchte ich herausfi nden«, entgegnete Stetson gelas-

sen und lehnte sich zurück. Er klop e mit dem Schreibsti gegen

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

seine Schneidezähne. »Sie haben sich einsam gefühlt und wollten,
daß wir Ihnen das Händchen halten, was?«

»Ach, scheren Sie sich zum Teufel!«
»Später, mein Junge, später!« Stetsons Miene wirkte noch arro-

ganter als zuvor. »Also – wonach haltet ihr R&R-Knaben Aus-
schau?«

Orne verschluckte eine wütende Antwort. »Nach Kriegsanzei-

chen ...«

»Etwas präziser vielleicht?«
»Wir suchen nach Befestigungsanlagen, beobachten die Kinder

bei Gemeinscha sspielen, überprüfen, ob die Männer Uniformen
besitzen oder sich zu Wehrübungen treff en ...«

»All die Dinge also, die ins Auge fallen.« Stetson schü elte

langsam den Kopf. »Und Sie glauben, das genügt?«

»Nein, verdammt noch mal!«
»Hmmm, wie recht Sie haben! Bohren wir also weiter! Was stört

Sie eigentlich an den ehrenwerten Bewohnern dieses Planeten?«

Orne seufzte und zuckte die Achseln. »Irgendwie fehlt ihnen

der Schwung, die Energie. Und sie besitzen keinen Humor. Ihre
Ernstha igkeit grenzt schon an Trübsinn.«

»Oh?«
»Ja. Ich – ich ...« Orne fuhr sich mit der Zunge über die trok-

kenen Lippen. »Nun, ich sprach in der Ratsversammlung davon,
daß unser Volk Froolap-Knochen zur Herstellung von Linkshän-
deruntertassen benötige ...«

Stetson beugte sich mit einem Ruck vor. »Waas?«
»Nun, die Kerle waren die ganze Zeit über so verdammt düster,

daß ich die Nase voll ha e, und – na ja ...«

»Wie reagierten sie darauf?«
»Sie baten um eine genaue Beschreibung der Froolaps und woll-

ten wissen, wie man die Knochen versandfertig au ereitet.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Und?«
»Nun, ich – also nach meiner Antwort kamen sie zu dem Schluß,

daß es auf Hamal keine Froolaps gibt.«

Idiot,

dachte Orne. Mußtest du ihm das erzählen? Jetzt glaubt er

sicher, du hä est nicht alle Sprossen in der Leiter!

»Wie steht es mit Heldenfriedhöfen, Nationaldenkmälern und

ähnlichem?« fragte Stetson ungerührt.

»Hmm. Sie besta en ihre Toten aufrecht und pfl anzen über

der Grabstelle einen Obstbaum an. Es gibt riesige Obsthaine auf
Hamal ...«

»Sie halten diese Tatsache für bedeutungsvoll?«
»Zumindest beunruhigt sie mich.«
Stetson holte tief Lu und lehnte sich zurück. Er klop e gei-

stesabwesend mit dem Schreibsti auf die Tischpla e, dann fragte
er: »Wie gefällt den Bewohnern die Aussicht, in das Galaktische
Imperium eingegliedert zu werden?«

»Sie zeigen sich vor allem vom Au au einer Industrie angetan.

Deshalb bin ich auch hier in Pitsiben. Es gibt hier ganz in der Nähe
ein Wolframvorkommen ...«

»Auf welchem Niveau befi ndet sich die Medizin?« unterbrach

ihn Stetson. »Verstehen die Ärzte etwas von Wundbehandlung?«

»Schwer zu sagen«, meinte Orne. »Sie tun, als wüßten sie alles.

Darin gleichen sich aber die Mediziner aller Rassen. Soviel ich
erkennen konnte, besitzen sie solide anatomische Kenntnisse.«

»Haben Sie eine Ahnung, weshalb der Planet so rückständig

ist?«

»Die Sage berichtet, daß Hamal unbewohnt war, bis zu Beginn

der Randweltenkriege sechzehn Überlebende eines Tritsahin-
Kreuzers in einem Re ungsboot landeten. Sie ha en nur das
Notwendigste bei sich und besaßen so gut wie keine technischen
Kenntnisse. Wenn man ihre Nachkommen so ansieht, muß es sich

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

in der Hauptsache um Schwarze gehandelt haben.«

»Und sie vermehrten sich und warteten, bis der R&R kam«,

sagte Stetson. »Großartig!« Er warf Orne einen düsteren Blick
zu. »Angenommen, sie haben den Hang zu Aggressionen – wie
lange würde es dauern, bis sie sich zu einer echten Gefahr entwik-
keln?«

»Nun, das System besitzt zwei unbewohnte Planeten mit rei-

chen Rohstoffl

agern. Nach dem Au au einer funktionsfähigen

Industrie vielleicht zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre ...«

»Merken Sie jetzt, was für Probleme uns der R&R au alst?«

Stetson stach mit dem Zeigefi nger anklagend in die Lu . »Und
wehe, wir begehen einen kleinen Schnitzer! Wehe, wir erklären die
Hamaliten für aggressiv, und einer eurer Schnüffl

er fi ndet heraus,

daß wir uns getäuscht haben!« Er klatschte mit der fl achen Hand
auf den Tisch. ›Boiing!‹

»Die Leute besitzen eine überaus rasche Auff assungsgabe«,

fuhr Orne fort. »Sie errichten bereits die ersten Fertigungshallen.«
Er hob die Schultern. »Man hat das Gefühl, sie saugen alles in sich
auf wie schwarze, düstere Schwämme.«

»Wie poetisch!« Stetson stemmte sich hoch und ging im Zimmer

auf und ab. »Gut, sehen wir uns das Land einmal aus der Nähe an.
Aber ich warne Sie, Orne! Der Untersuchungsausschuß hat wichti-
gere Aufgaben, als beim R&R Babysi erdienste zu übernehmen.«

»Und es würde Ihnen einen Heidenspaß bereiten, mich als Pfu-

scher zu entlarven!«

»Sehr richtig, Sonny.«
»Es war immerhin meine erste Mission. Da kann es vorkom-

men, daß man sich täuscht ...«

»Warten Sie erst mal ab! Wir nehmen mein Buggy, ja?« Wozu

denn?

dachte Orne. Er soll sich ruhig ein bißchen anstrengen, wenn er

dem R&R so gern am Zeug fl ickt ...

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Das Hauptproblem beim Au au jeder neuen Religion besteht darin, die
Faktoren und Zusammenhänge zu erkennen, von denen das Überleben
einer Rasse abhängt, und sie weder zu hemmen noch zu zerstören.

Religionswissenscha

Praktischer Ratgeber

Die Hitze machte sich bereits bemerkbar, als Orne und Stetson
auf die kopfsteingepfl asterte Straße hinaustraten. Schlaff hing die
grüngelbe Nationalfl agge vom Dachfi rst des Gästehauses. Unter
den Markisen der Gemüsestände scharten sich die Hamaliten zu
düsteren kleinen Gruppen. Hin und wieder warfen sie dem Fahr-
zeug am Rande des Marktplatzes ein paar träge Blicke zu.

Stetsons Buggy war ein weißer Zweisitzer in Stromlinienform,

mit Panoramafenster und einer Heckturbine.

Die beiden Männer stiegen ein und schnallten sich fest.
»Das ist es, was ich meine«, sagte Orne, während Stetson die

Turbine startete und einkuppelte. Das Fahrzeug begann he ig zu
schaukeln, doch gleich darauf fi ng die automatische Federung die
Stöße des Kopfsteinpfl asters ab. Der UA-Mann steuerte das Buggy
in einer eleganten Kurve an den Gemüseständen vorbei.

»Was ist es, das Sie meinen?«
»Das lahme Getue der Typen da drüben. An jedem anderen

Fleck des Universums hä e unser Buggy einen Menschenaufl auf
verursacht. Aber die Hamaliten stehen einfach da und schauen
grimmig.«

»Weshalb wohl?«
»Ich nehme an, daß sie den Befehl dazu haben.«
»Könnten sie nicht einfach nur schüchtern sein?«
»Wenn Sie meinen ...«
Stetson wich einem der niedrigen Karren aus. »In Ihrem Bericht

steht, daß es auf Hamal keine Befestigungsanlagen gibt.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ich habe zumindest keine gesehen.«
»Und keine militärähnlichen Gruppenaktivitäten.«
»Mir sind keine aufgefallen.«
»Und keine Artillerie.«
»Ich ...«
»... habe keine gesehen«, fauchte Stetson. »Ihre Pla e scheint

einen Sprung zu haben. Glauben Sie, daß die Hamaliten etwas
verbergen?«

»Ja.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Ich fühle, daß irgend etwas nicht stimmt.«
Stetson steuerte auf den breiten Gratweg zu. »Sie sind eben ein

mißtrauischer Mensch.«

Orne umklammerte den Türgriff . »Das sagte ich Ihnen von

Anfang an.«

»Wir freuen uns irrsinnig, wenn ein R&R-Agent einmal seinen

Gefühlen freien Lauf läßt.«

»Besser, ich begehe einen Fehler, als Sie tun es«, knurrte Orne.
Stetson zuckte die Achseln. »Ihre Häuser sind fast nur in Holz-

bauweise errichtet. Bei ihrer Kulturstufe deutet das auf Friedfer-
tigkeit hin.«

»Vorausgesetzt, wir wissen, was dies alles« – Orne umfaßte mit

einer weitausholenden Geste die Landscha , »– bei ihrer Kultur-
stufe bedeutet.«

»Alle Achtung! Lernt man solche Dinge auf Uni-Galacta?«
»Nein, es ist zufällig meine eigene Ansicht. Wenn die Hama-

liten Artillerie und Reitertruppen besitzen, haben Gemäuer aus
Stein wenig Sinn.«

»Es gibt weder Reit- noch Zugtiere auf Hamal.«
»Ich habe keine gesehen. Das heißt nicht ...«
»Schon gut, ich gebe nach.« Stetson seufzte. »Wissen Sie, wie sie

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

ihre Vogelfl inten herstellen?«

»In Handarbeit. Es gibt dafür eine eigene Gilde.«
»Gilde – ach, du meine Güte!« Unvermi elt brachte Stetson das

Buggy zum Stehen und schaltete die Turbine aus. Orne starrte ihn
wortlos an. Der Weg war heiß und staubig. Ein paar Insekten kro-
chen durch den Sand. Der R&R-Agent wurde den Eindruck nicht
los, als ob er diese Szene schon einmal erlebt ha e, daß er sich in
einem Kreis bewegte, aus dem es kein Entrinnen gab.

»Hat der Bursche, der die ersten Kontakte knüp e, schwere

Waff en gesehen?«

»Nein – doch das besagt gar nichts«, meinte Orne. »Der Boller-

kopf hat den Leuten gleich am Tag seiner Ankun erzählt, wel-
chen Wert wir auf Friedfertigkeit legen.«

»Das wissen Sie genau?«
»Ich habe mir das Protokoll angehört.«
»Dann haben Sie ja sooo recht«, sagte Stetson gedehnt. »Zum

erstenmal!« Er stieg aus. »Kommen Sie – ich brauche Ihre Hilfe.«

Orne öff nete seine Tür. »Was wird das?«
Stetson schob ihm das Ende eines Maßbands in die Hand. »Hier,

halten Sie das mal an die Böschung!«

Orne gehorchte. Das Plastistahlband fühlte sich angenehm kühl

an, als er es in den Staub am Rand der Straße drückte.

»Sieben Meter«, murmelte Stetson und schrieb die Zahl in sein

Notizbuch.

Sie bestiegen das Buggy und fuhren weiter.
»Was ist an der Straßenbreite so wichtig?« wollte Orne wissen.
»Ach, wir verschaff en uns einen einträglichen Nebenverdienst

durch den Verkauf von Omnibussen an unterentwickelte Welten«,
entgegnete Stetson. »Ich wollte nur sehen, ob sich unsere neuesten
Modelle für die Straßen hier eignen.«

»Witzbold!« knurrte Orne. »Aber ich kann mir schon denken,

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

daß es dem Untersuchungsausschuß immer schwerer fällt, vom
Senat Zuschüsse zu erhalten.«

»Sie haben ja sooo recht! Vielleicht verlegen wir uns in Zukun

auf ein Nerventonikum für R&R-Agenten. Das müßte uns aus den
roten Zahlen bringen.«

Orne lehnte sich in seine Ecke und starrte düster vor sich hin.

Ich bin erledigt. Dieser Klugscheißer fi ndet auch nicht mehr als ich.
Und vage Gefühle zählen beim UA nicht. Die Kerle verlangen handfeste
Beweise.

Der Weg bog vom Grat ab und führte in einer weiten Kurve

durch ein Gelände mit niedrigen Sträuchern und Bäumen.

»Na, endlich verlassen wir die Hauptstraße!« sagte Stetson.
»Wenn wir geradeaus weiterfahren, kommen wir direkt an

einen Sumpf.«

»Tatsächlich?«
Sie erreichten ein breites Tal. Jenseits der dichten Hecken, die

als Windschutz dienten, stiegen Rauchsäulen in den Himmel.

»Woher kommt der Rauch?« erkundigte sich Stetson.
»Von Bauernhöfen.«
»Sie haben das nachgeprü ?«
»Jawohl, ich habe das nachgeprü .«
»Empfi ndlich, hm?«
Der Weg führte an einen Fluß und über eine primitive hölzerne

Brücke mit Steinpfeilern. Stetson hielt kurz an und betrachtete
den schmalen Pfad, der dem Flußufer folgte. Dann setzte sich das
Buggy wieder in Bewegung. Die Straße erklomm den nächsten
Grat. Gräben tauchten links und rechts des Weges auf. Dahinter
zeigten sich Zäune.

»Was bedeuten diese Zäune?« fragte Stetson.
»Sie markieren einmal die Ackergrenzen und halten zum zwei-

ten die Sump iere von der Saat fern.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Hm – wie groß sind diese Biester?«
»Höchstens einen halben Meter.«
»Wild?«
»Sehr wild.«
»Eignen sich somit nicht als Reit- oder Zugtiere?«
»Nein, absolut nicht.«
Der UA-Mann preßte nachdenklich die Lippen zusammen.

»Beschä igen wir uns noch einmal mit der Regierung von
Hamal!«

Orne mußte schreien, um das Geräusch der Turbine zu übertö-

nen. Das Buggy keuchte den nächsten Berghang hinauf.

»Was möchten Sie hören?«
»Die Sache mit der Erbfolge.«
»Ach so. Der Sitz im Rat geht im allgemeinen auf den ältesten

Sohn über.«

»Und im besonderen?«
»Wenn der älteste Sohn stirbt oder keine männlichen Nachkom-

men existieren, gibt es eine Art Wahlverfahren.«

»Aber eindeutig patriarchalisch?«
»Eindeutig.«
»Wie steht es mit Spielen?«
»Ach ja, ein merkwürdiger Sport ist mir aufgefallen. Insgesamt

beteiligen sich sechzehn Leute daran. Das Spielfeld beträgt fünfzig
mal fünfzig Meter und wird von zwei diagonalen Gräben durch-
zogen. Je vier Mann stellen sich an den Ecken auf ...«

»... und kriechen mit gefl etschten Zähnen aufeinander zu?«
»Haha. Sie haben zwei schwere Bälle mit Griffl

öchern, einen

grünen und einen gelben. Die Mannscha mit dem gelben Ball
fängt an; sie rollt ihn durch den Diagonalgraben. Der grüne Ball
muß dann so berechnet werden, daß er im Zentrum mit dem
gelben zusammenprallt.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Und das tut er nie?«
»Manchmal schon.«
»Und dann gibt es ein Riesenhallo?«
»Nein. Es sind keine Zuschauer da.«
»Überhaupt keine?«
»Ich habe jedenfalls ...«
»... keine gesehen«, ergänzte Stetson. »Macht nichts. Es scheint

ohnehin eine harmlose Sache zu sein. Beweisen die Hamaliten
Geschick darin?«

»Im Gegenteil. Mir kamen sie reichlich unbeholfen vor. Aber

das Spiel scheint sie wenigstens etwas aus ihrer düsteren Zurück-
haltung zu locken.«

»Sie sind ein frustrierter Missionar«, lachte Stetson. »Am lieb-

sten würden Sie die Hamaliten um sich scharen und ein paar
Spiele organisieren.«

»Kriegsspiele«, entgegnete Orne. »Haben Sie je daran ge-

dacht?«

»Wie?« Einen Moment lang achtete Stetson nicht auf den Weg.

Das Buggy geriet ins Schleudern und stieß gegen die Böschung.
Sofort nahm der UA-Mann das Steuer fest in die Hand.

»Was geschieht, wenn sich irgendein kluger R&R-Typ zum

Herrscher des ihm anvertrauten Planeten macht?« fragte Orne.
»Er könnte seine eigene Dynastie gründen. Ihr würdet das erst
merken, wenn die ersten Bomben fallen oder zu viele Leute ›aus
unbekannter Ursache‹ sterben.«

»Das ist der Alptraum unserer Organisation«, sagte Stetson

leise und schwieg dann.

Die Sonne kle erte immer höher. Der Weg führte eine Zeitlang

durch Farmland, dann erklomm er erneut einen Bergkamm.

Einmal fragte Stetson: »Wie sieht es mit der Religion aus?«
»Ich habe auch da nach Hinweisen gesucht«, erklärte Orne. »Sie

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

sind Monotheisten und verehren den Großen Go von Amel. In
dem Re ungsboot ihrer Vorfahren fand sich eine Bibel. Es gibt
ein paar Wanderprediger, aber wenn ich die Sache richtig durch-
schaue, sind sie nichts anderes als Spione für den Rat. Dann gibt
es noch einen Kult um einen Propheten namens Arune, der vor
dreihundert Jahren angeblich mit Leib und Seele in den Himmel
auff uhr. Aber ich fand keinen Anhaltspunkt für religiöse Streitig-
keiten.«

»Die Süße und das Licht«, murmelte Stetson. »Priester?«
»Der Rat hat diese Funktion übernommen. Er ernennt die soge-

nannten ›Hüter des Gebets‹. Alle neun Tage fi ndet ein Go es-
dienst sta . Dazu kommen verschiedene Feiertage. Die Priester
von Amel haben einen vorläufi gen Gnadenerlaß erteilt. Man wird
das übliche Palaver abhalten und dann zu dem Schluß gelangen,
daß der Große Go auch über die Geringsten wacht.«

»Trügt mich mein Ohr, oder vernehme ich einen Hauch von

Sarkasmus?«

»Einen Hauch von Vorsicht«, entgegnete Orne.
»Der Weise betet einmal in der Woche und übt dreimal täglich

seine Psi-Krä e«, murmelte Stetson.

»Was?«
»War nicht so wichtig.«
Sie kamen in eine fl ache Senke, überquerten einen Wasserlauf

und fuhren wieder einen Berggrat entlang. In der Ferne tauchte
ein Dorf auf. Stetson hielt den Wagen an und öff nete das Fenster.
Über der Straße lastete drückende Hitze.

»Gibt es Flugzeuge auf Hamal?« wollte Stetson wissen.
»Nein.«
»Sonderbar.«
»Eigentlich nicht. Ihre Vorfahren sind dem Raumtod nur knapp

entgangen. Das hat zu dem Aberglauben geführt, daß es gefähr-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

lich sei, den sicheren Boden zu verlassen. Zudem besitzen sie eine
gewisse Scheu vor der Technik – mit Ausnahme des Rates viel-
leicht, der schon fortschri licher denkt.«

»Nigger-Syndrom«, murmelte Stetson.
»Was?«
»Viele Subkulturen glauben, daß die Technik zum Untergang

der Menschheit führen wird«, erklärte Stetson. »Manchmal habe
ich das Gefühl, daß etwas Wahres dran ist.«

»Weshalb bleiben wir eigentlich hier stehen?«
»Wir warten.«
»Und worauf?«
»Daß etwas passiert«, sagte Stetson. »Wie denken die Hamali-

ten über den Frieden?«

»Sie fi nden ihn großartig. Der Rat zeigt sich begeistert von den

Friedensbemühungen des R&R. Wenn man die einfachen Bürger
fragt, erhält man eine stereotype Antwort: ›Möge der Große Go
allen Völkern den Frieden schenken!‹ Alles sehr konsequent.«

»Orne, wissen Sie, warum Sie das Notsignal ausgelöst haben?«
Orne seufzte. »Geht das nun wieder von vorne los?« »Ich meine

– was hat den Ausschlag gegeben? Welches Ereignis?«

»Es waren zwei Dinge«, erwiderte Orne leise. »Sehen Sie, man

gab mir zu Ehren ein Festbanke . Und ...«

»... sie servierten Froolap
»Wollen Sie die Geschichte hören oder nicht?«
»Ich bin ganz Ohr.«
Orne warf einen bezeichnenden Blick auf Stetsons große Ohren

und fuhr fort: »Also, der Höhepunkt des Mahls war ein Porjo-
Gericht ...«

»Porjo?«
»Ein einheimisches Nagetier, das angeblich einst den Schi

rü-

chigen von Tritsahin als einzige Nahrung diente. Besonders die

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Schwänze werden als Delikatesse betrachtet.«

»Aha. Weiter!«
»Kurz vor dem Au ragen dieser Gö erspeise fesselte der Koch

ein lebendes Porjo mit einer Schnur, die sich bei Hitzeeinwirkung
rasch zersetzt, und warf es in die Schüssel voll kochend heißem
Wasser. Das Vieh sprang mir in seiner Todesangst an die Brust.«

»Und?«
»Die Typen lachten fünf Minuten lang wie die Irren. Es war das

erste und einzige Mal, daß ich Hamaliten überhaupt lachen sah.«

»Man hat Ihnen also einen Streich gespielt, und Sie waren so

sauer, daß Sie dachten: Wartet nur, jetzt hole ich meinen großen
Bruder – der wird es euch zeigen!«

»Quatsch! Aber haben Sie sich schon mal überlegt, was die

Kerle für Gemüter besitzen, wenn sie ein Tier bei lebendigem Leib
in eine kochendheiße Brühe stecken – rein zum Spaß?«

»Hm, ein etwas derber Humor, das gebe ich zu. Und deshalb

riefen Sie den Untersuchungsausschuß?«

»Da war noch etwas anderes.« Orne beschrieb den Zwischenfall

mit dem Mann, der sich versehentlich in den Früchtekorb gesetzt
ha e.

»Diesmal lachten die bösen Knaben also nicht, und das weckte

Ihr Mißtrauen?«

»Ach was!« fauchte Orne. »Mir fi el nur wieder der gemeine

Spaß mit dem Porjo ein, und ich bekam eine irre Wut. Machen Sie
daraus, was Sie wollen! Ich behaupte jedenfalls immer noch, daß
auf diesem Planeten irgend etwas faul ist. Machen Sie auch daraus,
was Sie wollen!«

»Genau das habe ich vor.« Stetson griff unter das Armaturen-

bre des Wagens und holte ein Mikrofon hervor. Er schaltete es
ein. »Hallo – hier Stetson!«

Orne ha e mit einemmal einen dicken Klumpen im Hals. Das

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Summen eines Bordsenders erklang, dann, ein wenig verzögert
durch den Signalumwandler, eine blecherne Stimme: »He, Stet!
Was gibt es?«

»Wir haben hier ein echt faules Ei, Hal«, erklärte Stetson.

»Schickt Besatzungstruppen her – Dringlichkeitsstufe eins!«

Orne zuckte zusammen und starrte den UA-Mann verwirrt

an.

»Was – so schlimm?« kam die Antwort, wiederum verzögert.
»Ja. Nehmt euch mal den Blödmann vor, der hier die ersten

Kontakte geknüp hat – ein gewisser Bullone. Der Kerl fl iegt, und
wenn er Kommissar Bullones Großmu er ist! Man muß schon
blind und schwachsinnig sein, um die Hamaliten ein friedfertiges
Volk zu nennen.«

»Seid ihr in Gefahr?«
»Kaum. Der R&R-Typ hat sich sehr unauff ällig benommen.

Bis jetzt ahnen sie noch nicht, daß wir ihre Schliche durchschaut
haben.«

»Gib mir für alle Fälle deine Koordinaten!«
Stetson warf einen Blick auf das Armaturenbre . »A-8.«
»Geht in Ordnung.«
»Hal, ich möchte, daß die Truppen bereits morgen hier eintref-

fen«, sagte Stetson.

»Der Funkspruch ist bereits unterwegs, Stet.«
Das Summen der Sendeanlage verstummte. Stetson legte das

Mikrofon an seinen Platz zurück und wandte sich Orne zu.

»Sie haben sich also mehr oder weniger von Ihren Gefühlen

leiten lassen?«

Orne schü elte den Kopf. »Ich ...«
»Drehen Sie sich einmal um!«
Der R&R-Agent tat ihm den Gefallen.
»Fällt Ihnen etwas auf?«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Nein. Ich sehe einen Jäger mit seinem Gehilfen und einen

Bauern, die vermutlich vom Markt zurückkommen.«

»Ich meine die Straße selbst«, sagte Stetson. »Lektion Nummer

eins, mein Freund: Eine breite Straße, die über die Bergkämme
führt, ist eine Militärstraße. Immer. Landwirtscha swege sind
schmal und folgen den Wasserläufen. Militärstraßen weichen
Sumpfgebieten aus und überqueren Flüsse im rechten Winkel.
Tri

hier genau zu, hm?«

»Aber ...« Orne unterbrach sich, weil im gleichen Moment der

Jäger mit seinem Gehilfen au auchte. Die Männer strei en das
Fahrzeug nur mit einem fl üchtigen Blick.

»Was ist in dem Lederetui?« fragte Stetson.
»Ein Feldstecher.«
»Genau. Lektion Nummer zwei: Teleskope werden zu wissen-

scha lichen, Ferngläser zu militärischen Zwecken entwickelt. Ich
möchte we en, daß diese komischen Vogelfl inten eine Reichweite
von mindestens hundert Metern besitzen. Das wiederum läßt den
Schluß zu, daß es auf Hamal Artillerie gibt.«

Orne nickte schwach. Die Ereignisse ha en ihn irgendwie

überrumpelt. Er konnte sich noch nicht einmal richtig erleichtert
fühlen.

»Noch etwas«, fuhr Stetson fort. »Die Fügsamkeit der Zivilbe-

völkerung. Sie deutet auf eine starke militärische oder religiöse
Führerschicht hin, die den technischen Fortschri unterdrückt.
Der Rat von Hamal weiß sowohl die Religion wie die Spionage
als Machtmi el einzusetzen. Und ich bin überzeugt davon, daß er
seine Vorrechte durch eine gut ausgebildete Armee schützt. Die
Spielquadrate, von denen Sie berichtet haben, dür en in Wirklich-
keit getarnte Exerzierplätze sein ...«

Orne schluckte. »Das hä e ich selbst erkennen müssen.«
»Unterbewußt taten Sie es. All die kleinen Unstimmigkeiten

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

machten Sie so nervös, daß Sie schließlich das Signal auslösten.
Aber kommen wir zur nächsten Lektion: Eine wirklich friedfer-
tige Rasse redet überhaupt nicht vom Frieden. Sie hat ein System
der Gewaltlosigkeit entwickelt, das die beiden Begriff e Krieg und
Frieden nicht kennt.«

»Natürlich.« Orne holte tief Atem. Er warf einen Blick auf das

Dorf, das in der wabernden Hitze vor ihnen lag, »Aber wo sind
die Festungsanlagen? Oder die Zugtiere, die man zum Transport
schwerer Geschütze benötigt ...?«

Stetson zuckte die Achseln. »Das fi nden wir sicher noch heraus.

Die Hamaliten sind raffi

niert vorgegangen, das muß man ihnen

lassen. Bullone – möge er in seinem eigenen Sa schmoren!
– gewann den falschen Eindruck von Hamal und verriet zuviel.
Die Führer des Volkes setzten sich zusammen und kamen über-
ein, klammheimlich sämtliche Kriegsbeile zu begraben, um uns
gemeinsam zu melken. Haben sie bereits eine Abordnung nach
Marak entsandt?«

»Ja.«
»Um diese Leute müssen wir uns auch noch kümmern.«
Orne gab keine Antwort. Jetzt, da seine Karriere gere et war,

hä e er sich eigentlich erleichtert fühlen können. Aber er dachte
an die Folgen, welche die ›Wiederentdeckung‹ für Hamal haben
würde, und Unbehagen erfaßte ihn. Eine Besatzungsmacht ver-
tie e die Klu zwischen den Hamaliten und den Angehörigen des
Imperiums.

»Ich glaube, Sie werden einen guten UA-Mann abgeben«, sagte

Stetson.

Orne fuhr aus seinen Gedankengängen hoch. »Ich – was?«
»Ich ziehe Sie hiermit für den Untersuchungsausschuß ein!«
»Ja – dürfen Sie das überhaupt?«
»Gewiß. Wir fi nden viele Agenten auf diese Weise ...« Er sprach

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

nicht weiter, weil er merkte, daß Orne mit großen Augen dem
Farmer nachstarrte, der die Straße entlangtro ete.

»Ich – ich will ein linkshändiger Froolap sein!« murmelte Orne

und deutete auf den Mann. »Da – unser Zugtier! Und der Karren
ist nichts anderes als eine Geschützlafe e ...«

Stetson schlug sich mit der fl achen Hand gegen die Stirn. »Ver-

dammt! Direkt vor unserer Nase!« Er lächelte hart. »Ich glaube, das
gibt eine hübsche Überraschung, wenn unsere Truppen morgen
hier eintreff en.«

Orne nickte schweigend. Insgeheim dachte er, daß es eine

andere Methode geben müßte, um diese Leute zum Frieden zu
erziehen. Was Hamal braucht, ist eine neue Religion – eine, die den
Menschen hier zeigt, wie sie ihr Leben in Einklang mit ihrer Welt und
ihre Welt im Einklang mit dem Universum bringen können.

Aber das war ausgeschlossen, solange Amal jede Religion steu-

erte. Es gab keine Glaubenslehren, die einen psychologischen
Ausgleich schufen – nicht auf Chargon, nicht auf Marak und ganz
bestimmt nicht auf Hamal.

*

Jedes intelligente Geschöpf braucht irgendeine Religion.

NOAH ARKWRIGHT

Grundsätzliche Schri en

Umbo Stetson ging auf der Landekontrollbrücke seines Auf-
klärungsschiff es hin und her. Während des Fluges bildete der
dröhnende Metallboden die Rückwand der Brücke. Nun jedoch
stand das Schiff auf seinen Heckfl ossen und ragte hoch über den
Dschungel von Gienah-III auf. Durch die off enen Luken des Kon-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

trollraums sah man dicht über dem Horizont eine bu ergelbe
Sonne.

Gienah stellte ein scheußliches Problem dar, und Stetson

sträubte sich dagegen, die Sache einem Neuling zu übertragen.
Einen Mann, den er selbst zum Untersuchungsausschuß geholt
ha e ...

Ich rekrutiere ihn und schicke ihn in den Tod,

dachte Stetson. Er

warf einen Blick auf Lewis Orne, der ein nagelneues UA-Diplom
in der Tasche ha e. Er ist gut ausgebildet und intelligent, aber ohne
jede Erfahrung.

»Radikal säubern müßte man dieses Gienah«, murmelte Stet-

son. »Sämtliches Leben vernichten ...« Er blieb an einer der Luken
stehen und starrte auf die Dschungellichtung hinunter. Die Brems-
raketen des Schiff s ha en die Vegetation rings um den Landeplatz
verbrannt.‘

Orne starrte mit zusammengekniff enen Augen zum Horizont

hinüber. Weit entfernt glaubte er ein schwaches Glitzern zu erken-
nen; vermutlich die Stadt. Hin und wieder strei e sein Blick das
Instrumentenpult mit der großen Uhr oder den Kartenschirm an
der Decke. Er fühlte sich nicht besonders wohl auf dieser Welt, die
nur eine Schwerkra von sieben Achtel g aufwies. Seine Narben
im Nacken – die einzigen Spuren der Mikrosender-Implantation
– juckten wie verrückt. Er begann zu kratzen.

»Pah!« fauchte Stetson. »Politiker!«
Ein schwarzes dünnes Insekt mit krä igen Flügeln landete in

seinem kurzgeschorenen roten Haar. Er nahm es mit zwei Fingern
und ließ es wieder fl iegen. Erneut surrte es ihm um den Kopf. Er
wich aus, bis es zu Stetson weiterfl og.

Ornes neuer blauer Coverall knisterte, so steif war er noch. Er

gab dem jungen Mann ein militärisches Aussehen, das irgendwie
nicht zu seinen beinahe clownha en Zügen passen wollte.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Allmählich habe ich das Warten sa «, meinte er.
»Da sind Sie bestimmt nicht der einzige!«
»Inzwischen etwas Neues von Hamal gehört?«
»Vergessen Sie Hamal, und konzentrieren Sie sich auf

Gienah!«

»Es war ja nur eine Frage.«
Eine leichte Brise bewegte die Baumwipfel in der Tiefe. Da und

dort schoben sich rote und viole e Blüten durch das Grün. Sie
nickten wie aufmerksame Zuhörer.

»Sehen Sie sich nur den verdammten Dschungel an!« sagte Stet-

son. »Die und ihre blöden Anordnungen!«

Orne entnahm den Zornausbrüchen seines Vorgesetzten, daß

es sich bei Gienah um ein sehr spezielles, sehr gefährliches Vorha-
ben handelte. Dennoch kehrten seine Gedanken immer wieder zu
Hamal zurück. Die Besatzungsmacht ha e den Planeten übernom-
men, und alles lief wie erwartet. Es gab einfach keine Möglichkeit,
die Truppen von Übergriff en abzuhalten. Möglich, daß die Hama-
liten ein friedliches Volk waren, wenn das Imperium seine Leute
schließlich zurückholte – aber die Narben würden sich noch nach
vielen Generationen zeigen.

Ein Signal ertönte. Gleichzeitig blinkte eine rote Lampe über

dem Lautsprechergi er des Schaltpults. Stetson warf den unschul-
digen Instrumenten einen wütenden Blick zu. »Ja, Hal?«

»Okay, Stet. Der Befehl ist eben durchgekommen. Wir nehmen

Plan C. Du kannst die Geheimdaten jetzt an deinen Mann weiter-
geben – und dann sieh zu, daß du von dem Planeten verschwin-
dest!«

»Hast du dich erkundigt, ob es möglich ist, einen anderen Agen-

ten einzusetzen?«

Orne hob verwundert den Kopf. Geheimnisse über Geheim-

nisse und nun dies?

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ja. Bescheid negativ. Die Sache drängt zu sehr.«
Stetson machte ein Gesicht, als wollte er das Lautsprechergi er

zertrümmern. »POLITIKER!« knurrte er. »Aufgeblähte Sa säcke!
Bescheuerte Fe steiße! Sabbergreise!« Er holte zweimal tief Lu .
»Okay, richte den Idioten aus, daß wir nach Plan C vorgehen!«

»Schon erledigt. Soll ich mit deinem Schützling reden?«
»Nein. Ich – verdammt, erkundige dich noch einmal, ob nicht

ein anderer den Job übernimmt!«

»Stet, du weißt, daß an Bord der Delphinus ein Verzeichnis aller

UA-Agenten war. Deshalb müssen wir Orne einsetzen.«

Stetson seufzte. »Dann versuche wenigstens eine längere Frist

herauszuschinden!«

»Stet, nun fang endlich an!«
»Wenn ihr ...«
»Stet!«
»Was denn?«
»Auf dem Beobachtungsschirm zeigt sich eine Gruppe von Ein-

geborenen. Die Kerle kommen schnurstracks auf das Schiff zu.«

»Wie viele sind es?«
»Soll ich sie zählen? Sieh zu, daß du endlich verschwindest!«
»Okay, wir beeilen uns. Halte mich auf dem laufenden!«
»Wird gemacht.«
Orne stand an der Kontrollraumluke und musterte Stetson

unauff ällig. Die Unruhe seines Vorgesetzten steckte ihn an. Er
ha e ein fl aues Gefühl im Magen. Stetson bemerkte seinen Blick.
»Orne, wenn Sie jetzt noch aussteigen wollen – Sie haben meine
volle Unterstützung ...«

»Was ist denn so gefährlich an der Sache?«
»Das werden Sie gleich erfahren.« Stetson öff nete einen Spind

und holte einen weißen Coverall mit Goldverzierungen heraus,
den er Orne zuwarf. »Da – ziehen Sie sich schon mal um!«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Aber – das ist eine R&R-Uniform ...«
»Mann, streifen Sie das Ding über Ihr häßliches Gestell!«
»Jawohl, Sir! Sofort, Sir! Ich ha e nur zu denken gewagt, daß

ich nichts mehr mit dem R&R zu tun hä e – Sir!« Er schlüp e aus
seinem Drillichzeug.

Stetson grinste breit. »Es gibt Dinge, die ich ganz besonders

an Ihnen schätze, Orne! Dazu gehört auch Ihre unterwürfi ge Art
gegenüber Vorgesetzten.«

Orne strich den Klebeverschluß des weißen Coveralls zu.

»Jawohl, Sir.«

»Schluß jetzt mit dem Theater! Hören Sie mir genau zu!« Stet-

son trat an die Karte mit dem grünlich leuchtenden Koordinaten-
Gi er. »Da sind wir.« Er deutete mit dem Finger. »Und da ist die
Stadt, die wir überfl ogen haben. Sobald wir Sie absetzen, wenden
Sie sich nach Nordosten. Die Stadt ist so groß, daß Sie Ihr Ziel gar
nicht verfehlen können. Wir ...«

Wieder blinkte das Lautsprecherlicht.
»Was ist denn nun schon wieder, Hal?« fragte Stetson gereizt.
»Neue Befehle, Stet. Wir gehen nach Plan H vor.«
»Fünf Tage?«
»Mehr können sie uns nicht zugestehen.«
»Heiliger ...«
»Die Zentrale behauptet, wenn sie die Information noch länger

zurückhält, kommt Hochkommissar Bullone dahinter.«

»Also dann – fünf Tage.« Stetson seufzte.
Orne wartete, bis das Blinklicht erloschen war, dann fragte er:

»Der übliche Murks vom R&R?«

Stetson schni eine Grimasse. »Viel schlimmer – dank Bullone

und Co. Aber ganz egal, wie o wir am Rande einer Katastrophe
stehen, Uni-Galacta beharrt auf dem Blabla von der wiederverein-
ten Menschheit!«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Wenn wir die versprengten Rassen nicht zurückholen, kom-

men sie eines Tages von selbst«, entgegnete Orne. »Und das kann
gefährlich werden.«

»Ja, ja, schon gut«, winkte Stetson ab. »Aber Gienah ist wieder

ein anderer Fall. Es handelt sich hier nicht, ich wiederhole, nicht
um eine wiederentdeckte Welt.«

Orne verstei e sich. »Eine Fremdrasse?«
»Sie sagen es. Eine Rasse und eine Kultur, mit der wir noch nie

zuvor in Berührung kamen. Die Sprache, die Sie auf dem Weg hier-
her gebüff elt haben, stammt auf keinen Fall von der menschlichen
Sprache ab. Sie wurde nach den Aufzeichnungen der Minispione
zusammengestellt und ist natürlich nicht vollständig. Auch über
die Eingeborenen besitzen wir nur spärliche Informationen. Viel-
leicht benötigen wir sie nicht, wenn – wenn sich die Zentrale dazu
entschließt, Gienah zu vernichten.«

»Großer Geist, warum denn?«
»Vor sechsundzwanzig Tagen unternahm ein Forscher des

Untersuchungsausschusses eine Routineüberprüfung auf dem
Planeten. Als er seine Minispione wieder einsammelte und aus-
werten wollte – siehe da, war plötzlich ein Findelkind darunter.«

»Wollen Sie damit sagen, daß die Fremden auch Minispione

besitzen?«

»Nein. Das Ding stammt von der Delphinus, einem R&R-Schiff ,

das seit achtzehn Standardmonaten verschollen ist.«

»Sie glauben, daß es hier abstürzte?«
»Ich weiß nicht recht. Wir konnten keine Spur des Wracks ent-

decken, obwohl wir gründlich danach suchten. Und – und nun hat
sich etwas ereignet, das in mir den he igen Wunsch weckt, eine
Bombe auf diesen Scheißplaneten zu werfen und dann so schnell
wie möglich zu verschwinden ...«

Ein Summen, und das Blinken des Lautsprecherlichts.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»HERRGOTT, WAS GIBT ES?« brüllte Stetson.
»Wir haben jetzt einen Minispion über der Eingeborenengruppe,

Stet. Die Kerle reden von uns, wenn ich sie richtig verstehe. Und
sie sind bewaff net.«

»Wie sehen ihre Waff en aus?«
»Schwer zu erkennen. Unser Gerät arbeitet nicht im Infrarot-

bereich. Scheinen jedoch Gewehre mit Patronenmunition zu sein
– möglicherweise von der Delphinus.«

»Und die Leute kommen auf das Schiff zu?«
»Ja – im Eiltempo.«
»Dann behalte die Gruppe im Auge! Kümmere dich aber auch

um die übrigen Sektoren!«

»Glaubst du, ich bin von gestern?« Hal unterbrach abrupt die

Verbindung.

»Sonnige Gemüter haben wir im UA, nicht wahr?« spo ete

Stetson. Er sah Ornes Uniform an und verzog das Gesicht.

»Wozu trage ich das Ding eigentlich?« wollte Orne wissen.
»Zur Tarnung.«
»Genügt da nicht ein falscher Bart und eine Sonnenbrille?«
Stetson lächelte humorlos. »Wir haben unsere eigenen Metho-

den entwickelt, um mit diesen unterbelichteten Politikern fertig-
zuwerden. Es ist uns gelungen, Spione bis in die höchsten Stellen
des R&R einzuschleusen. Sobald wir das Gefühl haben, daß mit
diesem oder jenem Planeten etwas nicht stimmt, schaff en wir die
Akten auf die Seite.«

»Aber, aber ...«
»Dann schicken wir auf besagte Welt einen klugen Jungen wie

Sie, als R&R-Agent verkleidet.«

»Klasse! Und was geschieht, wenn der R&R hier anrückt, wäh-

rend ich mich gerade bei den Eingeborenen lieb Kind mache?«

»In diesem Fall kennen wir Sie nicht.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Quatsch, das glaubt Ihnen kein ... Moment mal! Sagten Sie

nicht, daß Gienah-III von einem UA-Forscher entdeckt wurde?«

»Ganz recht. Aber eines schönen Tages fi ng einer unserer R&R-

Spione ein Routine-Gesuch ab, daß man hier einen Vertreter des
Imperiums benötigte. Unterschrieben war der Wisch von einem
Mann namens Riso – ein Besatzungsmitglied der Delphinus.«

»Aber ...«
»Geschenkt. Das Gesuch war eine Fälschung. Und nun begrei-

fen Sie vielleicht, weshalb ich Gienah am liebsten ausro en würde.
Diesen Betrug kann nur jemand wagen, der genau weiß, daß der
echte Kontaktmann verschollen oder tot ist.«

»Stet, was, zum Henker, suchen wir hier?« fragte Orne. »Eine

Fremdrasse – das erfordert ein Experten-Team mit voller ...«

»Diese besondere Fremdrasse scheint eine Bombe zu erfor-

dern, mein Lieber. Es liegt an Ihnen, innerhalb von fünf Tagen
das Gegenteil zu beweisen. Nur so lange noch können wir Hoch-
kommissar Bullone die Welt vorenthalten. Und wenn Sie in dieser
Spanne nichts erreichen, wird Gienah zu einem hübschen Spiel-
zeug für unsere Politiker. O Mama!«

»Wir arbeiten unter Druck«, sagte Orne. »Das gefällt mir nicht.

Es steht soviel auf dem ...«

»Mir gefällt es auch nicht!« unterbrach ihn Stetson.
»Stet, es muß einen anderen Weg geben. Denken Sie an die Ale-

rinoiden! Dieses Volk hat uns Physik-Erkenntnisse geliefert, für
die wir fün undert Jahre und länger gebraucht hä en.«

»Die Alerinoiden kaperten kein einziges unserer Forschungs-

schiff e.«

»Aber wenn die Delphinus wirklich abgestürzt ist? In diesem

Dschungelgebiet entdeckt man ein Schiff nicht so leicht. Und wenn
die Einheimischen zufällig ...«

»Genau das sollen Sie herausfi nden, Orne! Sie sind die Antwort

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39

Frank Herbert – Die Riten der Götter

auf das Routine-Gesuch – ein Agent des R&R.«

Orne atmete tief durch. Er ha e das Gefühl daß man ihn vor

vollendete Tatsachen stellte und ihm keine Zeit zum Nachdenken
ließ. »Warum ausgerechnet ich?« fragte er leise.

»Sie werden in den Listen der Delphinus sicher noch als R&R-

Mann geführt, mit Fingerabdrücken, Retinabild und all den ande-
ren Dingen. Das ist wichtig, wenn die Leute da unten zur mißtrau-
ischen Sorte gehören.«

»Haben Sie wirklich keinen besseren Mann für diese Aufgabe?

Sicher, ich gehöre erst seit kurzem zu Ihrem Verein, aber ...«

»Möchten Sie aussteigen?«
»Nein. Ich will nur wissen, weshalb gerade ich ...«
»Weil die Eierköpfe im Hauptquartier einem ihrer Blechmon-

ster das Problem einspeisten. Die Dinger klickten eine Weile und
stießen dann Ihren Namen aus. Sie sind tauglich, verläßlich – und
entbehrlich.«

»Sie besitzen eine umwerfende Off enheit.«
»Verstehen Sie nun, weshalb ich Sie persönlich einweise, an-

sta es mir im Flaggschiff bequem zu machen? Ich habe Sie in
den Untersuchungsausschuß gelotst. Orne, hören Sie mir jetzt
genau zu: Wenn Sie das Notsignal auf Gienah ohne Grund auslö-
sen, ziehe ich Ihnen die Haut bei lebendigem Leib ab. Wir wissen
beide, welche Vorteile die Beziehungen zu einer fremden Rasse
bringen. Aber wenn Sie in einer echten Klemme stecken, werde
ich Sie heraushauen. Notfalls lande ich mit meinem Schiff sogar
mi en in dieser komischen Stadt. Ist das klar?«

Orne schluckte. »Ja. Vielen Dank, Stet.«
»Wir gehen in eine planetennahe Parkbahn. Ein Stück weiter

draußen warten fünf Truppentransporter mit Spezialeinheiten,
dazu ein Panzerschiff mit einer Bombe an Bord. An Ihnen liegt es,
wie sich die Sache weiterentwickelt. Wir müssen erstens wissen,

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

ob die Fremden die Delphinus festhalten, und wenn ja, an welchem
Ort. Als nächstes gilt es zu erfahren, wie kriegerisch sie sind, ob
wir mit ihnen verhandeln können oder ob sie den Kampf wollen,
wie es mit ihrer Intelligenz aussieht ...«

»Das alles in fünf Tagen?«
»Keine Sekunde länger.«
»Welche Daten haben wir bereits?«
Stetson drückte auf eine Taste. Die Leuchtkarte verschwand.

Sta dessen zeigte sich im Bildschirm die Aufnahme eines Mini-
spions. »Da«, sagte Stetson. »Die Geschöpfe haben Ähnlichkeit
mit den terranischen Schimpansen. Allerdings ist ihr Fell blau.
Lediglich die Gesichter sind unbehaart.«

»Der Kerl sieht aus wie das berühmte ›missing link‹«, stellte

Orne fest.

»Ja – aber das suchen wir nicht.«
»Vertikale Pupillenschlitze«, murmelte Orne, »eine fl ache Nase

und ein zurückweichendes Kinn. Keine richtigen Lippen. Hmm.
Die Arme sind viel zu lang im Verhältnis zum übrigen Körper.
Vier Finger an jeder Hand. Täusche ich mich, oder hat der Bursche
einen Schwanz?«

»Ja«, bestätigte Stetson. »Es handelt sich um Baumgeschöpfe.

Auf dem ganzen Planeten gibt es nicht eine einzige Straße. Dafür
eine Menge Lianenpfade, die quer durch den Dschungel führen.«
Stetsons Züge verhärteten sich. »Bringen Sie das auf einen Nenner
mit der Stadt!«

Er deutete auf die Türme und Brücken, die fi ligranha im Hin-

tergrund aufstiegen.

»Sklavenkultur?«
»Sieht so aus.«
»Wie viele Städte haben sie insgesamt?«
»Wir entdeckten zwei. Die hier und eine auf der entgegenge-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

setzten Seite des Planeten, die allerdings nur noch eine Ruine dar-
stellt.«

»Ein Krieg?«
»Fragen Sie mich nicht!«
»Wie weit reicht der Dschungel?«
»Er bedeckt nahezu die gesamte Landfl äche. An den Polen gibt

es Meere und auf dem Festland ein paar Seen und Flüsse. Zwei
Dri el des Äquatorstreifens werden von einer niedrigen Gebirgs-
ke e gebildet. Die Kontinentaldri muß schon vor langer Zeit
sta gefunden haben. Man sieht kaum noch Spuren davon.«

»Und Sie sind sicher, daß es nur die beiden Städte gibt?«
»Ziemlich. Da – sehen Sie sich das Ungetüm an! Zweihundert

Kilometer lang und mindestens fünfzig Kilometer breit. Der Com-
puter schätzt die Bevölkerung auf dreißig Millionen. Eine Stadt
von diesem Ausmaß ist uns bisher noch nie begegnet.«

»Donnerwe er!« fl üsterte Orne. »Was uns diese Rasse auf dem

Sektor der Architektur beibringen könnte ...«

»Wenn wir nicht gezwungen sind, sie auszuro en, Orne. In

diesem Fall bleibt von der Stadt nur ein Aschefeld für die Archäo-
logen.«

»Es muß einen anderen Weg geben.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, aber ...«
Das Lautsprechersignal ertönte.
»Ja, Hal?« fragte Stetson müde.
»Der Eingeborenentrupp hat nun etwa die Häl e des Weges

zurückgelegt. Ornes Ausrüstung ist auf dem getarnten Gleiter
verstaut.«

»Wir kommen sofort nach unten.«
»Weshalb ein getarnter Gleiter?« fragte Orne.
»Hals Idee. Wenn die Bewohner von Gienah das Ding für ein

Bodenfahrzeug halten, haben Sie im Moment der Gefahr einen

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Trumpf im Ärmel.«

»Stet, gibt es denn für mich überhaupt eine Chance?«
»Keine besonders große. Wir nehmen an, daß man die Besat-

zung der Delphinus gefangen hält. Sie wird man so lange am Leben
lassen, bis man Sie gründlich ausgequetscht und Ihnen die Ausrü-
stung abgenommen hat.«

»Und ich habe fünf Tage Zeit?«
»Wenn Sie nach dieser Frist noch nicht zurückgekehrt sind,

bombardieren wir.«

»Ich weiß – entbehrlich.«
»Wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf, mein Junge – halten

Sie sich immer einen Fluchtweg frei. Vielleicht hil Ihnen das hier
dabei.« Er deutete auf die frischen Narben an Ornes Hals.

»Ah, gut, daß Sie davon sprechen! Wie funktioniert das Ding

überhaupt?«

Stetson legte eine Hand an den Kehlkopf. Seine Lippen beweg-

ten sich nicht; dennoch drang eine zischelnde Stimme an Ornes
Ohr: »Verstehen Sie mich, Orne?«

»Ja. Ist das ...«
»Nicht so!« sagte die Stimme. »Schalten Sie das Mikrofon ein!

Lassen Sie die Lippen geschlossen! Setzen Sie lediglich die Sprech-
muskulatur ein, ohne die Laute in der Mundhöhle zu formen!«

Orne preßte die Hand an den Kehlkopf. »So?«
»Schon besser«, sagte Stetson. »Ich höre Sie laut und deutlich.«
»Wie groß ist der Übertragungsbereich?«
»In Ihrer Nähe wird sich stets ein Minispion mit einem star-

ken Relais befi nden. Selbst wenn Sie das Mikrofon nicht einschal-
ten, überträgt er alles, was Sie sagen und was um Sie vorgeht. Wir
zeichnen jede Ihrer Bewegungen auf.«

»Hoff entlich.«
Stetson streckte ihm die Rechte entgegen. »Viel Glück, Orne.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Das mit dem Hilfsangebot war übrigens mein Ernst. Ein Wort von
Ihnen genügt ...«

»Danke, Stet. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«

*

Beuge dein Haupt vor Ullua, dem Sternenwanderer der Ayrber. So du
den Herrn lästerst, möge deine Zunge verdorren. So aber ein anderer
den Herrn lästert, nimm sein Leben. Denn verfl ucht sind alle, die Go
nicht dienen, verfl ucht von Ihm und den Gerechten. Möge der Fluch den
Sünder treff en, vom Scheitel bis zur Sohle, im Wachen wie im Schlafe, im
Sitzen wie im Stehen ...

Anrufung des Morgens von Bairam

Grauer Schlammboden und düstere Schneisen zwischen blauen
Baumriesen – das war der Dschungel von Gienah. Nur ein schwa-
cher Lichtschimmer sickerte durch das dichte Laubdach.

Ornes Gleiter holperte über knorrige Wurzeln. Lianen ver-

sperrten ihm den Weg. Dampfschwaden stiegen auf, und aus den
Baumkronen klatschten schwere Tropfen auf die Windschutz-
scheibe. Orne schaltete die Scheibenwischer ein.

Ein leichter Schwindel ha e ihn erfaßt. Er kam von einer Welt

mit dichter Atmosphäre und wurde das Gefühl nicht los, daß
sich alles im Zeitlupentempo abspielte. Winzige Tiere huschten,
raschelten, schwirrten um das Fahrzeug. Insekten mit großen
Samtfl ügeln tauchten im Licht der Scheinwerferkegel auf, taumel-
ten in die Helligkeit. Ein endloses Zirpen, Kreischen, Pfeifen, Kek-
kern, Klopfen durchdrang das Halbdunkel.

Stetsons Stimme klang plötzlich in Ornes Kehlkopfverstärker

auf. »Wie sieht die Gegend aus?«

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44

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Reichlich fremd.«
»Etwas von den Angreifern zu erkennen?«
»Nein.«
»Schön. Wir verschwinden jetzt. Alles gute.«
In der Ferne erklang das mächtige Dröhnen der Startraketen.

Einen Moment lang verstummten alle anderen Geräusche. Nach
und nach setzte das Dschungelkonzert wieder ein.

Eine dunkle Gestalt schwang geisterha durch die Scheinwer-

ferkegel und verschwand hinter einem Baum. Dann noch eine.
Und noch eine. Unscharfe Silhoue en an Lianenpendeln. Etwas
plumpste schwer auf die Turbinenhaube.

Orne bremste so abrupt, daß die Ausrüstung im Gepäckabteil

nach vorn rutschte. Durch die Windschutzscheibe starrte ihn ein
Eingeborener von Gienah an. Er richtete ein Gewehr auf Ornes
Stirn. Nach dem ersten Schock erkannte Orne die Waff e – eine
Mark-XX, die zum Arsenal eines jeden R&R-Schiff es gehörte.

Vorsichtig legte Orne eine Hand an den Kehlkopf, schaltete das

verborgene Mikrofon ein und bewegte lautlos die Sprechmusku-
latur: »Erster Kontakt mit den Eingeborenen. Einer der Kerle sitzt auf
der Turbinenhaube und bedroht mich mit einer Mark-XX.«

»Sollen wir zurückkommen?«

wisperte Stetson.

»Nein. Aber haltet euch bereit. Der Bursche wirkt eher neugierig als

feindselig.«

»Seien Sie vorsichtig. Die Reaktionen einer völlig fremden Rasse sind

schwer zu durchschauen.«

Orne löste die Hand vom Kehlkopf und streckte sie langsam

mit gespreizten Fingern aus. Leere Hände – das Friedenssymbol
des Universums. Der Gewehrlauf senkte sich ein wenig. Orne rief
sich die Sprache von Gienah in Erinnerung, die er in Hypnose
gelernt ha e. Ochero? Nein, das hieß ›Das Volk‹. Ahh ... dieser komi-
sche Zungenbrecher.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ffroiragrazzi«, sagte er.
Der Eingeborene wich ein wenig zur Seite und erwiderte dann

in Galaktischer Universalsprache: »Wer bist du?«

Orne kämp e gegen ein Gefühl der Panik an. Der lippenlose

Mund ha e so merkwürdig ausgesehen, als er die vertrauten
Worte formte – ohne jeden Akzent übrigens.

»War das der Eingeborene?«

zischelte Stetson.

Orne faßte sich an den Hals. »Genau.«
»Wer bist du?« wiederholte das Geschöpf.
»Lewis Orne vom Reintegrations- und Reedukations-Korps.

Der Kontaktoffi

zier der Delphinus forderte mich an.«

»Wo befi ndet sich dein Schiff ?«
»Es setzte mich ab und startete wieder.«
»Weshalb?«
»Es muß noch auf anderen Planeten landen und ha e sich

bereits verspätet.«

Aus dem Augenwinkel sah Orne, daß sich mehrere Scha en

um sein Fahrzeug versammelt ha en. Jemand kle erte in das
Gepäckabteil.

Sein Gesprächspartner sprang mit einem Satz auf das Tri bre

und riß die Tür auf. Die Gewehrmündung blieb drohend auf Orne
gerichtet.

Wieder formte der lippenlose Mund Worte in der Galaktischen

Universalsprache: »Was hast du in deinem Fahrzeug?«

»Die übliche R&R-Ausrüstung – alles, was ich brauche, um den

Bewohnern eines wiederentdeckten Planeten den Anschluß an die
Zivilisation zu erleichtern.« Orne deutete mit dem Kinn auf das
Gewehr. »Kannst du die Waff e nicht senken? Sie stört mich.«

Der Eingeborene reagierte nicht darauf. Sein Mund stand off en,

und Orne sah lange Reißzähne und eine schmale blaue Zunge.
»Sehen wir für deine Begriff e nicht sonderbar aus?«

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46

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Eine starke Mutation, wenn ich mich nicht täusche«, erwiderte

Orne mit einem Achselzucken. »Worauf ist sie zurückzuführen?
Harte Strahlung?«

Der Fremde schwieg.
»Nun, im Grunde ist es egal«, fuhr Orne fort. »Ich bin hier, um

deinem Volk bei der Wiedereingliederung zu helfen ...«

»Ich bin Tanub, Führer der Grazzi und Herr der Hohen Wege«,

erklärte der Eingeborene. »Ich entscheide, wer uns hil .«

Orne schluckte.
»Wohin willst du?« fragte Tanub.
»In eure Stadt. Ist das erlaubt?«
Tanub schwieg ein paar Herzschläge lang, während sich seine

Pupillenschlitze erweiterten und wieder zusammenzogen. Die
Augen erinnerten Orne an eine Raubkatze, die zum Sprung
ansetzt. »Es ist erlaubt«, sagte Tanub schließlich.

Stetson meldete sich wieder. »He, wir werfen alles um und kehren

zurück. Galaktische Universalsprache plus Mark-XX-Gewehre – so
ha en wir nicht gewe et. Es steht fest, daß sich die

Delphinus in ihrem

Besitz befi ndet.«

Orne schaltete das Mikrofon ein. »Nein. Gebt mir noch etwas

Zeit!«

»Warum?«
»Ihr würdet nur ein Blutbad anrichten. Außerdem habe ich so eine

Ahnung ...«

»Heraus mit der Sprache!«
»Später, Stet. Sie müssen mir vertrauen.«
Es entstand eine lange Pause. Orne und Tanub beobachteten

einander aufmerksam. »Also gut«, meinte Stetson dann. »Machen
Sie weiter wie geplant! Und versuchen Sie unbedingt herauszufi nden,
wo die Delphinus versteckt ist! Wenn wir unser Schiff zurückhaben,
können wir ihnen die Zähne ziehen.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Warum tastest du immer nach deinem Hals?« fragte Tanub.
Orne nahm die Hand vom Kehlkopf. »Ich bin nervös. Gewehre

machen mich immer nervös.«

Tanub senkte den Lauf ein wenig.
»Können wir nun losfahren?« erkundigte sich Orne. Seine

Mundhöhle war wie ausgetrocknet.

»Bald.« Die grünliche Instrumentenbeleuchtung verlieh dem

Eingeborenen einen unheimlichen Gesichtsausdruck.

»Hinter mir ist noch ein Sitz frei«, sagte Orne. »Willst du ein-

steigen?«

Tanubs Blicke huschten nach links und rechts. Er drehte sich

um, rief ein paar scharfe Befehle in das Dunkel des Dschungels
und kle erte dann auf die Bank hinter Orne. Der Geruch von
nassem Fell machte sich in der Kabine breit.

»Wann fahren wir?« fragte Orne.
»Die große Sonne geht bald unter«, erklärte Tanub. »Wir setzen

unseren Weg fort, wenn Chiranachuruso am Himmel erscheint.«

»Chiranachuruso?«
»Unser Trabant – unser Mond.«
»Ein schönes Wort«, sagte Orne. »Chiranachuruso ...« – »In unse-

rer Sprache bedeutet es ›Arm des Sieges‹. Sein Licht wird uns
leiten.«

Orne drehte sich um und starrte Tanub verwirrt an. »Willst du

etwa behaupten, daß du hier in der Tiefe des Dschungels sehen
kannst?«

»Du nicht?«
»Nein – zumindest nicht ohne die Scheinwerfer.«
Tanub beugte sich vor und starrte Orne ins Gesicht. Seine Pupil-

len weiteten und verengten sich. »Du hast die gleichen Augen wie
– wie die anderen.«

»Oh, die Leute von der Delphinus?«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ja.«
Orne zwang sich, keine Fragen mehr zu stellen. Er wollte mehr

über die Delphinus in Erfahrung bringen, deshalb wollte er ver-
meiden, daß ein falsches Wort alles zerstörte. Er wußte viel zu
wenig über die Bewohner von Gienah. Wie vermehrten sie sich?
Was für eine Religion ha en sie? Es stand fest, daß Stetson und
die hohen Bosse von der Zentrale nicht mit einem Gelingen der
Mission rechneten. Ein Unternehmen, bei dem es galt, möglichst
wenig zu verlieren. Er selbst war entbehrlich.

Orne empfand plötzlich Mitleid für die Eingeborenen. Tanub

und seine Rasse ha en kein Mitspracherecht, obwohl es um ihre
Zukun ging. Verzweifelte Menschen bestimmten das Gesche-
hen. Verzweifelte und verängstigte Menschen, die im Scha en
der grauenha en Randweltenkriege aufgewachsen waren. Aber
ha en diese Menschen das Recht, eine ganze Rasse auszulöschen?
Niemand konnte leugnen, daß die Bewohner von Gienah ver-
nun begabte Geschöpfe waren.

Orne schickte ein Stoßgebet zum Himmel: »Mahmud, hilf mir,

dieses Volk zu re en!«

Eine innere Ruhe durchfl utete ihn, ein Gefühl der Stärke und

Zuversicht. Er dachte: Ich bestimme das Geschehen!

Ein kühler Hauch schien mit einemmal den Dschungel zu strei-

fen. Die Tierlaute verstummten. Nur die Eingeborenen rings um
das Fahrzeug fl üsterten.

Tanub richtete sich auf. »Wir fahren jetzt. Langsam. Folge

meinen – Kundscha ern.«

»Gut.« Orne steuerte den Gleiter über eine sperrige Wurzel. Im

Licht der Scheinwerfer sah er, wie sich die Eingeborenen von Baum
zu Baum schwangen. Stille herrschte im Innern der Kabine.

»Ein wenig nach rechts«, sagte Tanub und deutete auf eine

Schneise. Orne gehorchte.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ich habe eure Stadt von oben gesehen«, meinte Orne. »Sie ist

prachtvoll.«

»Ja.« Tanub nickte. »Eure Rasse bewundert sie. Weshalb hast du

dein Schiff so weit weg von der Stadt gelandet?«

»Wir wollten nichts zerstören.«
»Im Dschungel gibt es nichts zu zerstören, Orne.«
»Besitzt ihr nur die eine große Stadt?« wollte Orne wissen.
Stille.
»Ich fragte, ob ...«
»Orne, du kennst unsere Si en nicht«, knurrte Tanub. »Deshalb

erzeihe ich dir. Die Stadt dient dem Fortbestand unserer Rasse.
Unsere Jungen brauchen das Sonnenlicht. In früheren Zeiten
errichteten wir Pla formen in den Baumwipfeln. Das tun heutzu-
tage nur noch die Wilden.«

»Vorsicht mit Sex und Fortpfl anzung!«

fuhr Stetsons Stimme

dazwischen. »Das sind immer heikle Themen. Off enbar schlüpfen die
Jungen aus Eiern. Die Geschlechtsdrüsen verbergen sich übrigens in
dem zo eligen Fell am Hals – da wo eigentlich das Kinn sein sollte!«

»Wer bestimmt, wo sich ein Kinn zu befi nden hat?«

fragte Orne

rebellisch.

»Wer die Brutplätze besitzt, beherrscht unsere Welt«, fuhr Tanub

fort. »Früher gab es noch eine Stadt. Wir zerschme erten sie. Bald
wird der Dschungel ihre geborstenen Türme überwuchern.«

»Gibt es viele Wilde?« fragte Orne.
»Mit jeder Brutperiode weniger«, erwiderte Tanub. Seine

Stimme klang stolz.

»Daher bekommen sie ihre Sklaven!«

warf Stetson ein.

»Bald werden sie völlig ausgero et sein«, sagte Tanub.
»Du beherrscht die Galaktische Universalsprache sehr gut«,

stellte Orne fest.

»Der Herr der Hohen Wege verfügt über den besten Lehrer«,

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

erwiderte Tanub. »Weißt du viele Dinge, Orne?«

»Deshalb schickte man mich hierher.«
»Unterrichtet ihr mehrere Welten?«
»Eine ganze Menge«, bestätigte Orne. »Eure Stadt besteht aus

hohen Türmen. Welches Material verwendet ihr beim Bau?«

»Glas –

in eurer Sprache. Die Ingenieure der Delphinus erklär-

ten, so etwas sei unmöglich. Sie haben sich getäuscht.«

Wieder mischte sich Stetson ein. »Eine Glasbläser-Kultur! Das

würde manches erklären.«

Der Gleiter kroch durch die Dschungelschneise, während Orne

versuchte, die Informationen auszuwerten. Glasbläser. Herr der
Hohen Wege. Augen mit senkrechten Pupillenschlitzen. Eine
Baumrasse. Jäger. Kriegerisch. Sklavenkultur. Die Jungen brauch-
ten das Sonnenlicht. Aberglaube oder physische Notwendigkeit?
Rasche Auff assungsgabe. Schließlich befand sich die Delphinus
erst seit achtzehn Standardmonaten in ihrem Besitz.

Einer der Kundscha er schwang sich in den Scheinwerferke-

gel, sprang zu Boden und winkte.

Auf Tanubs Befehl hielt Orne an. Sie warteten etwa zehn Minu-

ten, bevor sie weiterfuhren.

»Wilde?« fragte Orne.
»Vielleicht. Aber wir sind stark. Und sie haben keine guten

Waff en. Fürchte dich nicht, Orne!«

Ein Glitzern zwischen den Stämmen verriet, daß sie sich ihrem

Ziel näherten. Der Dschungel wurde lichter, blieb ganz zurück.
Eine freie Zone von etwa zwei Kilometern erstreckte sich bis zur
Stadt.

Orne hielt den Atem an. Türme, höher als die höchsten Dschun-

gelbäume, ragten in den mondhellen Himmel. Wendeltreppen,
elegant geschwungene Brücken, schräge Rampen verbanden sie.
Ein schimmerndes Filigran aus Glas, ein glitzerndes Netz ...

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Was ist los?«

erkundigte sich Stetson.

Orne preßte die Hand an den Kehlkopf. »Wir stehen dicht vor der

Stadt. Sie ist atemberaubend.«

»Schade, daß wir sie in die Lu jagen müssen.«
Orne fi el ein Fluch seiner Heimatwelt Chargon ein: Mögest du

wie eine Lu wurzel mit dem Kopf in den Boden wachsen!

In diesem Moment tauchten von allen Seiten bewaff nete Einge-

borene auf. Tanub beugte sich über seine Schulter. »Du hast dich
nicht täuschen lassen, Orne, oder?«

Orne spürte, wie sich sein Magen verkramp e. »Wie meinst du

das?« Der Geruch von nassem Fell stieg ihm in die Nase.

»Du hast durchschaut, daß wir keine Mutanten einer humano-

iden Rasse sind.«

Orne schluckte.
»Geben Sie es lieber zu!«

wisperte Stetson.

»Ja, das stimmt.«
»Du gefällst mir, Orne«, sagte Tanub. »Ich mache dich zu

meinem Sklaven. Du bekommst schöne Frauen von der Delphinus,
und dafür bringst du mir all die Dinge bei, die du weißt.«

»Wie habt ihr die Delphinus gekapert?«
»Woher weißt du das?« Tanub hob das Gewehr.
»Das ist nicht schwer zu erraten«, erwiderte Orne. »Die Waff e

hier stammt von der Delphinus. Und man hat sie dir sicher nicht
freiwillig gegeben. Unser Ziel ist es, den Frieden im Universum
zu ...«

»Bodenwurm!« unterbrach ihn Tanub verächtlich. »Du und

deine Rasse – ihr seid keine Gegner für uns! Wir gehen den
Hohen Weg. Unser Mut ist gewaltig. Wir überragen die anderen
Geschöpfe an List. Wir werden euch unterjochen.«

»Wie habt ihr die Delphinus in euren Besitz gebracht?«
»Ha! Ihr versteht nichts von Keramikbauteilen. Die Schiff sdü-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

sen versagten, und wir erklärten der Besatzung wahrheitsgemäß,
daß wir sie verbessern könnten ...«

Orne musterte Tanub im schwachen Schein der Instrumenten-

beleuchtung. »Tanub, hast du je vom Untersuchungsausschuß der
Galaktischen Föderation gehört?«

»Untersuchungsausschuß! Das sind die Leute, die ständig

durch die Galaxis reisen und die Dinge in Ordnung bringen, die
ihre Gefährten falsch gemacht haben! Dieser Ausschuß bedeutet
das Eingeständnis eurer Unterlegenheit.«

»Viele Völker begehen Fehler.«
Der Gienah-Führer schien sich anzuspannen. Er entblößte die

Fänge und knurrte leise.

»Ihr habt die Delphinus durch einen Verrat besiegt!«
»Fordern Sie ihn nicht heraus!«

zischte Stetson.

»Die Narren auf der Delphinus hielten uns für schwach, weil wir

von kleinerer Gestalt sind als sie.« Tanub bohrte Orne die Mün-
dung des Gewehrs in den Magen. »Beantworte mir eine Frage!
Weshalb sprichst du von diesem Untersuchungsausschuß?«

»Weil ich ihm angehöre«, erwiderte Orne. »Ich kam her, um

herauszufi nden, wo ihr die Delphinus versteckt haltet.«

»Du bist hergekommen, um zu sterben«, sagte Tanub. »Das

Schiff gehört jetzt uns. Es ist an einem sicheren Ort, dem sichersten
und besten Ort, den es gibt. Wenn die Zeit des Angriff s naht...«

»Ihr seht keine andere Möglichkeit als den Angriff ?«
»Im Dschungel erschlägt der Starke den Schwachen.«
»Und am Ende bringen sich die Starken gegenseitig um.«
»So reden nur Feiglinge.«
»Oder Leute, die miterlebt haben, wie durch diese Denkweise

ganze Welten ausgero et wurden – so daß weder für die Starken
noch für die Schwachen Lebensraum blieb.«

»In einem Jahr, Orne, sind wir bereit zum Angriff . Dann werden

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

wir sehen, wer von uns beiden recht hat.«

»Schade, daß du nicht weiter denkst«, meinte Orne. »Wenn

zwei intelligenzbegabte Rassen zusammentreff en, sollten sie ihr
Wissen austauschen. Das wäre ein echter Gewinn für beide. Was
habt ihr mit der Mannscha der Delphinus gemacht?«

»Jene, die noch leben, sind unsere Sklaven. Einige leisteten

Widerstand. Andere weigerten sich, ihr Wissen an uns weiterzu-
geben.« Er klop e an den Lauf der Mark-XX. »Du wirst nicht so
dumm sein und dich weigern, oder?«

»Wir Angehörige des UA sind dazu ausgebildet, anderen Leuten

Lektionen zu erteilen – besonders wenn sie einen Fehler begangen
haben«, sagte Orne. »Und du hast einen Fehler begangen, Tanub.
Du hast mir verraten, wo die Delphinus verborgen ist.«

»Mann, das ist ein Ding!«

hörte er Stetsons erregte Stimme. »Nun

spannen Sie uns nicht auf die Folter!«

»Unmöglich!« knurrte Tanub. Er richtete die Waff e immer noch

auf Orne.

»Sie befi ndet sich auf der dunklen Seite eures Mondes«, fuhr

Orne fort.

Tanubs Pupillenschlitze verengten sich, bis sie ein schmaler

Strich waren. »Du liest Gedanken?«

»Nein. Ich verlasse mich auf meine geistige Überlegenheit und

die Fehler der anderen.«

»Ich habe zwei Panzerschiff e losgeschickt«,

zischte Stetson. »Keine

Angst, wir holen Sie raus! Aber dann möchte ich erfahren, wie Sie dieses
Rätsel gelöst haben ...«

»Du bist ein Schwächling wie die anderen!« Tanub knirschte

mit den Zähnen.

»Du begehst einen neuen Fehler, wenn du mich mit den primi-

tiven Geschöpfen des R&R vergleichst.«

»Immer langsam!«

warnte Stetson. »Lassen Sie es jetzt nicht auf

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

einen Kampf ankommen! Der Kerl ist ein Baumgeschöpf und vermutlich
stark wie ein Gorilla.«

»Armselige Made!« fauchte Tanub. »Ich könnte dich auf der

Stelle töten.«

»Das würde den Untergang dieser Welt bedeuten«, warnte ihn

Orne. »Ich bin nicht allein, Tanub. Andere hören unser Gespräch
mit. Eines unserer Schiff e umkreist den Planeten, und es hat eine
Bombe an Bord. Weißt du, wie die Oberfl äche von Gienah nach
der Detonation aussehen würde? Wie geschmolzenes und wieder-
erstarrtes Glas!«

»Du lügst.«
»Ich unterbreite dir ein Angebot«, sagte Orne. »Uns liegt nichts

daran, euch zu vernichten. Wir tun es nur, wenn ihr uns dazu
zwingt. Sta dessen nehmen wir euch in die Galaktische Födera-
tion auf – zur Probe, bis ihr bewiesen habt, daß ihr keine Gefahr
für andere Völker darstellt.«

»Du wagst es, mich zu beleidigen!«
»Ich meine es ernst. Wir ...«
»Gescha

, Orne!«

unterbrach ihn Stetson. »Unsere Leute haben die

Delphinus in einem engen Gebirgstal auf der dunklen Seite des Mondes
entdeckt. Die Startraketen waren abgesprengt. Wir bringen die Sache
jetzt in Ordnung.«

»... sind bereits wieder im Besitz der Delphinus«, änderte Orne

seinen Satz ab.

Tanubs Blicke wanderten zum Himmel. »Unmöglich«, sagte

er dann. »Die Ingenieure deiner Rasse haben in der Stadt einen
Sender errichtet, der die Verbindung zum Schiff aufrechterhält. Es
wurde kein Signal durchgegeben ...«

»Ihr besitzt nur die schlechte Ausrüstung der R&R«, erklärte

Orne. »Und deine Leute haben geschwiegen, bis es zu spät war.
Das ist ihre Art.«

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55

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»He, woher wissen Sie das?«

warf Stetson ein.

Orne beachtete die Zwischenfrage nicht. »Du trägst die Mark-

XX der Delphinus. Das verrät mir, daß ihr keine besseren Waff en
kennt. Ihr werdet eine Niederlage erleiden.«

»Dann sterben wir eben den Heldentod.«
»Das ist nicht nötig. Wir wollen nicht ...«
»Vielleicht lügst du«, unterbrach ihn Tanub. »Dieses Risiko

kann ich nicht eingehen. Ich muß dich töten.«

Ornes Fuß drückte auf einen winzigen Hebel. Die Startdü-

sen des Gleiters kreischten auf. Die Maschine schoß senkrecht in
die Höhe. Tanub ließ entsetzt das Gewehr fallen. Er versuchte es
wieder aufzuheben, aber die Beschleunigung preßte ihn gegen
den Sitz.

Orne, der den weit höheren Druck seines Heimatplaneten Char-

gon gewohnt war, nahm die Waff e ruhig an sich. Dann schnallte er
Tanub mit Hilfe des Sicherheitsgurtes in seinem Sitz fest. Langsam
drosselte er die Beschleunigung.

Tanub starrte ihn mit unverhohlener Angst an.
»Wir brauchen keine Sklaven«, sagte Orne. »Maschinen erle-

digen einen Großteil unserer Arbeit. Wir werden Experten nach
Gienah schicken, die euch zeigen sollen, welche Energien in eurer
Welt stecken. Ein vernün iges Transportsystem, der Abbau von
Rohstoff en, die ...«

»Und was verlangt ihr dafür?« fl üsterte Tanub eingeschüch-

tert.

»Ihr könnt uns beibringen, bessere Keramikbauteile herzustel-

len«, sagte Orne. »Wir haben wirklich nicht die Absicht, euch aus-
zuro en – obwohl du nun gesehen hast, daß wir es ohne weiteres
schaff en würden. Aber schon der Gedanke, eure schöne Stadt zu
zerstören und euch zurück in den Dschungel zu jagen, erfüllt uns
mit Gewissensqualen.«

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56

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Tanub duckte sich. »Die Stadt«, wisperte er. »Laß mich zu

meinem Volk gehen. Ich – ich will dem Rat deine Vorschläge unter-
breiten.« Er starrte Orne voll Bewunderung an. »Ihr seid stark ...
zu stark. Das ha en wir nicht vermutet.«

*

Da die Psi-Wahrnehmungen aus dem in frühen Zeiten unerforschten
Bereich des Unterbewußtseins kamen, verband die Menschheit sie stets
mit Furchtreaktionen und Begriff en wie Hexerei und Schwarze Magie.
Diese Vorstellung hat sich tief in uns erhalten, und wir neigen dazu, die
Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.

HALMYRACH, ABT VON AMEL

Psi und Religion

Die Lichter in der Offi

ziersmesse waren gedämp und die Sessel

bequem. Auf der grünen Tischpla e standen Kristallingläser und
eine Karaff e mit Hochar-Brandy.

Orne hob sein Glas und nahm einen Schluck von der dunklen

Flüssigkeit. »Eine Zeitlang fürchtete ich, mit diesen Genüssen
wäre es für immer vorbei.«

Stetson schenkte sich ebenfalls ein Glas ein. »Die Zentrale hat

die ganze Geschichte per Monitor verfolgt. Wissen Sie, daß man
Sie befördert hat?«

»Endlich erkennt jemand meinen wahren Wert!«
Stetson grinste breit. »Freuen Sie sich nicht zu früh, mein Junge!

Je höher der Rang, desto stärker der Verschleiß. Die Verlustziff er
ist groß.«

»Hä e ich mir denken können.« Orne nahm noch einen Schluck

von dem Brandy. Seine Gedanken wanderten zu Gienah, dann zu

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57

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Hamal. Militärische Besetzung. Man konnte es eine Notwendig-
keit nennen, eine Vorbeugemaßnahme oder wie auch immer – es
war und blieb Kontrolle durch Gewalt.

Stetson schaltete das Aufnahmegerät ein. »Also schön, bringen

wir die Sache hinter uns!«

»Womit soll ich anfangen?«
»Am besten mit einer Entschuldigung. Wie kommen Sie dazu,

Gienah auf Probe in die Galaktische Föderation aufzunehmen?«

»Es erschien mir kein schlechter Gedanke.«
»Aber Agenten Ihres Ranges haben im allgemeinen nicht die

Vollmacht zu solchen Angeboten.«

»Ist die Zentrale dagegen?«
»Nein. Man hat Ihren Vorschlag nachträglich genehmigt.«
»Na also!«
»Orne, wie sind Sie auf das Versteck der Delphinus gestoßen?

Wir ha en den Mond bereits fl üchtig abgesucht und nicht das
geringste entdeckt. Die Idee erschien aber auch zu abwegig.«

»Nun, ich ha e inzwischen einiges über die Eingeborenen von

Gienah in Erfahrung gebracht. In mancher Hinsicht erinnerten sie
mich an die alten Indianerstämme auf Terra.«

»Wie meinen Sie das?«
»Sie überfi elen mich wie eine Horde von Wilden. Ihr Anführer

sprang mit einem Satz auf die Turbinenhaube meines Gleiters. Das
war ein Mutbeweis vor mir, aber auch vor seinen Gefährten.«

»Ehrlich gesagt, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Warten Sie ab! Dieser Tanub nannte sich Herr der Hohen Wege.

Das ist eine wörtliche Übersetzung. In Wirklichkeit wollte er aus-
drücken, daß er eine Art Bandenchef oder Räuberhauptmann war.
Sehen Sie, es gibt in jeder Sprache ein Wort für Räuber, das mit
Weg oder Straße zu tun hat, sei es nun ›Highwayman‹ oder Wege-
lagerer oder sonst etwas.«

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58

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Möglich, aber was hat das ...«
»Sofort. Die Glasbläserkultur deutete ferner darauf hin, daß die

Spezies noch nicht lange die Primitiven-Stufe überwunden ha e.
Und das Überleben der Rasse stand in engem Zusammenhang mit
der hochgelegenen, von Sonnenlicht durchfl uteten Stadt.«

»Das hieß doch nur, daß wir eine Kontrollmöglichkeit ha en.«
»Kontrolle ist ein häßliches Wort, Stet. Aber lassen wir das jetzt.

Sie wollen wissen, durch welche Hinweise ich das Versteck der
Delphinus

fand. Es geht weiter. Tanub sagte mir, der Mond von

Gienah hieße Chiranachuruso, übersetzt ›Arm des Sieges‹.«

»Ja – und?«
»Dann die senkrechten Pupillenschlitze.«
»Orne, Sie drücken sich wie ein Orakel aus.«
»Die Eingeborenen von Gienah sind Räuber, die nachts den

Dschungel durchstreifen und sich aus den hohen Baumkronen
auf ihre Opfer stürzen. Tanub erklärte mir, das Schiff sei an dem
sichersten und besten Ort, den es gäbe. Die Mentalität dieser Leute
verlangte also nach einem Versteck, das irgendwo sehr hoch oben
lag – und dunkel war. Dafür kam nur ein Platz in Betracht – die
dunkle Seite von Chiranachuruso, dem ›Arm des Sieges‹.«

»Ich will ein gesprenkelter Greepus sein!« stöhnte Stetson.
Orne grinste ihn an. »Lieber nicht – Sir. Für den Augenblick

habe ich nämlich genug von Nichthumanoiden.«

*

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59

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Erst durch den Tod wissen wir, was Leben ist«, sagte der Abt. »Ohne
die ewige Nähe des Todes gäbe es keine Bewußtseinsentfaltung, keinen
Sieg über das Bewußtsein, keinen Rückzug aus festverankerten Symbo-
len in die Leere ohne Ende.«

ROYALI, Religion für jedermann

Gespräche mit dem Abt

Die UA-Bosse sprachen vom ›Sheleb-Zwischenfall‹ und stellten
mit Erleichterung fest, daß nur ein Opfer zu beklagen war. Daran
mußte Stetson denken, als er das eine Opfer zurück nach Marak
fl og. Ein Gespräch kam ihm immer wieder in den Sinn.

»Je höher der Rang, desto stärker der Verschleiß. Die Verlustziff er ist

groß.«

Stetson murmelte einen langen Prjado-Fluch.
Die Ärzte ha en kaum Hoff nung, den Gere eten durchzubrin-

gen. Der Mann lebte nur noch im klinischen Sinn. Er befand sich
in einer Bergungskapsel, und komplizierte Apparaturen ha en
seine wichtigsten Körperfunktionen übernommen.

Die Morgensonne von Marak fi el auf den abseits gelegenen

Landeplatz. Von hier aus war der Lazare -Komplex des Haupt-
quartiers am schnellsten zu erreichen. Aber die Bodenkontrolle
ha e den Notarztwagen noch nicht durchgelassen.

Ein Schild auf der Bergungskapsel identifi zierte den Verstüm-

melten als Lewis Orne. Ein Bild war beigefügt. Es ha e nur wenig
Ähnlichkeit mit dem Mann im Innern der Kapsel.

Dennoch – sobald sich Stetson der Kapsel näherte und einen

Blick auf das hilfl ose Bündel Mensch warf, ha e er das Gefühl,
daß eine sonderbare Kra von dem Todgeweihten ausstrahlte. Er
schalt sich einen Idioten, der seinen Schuldkomplex ins Metaphy-
sische zu verdrängen suchte. Aber insgeheim beschloß er, einem

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60

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Psi-Sachverständigen dieses Phänomen zu schildern – für alle
Fälle.

Dann erhielten die Mediziner die Erlaubnis, das Landefeld zu

betreten.

Stetson, immer noch erfüllt von Entsetzen und Kummer, fühlte

sich abgestoßen von der kalten Gleichgültigkeit, mit der die
Leute diesen Fall behandelten. Allem Anschein nach betrachteten
sie den Patienten als eine Kuriosität. Der Arzt unterschrieb den
Befund. Orne ha e ein Auge verloren, ein Stück des rechten Ober-
schenkels, die linke Kniescheibe, drei Finger der linken Hand und
einen Teil des linken Unterkiefers. Die Haut des Rückens war von
den Schulterblä ern bis zur Hü e verbrannt. Lungen und Nieren
arbeiteten nicht mehr.

Das Diagramm an der Kapsel zeigte, daß sich Orne seit einhun-

dertneunzig Stunden im Schockzustand befand.

»Warum habt ihr euch die Mühe mit der Kapsel gemacht? fragte

der Arzt.

»Weil er lebt!«
Der Mann schü elte den Kopf. »Seine Herztöne sind so schwach,

daß wir die ausgefallenen Organe auf keinen Fall operativ erset-
zen können. Und zur Zellreproduktion hat er einfach nicht die
Kra . Eine Zeitlang hält er vielleicht noch durch, weil er sich in
der Kapsel befi ndet, aber dann ...« Der Arzt zuckte die Achseln.

»Noch lebt er!« beharrte Stetson.
»Ja, und wir können immer beten, daß ein Wunder geschieht«,

fügte der Arzt trocken hinzu.

Stetson warf ihm einen haßerfüllten Blick zu, aber der Mann ach-

tete nicht darauf. Er starrte durch das winzige Fenster ins Innere
der Kapsel. Nach einer Weile richtete er sich kopfschü elnd auf.

»Wir werden unser Möglichstes tun«, sagte er.
Sanitäter verluden die Kapsel, und dann jagte der Wagen über

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61

Frank Herbert – Die Riten der Götter

die Betonpiste zu einem der hohen grauen Klötze, die das Lande-
feld umringten.

Stetson schlenderte mit hängenden Schultern in seinen Arbeits-

raum zurück. Er ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und
starrte durch die off ene Sichtluke auf das Hafengewimmel hin-
unter. Auf dem Hauptfeld standen zwei Reihen von Partouillen-
Schiff en startbereit – rotschwarze Nadeln, die in der Sonne blitz-
ten. Wie viele davon waren schon hier gelandet, um Verwundete
und Sterbende abzuladen?

Er dachte: Es geschieht immer bei irgendeiner alltäglichen Mission.

Was Sheleb betraf, ha en wir nur einen vagen Verdacht. Ein Frauen-
Regime. Das machte uns stutzig. Eine Kleinigkeit – und ich verliere
einen meiner besten Agenten.

Er seufzte. Dann begann er seinen Bericht aufzusetzen.
»Der militante Kern des Sheleb-Volkes konnte ausgero et

werden. (Ein scheußliches Blutbad!) Besatzungstruppen eingetrof-
fen. (Orne hat recht mit seiner Meinung über die Besatzungsmächte.
Sie bringen ebensoviel Schaden wie Nutzen.)

Gefahr für den Galakti-

schen Frieden gebannt. (Was kann ein zerrissenes und demoralisiertes
Volk schon tun?)

Grund des Eingreifens: (Blödheit der anderen!) Der Kontaktmann

des R&R übersah militante Anzeichen auf Sheleb, obwohl er zwei
Monate auf dem Planeten weilte.

Verdachtsmomente:
1. Reines Frauen-Regime,
2. Zu großer Unterschied (Lutig-Norm) zwischen Männern und

Frauen hinsichtlich Anzahl und Aktivitäten,

3. Das übliche Hierarchie/Kontroll/Geheimdienst-Syndrom.

Unser Agent Lewis Orne fand heraus, daß die Herrscherkaste
eine Methode entdeckt ha e, das Geschlecht der Nachkommen
schon bei der Empfängnis zu bestimmen (siehe Anlage). Sie züch-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

tete eine Armee männlicher Sklaven, die für eine strikte Durch-
führung der Regierungsbefehle sorgte. Der R&R-Agent wurde,
nachdem er seine Informationen preisgegeben ha e, umgebracht
und durch einen Doppelgänger ersetzt. Eine der Waff en, die man
mit Hilfe des neuerworbenen Wissens konstruierte, verwundete
Lewis Orne so schwer, daß mit seinem Tod zu rechnen ist.

Ich schlage hiermit vor, Orne posthum den Galaxis-Verdienst-

orden zu verleihen und seinen Namen in die Ehrenliste einzutra-
gen.«

Stetson schob den Bericht zur Seite. Der Zentrale genügte ein

grober Überblick. Um die Einzelheiten kümmerten sich später
seine Adjutanten. Mit einem Seufzer suchte Stetson Ornes Perso-
nalakte heraus und machte sich an die Aufgabe, die er am meisten
verabscheute: die nächsten Angehörigen zu verständigen.

»Heimatplanet Chargon«, murmelte er. »Im Krankheits- oder

Todesfall zu benachrichtigen – Mrs. Victoria Orne, Mu er.«

Er blä erte die Akte durch, um die unangenehme Pfl icht noch

ein wenig hinauszuschieben. Orne ha e sich mit siebzehn zu den
Spezialkämpfern der Föderation gemeldet. Er war von daheim
ausgerissen, und seine Mu er gab erst nachträglich ihre Einwil-
ligung zu dem Schri . Zwei Jahre später – Stipendium für Uni-
Galacta, das R&R-Ausbildungszentrum auf Marak. Fünf Jahre
Studium, eine R&R-Mission, und dann sofort Rekrutierung zum
UA. Wieder zwei Jahre später – Bergungskapsel.

In einem plötzlichen Wutanfall schleuderte Stetson die Akte

gegen die graue Metallwand. Als er die Papiere wieder aufsam-
melte, standen ihm Tränen in den Augen.

Er stellte die Verbindung zum Zentralsekretariat her und dik-

tierte einen kurzen Text an Ornes Mu er. Dann verließ er das
Schiff . An diesem Abend betrank er sich im Hafen mit Hochar-
Brandy.

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63

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Am Morgen darauf erhielt er bereits Antwort von Chargon.
»Mu er von Lewis Orne in schlechter Gesundheitsverfassung.

Konnte nicht benachrichtigt werden. Sta dessen Schwestern ver-
ständigt. Bi e an Mrs. Ipsco Bullone, Ga in des Hochkommis-
sars von Marak, die Familie zu vertreten.« Unterzeichnet war das
Schreiben von Madrena Orne Standish.

Stetson ha e seine Bedenken, als er die Residenz von Ipsco

Bullone anrief. Immerhin war der Mann Führer der Mehrheits-
partei im Rat der Föderation. Mrs. Bullone nahm das Gespräch
an, schaltete aber den Bildschirm nicht ein. Im Hintergrund hörte
man Wasser rauschen.

Stetson starrte in das Grau. Er haßte leere Videoschirme. Außer-

dem ha e er Kopfschmerzen von dem Brandy, und eine innere
Stimme warnte ihn. Irgend etwas war da sicher nicht in Ord-
nung.

Eine herbe, beinahe männliche Stimme drang aus dem Laut-

sprecher neben dem Videoschirm. »Ja – Polly Bullone!«

Stetson stellte sich vor und schilderte den Sachverhalt.
»Victorias Sohn im Sterben? Hier auf Marak? Das darf nicht

wahr sein! Und Madrena ist eigens wegen der Wahlen nach Char-
gon gereist. Ja, natürlich, ich kümmere mich sofort um ihn.«

Stetson bedankte sich und brach das Gespräch ab. Er kaute

nachdenklich an seiner Unterlippe. Die Ga in des Hochkommis-
sars! Etwas stimmte da nicht. Und dann durchzuckte es ihn blitz-
artig – der Kontaktmann auf Hamal! Wie ha e dieser Pfuscher
geheißen? Andre Bullone!

Stetson besorgte sich unauff ällig den vollen Bericht über die

Hamal-Aff äre. Tatsächlich, dieser Andre Bullone war ein Neff e
des Hochkommissars. Iepotismus in den höchsten Rängen – sieh
mal einer an! Aber er konnte keinen Zusammenhang zu Ornes
Fall erkennen. Ein jugendlicher Ausreißer. Ungewöhnlich begabt.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Willensstark und zielbewußt. Er schien nichts über diese Famili-
enverbindung zu wissen.

Stetson las weiter. Man ha e den Neff en zu einem Schreibtisch-

job verdonnert. Er saß jetzt in irgendeinem obskuren Büro und
frisierte Berichte. Neben dem Versetzungsvermerk entdeckte Stet-
son einen grünen Haken. Das bedeutete: Druck von oben.

Hm – eine Verbindung zwischen Orne und den Bullones ...
Immer noch verwirrt, richtete Stetson eine kurze vertrauliche

Notiz an die Zentrale. Dann wandte er sich dem Papierkram zu,
der sich auf seinem Schreibtisch angesammelt ha e.

*

Als die Mythologie unser erstes primitives Verständnis für das Phäno-
men der Psi-Krä e weckte, trat eine Wende ein. Dem Grimorium folgte
Neugier, und die Furcht wich der Experimentierlust. Die Menschheit
wagte es erstmals, dieses grauenbeha ete Grenzgebiet mit den ana-
lytischen Waff en des Verstandes zu durchforschen. Aus diesen ersten
plumpen Vorstößen entstanden die praktischen Handbücher, die uns als
Grundlagen für die Religions-Psi-Lehre dienten.

HALMYRACH, ABT VON AMEL

Psi und Religion

Die ovale Kapsel mit dem Schwerverwundeten befand sich in einem
Einzelzimmer. Starke Deckenhaken hielten sie in der Schwebe,
damit sie keinen Erschü erungen ausgesetzt war. Das Summen,
Klicken und Pochen medizinischer Geräte durchdrang das wäs-
serige Grün des Raums. Hin und wieder schob sich eine Tür auf,
eine weißgekleidete Gestalt trat lautlos ein und warf einen Blick
auf den Verletzten. Die Apparate wurden überprü , die Kurven
vervollständigt, und dann war Lewis Orne wieder allein.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Die jungen Assistenzärzte sprachen o über ihn. »Dieser Agent

von Sheleb hat es immer noch nicht überstanden. Mann, so etwas
von zäh ... Soviel ich hörte, besitzt er nur noch den achten Teil
seiner Organe – Leber, Nieren, Magen, alles im Eimer ... We en,
daß es ihn noch in diesem Monat erwischt ... Ha, seht euch Tavish
an, der we et immer auf Nummer Sicher!«

Am Morgen des achtundachtzigsten Tages nahm die Tages-

schwester die erste Routine-Überprüfung vor. Sie öff nete die
Sichtklappe, warf einen Blick auf den Verletzten. Sie war eine
hochgewachsene Frau mit harten Gesichtszügen, die es gelernt
ha e, Wunder und Niederlagen mit der gleichen äußeren Ruhe
hinzunehmen. Ihre Aufgabe war es, den Kranken zu beobachten,
mehr nicht.

Bald hast du es gescha

, armer Teufel!

dachte sie.

Orne öff nete das eine Auge, das ihm geblieben war. Die Tages-

schwester, abgestump durch den gleichbleibend schlechten
Zustand des Patienten, stieß einen leisen Schrei aus.

»Haben sie diesen Hexen auf Sheleb tüchtig eingeheizt?« wis-

perte Lewis Orne.

»Ja, Sir!« stieß die Schwester hervor. »Und ob sie das getan

haben!«

»Wieder so ein verdammter Pfusch!« Orne schloß das Auge.

Die Atemkurve verstärkte sich. Auch die Herztöne waren deutli-
cher zu hören.

Die Schwester klingelte aufgeregt nach den Ärzten.

*

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66

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Ein

Teil unseres Problems liegt darin, daß wir eine äußere Kontrolle für

Systeme schaff en, die man eigentlich durch innere Krä e im Gleichge-
wicht halten sollte. Wir geben uns zu wenig Mühe, die inneren Ord-
nungskrä e, von denen das Überleben einer Art abhängt, zu erkennen,
und so geschieht es häufi g, daß wir sie unterdrücken. Wir ignorieren
damit unsere eigenen Feedback-Funktionen.

LEWIS ORNES Bericht über Hamal

Orne ha e für eine unbestimmte Spanne in einer nebligen Leere
geschwebt. Dann war eine Zeit der Schmerzen gekommen, gefolgt
von der allmählichen Erkenntnis, daß er sich in einer Bergungs-
kapsel befand. Er erinnerte sich an die Explosion auf Sheleb, die
ihn plötzlich erfaßt ha e, mit Urgewalt und völlig lautlos.

Die Kapsel verlieh ihm ein Gefühl der Sicherheit, schirmte ihn

gegen Gefahren von außen ab. In seinem Innern herrschte Chaos.
Er erinnerte sich an ... Träume? Waren es wirklich Träume? Er
konnte es nicht genau sagen. Etwas von einer Axt und einem Axt-
stiel. Der Zusammenhang entgli ihm immer wieder. Er spürte
seine Abhängigkeit von der Kapsel, doch nicht nur das; da war
etwas, das ihn an ein gnadenlos manipulierendes System fesselte
– eine Art Masseneff ekt, der jegliche Existenz auf einen Grundnen-
ner brachte.

Ist es möglich, daß der Mensch den Krieg ersann und von seiner eige-

nen Erfi ndung überrumpelt wurde?

dachte Orne. Wie können wir es

wagen, uns zu Richtern über die Angelegenheiten sämtlicher vernun -
begabten Wesen aufzuwerfen?

Ist es möglich, daß wir von unserem Universum beeinfl ußt werden

– in einer Art und Weise, die wir nicht ohne weiteres durchschauen?

Er spürte, wie sein Gehirn/Verstand/Bewußtsein arbeitete und

gelangte zu der Überzeugung, daß all diese Aktivität nur dazu
diente, Symbole für die Triebkrä e, den Aufwärtsdrang des

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67

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Lebens zu fi nden. Irgendwo in seinem Innern gab es jedoch eine
alte Funktion, ein Ding von archaischen Tendenzen, das immer
gleich blieb, ungeachtet der Evolutionsstufen, die es durchlaufen
ha e.

Abrupt fühlte er die Nähe einer überwältigenden Gedanken-

macht: Der Versuch von vernun begabten Geschöpfen, die Vergangen-
heit zu ändern, Unterschiede auszuro en oder um jeden Preis das Glück
der Mitgeschöpfe herbeizuführen, ist ein fehlgeleitetes Unternehmen.
Der Vorsatz, anderen nichts Böses anzutun, ist gut; will man jedoch die
Mitgeschöpfe zu ihrem Glück zwingen, so fordert man damit eine Gegen-
reaktion heraus.

Langsam gli Orne in den Schlaf.

*

Der Mensch handelt aus einem komplexen Superioritätsverlangen. Er
fi ndet Selbstbestätigung im Ritual, hält seine Lernbegier für rational,
strebt selbstgesetzte Ziele an, steuert seine Umgebung und unterdrückt
dabei die eigene Anpassungsfähigkeit, die nie voll ausgenutzt wird.

HALMYRACH, VORLESUNGEN

Privatarchiv von Amel

Orne erholte sich Schri für Schri . Nach einem Monat wagten
die Ärzte eine Transplantation, die er gut überstand und die seine
Heilung beschleunigte. Wieder zwei Monate später setzte man ihn
auf eine Alotl-Gibiril-Diät. Sie stärkte den Au auprozeß seines
Körpers. Die Zellerneuerung setzte ein: die Finger wuchsen nach,
das Knochengewebe an den Beinen, die Haut, sogar das verlorene
Auge.

Während dieser Zeit der physischen Genesung machte Lewis

Orne eine seelische Krise durch. Er begann an Dingen zu zweifeln,

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68

Frank Herbert – Die Riten der Götter

die er zuvor ohne weiteres akzeptiert ha e. Die Werte von früher
nahmen einen verschwommenen Charakter an. Er entfernte sich
immer weiter von seinem einstigen Ich. Fast schien es, als hä e
er sich mit seinem Tod abgefunden und akzeptierte nun, da er
sich wieder ins Leben zurücktastete, nur eine Teildefi nition des
Daseins. Ich bin ein Wesen, dachte er. Ich existiere. Das genügt. Ich
gebe mir selbst Leben.

Der Gedanke durchdrang ihn wie Feuer und

trieb ihn voran. Das Rad seines Lebens kam in Schwung, und er
wußte, es würde sich voll im Kreis drehen. Er ha e das Gefühl,
daß er bis in die Eingeweide des Universums vorgedrungen war,
um zu sehen, wie alles zusammenhing. Keine alten Tabus mehr,
dachte er. Ich war bei den Lebenden und bei den Toten.

Vierzehn Monate, elf Tage, fünf Stunden und zwei Minuten, nach-
dem man ihn ›so gut wie tot‹ von Sheleb aufgelesen ha e, verließ
Orne das Krankenhaus in Begleitung eines merkwürdig schweig-
samen Umbo Stetson. Es war Vormi ag. Wolken überzogen den
grünen Himmel von Marak. Ein kalter Frühlingswind drückte das
junge Gras fl ach an den Boden und zerrte an den exotischen Blüten,
die rund um das Landefeld des Lazare -Komplexes wuchsen.

Orne blieb auf den Treppenstufen stehen und atmete tief die

kühle Lu ein. »Ein herrlicher Tag«, sagte er. »Ich fühle mich
prächtig.« Wie neugeboren, setzte er insgeheim hinzu.

Stetson streckte zögernd die Hand aus, um Orne zu stützen,

zog sie wieder zurück ...

Orne warf einen Blick nach Südwesten.
»Der Gleiter muß jeden Moment kommen«, sagte Stetson.
Ein Windstoß brachte Orne ins Stolpern, doch er fi ng sich sofort

wieder. »Es geht wirklich«, versicherte er Stetson, der ihn ängst-
lich musterte.

»Du siehst noch ziemlich klapprig aus.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ah, ich ha e dieses Krankenhaus gründlich sa . Sämtliche

Schwestern, die mich betreuten, waren entweder verheiratet oder
zumindest schon vergeben.« Er blieb abrupt stehen und sah seinen
Vorgesetzten ruhig an. »Stet, irgend etwas ist los mit dir! Heraus
mit der Sprache!«

Stetson schü elte langsam den Kopf. »Es hat keinen Sinn. Du

mußt dich erst einmal gründlich erholen.«

»Ein Au rag?«
Stetson zuckte die Achseln.
»Stet?«
»Ja ...«
»Spar dir die noble Geste für jemanden, der dich nicht kennt!

Du hast einen Job für mich. Also schön. Worum geht es?«

Stetson grinste schief. »Die Sache ist die – wir haben nicht mehr

viel Zeit ...«

»Klingt sehr vertraut«, meinte Orne. »Aber ich weiß nicht, ob

ich das alte Spiel noch einmal mitmache.«

»Nun, wir ha en gedacht ...« Stetson stockte und zuckte wieder

die Achseln. »Siehst du, die Bullones nehmen dich doch für die
nächste Zeit als Gast in ihr Haus auf, und – und wir glauben, daß
Ipsco Bullone eine Verschwörung leitet, die zum Sturz unserer
Regierung führen soll ...«

»Was?«

Orne starrte seinen Vorgesetzten verständnislos an.

»Aber der Galaktische Hochkommissar ist die Regierung!«

»Das meine ich nicht!«
»Was dann?«
»Orne, die gegenwärtige Situation könnte ohne weiteres zu

einem neuen Randwelten-Krieg führen. Wir glauben, daß bei
Bullone die Fäden zusammenlaufen«, erklärte Stetson. »Insgesamt
sind es einundachtzig Welten, auf denen es rumort – alles Völker,
die schon seit Jahrhunderten der Galaktischen Liga angehören.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Aber nun scheint sich eine Bande von Verrätern das Ziel gesetzt
zu haben, eben diese Liga zu untergraben. Selbst bis auf deinen
Heimatplaneten sind sie vorgedrungen.«

»Chargon?« fragte Orne ungläubig.
»Genau.«
Orne schü elte den Kopf. »Und was willst du von mir? Daß

ich meinen Erholungsurlaub daheim antrete? Mann, ich war mit
siebzehn zuletzt bei meiner Familie. Ich weiß nicht, ob ...«

»Nein, verdammt. Wir sehen dich viel lieber als Gast bei den

Bullones. Wie kommst du überhaupt zu dieser Ehre?«

»Das ist schon eine merkwürdige Geschichte«, meinte Orne

nachdenklich. »Wenn ich mir überlege, welche Witze wir immer
über den guten Ipsco gerissen haben – und dann stellt sich heraus,
daß seine Frau eine Schulfreundin meiner Mu er war. Sogar das
Zimmer im Internat teilten sie!«

»Deine Mu er hat nie davon gesprochen?«
»Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.«
»Hast du den Alten schon kennengelernt?«
»Er brachte seine Frau einige Male ins Krankenhaus. Ganz

ne er Knabe, wenn auch ein wenig steif und reserviert.«

Stetson preßte die Lippen zusammen. Er warf einen Blick nach

Südwesten, dann sah er wieder Orne an. »Jedes Kind weiß, wie
die Nathianer im Randwelten-Krieg gegen die Liga von Marak
kämp en – wie die alte Zivilisation zerbrach. Weniger bekannt
ist, daß sich aus der Liga von Marak die Galaktische Förderation
entwickelt hat, mit dem Ziel, die Einheit von damals wiederher-
zustellen.«

»Fün undert Jahre sind eine lange Zeit – wenn du diesen bana-

len Einwand gesta est.«

»Oder auch nicht.« Stetson räusperte sich und sah Orne durch-

dringend an.

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71

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Orne überlegte, weshalb Stetson die Sache so vorsichtig an-

packte. Was ha e er mit seiner Anspielung auf die Nathianer und
die Liga von Marak gemeint? Tief im Innern spürte er eine sonder-
bare Unruhe.

Stetson ha e sich abgewandt. »Ich persönlich vertraue dir ohne

Vorbehalt ...«

»Was heißt das nun wieder? Hat die angebliche Verschwörung

etwa auch in den Reihen des Untersuchungsausschusses ihre
Anhänger?«

»Wir vermuten es.«
»Weshalb?«
»Vor gut einem Jahr schnüff elte ein Archäologen-Team des

R&R in den Ruinen von Dabih herum. Der Planet war während
der Randwelten-Kriege zerstört worden. Noch heute überzieht
erstarrte Schlacke einen Großteil des Festlands. Aber wie durch
ein Wunder stöberten die Männer ein unversehrtes Archiv in einer
Außenstation der Nathianer auf.« Er warf Orne einen ausdrucks-
losen Blick zu.

»Ja – und?« fragte Orne, als sich die Stille ausdehnte.
Stetson nickte vor sich hin. »Die R&R-Knaben konnten nichts

aus ihrem Fund machen. Das alte Lied. Sie forderten von uns einen
Experten für archaische Schri en an. Der knackte den ziemlich
komplizierten Kode, und als er das Zeug lesen konnte, betätigte
er das Notsignal.«

»Wegen eines fün undert Jahre alten Archivs?«
Stetson zog die Augenbrauen hoch. Sein Blick war kühl und

forschend auf Orne gerichtet. »Dabih war eine Verteilerstation für
ausgewählte Elemente der mächtigsten Nathianer-Familien ...«

»Verteilerstation?« wiederholte Orne verständnislos.
»Für Flüchtlinge, die als Spione und ähnliches ausgebildet

waren. Ein alter Trick ...«

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72

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Aber fün undert Jahre, Stet!«
»Und wenn es fünftausend Jahre wären!« sagte Stetson grimmig.

»Letzten Monat fi ngen wir Bruchstücke von Geheimbotscha en
ab, die im gleichen Kode verfaßt waren. Diese Frechheit!« Er schüt-
telte den Kopf. »Aber das Schönste kommt noch. Sämtliche Texte
befassen sich mit den Wahlen, die vor der Tür stehen!«

Orne ließ sich von Stetsons Erregung anstecken. Im Moment

gab es für ihn wieder nur ein Ziel – unter allen Umständen einen
Randwelten-Krieg zu verhindern.

»Aber – die Wahlen fi nden in zwei Tagen sta !«
Stetson nickte. »In zweiundvierzig Stunden und fünfzig Minu-

ten, um genau zu sein. Eine winzige Frist.«

»Standen irgendwelche Namen in den Aufzeichnungen von

Dabih?« wollte Orne wissen.

»Namen von Planeten, ja. Und Familiennamen, aber die waren

in einem anderen Kode verschlüsselt, den wir noch nicht entzif-
fern konnten.«

»So schwierig?«
»Im Gegenteil, er ist zu einfach. Es handelt sich um Decknamen,

die sich off ensichtlich auf die innere Sozialstruktur der Nathianer
beziehen. Wir können die Dabih-Aufzeichnungen in Worte über-
tragen, aber diese Worte ergeben keinen Sinn. Der Kodename für
Chargon beispielsweise lautete Sieger. Sagt dir das etwas?«

Orne schü elte langsam den Kopf. »Gar nichts.«
»Ha e ich auch nicht erwartet.«
»Und für Marak?«
»Kopf«,

sagte Stetson. »Bring das mal mit Bullone in Verbin-

dung!«

»Ich verstehe, was du meinst. Und wie willst du ...«
Stetson winkte ab. »Die haben die Namen inzwischen längst

geändert.«

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73

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Vielleicht auch nicht. Immerhin behielten sie den Nachrichten-

kode bei.« Orne rieb sich mit der Hand über die Stirn. Irgendwo
an der Grenze seines Bewußtseins lauerte ein Gedanke, der ihm
immer wieder entschlüp e. Er fühlte sich erschöp und ausge-
brannt.

»Du hast recht«, meinte Stetson. »Wir werden weiterhin versu-

chen, das Rätsel zu knacken. Vielleicht kommen wir einen Schri
weiter.«

»Welche Anhaltspunkte besitzt ihr?« Orne spürte, daß Stetson

noch etwas Wichtiges zurückhielt.

»Anhaltspunkte? Wir haben unsere Geschichtsbücher zu Hilfe

genommen. Darin heißt es, daß die Nathianer die Theorie der
Politik genial beherrschten. Etwas davon schimmert in den Auf-
zeichnungen von Dabih durch, gerade genug, um uns erkennen
zu lassen, wie machtlos wir sind.«

»Zum Beispiel?«
»Die Nathianer wählten die Einsatzorte ihrer Flüchtlinge mit

teufl ischer Raffi

nesse aus – auf Planeten, die der Krieg so zer-

fl eischt ha e, daß ihre Bewohner nur noch den Wunsch ha en,
die Gewalt zu vergessen und den Wiederau au zu betreiben. Die
Befehle, welche die Nathianer erhalten ha en, waren klar: Sie soll-
ten sich in der fremden Kultur einnisten, mit ihr verwachsen, die
schwachen Stellen in der Führung enthüllen, eine Untergrund-
macht au auen und die eigenen Nachkommen für die Herrscha
ausbilden.«

»Diese Rasse scheint über unendliche Geduld zu verfügen,«

stellte Orne fest.

»Allerdings. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Nie-

derlage in einen Sieg zu verwandeln.«

»Hmm. Wenn du meine Geschichtskenntnisse ein wenig auff ri-

schen könntest ...«, meinte Orne.

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74

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Viel weiß ich auch nicht. Irgendwann entstand auf Nathia-

II eine Kolonie von Raum-Nomaden. Die Mythologie nennt sie
Arber oder Ayrber. Sie besaßen trotz ihrer Unrast einen stark
ausgeprägten Familiensinn und Loyalität gegenüber der eigenen
Rasse. Sprungha e Menschen mit sonderbaren Si en und Gebräu-
chen...«

»Auf Chargon lernten wir nur, daß die Nathianer ›eine der Par-

teien waren, die den Randwelten-Krieg auslösten‹. Ich gewann
damals den Eindruck, daß man ihnen die gleichen Vorwürfe
machte wie der Liga von Marak.«

»Es gibt Planeten, auf denen man diese Ansicht ketzerisch

nennen würde.«

»Und wie denkst du darüber?«
»Die Geschichte wird stets von den Siegern geschrieben«,

meinte Stetson achselzuckend.

»Auf Chargon vielleicht nicht«, erwiderte Orne. »Aber ein

paar andere Fragen: Weshalb verdächtigt ihr ausgerechnet den
Hochkommissar? Und weshalb geizt du so mit deinen Informa-
tionen?«

Stetson fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

»Bullone hat sieben Töchter. Eine davon – sie heißt Diana – bildet
die Agentinnen im UA aus. Sie lebt im Moment bei ihren Eltern.«

»Ich entsinne mich schwach, daß Mrs. Bullone ihren Namen

erwähnt hat.«

»Nun, eine der Kodebotscha en, die wir abfi ngen, war an ihre

Adresse gerichtet.«

»Puh!« Orne schü elte den Kopf. »Kennt ihr den Absender?

Und den Inhalt?«

Stetson hüstelte. »Lew, du weißt, daß wir alles doppelt und

dreifach nachprüfen.«

»Ja, und?«

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75

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Die Botscha war von Hand geschrieben und mit MOS unter-

zeichnet.«

Orne schaute auf, als Stetson nicht weitersprach. »Ihr habt her-

ausgebracht, was dieses MOS bedeutet?«

»Ja, Lew. Wir nahmen Diana Bullones Bekanntenkreis unter die

Lupe und fanden rasch jemanden mit diesen Initialen. Der Hand-
schri envergleich stimmte. Madrena Orne Standish.«

Orne erstarrte. »Maddie?« Er sah Stetson entgeistert an. »Das

also war der Haken?«

»Wir wissen genau, daß du seit deinem siebzehnten Lebens-

jahr nicht mehr daheim warst«, begann Stetson hastig. »Und wir
besitzen lückenlose Unterlagen über die weiteren Stationen deines
Lebens. Das geht alles in Ordnung. Die Frage ist nur ...«

»... ob ich meine eigene Schwester ans Messer liefere, wenn sich

der Verdacht als begründet erweist.«

Stetson schwieg. Und Orne merkte, daß sich der Freund hinter

die Maske des Vorgesetzten zurückgezogen ha e. Eine Hand
steckte in der Uniformtasche. Umklammerte sie ein Aufnahmege-
rät? Oder eine Waff e?

»Ich verstehe«, fuhr Orne leise fort. »Stet, ich habe zu Beginn

meiner Lau ahn einen Eid geleistet, und ich kenne meinen Auf-
trag – dafür zu sorgen, daß es nie wieder zu einem so grausa-
men Krieg kommt. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß
Maddie an einer Verschwörung beteiligt ist.«

»Daran gibt es keinen Zweifel, Lew.«
Orne dachte an seine Kindheit zurück. Maddie? Ein rothaari-

ger Kobold, stets zu Streichen und Abenteuern aufgelegt, eine
wertvolle Verbündete im Kampf gegen die nüchterne Welt der
Erwachsenen.

»Nun?« drängte Stetson.
»Meine Familie gehört nicht zu diesen Verräterclans«, erklärte

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76

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Orne entschieden. »Und Maddie schon gar nicht!«

»Vielleicht ist sie durch ihren Mann in die Sache geraten«, gab

Stetson zu bedenken. »Ein hoher Politiker ...«

»Ja – der Vertreter von Chargon im Rat der Föderation«, sagte

Orne. »Ich kenne seine Karriere in allen Einzelheiten, obwohl ich
persönlich noch nie mit ihm zusammengetroff en bin. Maddie
schrieb mir damals, als sie heiratete, und schickte mir ein Bild.«

»Du hast deine Schwester sehr gern.« Das war eine Feststellung,

keine Frage.

»Ja. Sie half mir damals bei den Fluchtvorbereitungen.«
»Warum bist du eigentlich weggelaufen?«
Orne spürte das Gewicht dieser Frage. Er bemühte sich, seiner

Stimme einen beiläufi gen Klang zu geben. »Unstimmigkeiten in
der Familie. Ich wußte genau, was ich wollte – aber meine Leute
waren dagegen.«

»Und was wolltest du – Spezialkämpfer bei der Föderation

werden?«

»Unsinn. Das diente nur als Sprungbre zum R&R. Ich hasse

Gewalt. Und ich hasse es, wenn Frauen mein Leben regieren.«

Stetson warf erneut einen Blick nach Südwesten. Am Horizont

war ein Gleiter aufgetaucht. »Bist du bereit, als Spion im Hause
der Bullones zu leben, um ...«

»Als Spion?«
»Um soviel wie möglich über diese Verschwörung herauszu-

fi nden ...«

»In zweiundvierzig Stunden?«
»Oder weniger.«
»Eine gefährliche Sache. Die Residenz liegt ziemlich abgeschie-

den. Ich habe keinerlei Kontakt zu euch.«

»Vergiß nicht den Kehlkopfsender!« sagte Stetson. »Die Ärzte

haben ihn auf meine Bi e wieder implantiert.«

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77

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Wie menschenfreundlich!«
»Jedenfalls funktioniert er. Wir verfolgen alles mit, was sich in

deiner unmi elbaren Umgebung abspielt.«

»Das garantiert meine Loyalität«, sagte Orne. Noch während

er sprach, kam ihm der Gedanke, daß er den Sender aus seinem
Körper entfernen konnte, wenn er es nur richtig wollte. Er schüt-
telte den Kopf. Verrückte Idee!

»Das war nicht der Zweck des Einbaus«, widersprach Stetson

he ig.

Orne, immer noch verwirrt durch seine sonderbaren Gedanken,

schaltete das Kehlkopfmikrophon ein und bewegte die Sprech-
muskulatur. Irgendwo fi ng jemand seine Stimme auf, das wußte
er. »Hallo, mein treuer Scha en! Paß gut auf, wenn ich diese Diana
Bullone verführe! Vielleicht lernst du etwas dabei.«

Zu seiner Überraschung erwiderte Stetson: »An deiner Stelle

würde ich mich auf die wichtigeren Dinge konzentrieren!«

Stet trug also auch eins dieser verdammten Geräte. Traute der

Untersuchungsausschuß überhaupt niemandem mehr?

*

Auf den Menschen angewandt, umfaßt der Begriff ›Feedback‹ kompli-
zierte unterbewußte Prozesse, sowohl im Sinne des Individuums wie
auch des Kollektivs. Daß Einzelwesen durch solche unterbewußte Krä e
beeinfl ußt werden können, wissen wir seit langem. Daß auf sehr viel
breiterer Basis ähnliche Vorgänge existieren, ist weniger bekannt. Sie
erscheinen im allgemeinen nur latent, in Bevölkerungskurven, in der
Geschichtsentwicklung, in Veränderungen, die sich über Jahrhunderte
erstrecken. Wir neigen dazu, solche Prozesse religiösen Krä en zuzu-
schreiben und vermeiden es, sie analytisch zu betrachten.

VORLESUNGEN DES ABTES

Privatnotizen

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78

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Mrs. Bullone stand im Mi elpunkt des Gästezimmers, die Hände
über dem sta lichen Leib gefaltet. Sie erinnerte an eine fe e kleine
Maus – graue Augen, graues Haar unter einem perlenbesetzten
Netz, ein langes, grausilbernes Kleid, das über dem mächtigen
Busen spannte, und ein ausgeprägtes Doppelkinn.

Ich darf nicht vergessen, sie Polly zu nennen,

dachte Orne.

»Sie sollen sich bei uns wie daheim fühlen, Lewis!« sagte sie.

Sie besaß einen dröhnenden Bariton, der lächerlich wirkte, wenn
man gleichzeitig einen Blick auf ihren winzigen, gespitzten Mund
warf.

Orne sah sich um. Schlichte Möbel mit einem altmodischen

Handselektor zur Farbwahl. Ein polarisiertes Fenster gab den Blick
auf einen ovalen Swimming-pool frei. Das Glas (er war sicher, daß
es sich um echtes Glas und nicht um einen der raffi

nierten neuen

Kunststoff e handelte) wies eine gedämp e dunkelblaue Tönung
auf, die den Park draußen in eine vom Mondlicht übergossene
Landscha verwandelte. Ein Konturenbe stand an der rechten
Längswand; darüber befanden sich Einbaufächer. Zur Linken sah
man durch eine halboff ene Tür Badezimmerkacheln. Alles machte
einen altmodisch gemütlichen Eindruck. Er fühlte sich in der Tat
wie daheim. »Genauso habe ich unser Haus auf Chargon in Erin-
nerung«, sagte er. »Ich war verblü

, als ich es zum erstenmal aus

der Lu sah. Sogar der Grundriß stimmt.«

»Ja, Ihre Mu er und ich ha en viele gemeinsame Ansichten.

Wir sind bis heute gute Freundinnen geblieben und pfl egen einen
regen Gedankenaustausch.«

»Sie haben soviel für mich getan.« Innerlich fl uchte Orne, weil

ihm nichts außer diesem banalen Zeug einfi el. »Ich weiß nicht, wie
ich mich dafür jemals erkenntlich zeigen kann.«

»Ah, da sind wir ja!« sagte eine sonore Stimme vom Korridor

her. Orne drehte sich um. In der Tür stand Ipsco Bullone, der

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79

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Hochkommissar der Galaktischen Liga und – wenn Stetson recht
behielt – ein Verräter.

Bullone war ein hochgewachsener Mann mit einem scharfge-

zeichneten Gesicht, in dem vor allem die dunklen Augen unter
den buschigen Brauen auffi

elen. Auf den ersten Blick wirkte er lin-

kisch, ja sogar ein wenig scheu – aber das war vielleicht die Poli-
tikermasche. Dennoch, als Verschwörer oder gar Diktator konnte
sich Orne den Mann nicht vorstellen.

Bullone trat näher. »Freut mich, daß Sie das Schlimmste über-

standen haben, mein Junge«, sagte er jovial. »Hoff entlich gefällt es
Ihnen bei uns.«

»Lewis erzählte mir eben, wie sehr ihn unser Heim an Chargon

erinnert«, warf Polly ein.

»Nicht gerade das, was man heutzutage baut, aber wir mögen

es so«, meinte Bullone. »Ich kann die moderne Architektur nicht
ausstehen. Zu funktionell. Ein altmodisches Tetragon auf einer
Schwenkachse – mehr brauche ich nicht.«

»Ich höre meine Mu er sprechen«, lachte Orne.
»Ja? Wir richten den Salon meist nach Nordosten aus. Ein herr-

licher Blick auf die Hauptstadt, müssen Sie wissen. Aber wenn Sie
sich in Ihrem Zimmer nach Sonne oder einer kleinen Brise sehnen,
steht es Ihnen jederzeit frei, das Haus zu drehen.«

»Zu liebenswürdig«, erwiderte Orne. »Auf Chargon ist der

Salon meist der See zugewandt. Wir lieben die Meereslu .«

»Wir auch – wir auch. Kommen Sie, wir setzen uns gemütlich

zusammen und plaudern über Chargon. Ich würde gern erfah-
ren, wie Sie über die politische Entwicklung Ihres Heimatplaneten
denken.«

»Ich schlage vor, wir lassen Lewis erst einmal ausruhen«, sagte

Polly. »Schließlich hat man ihn eben erst aus dem Krankenhaus
entlassen, und er ist sicher völlig erschöp .«

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80

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Sie wir ihn hinaus,

dachte Orne. Sie hat ihm noch nicht erzählt,

daß ich mit siebzehn von Zuhause durchgebrannt bin.

Polly trat ans Fenster, stellte das Glas auf ein neutrales Grau ein

und wählte als vorherrschende Möbelfarbe ein san es Grün. »So,
das entspannt«, sagte sie mü erlich. »Wenn Sie etwas benötigen
– neben dem Be ist eine Klingel. Der Robo-Butler kennt sich aus,
oder er verständigt uns.«

»Also dann, bis zum Abendessen!« Bullone winkte ihm zu,

dann verließ er an der Seite seiner Frau den Raum.

Orne eilte ans Fenster und spähte zum Swimming-pool hin-

unter. Nichts. Bei seiner Ankun ha e er am Rande des Beckens
eine junge Frau mit einem großen Sonnenhut und einem knappen
Badeanzug bemerkt. Sie war ins Haus gelaufen, als der Gleiter zur
Landung ansetzte.

Eine junge Frau, nicht größer als Polly, aber gertenschlank und

mit goldrotem Haar. Die Züge ha en ein wenig hart und ener-
gisch gewirkt, aber das machten die riesigen Augen und der volle,
schön geschwungene Mund wieder we . Eine Frau, die Eleganz
und Weiblichkeit ausstrahlte.

Das also war Diana Bullone – die Frau, auf die man ihn ange-

setzt ha e.

Orne warf einen Blick auf die Landscha jenseits des Swim-

ming-pools – bewaldete Hügel und am Horizont die schwachen
Umrisse einer Gebirgske e. Vornehme Abgeschiedenheit ...

Nicht jeder konnte es sich leisten, seine Liebe zum Altmodischen

so zu pfl egen wie die Bullones. Hier draußen waren sie zumindest
vor neugierigen Blicken geschützt.

Wird Zeit, daß ich mich bei Stet melde,

dachte Orne und schaltete

das Mikrophon ein. Er schilderte seinem Vorgesetzten die Lage.

»Sieh zu, daß du mit der Tochter näher bekannt wirst! Deiner Beschrei-

bung nach war es das Mädchen am Swimming-pool.«

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81

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ich werde mir Mühe geben«,

versprach Orne und unterbrach die

Verbindung. Er spürte eine sonderbare Unruhe. Irgendwie ha e
er den Eindruck, als ob er die Angelegenheit von verschiedenen
Gesichtspunkten aus zugleich betrachtete. Zum einen machte er
Stetsons Spiel mit; zum anderen ging er persönlichen Interessen
nach. Und tief in seinem Innern war ein neutraler Beobachter, der
sein Benehmen unmöglich fand.

Unabhängig davon drängte es ihn, jetzt, da er dem Tod so knapp

entronnen war, das Leben in vollen Zügen zu genießen.

Um sich von diesen verwirrenden Gedankengängen abzulen-

ken, schlüp e er in eine frische Uniform und verließ sein Zimmer.
Er schlenderte durch einen gekrümmten gelben Korridor, der, wie
er wußte, in den Salon führte. Die Aufenthaltsräume und Gäste-
zimmer befanden sich wie daheim auf Chargon an der Außenseite
des Hauses. Den Kern bildeten die Privaträume der Familie.

Orne betrat den Salon, einen langgestreckten Raum, der um

zwei Segmente des Tetragons herumführte. Der Boden war mit
einem dicken Teppich in roten und braunen Farbtönen bedeckt.
Niedrige Sofas standen zwanglos gruppiert unter den Fenstern.

In einer Ecke des Salons entdeckte er eine Gestalt, die eine ähn-

liche Uniform trug wie er. Er wollte sich bemerkbar machen, doch
im gleichen Moment erklang Musik.

Orne horchte wie verzaubert. Er fühlte sich in seine Kindheit

zurückversetzt. Eine Kaithra – seine Schwestern ha en das Instru-
ment ebenfalls beherrscht. Das Mädchen, das sich über den Metall-
ständer mit dem fl achen Holzbre beugte und die Saiten mit zwei
kleinen Hämmern bearbeitete, mußte Diana Bullone sein.

Leise trat er näher. Die Musik ließ ihn an Gestalten denken, die

in wilden Stampfrhythmen um ein loderndes Feuer tanzten ...

»Ihr Spiel weckt Heimweh in mir«, sagte er leise, als der Schluß-

akkord verklungen war.

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82

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Das Mädchen zuckte zusammen und wirbelte herum. »Oh – ich

ha e Sie nicht bemerkt.«

»Entschuldigen Sie bi e, daß ich mich wie ein Dieb heran-

schlich. Ihre Musik lockte mich an.«

Sie lächelte. »Ich bin Diana Bullone. Und Sie müssen Lewis

Orne sein.«

»Für Sie hoff entlich Lew.«
»Gern.« Sie legte die Metallhämmer auf das reichverzierte

Instrument. »Nicht viele Menschen kennen den Klang einer Kai-
thra. Aber in der Familie meiner Mu er spielt man sie seit Gene-
rationen.«

Orne nickte. »Meine Schwestern beherrschen sie ebenfalls. Es

– es ist lange her, seit ich sie zum letztenmal hörte.«

»Ach ja«, sagte Diana. »Ihre Mu er ist ...« Sie unterbrach sich

verwirrt. »Ich muß mich daran gewöhnen, daß Sie ein ... ich meine,
daß wir einen Fremden im Haus haben, der genau genommen
doch keiner ist.«

Orne lachte. Dieses Mädchen gefi el ihm. Trotz des strengen

Knotens und der einfachen UA-Uniform sah sie prächtig aus.
Doch dann rief er sich in Erinnerung, daß sie Stetsons Verdächtige
Nummer Eins war. Diana und Maddie? Eine verrückte Situation.
Er befand sich als Gast hier und benutzte die Gelegenheit, um her-
umzuschnüff eln, und das Mädchen, das ihn faszinierte, auszuhor-
chen! Halt, dachte er. Deine oberste Treue gehört dem Untersuchungs-
ausschuß. Es geht um den Frieden der Galaxis.

Eine Stimme in seinem

Innern spo ete: Um den gleichen Frieden wie auf Hamal und Sheleb?

Ziemlich lahm erwiderte er: »Ich hoff e, Sie betrachten mich

nicht mehr lange als Fremden.«

»Schon vorbei.« Sie nahm lachend seinen Arm. »Wenn Sie Lust

haben, veranstalte ich für Sie eine Exklusiv-Führung durch unse-
ren Besitz. Ein verrückter alter Bau – aber ich liebe ihn.«

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83

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Musik ist ein wesentlicher Bestandteil vieler Psi-Erlebnisse, die man
der Religion zuordnet. Durch die ekstatische Kra rhythmischer Laute
fühlen wir uns hingezogen zu Mächten jenseits der Zeit und jenseits der
festen Vorm, die durch unseren engen Blickwinkel in die Unendlichkeit
begrenzt werden.

NOAH ARKWRIGHT

Formen des Psi

Gegen Abend konnte Orne nicht mehr klar denken. Diana war die
aufregendste Frau, die er je kennengelernt ha e – und doch fühlte
er sich in ihrer Nähe geborgen. Sie liebte das Wasser, die unblu-
tige Paloika-Jagd und den Geschmack von Ditar-Äpfeln. Sie zeigte
eine gewisse Geringschätzung gegenüber der älteren Generation
und verriet ihm im Vertrauen, daß ihr die Bürokratie des Untersu-
chungsausschusses auf die Nerven ging.

Sie konnten beide wie Kinder über die unsinnigsten Dinge

lachen.

Orne betrat sein Zimmer, um sich für das Abendessen umzu-

kleiden. Durch das glasklare Fenster – er ha e das Grau verbannt
– starrte er in den Park hinaus. Die Dunkelheit, die in diesen Brei-
ten rasch hereinbrach, ha e sich wie eine schwere Decke über die
Landscha gebreitet. Nur über den Bergen am Horizont lag ein
orangegelber Schein. Die drei Monde von Marak würden bald
aufgehen.

Verliebe ich mich in diese Frau?

dachte Orne.

Kindheitserinnerungen drangen auf ihn ein, vermischten sich

mit seinen Zweifeln. Die rituellen Übungen von Chargon kamen
ihm wieder in den Sinn, mysterienbeladen wie eh und je.

Er dachte: Ich bin es. Ich bin das Selbstbewußtsein, das die Höchste

Weisheit kennt und das Absolute fühlt. Ich bin das All-Eine, das Unper-
sönliche, das man Go nennt.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Weltliches Machtstreben, in religiöse Formeln umgewandelt

– aber irgendwie spürte er, daß die alten Begriff e eine neue Bedeu-
tung erlangt ha en.

»Ich bin Go «, wisperte er, und er durchschaute, daß dieses Ich

nichts mit seinem Ego zu tun ha e. Unbekannte Krä e regten sich
in seinem Innern.

Er wollte sich mit Stetson in Verbindung setzen, nicht, um ihm

Bericht zu ersta en, sondern um Klarheit in seine verworrenen
Gefühle zu bringen. Dann fi el ihm ein, daß Stetson oder sein Stell-
vertreter ihn und Diana den ganzen Nachmi ag belauscht ha e,
und Zorn stieg in ihm auf.

Der Robo-Butler meldete, daß die Familie sich zum Abendes-

sen versammelte. Hastig schlüp e Orne in eine Ausgehuniform
und begab sich in den Salon. Die Bullones erwarteten ihn bereits.
Auf dem altmodischen Tisch mit den Warmhaltepla en brannten
echte Kerzen (sie verbreiteten Weihrauchdu ) zwischen goldenen
Shardi

-Gedecken.

»Willkommen in unserem Heim«, sagte Bullone und erhob sich

feierlich. »Mögen Sie hier die nötige Ruhe und Erholung fi nden!«

Orne bedankte sich und nahm Platz.
»Sie haben das Haus gedreht«, stellte er fest.
»Wir lieben den Mondeaufgang«, erklärte Polly und deutete zu

den Bergen hinüber. »Romantisch, nicht wahr?«

Diana hielt die Augen auf ihren Teller gesenkt. Sie trug ein tie-

fausgeschni enes Kleid aus lindgrüner Glitzerseide, das ihr gold-
rotes Haar herrlich zur Geltung brachte. Eine schlichte Ke e aus
Reinach-

Perlen schimmerte an ihrem Hals.

Polly, die rechts von Orne saß, wirkte sehr fraulich in einem

dunklen Kleid mit Stola, die ihre Tonnenfi gur ein wenig verhüllte.
Bullone trug schwarze Abendshorts und eine knielange goldge-
tönte Kubi-Jacke. Das Haus und seine Bewohner strahlten Reich-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

tum und Vornehmheit aus. Einen Moment lang teilte Orne Stet-
sons Verdacht: Ipsco Bullone würde alles tun, um sich und den
Seinen dieses Luxusleben zu erhalten. Aber er täuschte sich. Sein
Eintreten ha e einen Streit zwischen Polly und ihrem Mann unter-
brochen. Jetzt, nachdem er Platz genommen ha e, setzten sie ihn
fort. Die Diskussion störte Orne nicht; im Gegenteil, sie gab ihm
das Gefühl, daß man ihn als Familienmitglied akzeptierte.

»Ich brauche diesen Rummel längst nicht mehr«, sagte Bullone

müde. »Ich sitze fest im Sa el. All diese Fremden im Haus ...«

»Unsere Wahlpartys haben Tradition«, unterbrach ihn Polly

entschieden.

»Viel lieber würde ich mich im kleinen Kreis entspannen«,

beharrte Bullone.

»Wir halten den Rahmen ohnehin bescheiden«, sagte Polly.

»Fünfzig Personen – mehr nicht.«

Bullone stöhnte.
»Daddy, bei einer so wichtigen Wahl kannst du dich gar nicht

entspannen«, warf Diana ein. »Das politische Gleichgewicht der
Liga steht auf dem Spiel. Denke nur an den Aikes-Sektor! Wenn
da etwas schiefl äu , bist du die Führung los.«

»Sie hat mir bisher nichts als Kopfschmerzen eingebracht. Ich

gebe sie mit Vergnügen ab.« Bullone wandte sich an Orne. »Ent-
schuldigen Sie das Gezänk, mein Freund, aber wenn ich mich nicht
hin und wieder zur Wehr setze, gerate ich ganz unter den Pantof-
fel. Sie ha en, soviel ich höre, auch einen anstrengenden Tag.« Er
warf seiner Tochter einen liebevollen Blick zu. »Diana vergißt, daß
Sie bis gestern im Krankenhaus lagen.«

»Oh, es hat mir großes Vergnügen bereitet«, versicherte Orne.
»Morgen unternehmen wir einen Ausfl ug in den Naturschutz-

park«, sagte Diana. »Wenn wir den Gleiter benutzen, wird es nicht
so schlimm für Lew.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Aber kommt rechtzeitig zur Party zurück!« ermahnte sie

Polly.

Bullone sah Orne mit hochgezogenen Brauen an. »Verstehen

Sie jetzt, was ich meine?«

»Aber, Sco ie ...«, begann Polly, doch im gleichen Moment drang

aus einer Nische ein schwaches Summzeichen herüber. »Oh, das
ist sicher für mich. Einen Augenblick, bi e.«

Orne beugte sich über seinen Teller und begann zu essen. So

sehr er die Ohren spitzte, er verstand kein Wort von dem Gespräch,
das Polly führte.

Nach einer Weile kehrte sie an den Tisch zurück.
»Etwas Wichtiges?« fragte Bullone.
»Eine Absage für morgen abend. Professor Wingard ist

krank.«

»Go sei Dank, einer weniger«, meinte Bullone achselzuckend.
Wie ein machthungriger Verschwörer wirkt er eigentlich nicht,

dachte

Orne. Außer er spielt mir ein raffi

niertes Theater vor ...

Zum erstenmal keimte in Orne der Verdacht auf, daß ihn viel-

leicht Stetson belogen ha e. Wenn das Ganze nun ein Versuch
war, Leute aus dem Untersuchungsausschuß in die große Politik
einzuschleusen? Nein. Es ha e keinen Sinn, Phantomen nachzu-
laufen. Er mußte sich an die Fakten halten.

Polly sah ihren Mann kopfschü elnd an. »Sco ie, du bekleidest

ein bedeutendes Amt! Darüber solltest du hin und wieder nach-
denken.«

»Meine Liebe, das ist dein Werk«, erwiderte Bullone mit einem

schüchternen Lächeln. »Ohne dich wäre ich eine politische Null.«

»Nun hör mal, Sco ie ...«
»Doch, doch, streite es nicht ab!« Er wandte sich Orne zu. »Sie

berät mich in allen entscheidenden Fragen. Und sie ist schlau wie
ein Fuchs. Nun, es scheint in der Familie zu liegen. Ihre Mu er

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

und ihre Großmu er waren ebenfalls politische Genies.«

Orne starrte seinen Gastgeber an. Er vergaß, die Gabel aus der

Hand zu legen. Ein Gedanke explodierte in seinem Gehirn. Es
kann nicht sein,

dachte er. Es kann einfach nicht sein!

»Du verstehst doch sicher etwas von Politikerfamilien, Lew«,

meinte Diana. »Dein Vater war Chargons Vertreter in der Liga,
nicht wahr?«

»Ja, murmelte Orne. »Er starb im Amt.«
»Entschuldige – ich wollte nicht an alte Wunden rühren.«
»Oh, schon gut.« Orne schü elte langsam den Kopf. Er ver-

suchte den Gedanken, der ihn befallen ha e, loszuwerden. Es
konnte nicht sein, und doch – die Einzelheiten stimmten haargenau ...

»Was ist, Lewis?« fragte Polly besorgt. »Sie sehen mit einemmal

so blaß aus.«

»Ich fühlte mich ein wenig erschöp «, log Orne.
»Oh, Lew!« Diana schob ihren Teller zur Seite. »Es ist meine

Schuld. Ich hä e dich nicht durch das ganze Haus schleppen
dürfen.«

»Unsinn ...«, wehrte er ab.
Polly ha e sich mit einem energischen Ruck erhoben. »Sie legen

sich sofort ins Be , Lewis, und wenn Sie sich etwas besser fühlen,
bringe ich Ihnen eine krä ige Brühe, ja?«

Orne ha e Gewissensbisse. Sie machten sich echte Sorgen um

ihn, daran gab es keinen Zweifel. Verwirrt schob er seinen Stuhl
zurück. »Mrs. Bullone, wenn Sie mich – äh – Polly –, wenn du
mich nicht für unhöfl ich hältst ...«

»Los, nun aber raus mit dir!«
Orne erhob sich mit zi ernden Knien.
»Bis morgen, Lew«, sagte Diana. »Erhol dich gut!« Er ha e das

Gefühl, daß sie besondere Wärme in ihre Worte legte.

»Bis morgen«, entgegnete er schwach und fl oh aus dem Raum.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Im Korridor hörte er, wie Bullone auf Diana einredete: »Du

bist verrückt, Mädchen! Lewis braucht noch Schonung. Wehe, du
nimmst morgen nicht auf seinen angegriff enen Zustand Rück-
sicht!«

Die Antwort verstand Orne nicht mehr.
Er betrat sein Zimmer, ließ sich auf das Be fallen und schaltete

das Kehlkopfmikrofon ein. »Stet!«

»Hallo, Orne«,

kam die Antwort. »Hier spricht Stetsons Ersatz!«

»Hören Sie mir genau zu, Mann! Sie wissen von dem Archiv, das die

Nathianer auf Dabih zurückgelassen haben, ja? Forschen Sie nach, ob
Sheleb einer der Planeten war, auf denen sie ihre sogenannten Flücht-
linge absetzten!«

»In Ordnung. Warten Sie!«
Es entstand eine lange Pause. Dann meldete sich Stetson. »He,

Lew! Was soll deine Frage hinsichtlich Sheleb?«

»Stand der Planet in dem Verzeichnis der Nathianer?«
»Nein.«
»Bist du ganz sicher? Es würde eine Menge erklären ...«
»Hm – Moment.«

Wieder wartete Orne eine geraume Weile.

»Sheleb liegt auf der Route nach Auriga, und Auriga stand auf ihrer
Liste. Wir haben Grund zu der Annahme, daß Auriga nicht zu den
abtrünnigen Planeten zählt. Angenommen, das Schiff erreichte sein Ziel
nicht, weil es irgendwo unterwegs notlanden mußte ...«

»Das ist die

Lösung!« rief Orne aufgeregt.

»Mann, bleib im subvokalen Bereich!«

fauchte Stetson. »Sie können

unser Gespräch nicht mithören, aber sie wissen, daß wir diese implan-
tierten Sender besitzen. Wenn sie Verdacht schöpfen, weil du zu laut
redest ...«

»Entschuldige. Aber ich wußte, daß Sheleb zu diesen Welten

gehörte.«

»Weshalb? Was hast du entdeckt?«

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89

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ich – es ist ein schrecklicher Gedanke«,

sagte Orne. »Du erinnerst

dich – die Trauen auf Sheleb besaßen die Möglichkeit, das Geschlecht
ihrer Nachkommen schon bei der Empfängnis zu bestimmen.«

»Daran denke ich nicht so gern. Ist es wichtig?«
»Stet, wenn sich nun diese Untergrundbewegung nur aus Frauen

zusammensetzt? Wenn ihre eigenen Männer nichts von der Verschwö-
rung wissen? Wenn auf Sheleb die Sache nur außer Kontrolle geriet, weil
der Kontakt mit der Zentrale verlorengegangen war? Vergiß nicht, der
Planet ist ein Findelkind des R&R!«

»Heilige Mu er Marak!«

murmelte Stetson. »Hast du Beweise,

daß...«

»Bis jetzt nicht«,

schni ihm Orne das Wort ab. »Wäre es dir mög-

lich, eine Liste der Leute zu besorgen, die zur Wahlparty der Bullones
eingeladen sind?«

»Eine Kleinigkeit. Weshalb?«
»Überprüfe, ob Familien dabei sind, in denen die Frauen ihre Männer

zu großen politischen Leistungen anspornen. Und gib mir rechtzeitig
Bescheid, wenn du etwas entdeckst.«

»Lew, solche vagen Anhaltspunkte reichen nicht aus, um ...«
»Im Moment müssen wir nehmen, was sich bietet.«

Orne machte

eine Pause. »Halt, Stet«, sagte er dann nachdenklich. »Vielleicht ist
da noch etwas. Das Nomadenerbe ...«

*

Wir haben ein altes Sprichwort: Je mehr Go , desto mehr Teufel; je mehr
Fleisch, desto mehr Maden; je mehr Besitz, desto mehr Angst; je mehr
Macht, desto mehr Unterdrückte.

DIE ÄBTE VON AMEL

Psi-Kommentare

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90

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Die Bullones begannen ihren Tag sehr früh.

Trotz der bevorstehenden Wahlen begab sich der Hochkommis-

sar bereits eine Stunde nach Sonnenaufgang in sein Büro. Er begeg-
nete Orne, der schläfrig in den Korridor hinaustrat, und begrüßte
ihn lebha . Diana und Polly standen in der Tür zum Salon.

»Müssen Sie jetzt schon fort?« fragte Orne und unterdrückte

mühsam ein Gähnen.

»Leider, mein Junge, leider«, erwiderte Bullone. »Verstehen Sie

jetzt, weshalb mir dieser Job zum Hals heraushängt?«

Diana und Polly traten näher. Sie überschü eten Orne mit

Fragen nach seinem Befi nden. Gemeinsam brachten sie Bullone zu
seinem Gleiter. Der Himmel war wolkenlos, und der Park du ete
nach Blüten und taufrischem Gras.

»Dad hat mir ordentlich die Meinung gesagt, Lew«, meinte

Diana, als Bullone gestartet war. »Heute wollen wir nichts über-
treiben. Komm, zuerst gibt es Frühstück ...« Sie nahm seine Hand
und zog ihn zurück zum Haus. Polly war bereits vorausgegan-
gen.

Ich muß mich vorsehen,

dachte Orne. Sie behandeln mich so freund-

lich.

Auch die Frauen von Sheleb ha en Charme besessen, bevor sie

ihm den Krieg erklärten.

»Ein Picknick dür e genau das Richtige für dich sein«, fuhr

Diana fort. »Wir fl iegen zu einem idyllischen kleinen See hinaus,
nehmen etwas zu lesen oder ein paar Filme mit und faulenzen
richtig.«

Orne zögerte. »Aber die Party?«
»Ach, das übernimmt Mu er.«
Er dachte an die Dinge, die heute in diesem Haus geschehen

konnten – Dinge, die er beobachten sollte. Aber nein ... wenn er
die Situation richtig einschätzte, dann stellte Diana ein schwaches

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91

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Glied in der Ke e dar. Außerdem drängte die Zeit. Bis morgen
konnten die Nathianer die Regierung übernommen haben.

Er wußte, daß er die Entscheidung sofort treff en mußte. Und so

sagte er: »Freundliche Eingeborene, du bist des Weges kundig. Ich
vertraue dir mein Leben an!«

Und er dachte: Hoff entlich nützt du das nicht aus!

*

Jene, die Wissen um des Lohnes willen suchen – und das gilt auch für das
Psi-Wissen – wiederholen die Fehler der primitiven Religionen. Wissen,
gewonnen aus der Furcht oder aus der Hoff nung auf Lohn, ist umgeben
von einem Mantel der Ignoranz. Die Alten lernten auf diese Weise, und
das Ergebnis war eine Verzerrung der Wirklichkeit.

APHORISMEN DER ÄBTE

Wege zur Erlangung von Psi-Krä en

Die Sonne lag warm über dem Wasser. San stieg das Ufer an. Zwi-
schen den weichen Grashalmen nickten purpurne und orangerote
Blüten. Vögel zwitscherten in den Baumkronen, und im Ried am
anderen Ufer nistete ein Groomis, der hin und wieder seinen knar-
renden Lockruf ausstieß.

Diana ha e die Hände im Nacken verschränkt und die Augen

geschlossen. »Als Kinder machten wir bei schönem We er an
jedem Ach ag ein Picknick«, erzählte sie. »Leider lassen es die
We erexperten für meinen Geschmack viel zu o regnen.«

Orne saß neben ihr auf der Ma e und starrte auf den See hinaus.

Ein Gefühl der Unruhe ha e ihn erfaßt. Genau wie auf Sheleb, dachte
er. Und wie daheim ...

»Da drüben im Schilf ha en wir ein selbstgebautes Floß ver-

steckt.« Diana richtete sich auf und deutete zu ein paar angefaul-

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92

Frank Herbert – Die Riten der Götter

ten Stämmen. »Siehst du? Die Reste sind noch da.« Ihre Hand
strei e Ornes Arm.

Etwas wie ein Schock durchfuhr ihn.
Ohne recht zu wissen, was er tat, riß Orne Diana an sich und

küßte sie. Sie wehrte sich nicht. Erst nach einer Ewigkeit ließ er sie
wieder los.

»Ich – ich wollte das nicht«, wisperte Diana.
»Ich auch nicht.« Orne schü elte benommen den Kopf.

»Himmel, was habe ich da angerichtet ...«

Diana schluckte. »Lew – hast du etwas gegen mich?«
Einen Moment lang dachte er an Stetson. Ach was, der glaubt

sicher, das gehört zu meiner Rolle!.

Ein bi eres Gefühl.

»Mädchen – ich – ich liebe dich.«
Sie kuschelte sich mit einem Seufzer an seine Schulter. »Dann

ist doch alles in Ordnung. Du bist nicht verheiratet. Mu er hat
das nachgeprü .« Sie lächelte. »Du mußt wissen, Mu er hat das
zweite Gesicht.«

Die Bi erkeit blieb. Er erkannte das Schema zu deutlich.

»Diana«, begann er, »ich bin mit siebzehn von zu Hause fortge-
laufen ...«

»Ich weiß, Liebling. Mu er hat mir alles erzählt.«
»Du begreifst nicht. Mein Vater starb, bevor ich auf die Welt

kam. Er ...«

»Das war sicher furchtbar für deine Mu er. Plötzlich allein –

und ein Baby unterwegs ...«

»Sie ha en es längst gewußt. Es war die Broach-Krankheit. Die

Ärzte erkannten die Gefahr erst, als es keine Heilungschancen
mehr gab. Das Zentralnervensystem war bereits angegriff en.«

»Wie entsetzlich!« fl üstere Diana. »Dann – dann warst du sicher

geplant – ich meine, sie brauchten einen Sohn ...«

Orne fi el es wie Schuppen von den Augen. Er preßte die Hände

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93

Frank Herbert – Die Riten der Götter

gegen die Stirn. »Natürlich«, sagte er leise. »Dad war Chargons
Vertreter in der Liga. Mu er hat mich von der ersten Minute an in
die richtige Bahn zu lenken versucht. Als Dads Nachfolger ...«

»Du hast dich gegen ihre Wünsche gesträubt?«
»Ich haßte die ewige Bevormundung. Eine meiner Schwestern

heiratete schließlich einen Mann, der das Amt übernahm. Hoff ent-
lich ist er glücklich dabei.«

»Maddie – ja.«
Orne erinnerte sich an die verschlüsselte Botscha , die der

Untersuchungsausschuß abgefangen ha e.

»Wie gut kennst du Maddie?« fragte er.
»Sehr, sehr gut. Lew – was ist denn los mit dir?«
»Immer nur Politik«, murmelte er. »Du würdest von mir das

gleiche Spiel verlangen. Daß ich an meine Karriere denke, daß ich
meinen Einfl uß ausbaue, daß ich mich an die Spitze vorarbeite...«

»Warte ab bis morgen!« entgegnete sie. »Vielleicht ist das Ver-

steckspiel dann gar nicht mehr nötig.«

Orne spürte ein Knacken im Kehlkopfsender, aber er hörte

keine Stimme.

»Was – ist morgen?« wollte er wissen.
»Die Wahlen, was sonst? Lew, du benimmst dich merkwürdig.

Fühlst du dich nicht wohl?« Sie legte ihm die Hand auf die Stirn.
»Vielleicht sollten wir lieber ...«

»Nein, nein«, wehrte Orne ab. »Es ist nur – ich habe eben

erkannt, daß ich ein Nathianer bin!«

Sie starrte ihn an. »Du hast es eben erkannt?«
»Vielleicht wußte ich es auch.« Orne zuckte die Achseln. »Ja,

ich wußte es und wollte es nicht wahrhaben.«

»Lew, ich verstehe dich nicht.«
»Die Ähnlichkeit in der Struktur«, sagte er. »Sie fi el mir sofort auf

– aber ich zog keine Schlüsse daraus. Oh, ich Idiot!« Er schnippte

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94

Frank Herbert – Die Riten der Götter

mit den Fingern. »Der Kopf! Deine Mu er! Sie steckt hinter der
ganzen Sache. Sie hat die Fäden in der Hand.«

»Aber natürlich, Liebling! Sie – ich dachte, du ...«
»Bring mich zu ihr, so schnell wie möglich!«
Orne schaltete das Kehlkopfmikrofon ein.
»Großartige Arbeit, Lew«,

sagte Stetson begeistert, bevor Orne zu

Wort kam. »Wir rücken sofort mit einer Spezialeinheit an! Ich gehe kein
Risiko ein bei diesen ...«

»Stet! Keine Truppen!« sagte Orne laut. Entsetzen ha e ihn

gepackt. »Komm zu den Bullones – aber allein, hörst du?«

Diana war aufgesprungen. Sie wich ein paar Schri e zurück.
»Was meinst du?«

fragte Stetson.

»Ich versuche eure dämlichen Hälse aus der Schlinge zu ziehen!«

fauchte Orne. »Du kommst allein, ist das klar? Sonst erleben wir
eine neue Katastrophe.«

»Lew, mit wem sprichst du?« fragte Diana.
Orne beachtete sie nicht. »Stet, hast du verstanden?«
»Hört denn dieses Mädchen mit?«
»Natürlich hört sie mit. Beeil dich!«
»Gut, Lew. Ich weiß nicht, wie die Lage aussieht, aber ich vertraue dir,

obwohl du selbst zugegeben hast – nun, du weißt, daß ich euer Gespräch
überwachte. Die Spezialtruppen stehen bereit. Ich bin in zehn Minuten
bei Bullone, aber nicht allein. Der Kommandeur der Galaktischen Streit-
mächte wird mich begleiten.«

*

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95

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Der Teufel steckt in allen Dingen, die wir nicht verstehen. Das verhüllte
Auge sieht den Hintergrund des Universums schwarz. So entsteht jene
satanische Kulisse, die unsere Unsicherheit weckt und Visionen der Hölle
hervorbringt. Um diesen Teufel zu bezwingen, tun wir, als wären wir
allwissend. Aber angesichts des grenzenlosen Universums, das jenseits
der satanischen Kulisse lauert, muß Allwissenheit eine Illusion bleiben
– nichts als eine Illusion. Haben wir das erst akzeptiert, dann löst sich
die Kulisse von selbst auf.

ABT HALMYRACH

Von der Religion ins Reich der Psi-Krä e

Es war eine aufgebrachte Gruppe, die sich im Salon der Bullones
versammelt ha e. Jalousien und dunkel getönte Fenster hielten
das grelle Licht der Mi agssonne ab. Die Klimaanlage summte,
und im Hintergrund hörte man das Klicken und Klappern der
Robo-Diener, die alles für die Wahlparty vorbereiteten.

Stetson lehnte an einer Wand, beide Hände tief in den Taschen

seiner ausgebeulten Drillichuniform vergraben. Eine tiefe Falte
stand über seiner Nasenwurzel. Admiral Sobat Spencer, Kom-
mandeur der Galaktischen Streitmächte, ging wie ein gefangenes
Raubtier im Zimmer auf und ab.

Polly Bullone saß auf einem Sofa, die Lippen zu einem dünnen

Strich zusammengepreßt. Diana stand mit geballten Fäusten
neben ihr. Sie zi erte vor Wut, und ihr Blick war starr auf Orne
gerichtet.

»Diese kleine Zusammenkun ist also auf meine Dummheit

zurückzuführen«, sagte Orne. Er stemmte die Hände in die Hü en
und trat in die Mi e des Zimmers. Das Hin- und Herwandern des
Kommandeurs ging ihm allmählich auf die Nerven. »Aber ich
halte es für gut, wenn Sie mir zunächst alle einen Moment lang
zuhören.« Er sah den Admiral an. »Alle.«

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96

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Spencer, hielt an. »Ich warte immer noch darauf, daß Sie mir

einen vernün igen Grund für Ihre Verzögerungstaktik nennen.
Am liebsten würde ich dieses Haus in seine Bestandteile zerlegen
lassen und der Sache auf den Grund gehen ...«

»Sie – Sie Verräter, Lewis!« dröhnte Polly.
»Ich bin geneigt, Ihnen beizupfl ichten, Madame«, sagte Spen-

cer, »wenn auch aus anderer Sicht.« Er warf Stetson einen fragen-
den Blick zu. »Schon Nachricht von Sco ie Bullone?«

»Ich erhalte Bescheid, sobald er eintri

«, erwiderte Stetson und

versank wieder in Nachdenken.

»Sie waren zur heutigen Wahlparty geladen, Admiral, nicht

wahr?« fragte Orne.

»Ja. Aber welchen Zusammenhang hat das ...«
»Wären Sie bereit, Ihre Frau und Ihre Töchter wegen Teilnahme

an einer Verschwörung festzunehmen?«

Ein hartes Lächeln umspielte Pollys Lippen.
Spencer setzte zum Sprechen an, doch er brachte keinen Laut

heraus.

»Die Nathianer sind in der Hauptsache Frauen«, erklärte Orne.

»Die Damen Ihres Haushalts gehören dazu.«

Der Admiral sah aus, als hä e er einen Schwinger in die Magen-

grube erhalten. »Die Beweise ...« fl üsterte er.

»Einen Augenblick!« wehrte Orne ab. »Darauf komme ich

noch.«

»Unsinn!« fauchte der Admiral. »Sie glauben doch nicht ...«
»Lassen Sie ihn ausreden, Admiral«, warf Stetson ein. »Ich muß

sagen, das lohnt sich in den meisten Fällen.«

»Dann soll er endlich etwas Vernün iges vorbringen!«
»Also gut«, begann Orne. »Die Nathianer sind, wie gesagt, in

der Hauptsache Frauen. Die wenigen Männer entstanden durch
genetische Zufälle oder, wie bei mir, durch sorgfältige Planung.

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97

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Deshalb gelang es uns auch nicht, irgendwelche Namen zu erfah-
ren. Eine enge Gemeinscha von Frauen, die sich mit Hilfe ihrer
Männer zu Machtpositionen emporarbeiteten ...«

Spencer räusperte sich, schluckte. Er ließ kein Auge von Orne.
»Vor dreißig oder vierzig Jahren nun begann die Gruppe damit,

einige auserwählte Männer für echte Spitzenpositionen auszubil-
den. Die übrigen männlichen Angehörigen der Nathianer – die
Zufallsprodukte – erfuhren nichts davon. Die neuen Mitglieder
jedoch wurden voll in die Verschwörung eingeweiht, sobald sie
die Volljährigkeit erreicht ha en. Ich schätze, diese Lau ahn war
auch für mich bestimmt.«

Polly starrte ihre Hände an. Diana wandte den Blick ab, als

Orne sie ansah.

»Die heutige Wahl sollte diesen Teil des Planes krönen. Wenn

alles nach Wunsch geklappt hä e, wären sie mit größerer Kühn-
heit zu Werk gegangen.«

»Mein Junge, Sie stecken selbst bis über den Kopf in dieser

Sache«, fauchte Polly. »Es ist zu spät, etwas gegen uns zu unter-
nehmen.«

»Das werden wir ja sehen!« entgegnete Spencer schneidend. Er

ha e seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. »Einige Verhaf-
tungen, eine Pressekampagne, die dem Volk die Augen öff net ...«

»Nein!« unterbrach ihn Orne. »Polly hat recht, Admiral. Für

diesen Weg ist es wirklich längst zu spät. Die Frauen von Nathia
haben sich im Laufe der Jahrhunderte Positionen geschaff en, von
denen wir sie nicht mehr verdrängen können.«

Spencer richtete sich auf und warf Orne einen vernichtenden

Blick zu. »Junger Mann, ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich diese
Residenz niederwalzen lasse ...«

»Ja, ja.« Orne winkte müde ab. »Wieder ein Hamal, wieder ein

Sheleb.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Wollen Sie die Verschwörung als vollendete Tatsache hinneh-

men?«

»Eine andere Wahl haben wir kaum«, erklärte Orne. »Aber – es

wird Zeit, daß alle hier die Lektion von der Axt und dem Axtstiel
begreifen.«

»Die – was?« Spencer schü elte verwirrt den Kopf.
»In manchen primitiven Zivilisationen räumte man die stän-

dige Kriegsgefahr aus dem Weg, indem man für ein Gleichgewicht
der Krä e sorgte. Ein Dorf stellte Axtstiele her, das andere nur die
Schneiden. Auf diese Weise entstand eine gegenseitige Rüstungs-
kontrolle ...«

Polly beobachtete Orne mit zusammengekniff enen Augen.
»Wissen Sie, was ich glaube?« fauchte Spencer. »Mit Ihrem

Versuch, hier Verwirrung zu sti en, erweisen Sie sich als echter
Nathianer!«

»Unsinn!« entgegnete Orne ungeduldig. »Das Volk der Nathia-

ner gibt es nicht mehr. Seit fün undert Jahren heiraten die Frauen
dieses Stamms in die verschiedensten Kulturen ein. So ist eine
Mischrasse entstanden – eine kleine Geheimtruppe von politischen
Genies.« Er lächelte Polly zu, dann wandte er sich wieder an Spen-
cer: »Denken Sie einmal an Ihre Frau, Sir! Ganz ehrlich – wären Sie
heute Kommandeur der Galaktischen Streitkrä e, wenn sie Ihre
Karriere nicht in die Hand genommen hä e?«

Der Admiral lief rot an. Seine grimmige Miene schien Orne

jedoch nicht im geringsten zu beeindrucken. »Nun ja – warum
sollte ich es nicht zugeben ...«, meinte er schließlich achselzuk-
kend.

»Ah, Sobie nimmt Vernun an!« triumphierte Polly. »Ich ha e

es nicht anders erwartet.« Sie sah Orne an. »Fertig, Lewis? Dann
mache ich weiter ...«

»Einen Augenblick!« Orne hob die Hand. »Sie unterschätzen

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Ihren Schwiegersohn, Polly.«

»Pah!« fauchte Diana. »Ich hasse dich!«
»Das wird sich wieder geben.«
»Verlaß dich lieber nicht darauf!«
Spencer war neben Polly getreten. »Dennoch – wir haben die

besseren Trümpfe.«

»Im Gegenteil«, korrigierte ihn Orne. »Wenn Sie die Lage objek-

tiv betrachten, stehen Sie mit ziemlich leeren Händen da.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Admiral verdutzt.
»Das Regieren bringt nicht nur Ruhm«, erklärte Orne. »Man

bezahlt seine Macht damit, daß man ständig auf des Messers
Schneide balanciert. Das große amorphe Ding da draußen – das
Volk – hat schon viele seiner Führer gestürzt. Das geschieht im
Handumdrehen, durch ein kurzes Auffl

ackern des Zorns. Verhin-

dern läßt es sich nur durch eine gute Regierung – keine perfekte,
aber eine gute Regierung. Andernfalls ist man früher oder später
selbst an der Reihe.«

»Und was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen?« fragte

Spencer.

Stetson trat ein paar Schri e vor. »Das ist ziemlich klar«, meinte

er.

Alle Augen richteten sich auf ihn.
»Um an der Macht zu bleiben, mußten die Frauen von Nathia

für eine gute Regierung sorgen. Sie haben es getan, daran besteht
kein Zweifel. Wenn wir sie nun absägen, verhelfen wir politischen
Pfuschern zu Amt und Würden – fanatischen, machthungrigen
Demagogen, die nur darauf brennen, ihre Komplexe auszuto-
ben.«

»Und das wäre gleichbedeutend mit dem Chaos«, fuhr Orne

fort. »Lassen wir also die Nathianer-Gruppe weitermachen wie
bisher – mit zwei kleinen Einschränkungen ...«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Wir ändern nichts«, sagte Polly hart.
»Sie haben die Lektion von der Axt und dem Axtstiel nicht

begriff en.«

»Und Sie begreifen die Lektion von echter politischer Macht

nicht!« entgegnete Polly. »Lewis, worauf stützen Sie Ihre Forde-
rungen? Sie haben mich, aber das nützt Ihnen nicht viel. Die Orga-
nisation kann auch ohne mich weitermachen. Und Sie wagen es
nicht, uns preiszugeben. Zuviel steht auf dem Spiel. Wir halten die
Peitsche in der Hand!«

»Unsinn!« sagte Orne. »Der Untersuchungsausschuß könnte

innerhalb weniger Tage neunzig Prozent Ihrer Gruppe in Schutz-
ha nehmen.«

»Und wie wollen Sie unsere Mitglieder fi nden?«
»Nichts leichter als das!«
»Wirklich, Lew?« Stetson sah seinen Untergebenen fragend an.
»Das Nomadenerbe«, erklärte Orne. »Sieh dir dieses Haus an!

Ein besseres Zelt! Der Wohnraum der Männer außen – die Frauen
abgeschirmt im Zentrum ...«

»Gut«, warf Spencer ein, »aber das reicht doch nicht!«
»Nein. Hinzu kommt eine Vorliebe für die Musikinstrumente

der Nomadenvölker – Kaithra, Tamburin, Oboe.« Orne machte
eine kleine Pause. »Und wir können nachforschen, welche Poli-
tiker durch den Einfl uß ihrer Frauen an die Macht gelangten. Es
wird uns kaum einer entgehen.«

Polly starrte ihn mit off enem Mund an.
»Das – das geht mir alles zu schnell«, stammelte Spencer. »Aber

ich weiß eines. Ich habe geschworen, einen zweiten Randwelten-
krieg mit allen Mi eln zu verhindern. Und wenn ich meine eigene
Frau verha en muß – ich werde diesen Schwur halten!«

»Eine Stunde nach Aufdecken des Komplo s wären Sie nicht

mehr in der Lage, jemanden zu verha en«, widersprach Orne.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Der Mann einer Nathia-Angehörigen! Man würde Sie lynchen
oder, wenn Sie Glück haben, selbst ins Gefängnis stecken.«

Spencer wurde blaß.
»Und welchen Kompromiß schlagen Sie vor?« fragte Polly

ruhig.

»Erstens – Vetorecht gegen jeden Kandidaten, den Sie ernen-

nen«, erklärte Orne. »Zweitens – Ihre Organisation besetzt nie
mehr als die Häl e der Spitzenpositionen.«

»Und wer soll das Vetorecht über unsere Kandidaten erhal-

ten?«

»Admiral Spencer, Stet, ich – und sonstige Leute, die uns ver-

trauenswürdig erscheinen.«

»Halten Sie sich für einen Go ?« fuhr Polly auf.
»Nicht mehr als Sie«, entgegnete Orne. »Ich bin bei meiner

Mu er in die Lehre gegangen, Polly. Wir schaff en ein Gleichge-
wicht der Krä e. Ihr schneidet den Kuchen an, wir suchen uns das
erste Stück aus. Eine Gruppe stellt den Axtstiel her, eine andere
die Schneide. Gemeinsam setzen wir dann die Teile zusammen.«

Es entstand ein langes Schweigen. Dann meinte Spencer

zögernd: »Es erscheint mir einfach nicht gerecht, nur ...«

»Kein politischer Kompromiß ist gerecht«, unterbrach ihn

Orne.

»Regierungen sind dazu da, Risse zu fl icken und Gräben zu

überbrücken«, sagte Polly. Sie sah Orne an und lachte leise: »Also
gut, Lewis, wir nehmen den Vorschlag an.«

Spencer zuckte hilfl os die Achseln.
»Und noch etwas, mein Junge«, fuhr Polly fort. »Wenn Sie in

die Politik einsteigen möchten ...«

»Ich stecke seit Jahren bis zum Hals in der Politik«, sagte Orne.

»Jetzt möchte ich erst einmal ein paar private Dinge tun. Ich werde
Diana heiraten und einen Hausstand gründen ...«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Diana verstei e sich. »Lew, ich will von dir nichts mehr hören

und sehen! Hast du das verstanden?«

Orne hob die Schultern. Er wirkte sehr müde und nieder-

geschlagen, als er sich abwandte und auf Stetson zuging. Seine
Schläfen hämmerten wie verrückt. Er nahm seine Umgebung wie
durch einen Schleier wahr. Schwindel erfaßte ihn, und mit einem-
mal wurde ihm schwarz vor den Augen.

Die Anwesenden schrien entsetzt auf, als Orne zusammen-

brach.

»Rasch einen Arzt!« rief Stetson. »Ich hä e mich mehr um ihn

kümmern sollen. Ich wußte, daß er noch sehr schwach ist ...«

Polly lief, so schnell es ihre Fülle erlaubte, ans Videofon.
»Lew!« Diana packte Orne an beiden Schultern. »Oh, Lew, es

tut mir so leid! Ich ha e meine Worte doch nicht ernst gemeint.
Lew, bi e – du darfst nicht sterben ...«

Orne schlug die Augen auf. Dianas goldrotes Haar nahm ihm

die Sicht. Im Hintergrund hörte er Pollys aufgeregte Stimme
videofonieren.

Diana schmiegte sich an seinen Hals und löste dabei unbemerkt

das Kehlkopf-Mikrophon aus. Orne vernahm das leise Zischen
der Trägerwelle. Verdammt, dachte er. Auf den tiefsten Meeresgrund
verschwinden soll das Ding!

An der Stelle, wo die Chirurgen den Sender implantiert ha en,

war plötzlich Leere. Das Zischen der Trägerwelle verstummte.

Ein Schock durchfuhr Orne. Ich besitze Psi-Krä e! Bei allem, was

heilig ist – ein Esper ...

San machte er sich von Diana los und setzte sich auf.
»Oh, Lew!« fl üsterte sie.
Polly war neben ihre Tochter getreten. »Der Arzt kommt gleich«,

sagte sie. »Inzwischen soll Lewis ganz ruhig liegen. Ich hole nur
rasch eine Decke – he, weshalb sitzt er?«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Orne achtete kaum auf die Worte der anderen. Er dachte: Ich

werde nach Amel gehen müssen. Das läßt sich nicht vermeiden. Nach
Amel ...

*

Der Tod hat viele Aspekte: Nirwana, das ewige Rad, das Gleichgewicht
zwischen Organismus und Denken als reine Aktivität, Spannung/Ent-
spannung, Schmerz und Freude, die Suche nach einem Ziel und der Ver-
zicht. Die Aufzahlung läßt sich beliebig fortsetzen.

NOAH ARKWRIGHT

Aspekte der Religion

Im gleichen Moment, als Orne den Schutz der Metallwände ver-
ließ und in das helle Sonnenlicht der Landerampe hinaustrat,
drangen die Psi-Strömungen auf ihn ein. Schwindel erfaßte ihn,
und er umklammerte mit beiden Händen das Geländer. Er ha e
das Gefühl, zwischen gegensätzlichen Magnetfeldern gefangen
zu sein.

Die Schwäche ließ nach. In der Tiefe, verzerrt durch fl irrende

Hitzewellen, breitete sich die glasige Piste des Raumhafens von
Amel aus. Kein Lu hauch ging. Nur die unsichtbaren Psi-Böen
jagten durch sein Inneres.

Als Orne auf Marak das Thema Amel angeschni en ha e, war

plötzlich alles wie von selbst ins Rollen gekommen. Experten des
Untersuchungsausschusses ha en ihm Psi-Detektoren und -Ver-
stärker implantiert. Kein Mensch fragte nach dem Verbleib des
Minisenders. Man zeigte ihm, wie er die Instrumente bedienen
mußte, und man brachte ihm bei, die klaren Signale abzusondern
und verschwommene Impulse zu verstärken.

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104

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Eine hektische Zeit, wenn er so zurückblickte. Er ha e seine

politischen Pläne durchgesetzt, die Hochzeit mit Diana vorberei-
tet, die innere Verwaltung des UA kennengelernt und nebenbei
versucht, sich an das neue Psi-Bewußtsein zu gewöhnen.

Nun jedoch, da er im Begriff stand, den heiligen Boden von

Amel zu betreten, merkte er, daß ihm dies nicht gelungen war.
Im Gegenteil – das Psi-Training ha e seine Empfänglichkeit und
damit seine Furcht gesteigert.

Er dachte: Sie haben mich gewarnt, daß es anfangs schlimm sein

würde.

Jeder, der als Schüler auf die Welt der Priester kam, machte

diese Empfi ndungen durch.

Orne konzentrierte sich nach innen, wie er es gelernt ha e. All-

mählich schwächten sich die Psi-Eindrücke zu einem vagen Gefühl
der Unsicherheit ab. Er atmete tief durch. Die Lu war heiß und
trocken, als fehlte ihr ein Element, das seine Lungen benötigten.

Die Metallfl äche der Schiff sluke gab sein Bild leicht verzerrt

wieder: blockig, gedrungen – ein Halbgo erstanden aus Amels
Vergangenheit. Eine schwache Narbe am Haaransatz war alles,
was an Sheleb erinnerte. Er ha e sich von dem Zwischenfall erholt;
aber er wußte, daß Sheleb Jahrhunderte dazu benötigen würde.

Orne betrachtete die Landscha , während der Sturm in seinem

Innern langsam abfl aute. Türme, Kuppeln, Pagoden, Säulen, Pyra-
miden, Minare e, Obelisken, Schreine – das alles drängte sich in
der Ebene, die tief unten im Sonnenglast fl immerte. Leuchtende
Farbkleckse reihten sich an Pastelltöne, Mauern aus Holz ragten
neben Triton und Plastistahl auf. Amel war ein Schmelztiegel für
tausend Zivilisationen.

Die gelbe Sonne Dubhe wanderte über einen wolkenlosen

Himmel. Orne schwitzte in der langen blauen Ku e, die jeder Prie-
sterschüler tragen mußte. Ein paar Schri e neben ihm führte ein

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

breiter Rollstreifen in die Tiefe. Furcht überfi el Orne mit einemmal,
Furcht vor dem Unbekannten, das ihn in den engen, verwinkel-
ten Gassen und den bunt durcheinandergewürfelten Häusern des
Tempelbezirks erwartete. Schon einmal ha e er dieses unheimli-
che Kribbeln gespürt, dieses namenlose Entsetzen ...

Er ha e an seinem Schreibtisch gesessen und in die Parkland-

scha hinausgeträumt. Am Nachmi agshimmel hing die grüne
Sonne von Marak, kalt und fern. Auch Amel war weit weg – ein
Planet, den er irgendwann nach seinen Fli erwochen besuchen
würde. Im Moment hielt er Vorlesungen am College des Unter-
suchungsausschusses. Sein Thema lautete: »Anzeichen latenter
Aggressionen und ihr rechtzeitiges Erkennen«.

Ganz plötzlich ha e ihn dieses Gefühl erfaßt.
Er wandte den Blick vom Fenster ab und betrachtete den nüch-

tern eingerichteten Raum. Alles war wie sonst – die grauen Wände,
das Be gestell aus Metall, die weiße Decke, der Stuhl am Fußende
des Be s, die schmale Spindtür. Dennoch spürte er, daß sich irgend
etwas verändert ha e, und daß diese Veränderung eine Gefahr für
ihn brachte. Schri e näherten sich im Korridor. Jemand klop e.
Es war Stetson. Der Sektorenchef trug wie immer seine verwa-
schene, gefl ickte Drillichuniform. Das Rangabzeichen am Kragen
wirkte stumpf, und unwillkürlich überlegte Orne, wann Stet es
wohl zuletzt geputzt ha e.

Hinter Stetson rollte ein Robokarren herein, beladen mit Bän-

dern, Mikrofi lmen und sogar einem Stoß altmodischer Bücher.

Orne richtete die Blicke auf den Karren. Er wußte sofort, daß

seine Furcht nicht unbegründet war. Langsam stand er auf. »Was
gibt es, Stet?«

Stetson zog sich den freien Stuhl heran und warf die Mütze

aufs Be . Er grinste. »An deiner Miene erkenne ich, daß du bereits
Schlimmes ahnst. Und du täuscht dich nicht. Eine unangenehme

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Aufgabe.«

»Ich dachte, damit sei es endgültig vorbei.«
»Wie man es nimmt, Lew«, erklärte Stetson. »Es wäre möglich,

daß dir selbst viel daran liegt, die Sache aufzuklären.«

»Stet, ich heirate in drei Wochen.«
»Deine Hochzeit ist verschoben worden«, sagte Stetson. Er hob

beschwichtigend die Hand, als Orne auff uhr. »Moment! Ich sagte
verschoben – sonst nichts.«

»Wer hat das angeordnet?«
»Nun, nachdem wir Diana die Lage geschildert ha en, fand sie

auch, daß es besser sei, noch eine Weile zu warten. Sie ist heute
morgen in einer dringenden Mission nach Franchi Primus abge-
reist.«

»Wir waren zum Abendessen verabredet!« fauchte Orne.
»Ich weiß. Diana läßt dir ausrichten, daß es ihr leid tut. Auf

dem Karren da liegt übrigens ein Videowürfel, den sie mir für
dich mitgegeben hat.«

»Und was bezweckt ihr mit dieser Maßnahme?«
»Der Zeitpunkt deiner Reise nach Amel ist vorverlegt worden.

Du mußt Berge von Vorbereitungen treff en. Diana hä e dich nur
abgelenkt. Ihr könnt heiraten, sobald du zurückkehrst.«

»Wenn du nicht schon mit der nächsten unangenehmen Auf-

gabe wartest!«

»Du hast dich nun mal verpfl ichtet, für den UA zu arbeiten ...«
»Und die Sache macht mir einen irren Spaß! Ich kann jungen

Leuten nur empfehlen, eurer Organisation beizutreten. Die indi-
viduelle Freiheit wird ganz groß geschrieben.«

»Laß jetzt den Quatsch, Lewis! Ich muß mit dir über Amel spre-

chen.«

»Weshalb mit einemmal die Eile? Anfangs hieß es, ich hä e ein

halbes Jahr Zeit.«

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107

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Lew, du stellst dir das alles zu einfach vor.«
Orne warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Hast du meinen

Wunsch nach einem gründlichen Psi-Training weitergeleitet,
Stet?«

»Sicher.«
»Und?«
»Lew, man meldet sich nicht nach Amel, sondern man wird

berufen.«

»Was soll das nun wieder heißen?«
»Wenn du nicht auf der Liste der anerkannten Esper stehst,

gibt es nur eine Möglichkeit, nach Amel zu gelangen: Du wirst als
Schüler berufen.«

»Und – ich bin berufen worden?«
»Ja.«
»Was geschieht, wenn ich ablehne?«
Harte Linien umspielten Stetsons Mund. »Du unterstehst dem

Untersuchungsausschuß, vergiß das nicht!«

Orne seufzte. »›Ich setze mein Leben und meine Ehre daran, die Saat

der Gewalt überall und zu jeder Zeit aufzuspüren und zu vertilgen

‹«,

zitierte er. »Vielleicht sollte man anfügen: Und ich bin bereit, dafür
alles und jeden zu opfern.«

»Schlag das dem Boß vor, wenn du zurückkommst«, meinte

Stetson.

»Falls ich zurückkomme.«
»Zugegeben, die Möglichkeit besteht immer«, sagte Stetson.

»Aber man hat dich nach Amel berufen, und der Untersuchungs-
ausschuß besteht darauf, daß du dem Ruf folgst.«

»Deshalb waren alle so eifrig, als ich meinen Plan faßte.«
Ganz recht. Sobald unsere Psi-Experten bestätigt ha en, daß du

einen hohen Grad an Talent besitzt, schöp en wir Hoff nung. Wir
brauchen jemanden von deinem Format auf Amel.«

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108

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Warum? Was geht den UA diese Welt an? Im weiten Umkreis

von Amel gibt es auch nicht die Spur einer Kriegsdrohung. Diese
Leute haben Angst, ihre Gö er zu verärgern.«

»Oder deren Priester.«
»Außerdem hat es noch nie Schwierigkeiten bereitet, nach Amel

zu gelangen.«

»Uns

schon.«

»Dem UA?«
»Genau.«
»Aber unsere Psi-Experten stammen doch von Amel!«
»Da hast du recht. Nur – wir haben sie nie angefordert. Amel

wandte sogar einen gewissen Druck an, damit wir sie in unseren
Reihen aufnahmen. Umgekehrt waren wir nie in der Lage, einen
tüchtigen, vertrauenswürdigen Agenten auf Amel einzuschleu-
sen.«

»Du glaubst, daß sich auf Amel etwas zusammenbraut?«
»Wenn das der Fall sein sollte, dann kommen wir in ernste

Schwierigkeiten. Welche Waff en gibt es gegen Psi-Krä e? Wie
sollen wir beispielsweise diesen Kerl von Wessel einsperren, der
mit Hilfe von Telekinese von Planet zu Planet gelangt? Oder was
machen wir mit Leuten, die implantierte Sender ohne jeden chir-
urgischen Eingriff aus ihrem Körper entfernen?«

»Ah, das weißt du also auch?«
»Der Sender übertrug plötzlich nicht mehr die Geräusche

deiner Umgebung, sondern das Blubbern von Wasser. Wie ist es
dir gelungen, das Ding auf den Meeresgrund zu befördern?«

»Keine Ahnung. Ich wollte einfach, daß es verschwand ...«
»Hmm. Vielleicht bist du nach Amel berufen worden, weil du

unbedingt dorthin wolltest?«

Orne schaute überrascht auf. »Das wäre durchaus möglich.«

Er spürte immer noch die Furcht, doch nun bezog sie sich nicht

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109

Frank Herbert – Die Riten der Götter

mehr auf den Robokarren, sondern auf das ferne Amel. »Du weißt
genau, daß man mich berufen hat?«

»Ja – und uns liegt daran, daß du unverzüglich nach Amel

gehst.«

»Das hast du mir noch nicht näher erklärt, Stet.«
Stetson seufzte. »Lew, wir erhielten heute morgen die Gewiß-

heit: Bei der nächsten Ratsversammlung soll beantragt werden,
den Untersuchungsausschuß abzuschaff en und seine Funktionen
dem R&R zu übergeben.«

»Ist das ein Witz?«
»Nein.«
»Dem R&R – mit anderen Worten, Tyler Gemine?«
»Ganz genau.«
»Ausgerechnet diesem Kirchenlicht! Die Häl e unserer Pro-

bleme verdanken wir der Blödheit des R&R. Ich dachte, unser
vorrangiges Ziel wäre es, Gemine zu feuern.«

»M-hm.« Stetson nickte. »Dennoch wissen wir aus sicherer

Quelle, daß man den Antrag bei der nächsten Versammlung stel-
len wird – also in knapp fünf Monaten. Und wir wissen auch, daß
er die volle Unterstützung der Amelpriesterscha besitzt.«

»Aber das ist doch idiotisch! Es gibt Tausende, vielleicht Millio-

nen religiöser Sekten auf Amel. Das Ökumenische Abkommen...«

»Das Abkommen verbietet es nicht, den Untersuchungsaus-

schuß in die Pfanne zu hauen!«

»Ich weiß nicht recht, Stet. Wenn die Priester es auf uns abge-

sehen haben, weshalb berufen sie mich dann als Schüler nach
Amel?«

»Genau diese Frage bereitet uns Sorgen«, sagte Stetson. »Nie-

mand, absolut niemand hat es bisher gescha

, einen Agenten auf

die Welt der Priester einzuschleusen – weder wir, noch der frü-
here Geheimdienst von Marak. Nicht einmal den Nathaniern ist es

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110

Frank Herbert – Die Riten der Götter

geglückt. Alle Versuche endeten bereits im Raumhafen mit einem
höfl ichen Hinauswurf.«

Orne deutete auf den Robo-Karren. »Was hast du mir hier mit-

gebracht?«

»Das Zeug, das du ursprünglich in sechs Monaten lernen soll-

test. Jetzt hast du genau sechs Tage Zeit.«

»Und welche Vorkehrungen habt ihr getroff en, falls auf Amel

etwas schiefgeht?«

»Keine.«
Orne starrte ihn ungläubig an. »Keine?«
»Soviel wir wissen, dauert die Ausbildung auf Amel – auch die

Probe

genannt – ein halbes Jahr. Wenn wir nach dieser Zeit nichts

von dir hören, werden wir Erkundigungen einziehen.«

»Nach dem Schema: ›Wohin habt ihr seine Leiche gescha

?‹«

fauchte Orne. »Verdammt, in einem halben Jahr gibt es den UA
vielleicht nicht mehr ...«

»Deine Freunde werden sich um dich kümmern.«
»Die gleichen Freunde, die mich nach Amel schickten!«
»Lew, ich bin sicher, daß du die Notwendigkeit des Au rags

einsiehst – so wie Diana es getan hat.«

»Diana weiß Bescheid?«
»Ja. Sie war anfangs sehr unglücklich, aber sie erkannte, daß

es die einzige Möglichkeit ist ...« Stetson machte eine Pause und
fuhr dann fort: »Wir könnten versuchen, Amel zu unterdrücken,
aber das würde zu Religionskriegen in der gesamten Föderation
führen. Zudem glaube ich nicht, daß wir genügend Freiwillige für
einen solchen Angriff fänden. Irgendeiner Religion gehören die
meisten Mitglieder des UA an. Eine heikle Geschichte, Lew. Wir
müssen wirklich erst einmal herausbringen, weshalb sich Amel
gegen uns gewandt hat. Vielleicht läßt sich Abhilfe schaff en. Das
ist unsere einzige Hoff nung.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Und wenn sie Eroberungspläne haben, Stet? Was dann? Viel-

leicht ist eine neue Gruppe an die Macht gekommen.«

Stetson wirkte niedergeschlagen. »Wenn du uns dafür Beweise

bringst ...« Er zuckte die Achseln.

»Gut.« Orne trat an den Robo-Karren. »Was steht zuerst auf

dem Programm?«

»Schau dir das Material hier gründlich an! Und im Laufe des

Tages werden dir die Ärzte einen verbesserten Psi-Verstärker ein-
setzen.«

»Wann?«
»Ich weiß nicht. Sie holen dich ab.«
»Wie ne von ihnen!« murmelte Orne.

*

In einem Universum ohne Krieg nehmen die Menschen die Funktion
einer kritischen Masse an. Um die Stabilität zu erhalten, muß man viele
Faktoren berücksichtigen: persönliche Wertanschauungen, Probleme des
Zusammenwirkens auf technologischer Basis, ethisch-religiöse Fragen
und vieles mehr. Zu diesen voraussehbaren Dingen kommen unwei-
gerlich einige Unbekannte, heimtückisch in ihrer Vielschichtigkeit. Die
menschliche Situation in bezug auf den Krieg läßt sich mit einem mul-
tilinearen Rückkoppelungssystem vergleichen, in dem jedes Bauelement
gleich wichtig ist.

»Der unmögliche Krieg«

Kapitel IV, UA-Handbuch

Lange Scha en fi elen in Ornes Krankenzimmer. Es war die stille
Zeit zwischen dem Essen und den Besuchsstunden. Man ha e die
Pseudo-Perspektive des Raums verbannt und sta dessen eine

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112

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Atmosphäre der Behaglichkeit und Ruhe geschaff en. San e grüne
Farbtöne herrschten vor. Das Licht war gedämp .

Orne lag reglos da. Der Induktionsverband ließ es nicht zu,

daß er den Kopf herumdrehte. Noch ha e der Juckreiz, das beste
Anzeichen für den Beginn des Heilvorgangs, nicht eingesetzt.

Der Aufenthalt im Krankenhaus machte Orne nervös. Allzu

deutlich erinnerten ihn die Gerüche und Laute an die vielen
Monate, die er zwischen Leben und Tod geschwebt ha e. Sheleb
– eine der Welten, die angeblich immun gegen den Krieg waren.

Wie Amel.
Die Eingangstür gli lautlos zur Seite. Ein hagerer, hochge-

wachsener Mann trat ein. Er trug die Insignien der Psi-Abteilung:
einen Blitz in Zickzacklinie.

Orne sah ein raubvogelartiges Gesicht mit einer langen Nase,

einem spitzen Kinn und sehr schmalen Lippen. Die Augen mach-
ten einen unsteten, gehetzten Eindruck. Der Fremde beugte sich
über das Fußende des Krankenbe s und nickte Orne fl üchtig zu.

»Ag Emolirdo«, stellte er sich vor. »Ich betreue die Psi-Abtei-

lung. Das Ag steht für Agony.«

Orne betrachtete den Neuankömmling unauff ällig. Das war also

der geheimnisumwi erte Chef der Psi-Truppe. Emolirdo strahlte
die Sicherheit eines Mannes aus, der sehr viel weiß. Er erinnerte
Orne an einen Priester auf seiner Heimatwelt – auch der war von
Amel nach Chargon gekommen.

»Hallo«, sagte er schwach. »Ich habe schon eine Menge über Sie

gehört.«

»Hm.« Emolirdo reckte sein spitzes Kinn vor. »Ich komme her,

weil ich Ihren Fall überprü e. Verblüff end. Sind Sie sich im klaren
darüber, daß Sie ein Psi-Herd sein könnten?«

»Ein was?« Orne versuchte sich aufzurichten, aber der Verband

hielt ihn fest.

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113

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ein Psi-Herd. Ich werde das gleich erklären.«
»Danke.« Die Überheblichkeit des Psi-Experten ärgerte Orne.
»Betrachten Sie dieses Gespräch als Einführung in das Psi-Trai-

ning«, fuhr Emolirdo fort. »Ich habe beschlossen, die Sache selbst
in die Hand zu nehmen. Wenn Sie tatsächlich das sind, wofür wir
Sie halten – nun, es gibt dieses Phänomen äußerst selten.«

»Wie selten?«
»Die Zeugnisse verlieren sich im Nebel der Vergangenheit.«
»Ich verstehe.«
»Falls Sie ein Psi-Herd sind, dann – dann besitzen Sie die Macht

eines Go es.«

Einen Moment lang fühlte sich Orne wie erstarrt. Die Begriff e

der Existenz und des Go estums wirbelten in seinem Gehirn
umher, ließen sich nicht fassen und einordnen.

»Sie stellen das nicht in Frage?« fuhr Emolirdo fort.
»Ich – es kommt alles so überraschend. Weshalb glauben Sie,

daß ich ein – ein Psi-Herd bin?«

»Sie erscheinen wie eine Insel der Ordnung in einem chaoti-

schen Universum. Seit beim Untersuchungsausschuß Ihr Name
zum erstenmal au auchte, haben Sie eine Reihe von Problemen
gemeistert, die im Normalfall zu Krieg und Chaos geführt hä en.
Sie griff en ein und schufen Ordnung.«

»Ich tat das, wozu ich ausgebildet war.«
»Ausgebildet! Von wem?«
»Vom Untersuchungsausschuß!«
»Wirklich?« Emolirdo holte sich einen Stuhl und nahm an Ornes

Seite Platz. »Gehen wir einmal der Reihe nach vor! Das Leben, so
wie wir es verstehen, stellt eine Brücke zwischen Ordnung und
Chaos dar. Wir defi nieren das Chaos als eine ungezähmte Roh-
Energie, bereit für jeden, der sie zu formen vermag. So gesehen ist
das Leben gespeichertes Chaos. Folgen Sie mir?«

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114

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ich folge Ihren Worten.«
»Also noch einmal.« Emolirdo räusperte sich. »Das Leben nährt

sich vom Chaos, existiert aber innerhalb der Ordnung. Das Chaos
stellt eine Grundlage dar, von der sich das Leben abhebt. Das bringt
uns zu einer weiteren Grundlage, der sogenannten Stase. Sie ist
vergleichbar mit einem Magneten. Die Stase zieht freie Energie an,
bis der Stau der Nicht-Bewegung, der Nicht-Anpassung so groß
wird, daß eine Explosion erfolgt. Dadurch kehren die Formen, die
sich zuvor in der Stase befanden, zum Chaos zurück, zur Un-Ord-
nung. Man kann sagen, daß die Stase immer zum Chaos führt.«

»Das ist ja großartig«, stellte Orne fest.
Emolirdo runzelte tadelnd die Stirn und fuhr fort: »Das gilt

sowohl für die tote wie für die lebende Materie. Eis, die Stase des
Wassers, birst, wenn es plötzlich in Kontakt mit Hitze kommt. Eine
erstarrte Zivilisation löst sich auf, wenn man sie in Kontakt mit
den Flammen des Kriegs oder einer fremden Zivilisation bringt.
Der Natur ist die Stase verhaßt.«

»Ebenso wie das Vakuum«, sagte Orne, in der Hoff nung, durch

seinen Einwurf Emolirdos Redefl uß zu unterbrechen. »Aber
weshalb setzen Sie mir all diese Begriff e vor – Chaos, Ordnung,
Stase?«

»Die Psi-Wissenscha arbeitet mit Energiesystemen. Daran

sollen Sie sich gewöhnen. Sonst noch Fragen?«

»Worte, nichts als Worte«, meinte Orne. »Was hat das alles

mit Amel zu tun oder mit der Vermutung, daß ich ein – Psi-Herd
bin?«

»Erst einmal zu Amel: Bei dem Planeten der Priester scheint es

sich um eine Stase zu handeln, die sich nicht aufl öst.«

»Dann ist es vielleicht keine echte Stase.«
»Sehr scharfsinnig«, erwiderte Emolirdo. »Und was den Psi-

Herd betri

, so zwingt er uns, über das Problem der Wunder

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115

Frank Herbert – Die Riten der Götter

nachzudenken. Sie sind nach Amel berufen worden, weil man Sie
für einen Urheber von Wundern hält.«

Unwillkürlich versuchte Orne den Kopf zu heben. Ein he i-

ger Schmerz durchzuckte seinen Nacken. »Wunder?« fl üsterte er
heiser.

»Wer sich mit der Psi-Wissenscha beschä igt, kommt an den

Wundern nicht vorbei«, sagte Emolirdo in seiner knappen, ein
wenig arroganten Art. »Der Teufel steckt in allen Dingen, die wir
nicht verstehen. Anders ausgedrückt – Wunder erschrecken uns
und machen uns unsicher.«

»So wie der Mann, der angeblich ohne Raumschiff von Planet

zu Planet wandert.«

»Er scha

es tatsächlich«, erklärte Emolirdo. »Es ist auch eine

Form des Wunders, wenn man will, daß etwas geschieht – und der
Wunsch wird erfüllt.«

»Angenommen, ich will, daß Sie von hier verschwinden?« frag-

te Orne.

Die Andeutung eines Lächelns huschte über Emolirdos Züge.
»Das könnte ein fesselndes Experiment sein – besonders wenn

ich Ihrem Wunsch einen anderen entgegenhalte ...«

Orne war verwirrt. »Off en gestanden, ich weiß nicht, was ich

von Ihrem Vortrag halten soll.«

»Ich will Ihnen nur erklären, daß wir Dinge untersuchen, die

sich jenseits der anerkannten Schablonen abspielen und o im
Widerspruch zu den allgemeingültigen Regeln stehen. Die Gläubi-
gen nennen so etwas Wunder. Wir sagen, daß wir auf ein Psi-Phä-
nomen gestoßen sind oder gar auf das Wirken eines Psi-Herdes.«

»Der Name ändert nicht unbedingt die Sache.«
»Es gibt Stellen in unserem Universum, an denen die Energie

des äußeren Chaos reichlich vorhanden ist und sich auch zähmen
läßt. Sie kennen sicher die historischen Berichte. Menschen ver-

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116

Frank Herbert – Die Riten der Götter

biegen Drähte, schnitzen kleine Plastikfi gürchen, würfeln die ver-
rücktesten Dinge bunt durcheinander – und Wunder geschehen:
Eine harte, gla e Metallfl äche wird klebrig, als hä e man sie mit
Leim beschmiert; jemand malt ein Pentagramm auf den Boden,
und Flammen tanzen innerhalb der Linien; aus einer verschnör-
kelten Flasche dringt Rauch und gehorcht dem Willen eines Men-
schen ...«

»Und?«
»Dann gibt es bestimmte Lebewesen, die Sammelpunkte – oder

Herde – für die Energie des Chaos sind. Sie tun einen Schri und
tauchen Lichtjahre entfernt wieder auf; sie schauen einen Schwer-
kranken an, und er wird gesund; sie lassen Tote auferstehen; sie
lesen Gedanken.«

Orne ha e eine trockene Kehle. Wenn Emolirdo von diesen Phä-

nomenen sprach, ha e das nichts mit blindem Glauben zu tun. Er
wußte,

was er sagte.

»Aber was hil es, wenn man all diese Erscheinungen unter

dem Begriff Psi zusammenfaßt?«

»Es entreißt sie dem Reich der Furcht«, entgegnete Emolirdo.

Er beugte sich zu Ornes Nach ischlampe herunter und hielt die
Hand in den Lichtkegel. »Da – werfen Sie einen Blick auf die
Wand!«

»Ich kann den Kopf nicht bewegen.«
»Ach so, das ha e ich vergessen.« Emolirdo richtete sich wieder

auf. »Ich wollte nur, daß Sie den Scha en meiner Hand betrachten.
Nehmen wir einmal an, es gäbe intelligente Wesen, die auf eine
fl ache Ebene – wie jene Wand – als ihren Lebensraum beschränkt
wären. Sie entdecken meinen Scha en. Könnten sie sich vorstel-
len, welche Form diesen Scha en wir – eine Form, die außerhalb
ihrer Dimensionen liegt?«

»Eine uralte Frage. Sie fasziniert mich immer wieder«, versi-

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117

Frank Herbert – Die Riten der Götter

cherte Orne. Die Haut unter dem Verband begann mit einem Mal
wie verrückt zu jucken. Orne widerstand dem Verlangen, die
Wunde mit den Fingernägeln zu bearbeiten. Bruchstücke aus den
Sagen Chargons kamen ihm in den Sinn: die Waldzauberer; die
Gnome, die einem Menschen drei Wünsche freistellten und ihn
dann grausam betrogen; die Wunderhöhle, in der Kranke geheilt
wurden ...

Der Juckreiz wurde unerträglich. Er nahm eine Table e und

schluckte sie mit etwas Wasser.

»Sie denken nach?« meinte Emolirdo.
»Wozu habt ihr mir diesen Psi-Verstärker implantiert?«
»Er zeigt die Nähe von Psi-Aktivitäten an«, erklärte Emolirdo.

»Er spürt Psi-Felder auf und die Gegenwart von Psi-Herden. Er
gibt Ihnen die Kra , Psi-induzierten Gefühlen zu widerstehen.
Vielleicht verleiht er Ihnen sogar die Gabe der Prekognition und
befähigt Sie, Gefahren vorherzusehen. Ich werde einige parahyp-
notische Sitzungen mit Ihnen durchführen, damit Sie mit diesen
Dingen besser vertraut werden.«

Orne spürte ein Prickeln im Nacken und eine Leere im Magen,

die nichts mit Hunger zu tun ha e.

»Die Vorahnungen zeigen sich in verschiedener Form – als

fl aues Gefühl im Magen oder als Atemnot. Das sind verläßliche
Signale.«

Schweißperlen sammelten sich auf Ornes Stirn. Er ha e einen

schalen Geschmack im Mund. Am liebsten hä e er sein Vorha-
ben rückgängig gemacht. Er mußte an Stetson denken. Stetson
war kühl und skeptisch, und er ha e ihm geraten, nach Amel zu
gehen. Dann war da noch die Sache mit dem Sender, der irgendwo
auf dem Meeresgrund lag ...

»Sie sehen auf einmal so blaß aus«, sagte Emolirdo.
Orne rang sich ein Lächeln ab. »Die erste Warnung ...«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Was?« fuhr der Psi-Chef auf. »Beschreiben Sie genau, wie

Ihnen zumute ist!«

Orne tat es.
»Komisch, daß es so früh kommt«, murmelte Emolirdo. »Können

Sie die Quelle erkennen?«

»Ich weiß nicht recht. Die Gefahr scheint von Ihnen auszugehen

– und von Amel.«

Emolirdo preßte die Lippen zusammen. »Vielleicht ist das Psi-

Training selbst zu gefährlich für Sie. Das begreife ich nicht ...«

*

Wenn ein Weiser etwas nicht versteht, so sagt er: »Das verstehe ich
nicht!« Der Narr aber und der Ungebildete schämen sich, ihre Unwis-
senheit einzugestehen. So schweigen sie, wo eine einzige Frage ihnen
Weisheit bringen könnte.

APHORISMEN DER ÄBTE

Es gab wirklich keine Ausrede mehr, noch länger auf der Rampe
herumzulungern. Orne ha e den ersten Ansturm von Amels
Psi-Feldern überwunden. Aber das Gefühl, daß ihm eine Gefahr
drohte, blieb hartnäckig, auch wenn er es in den Hintergrund
schob. Er spürte die Hitze und den schweren Stoff der Ku e. Sein
Körper war schweißgebadet.

Und das fl aue Gefühl im Magen sagte: Warte!
Er trat einen halben Schri auf den Rollstreifen zu. Die böse

Vorahnung verstärkte sich. Der bi ere Geruch von Weihrauch
stieg ihm in die Nase.

Obwohl sich Orne für einen eingefl eischten Agnostiker hielt,

empfand er Ehrfurcht. Amel besaß eine Aura, die keinen Unglau-
ben duldete.

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119

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Es sind nur Psi-Krä e, redete Orne sich ein.
Gesänge, schrill und monoton, schwebten über dem Tempelbe-

zirk. Sie beschworen Bilder aus seiner Kindheit herauf: die Prozes-
sionen an hohen Feiertagen ... Mahmud, der streng von der Kiblah herab-
blickte ... die Azan, die am Bairam-Fest über den Marktplatz schallte ...

»So du den Herrn lästerst, möge deine Zunge verdorren ...«
Orne schü elte den Kopf. Ausgerechnet jetzt wirst du fromm,

dachte er. Beuge dein Haupt vor Ullua, dem Sternenwanderer der
Ayrber ...

Die Wurzeln seiner Furcht reichten tief hinunter. Er gab sich

einen Ruck, betrat den Rollstreifen. Das Gefühl der Gefahr blieb,
aber es verstärkte sich nicht.

Der Rollstreifen trug ihn in die Tiefe, bis zu einem überdach-

ten Gehweg. Hier unten herrschte drückende Hitze., Orne wischte
sich den Schweiß von der Stirn.

Eine Gruppe weißgekleideter Priester drängten sich mit ihren

Schülern in den spärlichen Scha en des Gehwegs. Sie waren im
Au ruch begriff en.

Nur einer von ihnen blieb zurück, groß, schwerfällig, plump.

Man ha e den Eindruck, daß der Boden dröhnen würde, wenn
er sich bewegte. Sein Schädel war gla rasiert, und dunkle Augen
glühten unter buschigen weißen Brauen.

»Orne?« fragte er grollend.
Orne trat in den Scha en. »Ja.«
Die Haut des Priesters war gelb und fe ig. Er stemmte die

Hände in die Hü en und sah Orne vorwurfsvoll an. »Du hast das
Reinigungs-Ritual versäumt.« Er machte eine Pause. »Mein Name
ist Bakrish.«

Orne zuckte die Achseln. »Auf dem Schiff hieß es, ich könnte

mir Zeit lassen.«

»Ah, einer von denen.«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Etwas an dem plumpen Mann mit der drohenden Miene erin-

nerte Orne an einen R&R-Ausbilder auf Marak. Unwillkürlich
mußte er lächeln.

»Was freut dich so?«
»Dies demütige Antlitz erstrahlt vor Glück, da ich Amel an

deiner Seite betreten darf.«

»Mmpf!«
»Was meintest du vorhin mit einer von denen?« fragte Orne.
»Daß du zu den Leuten gehörst, die sich erst auf Amel einge-

wöhnen müssen. Das ist alles.« Er drehte sich um und marschierte
los. »Komm jetzt.«

Orne ha e alle Mühe, ihm zu folgen.
Keine Gleitstreifen, keine Sprungpla formen,

dachte Orne. Eine pri-

mitive Welt.

Der Weg führte zu einem fensterlosen, niedrigen Gebäude aus

grauem Plasti-Beton. Durch ein Portal gelangten sie in eine däm-
merige, angenehm kühle Halle. Orne stellte fest, daß man die Tür
von Hand öff nen mußte und daß einer der Flügel quietschte.

Sie gingen durch einen langgestreckten Korridor, vorbei an

einer Reihe winziger Zellen ohne Türen. Einige standen leer,
andere waren vollgepfrop mit seltsamen Instrumenten, und
wieder andere dienten Mönchen als Gebetskammern.

Am Ende des Korridors befand sich wieder eine Tür. Sie führte

in ein Zimmer, das gerade genug Platz für einen Schreibtisch und
zwei Stühle bot. Verborgene Lichtquellen hüllten den Raum in
einen rötlichen Schein. Der Geruch von Schwamm und Moder lag
in der Lu . Bakrish zwängte sich hinter den Schreibtisch und deu-
tete auf den freien Stuhl. Orne nahm Platz. Das fl aue Gefühl in
seinem Magen ha e sich verstärkt.

»Der Untersuchungsausschuß wird dir gesagt haben, daß auf

Amel das Ökumenische Abkommen gilt«, begann der Priester.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Orne verbarg sein Erstaunen.
»Es ist also nicht ungewöhnlich, daß man mich zu deinem Guru

gemacht hat«, fuhr Bakrish fort.

»Wie soll ich das verstehen?«
»Nun, du bist ein Anhänger Mahmuds, ich dagegen ein Hynd

und Wali. Nach dem Ökomenischen Abkommen dienen wir alle
dem Einen Go , der viele Namen hat. Begreifst du jetzt?«

»Nein.«
»Hynder und Ayrber sind von alters her Feinde«, sagte Bakrish.

»Hast du das nicht gewußt?«

»Ganz dunkel entsinne ich mich, daß da irgend etwas war«,

erwiderte Orne. »Aber ich vertrete die Ansicht, daß Feindscha zu
Unrecht und Unrecht zum Krieg führt. Ich habe geschworen, eine
solche Entwicklung zu verhindern, so weit es in meiner Macht
steht.«

»Gut, sehr gut«, sagte Bakrish. »Emolirdo hat uns deine Einstel-

lung geschildert, aber wir mußten uns natürlich selbst überzeu-
gen. Deshalb bist du hier.«

Also stimmt es, was Stet vermutet,

dachte Orne. Die Psi-Abteilung

spioniert für Amel.

Er bemühte sich, seine Gefühle zu verbergen. Insgeheim forschte

er mit seinem neuerweckten Psi-Bewußtsein nach einer Schwäche
oder dem Hinweis einer Gefahr. »Ich dachte, ich käme ganz ein-
fach als Schüler nach Amel.«

»Nichts ist im Grunde einfach.«
Während Bakrish sprach, merkte Orne plötzlich, daß ihn das

fl aue Gefühl im Magen verließ. Er sah, daß der Priester zum Ein-
gang schaute, und drehte sich um. Ein Instrument rollte auf einem
Karren vorbei. Er erkannte gerade noch den Zipfel einer Ku e.

»So ist es besser«, erklärte Bakrish. »Nun besitzen wir die

Tensor-Phase deiner Verstärkereinheit. Wir können sie nach Belie-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

ben au eben oder so überlagern, daß du vernichtet wirst.«

Orne beherrschte sich mühsam. Was für eine Bombe hat mir Emo-

lirdo da verpaßt?

»Zweifellos ein hübsches Spielzeug!« sagte er.

»Spo e nicht! Wir haben nicht die Absicht, dich zu vernichten,

sondern wollen vielmehr die Instrumente, die man dir einpfl anzte,
nutzen.«

Orne atmete zweimal tief durch. Das Psi-Training machte sich

bemerkbar. Er konzentrierte sich nach innen. Ruhe durchfl utete
ihn wie klares, kaltes Wasser, verlieh ihm Psi-Empfänglichkeit.
Gleichzeitig brannten die Gedanken in seinem Gehirn. So ha e er
sich den Verlauf der Dinge nicht vorgestellt. Saß er etwa hilfl os in
der Falle?

»Hast du irgendwelche Fragen?« wollte Bakrish wissen.
Orne räusperte sich. »Ja. Kannst du mir helfen, zu Abt Halmy-

rach zu gelangen? Ich muß herausfi nden, weshalb Amel versucht,
den ...«

»Alles zu seiner Zeit«, unterbrach ihn Bakrish.
»Wo hält sich der Abt auf?«
»In der Nähe. Ich kann dir versichern, daß er den Geschehnis-

sen mit großer Spannung entgegensieht.«

»Welchen Geschehnissen?«
»Deiner Probe natürlich.«
»Ah, ihr freut euch wohl schon darauf, daß ich mich in euren

Netzen verfange!«

Bakrish warf ihm einen verwirrten Blick zu. »Glaube mir, junger

Freund, keiner von uns hat den Wunsch, dich zu vernichten. Wir
trafen lediglich die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ...«

»Du hast selbst erklärt, daß ihr mich vernichten könnt.«
»Das heißt nicht, daß wir es wollen. Siehst du, im Grunde läu

die Sache darauf hinaus: Du möchtest mehr über uns in Erfahrung
bringen, und wir möchten mehr über dich in Erfahrung bringen.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Das geschieht am einfachsten, wenn du dich der Probe unterwirfst.
Du hast keine andere Wahl.«

»Sagst du ...«
»Ich versichere es dir.«
»Und du glaubst, daß ich mich wie ein Gri a zur Schlachtbank

führen lasse?«

»Mordgedanken oder ähnliches sind hier wirklich fehl am Platz.

Ich schlage vor, du betrachtest die Angelegenheit wie wir alle – als
spannenden Test.«

»Für euch ist das leichter. Ihr befi ndet euch nicht in Gefahr.«
Wieder sah ihn Bakrish verwundert an. »Das würde ich nicht

behaupten.«

Orne spürte, wie Zorn in ihm hochstieg. Dafür ha e er seine

Hochzeit verschoben, dafür ha e er sich von den Chirurgen
quälen lassen, dafür ha e er das anstrengende Psi-Training auf
sich genommen! Dafür ...

»Ich werde herausfi nden, was hier los ist!« fauchte er. »Und dann

räume ich in eurem Laden gründlich auf! Verlaßt euch drauf!«

Bakrish wurde blaß. Er schluckte, schü elte den Kopf. »Du

mußt

dich den Mysterien aussetzen«, murmelte er. »Einen ande-

ren Weg kennen wir nicht.«

Orne schämte sich wegen des plötzlichen Wutausbruchs. Er

dachte: Warum hat der Kerl Angst? Er befi ndet sich völlig in Sicherheit.
Dennoch – meine Drohung erschreckt ihn. Warum?

»Wirst du dich der Probe unterwerfen?« fragte Bakrish.
Orne lehnte sich zurück. »Du behauptest, daß ich gar keine

andere Wahl habe.«

»Das stimmt.«
»Gut, ich mache mit. Aber wenn ich es schaff e, verlange ich eine

Unterredung mit dem Abt.«

»Gewiß – wenn du es schaff st.«

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124

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Wir alle stammen von dem All-Einen und kehren zurück in seinen Schoß.
Wie können wir etwas fernhalten von dem Ursprung, der war, und dem
Ende, das ist?

SPRÜCHE der ÄBTE

»Er ist angekommen, Ehrwürdiger Abt«, sagte der Priester. »Bak-
rish kümmert sich um ihn.«

Abt Halmyrach stand neben dem Schreibpult, auf einem blaß-

orangen Teppich, der die Farbe seiner Ku e besaß. Er war barfuß.
Der hohe, altmodische Raum wirkte kühl und dunkel. Die Glüh-
kugeln, die an der Decke schwebten, verbreiteten ein gedämpf-
tes Licht. In dem off enen Kamin, der sich hinter dem Abt befand,
glomm ein niedriges Feuer.

Der Abt spürte den Raum. Sein hageres Gesicht mit der langen

Nase und dem schmallippigen Mund war ausdruckslos, aber
er sah die fe igen Scha en an den holzvertäfelten Wänden, er
hörte, wie der Priester über den Steinboden jenseits des Teppichs
schlur e und wie das Kaminfeuer leise knackte.

Macrithy, der ihm Bericht ersta ete, gehörte zu seinen zuver-

lässigsten Beobachtern. Dennoch fühlte sich der Abt von seinem
Äußeren abgestoßen: schwarzes Haar mit langen Kotele en, ein
gla es, rundes Gesicht, dunkler Anzug mit weißem Umschlagkra-
gen und hoher Hut. Zu sehr erinnerte er den Abt an historische
Bilder der Zweiten Inquisition. Aber das Ökumenische Abkom-
men gesta ete es jedem Gläubigen, den Habit zu wählen, den er
für richtig hielt.

»Ich spürte seine Ankun «, sagte der Abt. Er wandte sich an

das Schreibpult und ließ die Feder über das raschelnde Papier
gleiten. Es freute ihn, die alten Traditionen aufrechtzuerhalten.
»Kein Zweifel – er muß es sein.«

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125

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Er hat die drei Stufen zur Transzendenz überwunden«, meinte

Macrithy, »aber noch steht nicht fest, ob er die Probe scha

und

dich erkennt, der ihn gerufen hat.«

»Erkennen

hat viele Bedeutungen«, wandte der Abt ein. »Hast

du den Bericht meines Bruders gelesen?«

»Ich habe ihn gelesen, Ehrwürdiger Abt.«
Halmyrach schaute von seinem Pult auf. »Ich sah das kleine

grüne Kästchen in einer Vision, kurz bevor der Shriggar auf-
tauchte. Ich sah auch meinen Bruder und spürte den transzen-
denten Einfl uß, den dieser Moment auf seine Gefühle ausübte. Es
fasziniert mich, daß alles so genau nach den Worten des Shriggars
verläu .«

»Ehrwürdiger Abt«, sagte Macrithy, »der Krieg, die Stadt aus

Glas, die Zeit der Politik – diese Dinge sind eingetroff en. Ich habe
mir Ihren Bericht über die Go erschaff ung genau angesehen. Nun
müssen wir wohl vor den Folgen unseres Wagemuts bangen.«

»Ich tue es bereits«, entgegnete der Abt, ohne von seinem

Schreibpult aufzublicken.

»Wie wir alle«, meinte Macrithy.
»Aber – es ist unser erster Mensch!« Der Abt setzte mit einer ent-

schlossenen Geste einen Punkt hinter seinen Satz. »Was haben wir
in der Vergangenheit erreicht? Einen Berg auf Talies, den Tönen-
den Stein von Krinth, den Mäusego auf der Alten Erde – und
ähnliches mehr. Nun besitzen wir unseren ersten Menschengo

»Es gab bereits einige davon.«
»Aber keinen, den wir erschufen!«
»Vielleicht werden wir es bereuen«, murmelte Macrithy.
»Oh, ich bereue es längst«, sagte der Abt. »Aber was hil das,

mein Freund?«

*

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126

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Der Tag ist kurz, und der Arbeit gibt es viel, und die Arbeiter sind träge,
doch hoher Lohn winkt, und unser Herr drängt zur Eile.

Schri en des ABT HALMYRACH

»Die Zelle der Glaubensmeditation«, sagte Bakrish und deutete
auf den Raum, dessen Tür er aufgestoßen ha e. »Leg dich fl ach
auf den Boden und bleib liegen, bis ich dir das Aufstehen gesta e.
Wenn du dich vorzeitig erhebst, droht dir Gefahr.«

»Weshalb?« Orne beugte sich vor, warf einen Blick in den

Raum.

Er sah ein hohes, schmales Rechteck. Wände, Boden und Decke

schienen aus weißem, von bräunlichen Adern durchzogenem
Stein zu bestehen. Fahles Licht, stumpf und bläulichweiß wie
entrahmte Milch, lag über der Zelle. Der Geruch von Moder und
feuchten Mauern stieg ihm in die Nase.

»Das hier ist eine Psi-Maschine von hoher Wirksamkeit«,

erklärte Bakrish. »Flach auf dem Rücken liegend befi ndest du dich
einigermaßen in Sicherheit. Hör auf mich, ich bi e dich darum!
Manche mißachteten die Warnung. Ich habe miterlebt, was mit
ihnen geschah.« Er schauderte.

Orne räusperte sich. Kälte stieg in ihm auf. Wieder spürte er

eine entsetzliche Leere im Magen. »Und – und wenn ich mich wei-
gere, den Raum zu betreten?«

»Bi e«, sagte Bakrish. »Ich bin hier, um dir zu helfen. Jetzt

umzukehren, wäre gefährlicher für dich, weitaus gefährlicher.«

Orne drehte sich um und las ein stummes Bi en in den dunklen

Augen des Priesters.

Er holte tief Atem, schri über die Schwelle. Das Gefahrensi-

gnal schwächte sich ein wenig ab.

»Leg dich fl ach hin!« riet ihm Bakrish.

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127

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Orne streckte sich auf dem Boden aus. Die Kälte des Steins

drang eisig durch den Stoff der Ku e.

»Sobald du den ersten Schri getan hast, gibt es kein Zurück

mehr«, sagte Bakrish. »Vergiß das nicht!«

»Hast du dich auch dieser Probe unterzogen?« wollte Orne

wissen. Er kam sich albern vor – hilfl os auf dem Rücken liegend
wie ein Käfer. Bakrish, der im Eingang stand, wirkte von seinem
Blickwinkel aus übergroß.

»Gewiß«, erwiderte Bakrish, und Orne glaubte in seinen Worten

tiefes Mitgefühl zu erkennen.

»Was liegt am Ende dieser Probe?« fragte Orne.
»Das muß jeder für sich entdecken.«
»Ist es wirklich so sehr gefährlich, jetzt noch einen Rückzieher

zu machen?« Orne stützte sich auf einen Ellbogen. »Ich werde den
Eindruck nicht los, daß ihr mich zu irgendeinem Experiment miß-
braucht.«

Bedauern strahlte von Bakrish aus. Er sagte: »Wenn der Wis-

senscha ler erkennt, daß sein Experiment mißlungen ist, hindert
ihn das nicht unbedingt an neuen Versuchen ... mit neuem Mate-
rial. Du hast wirklich keine Wahl. Bleibt jetzt fl ach liegen! Es ist am
sichersten.«

Orne gehorchte. »Also schön – bringen wir es hinter uns!«
»Wie du befi ehlst!« Bakrish trat zurück, und der Eingang ver-

schwand. Keine Spur davon blieb in der Wand zurück.

Orne ha e einen trockenen Gaumen. Er sah sich in der Zelle

um. Sie schien etwa vier Meter lang, zwei Meter breit und an die
zehn Meter hoch zu sein. Allerdings nahm er die braunweiße
Decke nur verschwommen wahr; er konnte sich in der Abschät-
zung täuschen. Vielleicht diente das fahle Licht dazu, die Sinne zu
verwirren.

Das warnende Gefühl verließ ihn nicht.

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128

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Abrupt dröhnte die Stimme von Bakrish durch den Raum. Sie

war überall, um ihn und in ihm. »Du befi ndest dich innerhalb
der Psi-Maschine. Sie umschließt dich. Die Prüfung, der du aus-
gesetzt wirst, ist alt und stellt hohe Anforderungen. Sie soll die
Tiefe deines Glaubens erforschen. Ein Versagen bedeutet den Ver-
lust deines Lebens oder den Verlust deiner Seele – vielleicht auch
beides.«

Ornes Handfl ächen waren schweißnaß. Er ballte die Hände zu

Fäusten. Die Psi-Aktivität im Hintergrund stieg an.

Glaube?
Die Zeit in der Bergungskapsel kam ihm in den Sinn und der

Alptraum, der ihn einst gequält ha e. Gö er werden nicht geboren,
sondern erschaff en.

Während der langsamen Genesung ha e er sein

Ich neu aufgebaut, von der Wurzel an.

Eine Glaubensprüfung?

Woran glaubte er? An sich selbst? Damals,

in der Kapsel, war sein Bewußtsein völlig aufgewühlt gewesen. Er
ha e alles in Frage gestellt, selbst den Sinn des Untersuchungs-
ausschusses. Irgendwo in seinem Innern ha e er eine alte Funk-
tion gespürt, ein Ding von archaischen Tendenzen.

Dann erinnerte er sich an seine Defi nition von der Existenz: Ich

bin ein Wesen. Ich existiere. Das genügt. Ich gebe mir selbst Leben.

Etwas mußte man glauben.
Wieder dröhnte die Stimme des Priesters durch die Zelle: »Ver-

senke dein Ich in den mystischen Strom, Orne! Was hast du denn
zu befürchten?«

Orne spürte den Druck von Psi-Krä en, die sich auf ihn richte-

ten. »Ich weiß immer gern, wohin ich gehe, Bakrish!«

»Manchmal gehen wir nur um des Gehens willen.«
»Blödsinn!«
»Wenn du den Lichtschalter betätigst, handelst du in dem Glau-

ben, daß es hell wird.«

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129

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ich verlasse mich auf Erfahrungen der Vergangenheit.«
»Kennst du alle Menschheitserfahrungen?«
»Vermutlich nicht.«
»Dann mache dich auf Überraschungen gefaßt! Ich sage dir jetzt,

daß sich in deiner Zelle kein Beleuchtungsmechanismus befi ndet.
Das Licht, das du siehst, existiert, weil du es so willst – aus keinem
anderen Grund.«

»Was ...«
Dunkelheit hüllte den Raum ein, stygisch, die Sinne verleug-

nend. Gefahr! tobte sein Inneres.

Das heisere Wispern des Priesters erfüllte das Dunkel: »Sei

gläubig, mein Schüler!«

Orne bekämp e das Verlangen, aufzuspringen und mit den

Fäusten gegen die Wände zu trommeln. Irgendwo mußte eine Tür
sein. Doch der Ernst, den er in den Worten des Priesters gespürt
ha e, hielt ihn zurück. In der Flucht lag der Tod. Es gab keine
Umkehr.

Ein diff uses Leuchten hing plötzlich hoch oben in der Zelle und

kam in einer Spirale auf ihn zu. Licht? Es paßte nicht in seine Defi -
nition vom Licht, sondern schien ein eigenes Leben zu besitzen.

Orne hielt die rechte Hand vor die Augen. Er konnte schwach

ihre Umrisse erkennen. Der Druck der Psi-Krä e um ihn ver-
stärkte sich mit jedem Herzschlag.

Er dachte: Als ich zu zweifeln begann, wurde es dunkel.
Stellte das milchige Licht, das anfangs in der Zelle geherrscht

ha e, den Gegensatz zum Dunkel dar, die Furcht vor dem Dunkel?
Scha enlose Helligkeit erfüllte den Raum, aber sie war schwächer
als zuvor, und in der Nähe der Decke, wo er das diff use Leuchten
gesehen ha e, ballte sich nun eine dunkle Wolke zusammen. Sie
besaß die gleiche Anziehungskra wie die Tiefe des Universums.

Orne starrte die Wolke an. Ihre Existenz erschreckte ihn.

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130

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Die Dunkelheit kehrte zurück, stygisch, die Sinne verleug-

nend.

Wieder zeigte sich der diff use Schimmer in der Nähe der Decke.

Gefahr!

kreischte sein Inneres. Orne schloß die Augen und bemühte

sich, die Furcht zu unterdrücken. Es gelang ihm. Verwirrt schlug
er die Augen wieder auf.

Furcht!
Der gespenstische Schimmer tauchte herab.
Augen zu!
Das Gefühl der drohenden Gefahr ließ nach.
Er dachte: Furcht ist gleich Dunkelheit. Die Dunkelheit lockt sogar,

wenn es hell ist.

Er atmete ruhig und gleichmäßig, konzentrierte

sich nach innen. Glaube? Hieß das blinder Glaube?

Die Furcht brachte Dunkelheit. Was wollten sie von ihm?
Ich existiere. Das genügt.
Er zwang sich, die Augen zu öff nen, starrte hinauf in die licht-

lose Leere der Zelle. Der gefährliche Schimmer kroch auf ihn zu.
Selbst in völliger Dunkelheit herrschte ein Pseudo-Licht. Es war
kein richtiges Licht, weil er darin nicht sehen konnte. Es war Anti-
Licht.

Er entdeckte seine Gegenwart überall, sogar im Dunkel.

Orne erinnerte sich an seine Kindheit auf Chargon, an Zeiten

des Dunkels in seiner Schla ammer. Mondscha en ha en sich in
Monster verwandelt. Mit fest zusammengekniff enen Augen war
es dagelegen, aus Furcht, er könnte entsetzliche Dinge sehen.

Pseudo-Licht.
Orne starrte die schimmernde Spirale an. War Pseudo-Licht

gleichbedeutend mit Pseudo-Glaube? Der Schimmer kroch in sich
zurück. War völlige Dunkelheit gleichbedeutend mit dem völli-
gen Fehlen des Glaubens? Der Schimmer erlosch.

Reicht es, wenn ich an meine eigene Existenz glaube?«

überlegte

Orne.

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131

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Die Zelle blieb dunkel und gefahrvoll. Sie roch nach Moder,

nach feuchten Wänden. Leise Geräusche durchzogen das Dunkel
– ein Scharren und Rascheln, Kratzen und Gleiten. Orne verband
die Laute mit den abstoßendsten Bildern, die seine Phantasie
hervorbrachte – gi igen Drachen, wahnsinnigen Monstern, Rie-
senschlangen, Vampirgeschöpfen mit Fängen und Klauen. Er lag
reglos da.

Das heisere Wispern von Bakrish durchdrang das Dunkel.

»Hältst du die Augen off en, Orne?«

Ornes Lippen zi erten. Das Sprechen kostete ihn Mühe. »Ja.«
»Was siehst du?«
Die Frage löste eine Vision aus. Sie fl immerte in der Dunkelheit

vor Orne. Bakrish, in ein unheimliches, rotes Licht getaucht, mit
zuckendem Leib, das Gesicht schmerzverzerrt ...

»Was siehst du?« wiederholte Bakrish.
»Ich sehe dich. Ich sehe dich in Saduns Hölle.«
»In der Hölle Mahmuds?«
»Ja. Warum sehe ich das?«
»Ziehst du das Licht nicht vor, Orne?« Entsetzen schwang in

der Stimme des Priesters mit.

»Warum sehe ich dich in der Hölle, Bakrish?«
»Ich fl ehe dich an, Orne! Wähle das Licht! Glaube!«
»Aber warum sehe ich dich in ...«
Orne unterbrach sich, weil er spürte, daß jemand sein Inneres

durchforschte. Jemand prü e seine Gedanken, seine Lebenshal-
tung, jeden seiner geheimen Wünsche. Jemand wog seine Seele
und ordnete sie ein.

Eine neue Art des Bewußtseins blieb. Orne wußte, daß er

Bakrish in die tiefste Hölle Mahmuds stoßen konnte, wenn er es
nur wollte.

Warum nicht?

fragte er sich.

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132

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Dann wieder: Warum?
Wer war er, um so eine Entscheidung zu treff en? Ha e Bakrish

den ewigen Haß Mahmuds verdient? War Bakrish der Mann, der
den Untersuchungsausschuß zu zerstören suchte? Bakrish war ein
Nichts, ein kleiner Priester. Abt Halmyrach hingegen ...

Stöhnen und Knirschen erfüllte die Zelle. Eine Flammenzunge

schoß aus dem Dunkel über Orne, eine feurige Lanze, gezielt und
wur ereit. Sie warf einen rötlichen Glanz auf die Zellenwände.

Wieder die Warnung: Gefahr!
Und wenn er Mahmuds Haß in eine bestimmte Richtung lenkte,

traf dieser Haß dann nur ein Ziel? Oder geriet er mit in den Stru-
del?

Orne ha e das vage Bewußtsein, daß er in diesem Moment

etwas Gefährliches, Teufl isches tun konnte. Er konnte einen Mit-
menschen zu ewigen Qualen verdammen.

Aber welchen Menschen und warum?
War der Besitz von Macht ein Freibrief? Er fühlte sich abgesto-

ßen von der momentanen Versuchung. Kein Mensch verdiente die
Hölle. Kein Mensch ha e sie je verdient.

Ich existiere,

dachte er. Das genügt. Habe ich Angst vor mir selbst?

Die tanzende Flamme erlosch. Sie ließ die Dunkelheit mit ihrem

Scharren, Kratzen und Zischeln zurück.

Orne spürte, wie seine Hände zi erten, wie die Fingernägel

den Boden kratzten. Eine Erkenntnis kam ihm. Er hielt die Hände
ruhig. Das Kratzen verstummte. Er hielt die Beine ruhig. Das
Scharren und Schleifen verstummte.

Nur das Zischeln blieb.
Natürlich – sein Atem!
Gelächter schü elte ihn.
Licht!
Gleißende Helligkeit durchfl utete die Zelle.

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133

Frank Herbert – Die Riten der Götter

In einem Anfl ug von Halsstarrigkeit verbannte er das Licht.

Dunkel hüllte ihn ein – ein warmes, stilles Dunkel.

Er wußte nun, daß die Psi-Maschine auf seine innersten Wünsche

ansprach, auf jene Wünsche, die nicht vom skeptischen Bewußt-
sein gesteuert wurden, auf jene Wünsche, an die er glaubte.

Ich existiere.
Das Licht erstrahlte, wenn er es wollte, aber er ha e die Dun-

kelheit gewählt. In dem plötzlichen Nachlassen der Anspannung
erhob sich Orne, ohne auf die Warnung des Priesters zu achten.
Flach auf dem Boden ausgestreckt ha e er seine innerste Passivi-
tät begriff en, die Dinge, die er sich vorspiegelte und als feste Werte
akzeptierte. Davon war er nun frei. Orne lächelte in das Dunkel
und rief: »Bakrish, öff ne die Tür!«

Eine Psi-Ausstrahlung erreichte ihn, vorsichtig tastend. Er

erkannte Bakrish darin.

»Du siehst, daß ich glaube«, sagte Orne. »Öff ne die Tür!«
»Öff ne sie selbst!«
Orne setzte seine ganze Willenskra ein. Zeige mir Bakrish!
Ein Knirschen erfüllte die Zelle. Durch einen Spalt in der Wand

drang ein breiter Lichtfächer. Bakrish hob sich blockig gegen die
Helligkeit ab.

Er trat ein paar Schri e vor und zögerte dann, als er Orne im

Dunkel stehen sah.

»Hast du nicht das Licht vorgezogen, Orne?«
»Nein.«
»Aber du stehst – trotz meiner Warnung. Das bedeutet, daß du

den Kern dieser Probe begriff en hast.«

Orne nickte. »Die Psi-Maschine reagiert auf die Willensäuße-

rung, die nicht vom Bewußtsein gesteuert werden. Das ist der
Glaube – der vom Bewußtsein unabhängige Wille.«

»Du hast begriff en und wählst dennoch das Dunkel?«

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134

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Beunruhigt dich das, Bakrish?«
»Ja.«
»Ich fi nde das im Moment nützlich.«
»Hm.« Bakrish verneigte sich. »Ich danke dir, daß du mich ver-

schont hast.«

»Das weißt du?« Orne war überrascht.
»Ich spürte die Hitze der Flammen und ha e den Brandgeruch

in der Nase. Ich hörte meine eigenen Schmerzensschreie.« Bakrish
schü elte den Kopf. »Das Leben eines Guru hier auf Amel ist nicht
leicht. Es gibt zu viele Möglichkeiten.«

»Du warst in Sicherheit«, sagte Orne. »Ich steuerte meinen

Willen.«

»Darin liegt der höchste Glaubensgrad«, murmelte Bakrish. Er

hob die Arme, preßte die Fingerspitzen gegeneinander und ver-
neigte sich noch einmal vor Orne.

Orne trat ins Licht. »Habe ich damit die Probe bestanden?«
»Oh, das war erst die Einführung«, entgegnete Bakrish. »Ins-

gesamt gibt es sieben Stufen: Glaube, die Wunder und ihre zwei
Gesichter, Dogma und Ritual, Ethik, Religionsideal, Lebensfunk-
tion und persönliche Mystik. Die Reihenfolge ist willkürlich, und
manche Prüfungen fallen zusammen.«

Orne zeigte sich gelassen. Das warnende Gefühl in seinem

Innern war verschwunden. Er sagte: »Gut. Machen wir weiter!«

Bakrish seufzte. »Rama schütze mich!« Dann meinte er zögernd:

»Als nächstes stehen die zwei Gesichter der Wunder auf dem Pro-
gramm.«

Einen Moment lang meldete sich das Gefahrensignal. Orne

bekämp e es. Ich glaube an mich selbst, sagte er sich vor. Ich kann
meine Furcht überwinden.

»Je schneller wir es schaff en, desto eher habe ich Gelegenheit,

mit dem Abt zu sprechen«, sagte er verbissen.

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135

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ist das der einzige Grund?« fragte Bakrish.
»Natürlich nicht«, erwiderte Orne. »Aber er ist der Mann, der

gegen den Untersuchungsausschuß kämp . Wenn ich all deine
Rätsel gelöst habe, muß ich ihn noch knacken.«

»Er hat dich gerufen«, sagte Bakrish.
»Einen Moment lang fühlte ich mich versucht, ihn in die Hölle

zu stoßen.«

Bakrish wurde bleich. »Den Abt?«
»Ja.«
»Rama stehe uns bei!«
»Lewis Orne stehe euch bei!« meinte Orne lachend. »Machen

wir weiter!«

*

Das Schema der massiven todbringenden Gewalt – jenes Phänomen, das
wir Krieg nennen – wird aufrechterhalten durch ein Schuld-Furcht-Haß-
Syndrom, welches sich in der Art einer Krankheit durch Konditionierung
ausbreitet. Mag die fehlende Immunität gegenüber dieser Krankheit etwas
sehr Menschliches sein, so ist doch die Krankheit selbst keine notwen-
dige oder natürliche Voraussetzung der menschlichen Existenz. Unter
den Konditionierungsschablonen, welche den Kriegs-Virus übertragen,
fi nden sich Rechtfertigung begangener Fehler, Selbstgerechtigkeit und
die Notwendigkeit, derartige Dinge beizubehalten und zu pfl egen ...

UMBO STETSON

Vorlesungen am Anti-Krieg-College

Bakrish hielt vor einem schweren Bronzeportal an und drehte
einen kunstvoll geschmiedeten Griff in Form einer Sonnenerup-
tion herum. Mit einem leisen Quietschen sprang die Tür auf.

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136

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Es geschieht selten, daß diese beiden Prüfungen aufeinander-

folgen«, sagte er, während er mit der Schulter die Tür vollends
aufstemmte.

Sie betraten einen gigantischen Raum. Mauern aus Stein und

Plastibeton wölbten sich in schwindelnder Höhe zu einer Kuppel.
Durch schmale Schlitze in der Decke sickerten dünne Lichtstrah-
len in die Tiefe, durchsetzt von goldenen Staubkörnern. Ornes
Blicke folgten den fl immernden Pfeilen zu einem gla en Wall,
etwa zwanzig Meter hoch und vierzig bis fünfzig Meter lang. Die
Barriere erschien unvollständig; sie brach in der Mi e des Raums
ab, wie eingeschüchtert durch die gewaltigen Mauern ringsum.

Bakrish schloß das Portal und deutete auf den Wall. »Wir gehen

dorthin.«

Das Klatschen ihrer Sandalen schuf ein gespenstisch verzöger-

tes Echo. Der Geruch von Moder und feuchten Wänden hing auch
hier im Raum. Orne entdeckte ringsum Bronzetüren in gleichmä-
ßigen Abständen. Er drehte sich um, konnte aber nicht mehr unter-
scheiden, durch welches der Portale er den Saal betreten ha e.

Zehn Meter vor der sonderbaren Barriere hielt Bakrish an.

Die Mauer schien aus grauem Plastibeton zu bestehen, gla und
nichtssagend. Dennoch meldete sich in Orne wieder das Gefah-
rensignal. Die Furcht kam in mächtigen Wellen, wie das Branden
der See. Eine Vielzahl von Möglichkeiten bei einer grundsätzlich gefahr-
vollen Situation –

so ha e Emolirdo dieses Phänomen gedeutet.

Bakrish warf Orne einen Blick zu. »Ist es nicht wahr, mein Schü-

ler, daß man die Befehle seiner Vorgesetzten befolgen soll?« Die
Stimme des Priesters rief in der Weite des Saals ein hohles Echo
hervor.

Orne hüstelte. »Gewiß, wenn die Befehle sinnvoll sind und der

Vorgesetzte, der sie erteilt, echte Überlegenheit besitzt. Weshalb
fragst du?«

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137

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Orne, man hat dich als Spion hierhergesandt, als Agent des

Untersuchungsausschusses. Im Grunde tragen deine Vorgesetz-
ten die Verantwortung für alles, was hier geschieht.«

»Worauf willst du hinaus?« Orne spannte sich an.
Auf der Stirn des Priesters glänzten Schweißtropfen. Seine dunk-

len Augen wirkten fi ebrig. »Die Psi-Maschinen jagen uns manch-
mal Entsetzen ein, Orne. Sie sind absolut unberechenbar. Jeder,
der in ihr Feld gerät, kann ihrer Macht unterworfen werden.«

»Wie vorhin, als du die Flammen der Hölle spürtest?«
»Ja.« Bakrish schauderte.
»Und du willst dennoch, daß ich weitermache?«
»Es ist die einzige Möglichkeit, das zu erreichen, weshalb du

hierhergesandt wurdest. Du kannst nicht au ören, du willst nicht
au ören. Das Rad des Großen Mandalas dreht sich.«

»Ich wurde nicht hierhergesandt«, widersprach Orne. »Der Abt

hat mich berufen. Er trägt die Verantwortung, Bakrish, sonst wärst
du jetzt nicht an meiner Seite. Wo bleibt dein eigener Glaube?«

Bakrish preßte die Fingerspitzen gegen die Stirn und verneigte

sich. »Der Schüler belehrt den Guru.«

»Weshalb äußerst du solche Ängste?« fragte Orne.
Bakrish ließ die Arme sinken. »Weil du uns immer noch miß-

traust und Furcht vor uns empfi ndest. Ich spiegle nur deine
Gefühle wider. Und Furcht führt zu Haß, das hast du in der ersten
Prüfung gesehen. Bei der Aufgabe, die vor dir liegt, stellt jedoch
Haß die allergrößte Gefahr dar.«

»Für wen, Bakrish?«
»Für dich, für alle, die du eventuell beeinfl ußt. Diese Prüfung

vermi elt, so du sie bestehst, ein Verständnis, das man nur selten
erlangt ...«

Er unterbrach sich. Zwei junge Priester waren eingetreten. Sie

schleppten einen schweren Stuhl mit hohen, eckigen Lehnen und

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138

Frank Herbert – Die Riten der Götter

stellten ihn etwa zehn Meter vor dem grauen Wall ab. Nach einem
scheuen Seitenblick auf Orne huschten sie zu einem der Bronze-
portale und verließen den Raum.

»Sie haben Angst vor mir«, sagte Orne. »Heißt das, daß sie mich

hassen?«

»Sie bewundern und verehren dich. Ob diese Ehrerbietung

unterdrückten Haß enthält, vermag ich nicht zu sagen.«

»Ich verstehe.«
»Orne«, fuhr Bakrish eindringlich fort, »ich fl ehe dich an, gehe

ganz ohne Haß in diese Prüfung!«

»Weshalb verehren mich die beiden?« Orne starrte immer noch

die Tür an, hinter der die beiden Jungen verschwunden waren.

»Sie kennen diese Prüfung. Die Fäden unseres Universums sind

darin verwoben. Und die Kunde von deinen außergewöhnlichen
Fähigkeiten ist dir vorausgeeilt. Bei einem potentiellen Psi-Herd
liegt alles in der Schwebe. Es gibt unendlich viele Möglichkei-
ten.«

Orne versuchte zu erforschen, was den Priester im Innersten

bewegte. Off enbar spürte Bakrish sein Tasten.

»Ich habe Angst«, sagte er. »Wolltest du das wissen?«
»Weshalb?«
»Als ich geprü wurde, fand ich in diesem Raum beinahe den

Tod. Ich ha e Haß ausgestrahlt. Der Ort grei noch heute nach
mir.« Ein Zi ern durchlief seinen Körper.

Orne merkte, wie ihn die Furcht des Priesters ansteckte.
»Es wäre eine Erleichterung für mich, wenn du mit mir beten

könntest«, meinte Bakrish.

»Zu wem?«
»Zu irgendeiner Macht, an die du glaubst – zu dir selbst, zu

dem Einen Go , zu mir. Darauf kommt es nicht an. Aber ich weiß,
daß das Gebet hil .«

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139

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Bakrish faltete die Hände und senkte den Kopf.
Nach einem kurzen Zögern folgte Orne seinem Beispiel.

*

Was ist besser – ein guter Freund, ein gutes Herz, ein gutes Auge, ein
guter Nachbar, eine gute Frau oder das Erkennen von Ursache und Wir-
kung? Nichts von alledem. Eine warme, empfi ndsame Seele, welche den
Wert der Gemeinscha , aber auch den Preis der individuellen Würde
kennt – das ist am besten.

BAKRISH als Schüler zu seinem Guru

»Weshalb hast du Bakrish gewählt, um ihn durch die Probe zu
führen?« fragte Macrithy den Abt.

Sie befanden sich im Arbeitszimmer des Abtes, und Macrithy

war eben gekommen, um zu berichten, daß Orne die erste Prü-
fung bestanden ha e. Ein Hauch von Schwefel hing im Raum, und
Macrithy fand, daß eine bedrückende Hitze herrschte, obwohl das
Feuer im Kamin längst niedergebrannt war.

Der Abt wußte, daß Macrithy diese Ehre für sich gewollt ha e.

Er beugte sich über sein Schreibpult und erwiderte, ohne den Kopf
zu heben:

»Weil ich an etwas denken mußte, das Bakrish einst als Schüler

sagte. Es gibt Zeiten, in denen selbst ein Go einen Freund benö-
tigt.«

»Was herrscht hier für ein sonderbarer Geruch, Ehrwürdiger

Abt?« fragte Macrithy. »Hast du etwas verbrannt?«

»Ich habe meine Seele im Höllenfeuer geläutert«, erklärte der

Abt. Er spürte, daß in seinem Tonfall Unzufriedenheit mit Macri-
thy mitschwang. Um den Tadel abzumildern, fügte er hinzu: »Bete
für mich, mein lieber Freund! Bete für mich!«

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140

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Der Lehrer, der nicht von seinen Schülern lernt, versteht nichts von
seinem Au rag. Der Schüler aber, der über das fundierte Wissen seines
Lehrers spo et, ist wie einer, der unreife Trauben ißt und fortan die süßen,
reifen Früchte der Rebe verachtet.

SPRÜCHE der ÄBTE

»Du mußt auf dem Stuhl dort Platz nehmen«, sagte Bakrish nach
dem Gebet.

Er deutete auf das klobige Ding, das vor der Barriere stand.
Orne warf einen Blick auf den Stuhl und bemerkte eine umge-

drehte Schale, die so angebracht war, daß sie über dem Sitz pen-
delte. Ornes Herz schlug schneller. »Manchmal gehen wir um des
Gehens willen.«

Die Worte fi elen ihm ein, und er überlegte, wer sie

gesagt ha e. Das große Rad drehte sich.

Orne trat auf den Stuhl zu, setzte sich.
Das Warnsignal in seinem Innern schrillte. Aus verborgenen

Öff nungen im Stuhl schossen Metallbänder, fesselten seine Arme
und Beine, umspannten seinen Oberkörper. Er versuchte sich zu
befreien.

»Kämpfe nicht!« warnte Bakrish. »Du kannst nicht entfl iehen.«
»Weshalb hast du mir verschwiegen, daß der Stuhl mich fest-

halten würde?«

»Ich wußte es nicht, das schwöre ich dir. Der Stuhl ist Teil der

Psi-Maschine und erhält durch dich eigenes Leben. Er hat die Ent-
scheidung selbst getroff en. Orne, ich fl ehe dich an als dein Freund!
Kämpfe nicht, hasse uns nicht! Haß vervielfältigt die Gefahr, in
der du schwebst. Er könnte dich ins Verderben stürzen.«

»Und dich mitreißen?«
»Höchstwahrscheinlich. Man kann den Folgen seines Hasses

nicht entrinnen.« Bakrish sah sich in dem gigantischen Gewölbe
um. »Auch ich habe an diesem Ort einst gehaßt.«

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141

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Mit einem Seufzer trat er hinter den Stuhl und hielt die Schale

so, daß sie genau über Ornes Kopf schwebte. »Hüte dich vor ruck-
artigen Bewegungen! Im Innern der Schale befi nden sich Mikro-
Elektroden, die dir große Schmerzen zufügen, wenn du auszuwei-
chen versuchst.«

Er senkte die Schale.
Orne spürte, wie feine Drähte seine Kop aut berührten. »Was

soll das?« fragte er. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Und
er dachte plötzlich: Warum lasse ich das alles mit mir geschehen?
Warum glaube ich ihnen einfach?

»Dies hier ist eine der berühmten Psi-Maschinen«, sagte Bakrish.

Er verstellte etwas an der Rückenlehne des Stuhls. Metall klickte.
»Siehst du die Wand vor dir?«

Orne starrte unter dem Rand der Schale hervor. »Ja.«
»Beobachte sie!« befahl Bakrish. »Sie bringt deine geheimsten

Wünsche und Triebe ans Licht. Mit ihrer Hilfe kannst du Tote zum
Leben erwecken und ähnliche Wunder vollbringen. Vielleicht
stehst du am Rand eines tiefen mystischen Erlebnisses.«

Ornes Kehle war wie ausgetrocknet. »Wenn ich mir nun wün-

sche, daß mein Vater hier erscheint?«

»Ist er tot?«
»Ja.«
»Dann könnte es geschehen.«
»Und er wäre wirklich am Leben und genau wie mein Vater?«
»Ja. Aber laß dich warnen! Die Dinge, die du hier sehen wirst,

sind keine Halluzinationen. Aber ein Geschöpf, das durch deinen
Willen erscheint, besitzt neben der eigenen Psyche auch etwas von
dir. Seine und deine Materie werden in einer Weise aufeinander
einwirken, die sich nicht vorhersagen läßt. Alle deine Erinnerun-
gen werden jenem Wesen gegenwärtig sein ...«

»Meine Erinnerungen?«

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142

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Hör mir gut zu, Orne! Das ist sehr wichtig. In einigen Fällen

geschieht es, daß sich die Erschaff enen ihres Doppellebens voll
bewußt sind. Andere werden dich aus ihrer Psyche zurückwei-
sen. Sie haben vielleicht nicht die Fähigkeit, diese Abhängigkeit
zu meistern. Wieder anderen fehlt das Empfi ndungsvermögen für
die Rolle, die sie spielen.«

Orne spürte die Angst hinter den Worten des Priesters, spürte

die Aufrichtigkeit, und er dachte: Er glaubt das!

»Warum werde ich in diesem Stuhl festgehalten?«
»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht ist es wichtig, daß du nicht

vor dir selbst fl iehst.« Bakrish legte Orne eine Hand auf die Schul-
ter. »Ich muß jetzt gehen, aber ich werde für dich beten. Der Glaube
und die Gnade seien mit dir!«

Der Priester entfernte sich. Seine Ku e strei e raschelnd den

Boden. Eine Tür schlug dumpf zu. Unsagbare Einsamkeit erfaßte
Orne.

Dann erklang ein schwaches Summen, wurde lauter. Der Psi-

Verstärker in seinem Nacken schmerzte, und Orne spürte das
Auffl

ackern von Psi-Krä en ringsum. Die Barriere erwachte zu

Leben, verwandelte sich in ein tiefes, glasiges Grün, durchsetzt
von irisierenden Purpurlinien, die sich wanden und schlängelten
wie Würmer in einer zähfl üssigen Masse.

Orne holte tief Atem. Furcht hämmerte auf ihn ein. Die Pur-

purfäden übten eine hypnotische Anziehungskra auf ihn aus,
schienen ihm entgegenzuquellen. Einen Moment lang glaubte er
Dianas Gesicht zwischen den Linien zu erkennen, doch es ver-
schwamm wieder.

Ich will nicht, daß sie hier an diesem gefährlichen Ort ist,

dachte er.

Verzerrte Formen tauchten auf, fl ossen zusammen zu den

Umrissen eines Shriggar, jener riesigen Sägezahn-Echse, mit der
die Mü er von Chargon ihren ungehorsamen Kindern drohten.

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143

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Die Umrisse füllten sich. Gelbe Schuppen, Stielaugen ...

Die Zeit schien stehenzubleiben. Orne dachte zurück an seine

Kindheit auf Chargon. Aber damals war der Shriggar längst ausge-
storben,

überlegte er. Mein Ururgroßvater sah das letzte lebende Exem-

plar.

Die Erinnerungen wollten nicht weichen. Sie trieben ihn durch

einen langen Korridor, erfüllt von hohlen Echos, die den Hauch
von Wahnsinn und irrem Gestammel ha en. Tiefer ... tiefer ...
tiefer. Kindergelächter, eine Küche, seine Mu er als junge Frau. Er
war drei Jahre alt und drückte sich verlegen in eine Ecke, weil die
beiden großen Schwestern ihn verspo eten. Sie verspo eten ihn,
weil er angstschlo ernd erzählt ha e, im Abfl ußkanal lauerte ein
Shriggar ...

Kichernde Mädchen! Verhaßte Geschöpfe! »Hihi, er will einen Shrig-

gar gesehen haben!« – »Still jetzt, ihr beiden!« Auch in der Stimme der
Mu er schwang Belustigung mit.

Die Form des Shriggars quoll aus dem grünen Wall. Krallen

scharrten über den Boden. Der Shriggar verließ die Barriere. Er
war gigantisch, doppelt so groß wie ein Mensch, und seine Stiel-
augen kreisten nach rechts, nach links ...

Orne riß sich gewaltsam von den Erinnerungen los. Schmerz

durchzuckte ihn, als er unwillkürlich den Kopf zurückwarf und
die Elektroden in Bewegung gerieten.

Der Shriggar verschwand nicht, tappte neugierig näher.
Orne ha e einen säuerlichen Geschmack im Mund. Meine Vor-

fahren wurden von dieser Bestie gejagt,

dachte er. Die Angst hat sich

unausro bar in den Genen festgesetzt.

Gelbe Schuppen knirschten, der kleine Raubvogelkopf senkte

sich wie zum Angriff . Der scharfe Schnabel des Shriggars war halb
geöff net, so daß man die gespaltene Zunge und die gefährlichen
Sägezähne erkennen konnte.

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144

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Ein Urinstinkt preßte Orne gegen die Stuhllehne. Er spürte die

Ausdünstung der Bestie – den süßlichen Gestank verfaulten Flei-
sches.

Die Stielaugen waren auf Orne gerichtet. Noch ein Schri ,

noch einer. Kaum vier Meter entfernt hielt das Monstrum an. Der
Gestank raubte Orne beinahe die Besinnung.

In dem grünen Wall wanden und schlängelten sich immer noch

die irisierenden Purpurfäden. Orne nahm sie nur verschwommen
wahr. Er konnte den Blick nicht von der Echse abwenden. Der
Shriggar kam noch näher. Sein Atem roch nach Faulschlamm.

Ganz egal, was Bakrish behauptet, es muß eine Halluzination sein.

Die Shriggar sind längst ausgestorben.

Ein neuer Gedanke kam Orne:

Vielleicht haben sich die Priester von Amel an Rückzüchtungen gewagt.
Was geschieht nicht alles im Namen der Religion?

Die Stielaugen des Shriggars kreisten einen Meter von Orne

entfernt.

In der grünen Barriere verfestigten sich neue Formen. Orne

sah zwei Kinder, mit Spielhöschen bekleidet. Sie hüp en auf dem
Steinboden herum. Nackte Füße patschten näher. Helles Lachen
hallte in der Leere der Kuppel wider. Es waren zwei Mädchen,
das eine etwa fünf, das andere acht Jahre alt. Sie ha en den stäm-
migen Körperbau der Einwohner von Chargon. Das ältere Kind
trug einen Sandeimer und eine Spielschaufel. Plötzlich blieben die
beiden stehen und sahen sich verwirrt um.

»Maddie, wo sind wir?« fragte das kleinere Mädchen.
Bei dem Laut wirbelte der Shriggar herum. Das ältere Kind

schrie auf.

Entsetzen ergriff Orne. Seine Schwestern – die albernen kleinen

Mädchen, die ihn ausgelacht ha en, als er daheim von dem Shrig-
gar erzählt ha e! War ihm jener Vorfall nur in den Sinn gekom-
men, damit er seinen Haß abreagieren konnte?

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145

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Lau !« rief er. »So lau doch fort!«
Aber die beiden Kinder blieben vor Schreck wie erstarrt

stehen.

Der Shriggar senkte den Kopf, stieß auf die Mädchen zu. Sein

mächtiger Rumpf verdeckte die beiden Kinder, so daß Orne nicht
erkennen konnte, was sich abspielt. Er hörte einen gellenden
Schrei, der abrupt verstummte. Von seinem eigenen Schwung vor-
wärtsgetrieben, taumelte der Shriggar gegen die grüne Wand und
verschmolz mit ihr.

Das ältere Kind lag fl ach auf dem Boden. Eine Hand umkramp e

den Sandeimer und die Schaufel. Von dem kleineren Mädchen
war nichts außer einer breiten roten Blutspur geblieben.

Ein Alptraum,

dachte Orne. Es muß ein Alptraum sein.

Einen Moment lang starrte er den grünen Wall an, aber der

Shriggar kehrte nicht zurück. Er hat seinen Zweck erfüllt, dachte
Orne. Bakrish ha e recht. Dieses Ding war wirklich ein Teil meines Ichs.
Es war

meine Bestie.

Das ältere Mädchen erhob sich taumelnd und kam auf Orne zu.

Es ließ keinen Blick von ihm.

Maddie,

dachte er. Maddie, so wie sie damals aussah. Aber Maddie

ist heute eine erwachsene Frau und hat selbst Kinder. Was habe ich da
ins Leben gerufen?

Im Gesicht und an den Beinchen des kleinen Mädchens klebte

Sand. Einer der roten Zöpfe ha e sich aufgelöst. Maddie bebte vor
Zorn. Zwei Meter von Orne entfernt blieb sie stehen.

»Das warst du!« sagte sie empört.
Orne zuckte zusammen.
»Du hast Laurie totgemacht!« fuhr sie anklagend fort.
»Nein, Maddie, nein!« wisperte Orne.
Die Kleine hob den Eimer, schleuderte ihm den Inhalt ins

Gesicht. Er schloß die Augen. Sand prasselte gegen den Elektro-

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146

Frank Herbert – Die Riten der Götter

denhelm, rieselte ihm über Gesicht und Oberkörper. Orne schüt-
telte den Kopf, um den Sand loszuwerden. Ein Teil der Mikroelek-
troden lösten sich. Schmerz explodierte hinter der Stirn.

Die Purpurlinien in der grünen Wand drehten und wanden sich

he iger. Orne starrte das Gewimmel durch einen roten Schleier
aus Schmerz an; seine Augen tränten. Bakrish ha e gesagt, daß
die Wesen, die er schaff en würde, eine eigene Psyche besaßen ...

»Maddie«, sagte er, »bi e, versteh doch ...«
»Du wolltest in meinen Kopf eindringen!« kreischte sie. »Aber

ich habe dich wieder herausgeschubst! Ich lasse dich nie, nie, nie
herein..«

Andere werden dich zurückweisen.

Das Kind Maddie ha e ihn aus

ihrer Psyche verdrängt, weil ihr achtjähriger Verstand ein derarti-
ges Erlebnis noch nicht verarbeiten konnte.

Als Orne das durchschaut ha e, erkannte er gleichzeitig, daß

er die Vorgänge in der Kuppel als Realität und nicht als Halluzi-
nation akzeptierte. Was kann ich sagen? Wie kann ich das alles rück-
gängig machen?

»Ich bringe dich um!« kreischte Maddie.
Sie schwang die Schaufel und stürzte sich auf ihn. Der scharfe

Metallrand des Spielzeugs schni eine tiefe Wunde in seinen Ober-
arm. Blut sickerte durch den Stoff der Ku e.

Orne fühlte sich erneut in einem Alptraum gefangen.
»Maddie!« rief er, ohne seine Worte zu überlegen. »Hör auf

damit, oder Go wird dich strafen!«

Sie wich ein paar Schri e zurück – und nahm neuen Anlauf.
Aus dem grünen Wall schri eine Gestalt im wallenden weißen

Gewand, mit einem roten Turban auf dem Kopf. Orne sah die
leuchtenden Augen, die asketischen Züge, den langen, grauen
Bart, der im Sufi -Stil geteilt war ...

»Mahmud!« wisperte er.

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147

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Er kannte das Bild aus seiner Kindheit. Es ha e die Rückwand

der inneren Moschee geschmückt, die er an Fes agen auf Char-
gon besucht ha e. Go wird dich strafen!

Mahmud trat hinter das Kind, hielt den zum Schlag erhobe-

nen Arm fest. Maddie versuchte sich loszureißen, aber er gab
ihr Handgelenk nicht frei. Langsam drehte er ihr den Arm nach
hinten. Maddie schrie und schrie und schrie ...

»Nicht!«, protestierte Orne.
Mahmud ha e eine dunkle, grollende Stimme. »Man hindert

den Mi ler Go es nicht daran, eine gerechte Strafe zu erteilen.« Er
zog die Kleine an den Haaren hoch, packte die Schaufel und hieb
damit kurz gegen Maddies Halsschlagader.

Das Schreien verstummte. Blut schoß heraus und befl eckte das

weiße Gewand Mahmuds. Er ließ die schlaff e kleine Gestalt zu
Boden fallen und sah Orne an.

Ein Alptraum,

dachte Orne. Es muß Ein Alptraum sein!

»Du hältst das alles für einen Alptraum!« grollte Mahmud.

»Deine Schöpfungen mußten beseitigt werden. Sie entstanden
durch Haß, nicht durch Liebe. Man ha e dich gewarnt!«

Orne fühlte sich elend. Ihm kam in den Sinn, daß Bakrish diese

Prüfung ›die zwei Gesichter der Wunder‹ genannt ha e.

»Soll das hier etwa ein Wunder sein?« fragte er Mahmud trot-

zig. »Ein tiefes mystisches Erlebnis? Das?«

»Warum hast du den Shriggar nicht angesprochen?« entgeg-

nete Mahmud. »Er hä e mit dir über gläserne Städte und den Sinn
des Krieges, über Politik und ähnliche Dinge diskutiert. Ich for-
dere mehr. Woraus besteht deiner Meinung nach ein Wunder? Das
ist meine erste Frage.«

Wieder meldete sich die Furcht. Orne fi el es schwer, sich auf

das Problem zu konzentrieren. »Bist – bist du wirklich der Mi ler
Go es?« stammelte er.

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148

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Haarspaltereien!« sagte Mahmud verächtlich. »Das Univer-

sum besteht aus einem Stück. Daran können Namen und Bezeich-
nungen nichts ändern.«

Orne ha e das Gefühl, daß er am Rande des Chaos balancierte.

Was ist ein Wunder? Was ist ein Wunder?

Emolirdos Lehren fi elen

ihm ein. Chaos ... Ordnung ... Energie ... Psi ist gleich Wunder.

Worte, noch mehr Worte.
Wo blieb sein Glaube?
Ich existiere. Das genügt.
»Ich bin ein Wunder«, sagte er.
»Ooh, sehr gut«, erwiderte Mahmud spö isch. »Ein Psi-Herd,

was? Energie aus dem Chaos, geformt für alle Zeiten. Aber nun
die zweite Frage: Ist ein Wunder gut oder schlecht?«

Orne atmete tief durch. Es klang wie ein Schluchzen. »Im allge-

meinen heißt es, daß Wunder gut sind, aber das stimmt nicht. Die
Begriff e ›gut‹ und ›schlecht‹ beziehen sich auf Motive. Wunder
sind

einfach.«

»Menschen haben Motive«, wandte Mahmud ein.
»Menschen können die Begriff e ›gut‹ und ›schlecht‹ nach ihrem

Gutdünken defi nieren«, sagte Orne.

Mahmud starrte ihn an. »Bist du gut oder schlecht?«
Orne wich dem gestrengen Blick nicht aus. Mit einemmal fand

er es ungeheuer wichtig, diese Prüfung zu bestehen. Er akzeptierte
jetzt, daß dieser Mahmud der Realität angehörte. Welche Aussage
versuchte der Prophet ihm zu entlocken?

»Wie kann ich gegen mich selbst gut oder schlecht sein?« fragte

Orne.

»Ist das deine Antwort?«
Orne fühlte, daß dies eine gefährliche Frage war. »Du willst,

daß ich sage, die Menschen erschaff en Gö er, um ihre beliebigen
Defi nitionen von Gut und Schlecht durchzusetzen!«

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149

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Oh? Ist das der Ursprung der Gö lichkeit? Weiter, mein

Freund! Du kennst die Antwort – ich weiß es genau.«

Bin ich gut oder schlecht?

überlegte Orne. Er zwang sich zur Kon-

zentration, aber es war, als kämp e er gegen eine reißende Strö-
mung an. »Ich – wenn ich eins mit dem gesamten Universum bin,
dann bin ich Go und Geschöpf. Ich bin das Wunder. Wie kann so
etwas gut oder schlecht sein?«

»Wie steht es mit der Schöpfung?« wollte Mahmud wissen.

»Beantworte mir diese Frage! Aber weiche nicht wieder aus!«

Orne schluckte. Er überlegte, ob die große Psi-Maschine jene

Energie verstärkte, welche die Menschen Religion nannten.

Bakrish hat gesagt, hier könnte ich Tote zum Leben erwecken.

Bisher

beanspruchte die Religion das für sich. Aber wie unterscheide ich Reli-
gion, Psi und Schöpfung? Der ursprüngliche Mahmud ist seit Jahrhun-
derten tot. Falls ich ihn neu erschaff en habe, in welcher Beziehung stehen
dann seine Tragen zu mir?

Dazu kam immer noch die Möglichkeit, daß es sich – trotz des

eigenartigen Realitätsgefühls – um eine Halluzination handelte.

»Du kennst die Antwort!« beharrte Mahmud.
Orne wußte, daß es kein Entrinnen gab. »Ein Geschöpf kann,

so ist es defi niert, unabhängig von seinem Schöpfer handeln. Du
besitzt Unabhängigkeit, obwohl du an mir teil hast. Ich habe die
Trennung vollzogen, dir deine Freiheit gegeben. Wie also kann ich
über dich urteilen? Du bist höchstens in deinen eigenen Augen
gut oder schlecht. Das gleiche gilt für mich.« Er lachte. »Bin ich
gut oder schlecht, Mahmud?«

Mahmud verneigte sich. »Du hast die Probe bestanden. Mein

Segen geleite dich!«

Er hob das tote Kind mit san er Bewegung auf und ging auf

die grüne Wand zu, verschmolz mit ihr. Schweigen lag über dem
Raum. Die Purpurlinien bewegten sich nur noch träge.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Orne war schweißgebadet. Seine Schläfen hämmerten. Die

Wunde am Arm schmerzte. Er atmete stoßweise, als sei er eine
lange Strecke gelaufen.

Irgendwo schlug dumpf hallend eine Bronzetür zu. Der grüne

Wall ha e wieder einen nichtssagenden grauen Farbton angenom-
men. Schri e schlur en näher. Hände lösten behutsam die Elek-
troden von seiner Kop aut. Die Metallbänder, die ihn gefesselt
ha en, schnellten zurück in die Stuhllehnen.

Bakrish trat vor ihn.
»Das war eine harte Prüfung«, murmelte Orne erschöp .
»Ich ha e dich angefl eht, an diesem Ort nicht zu hassen«,

entgegnete der Priester. »Aber du lebst und besitzt deine Seele
noch.«

»Woher weißt du das?«
»Irgendwie merkt man, wenn sie verloren geht«, meinte Bakrish.

Er warf einen Blick auf Ornes Arm. »Wir müssen die Wunde ver-
sorgen. Es ist jetzt Nacht draußen und höchste Zeit für die nächste
Stufe.«

»Schon Nacht?«
Orne starrte zu den schmalen Schlitzen in der Kuppel hinauf.

Sie waren dunkel. Das Licht im Saal rührte von Glühkugeln her,
die im Gewölbe schwebten. »Die Zeit vergeht rasch.« »Für dich
vielleicht.« Bakrish seufzte.

»Laß mich einen Augenblick ausruhen. Ich bin völlig erle-

digt.« »Nimm eine Energiepille, wenn wir deinen Arm verbinden!
Komm nun!«

»Weshalb die Eile? Was ist jetzt an der Reihe?« »Du mußt die

Scha en von Dogma und Ritual durchwandern. Es steht geschrie-
ben, daß der Beweggrund der Vater der Ethik und die Vorsicht
die Schwester der Furcht ist ...« Er machte eine Pause. »... und die
Furcht die Tochter der Schmerzen.«

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151

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Schweigen ist der Hüter der Weisheit, laute Späße und. Frivolität hin-
gegen fördern die Ignoranz. Wo aber Unwissenheit herrscht, fehlt das
Go verständnis.

SPRÜCHE der ÄBTE

»Er zeigt eine angenehme Zurückhaltung«, meinte der Abt. »Das
fällt mir an ihm auf – eine angenehme Zurückhaltung. Er spielt
nicht mit seiner Macht.«

Der Abt saß auf einem Schemel vor dem Kamin. In seiner Nähe

stand Macrithy mit dem neuesten Bericht über Orne. Trotz der
positiven Worte schwang Trauer in der Stimme des Abtes mit.
Macrithy hörte es.

»Auch mir ist nicht entgangen, daß er darauf verzichtete, die

Frau seines Herzens zu sich zu holen oder auf andere Weise mit
der Großen Maschine zu experimentieren. Aber sag, Ehrwürdiger
Abt, weshalb erfreut dich diese Beobachtung nicht?«

»Orne wird über sich selbst nachdenken, sobald er Zeit dazu

fi ndet. Er wird erkennen, daß er die Maschine nicht braucht, um
seinen Willen durchzusetzen. Was dann, mein Freund?«

»Du bist sicher, daß er der Go ist, den du gerufen hast?«
»Völlig sicher. Und wenn er seine enormen Krä e entdeckt ...«
« ... wird er dich aufsuchen, Ehrwürdiger Abt.«
Abt Halmyrach nickte stumm.
»Wir haben dem Sprechenden Stein Einhalt geboten«, sagte

Macrithy.

»Wirklich? Oder wandte er sich nur belustigt ab, weil er einen

anderen Daseinszweck gefunden ha e?«

Macrithy schlug die Hände vors Gesicht. »Ehrwürdiger Abt,

wann hören wir endlich auf, in diese unbekannten Regionen vor-
zustoßen? Wir haben kein Recht dazu ...«

»Kein Recht?«

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152

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Wann halten wir ein?« Macrithy senkte mit hilfl oser Geste die

Arme. Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Erst wenn wir kurz vor dem Untergang stehen«, erwiderte der

Abt.

»Warum nur – warum?«
»Weil wir auf diese Weise begannen, mein lieber Freund. Weil

das der Anfang war. Das ist die andere Seite der Entdeckungen: Sie
sollen den Blick freigeben auf das, was immer war, das, was ohne
Anfang ist und ohne Ende. Wir betrügen uns selbst, verstehst du?
Wir schneiden ein Stück aus dem Immer und sagen: ›Seht! Hier
hat es begonnen, und hier seht, endet es!‹ Doch aus diesen Worten
spricht nur unsere begrenzte Wahrnehmungsgabe, nicht die Wirk-
lichkeit.«

*

Ordnung bringt Gesetze mit sich. Sie helfen uns, die Ordnung zu ver-
stehen und in der richtigen Vorm anzuwenden.

Es wäre jedoch falsch

weiterzufolgern, daß den Gesetzen eine Absicht zugrundeliegt. Absicht
erfordert einen Beginn: erst die Absicht, dann das Gesetz. Das Wesen der
Ewigkeit aber besteht darin, daß sie weder Anfang noch Ende hat. Ohne
Anfang keine Absicht, kein ewiges Motiv. Ohne Ende kein letztes Ziel,
kein Gericht. Daraus können wir schließen, daß Sünde und Schuld, die ja
Produkte der Absicht sind, mit der Ewigkeit nichts zu tun haben. Aller-
mindestens erfordern Begriff e wie Sünde, Schuld, Gericht einen Anfang
und erscheinen somit als Segmente der Ewigkeit. Sie befassen sich mit
den endlichen Gesetzen und nur mit den Randproblemen der Ewigkeit.
Daher ist auch unser Go esbild so begrenzt und einschränkend.

ABT HALMYRACH

Das Problem der Ewigkeit

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153

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Frost hing in der Nachtlu , und Orne zog die Ku e enger um
sich. Bakrish ha e ihn in einen Park innerhalb des Tempelbezirks
geführt. In den Baumkronen erklangen ein paar schläfrige Vogel-
rufe. Es roch nach frisch gemähtem Gras.

Die dunkle Silhoue e eines Berges hob sich gegen den Sternen-

himmel ab. Und eine Lichterprozession erklomm im Zickzack den
Hang; sie strebte dem Gipfel zu.

Ornes Arm schmerzte noch immer, aber die Energiepille ha e

wenigstens die Müdigkeit vertrieben. Bakrish drehte sich um.

»Das sind Schüler, begleitet von Priestern. Sie tragen Laternen

an langen Pfählen. Die Lichter drehen sich, so daß man die ver-
schieden getönten Glasscheiben sehen kann – rot, blau, gelb und
grün.«

Orne betrachtete die Szene. Wie ständig die Farbe wechselnde

Leuchtinsekten krochen die Lichter über die Bergfl anke. »Und
was soll das?«

»Die Schüler stellen ihre Frömmigkeit unter Beweis.«
»Was bedeuten die vier Farben?«
»Rot steht für das Blut, das man hingibt, Blau für die Wahr-

heit, Gelb für den Reichtum religiöser Erfahrung und Grün für
das Wachsen und Gedeihen des Lebens.«

»Ich verstehe nicht, was eine Prozession zum Berggipfel mit

Frömmigkeit zu tun hat.«

»Es ist eine Geste des guten Willens.«
Bakrish ging schneller. Er verließ den holprigen Pfad und über-

querte eine Rasenfl äche. Orne ha e Mühe, ihn einzuholen. Er
dachte wieder: Warum mache ich all das mit? Weil ich die Begegnung
mit dem Abt suche? Weil mir Stetson befohlen hat, diesen Au rag durch-
zuführen? Wegen des Eides, den ich vor dem Untersuchungsausschuß
geschworen habe?

Keiner dieser Gründe erschien ihm ausreichend.

Er ha e das Gefühl, daß er seinen bisherigen Weg ebenso leicht

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154

Frank Herbert – Die Riten der Götter

verlassen konnte, wie Bakrish den Park-Pfad verlassen ha e.

Der Priester blieb an einer Mauer stehen. Ein Tor führte hin-

durch, und hier strömten Priester und Schüler zusammen. Schwei-
gend ergriff en sie die langen Pfähle, die in einem Ständer lehnten.
Jenseits des Tors fl ammten Lichter auf. Füße schlur en, Ku en
raschelten, hin und wieder hüstelte jemand.

Bakrish nahm einen der Pfähle, drehte am unteren Ende. In der

Laterne fl ammte Licht auf. Die rote Glasscheibe war der Prozes-
sion zugewandt, die sich jenseits des Tores formierte – Schüler und
Priester, Schüler und Priester. Sie alle ha en die Augen gesenkt.
Ihre Gesichter wirkten ernst und feierlich.

»Hier.« Bakrish drückte Orne die Stange in die Hand.
Orne wollte fragen, was er mit dem Ding anfangen sollte, aber

die Stille schüchterte ihn ein. Er kam sich albern vor. Weshalb
waren sie hierhergekommen? Und worauf warteten sie nun?

Bakrish nahm ihn am Arm und fl üsterte: »Schließ dich an – ich

folge dir gleich! Und halte die Laterne ganz hoch!«

Jemand weiter vorn zischte: »Schscht!«
Orne erkannte die Umrisse einer Gestalt, trat in die Reihe.

Sofort meldete sich das. Warnsignal in seinem Innern. Er stockte,
blieb stehen.

»Weiter!« wisperte Bakrish. »Weiter!«
Orne gehorchte. Die Laterne tauchte den Priester vor ihm in

ein grünliches Licht. Weit vorn klang ein rhythmisches Murmeln
auf, das sich verstärkte, als es die Reihe entlangwanderte. Es über-
tönte das Schlurfen der Sandalen und Rascheln der Ku en, ließ
die Insektenlaute im hohen Gras neben dem Weg verstummen. Es
waren keine Worte, nur Laute: »Ahhh-ah-huh! Ahh-ah-huh!«

Der Pfad stieg an, wand sich in vielen Kehren über den Hang.

Tanzende Lichter, düstere Gestalten, Gesang, Wurzeln quer über
dem Weg, Geröll, gla e Felsen, Kälte.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Du singst nicht?« fl üsterte Bakrish.
Das Gefühl, daß er hier fehl am Platz war, und die Warnung

in seinem Innern machten Orne rebellisch. Er entgegnete ebenso
leise: »Ich bin heute nicht bei Stimme!«

Ahh-ah-huh!

Was für ein Unsinn! Am liebsten hä e er die Laterne

weit von sich geschleudert und wäre im Dunkel verschwunden.

Die Prozession hielt so abrupt an, daß Orne um ein Haar seinen

Vordermann umgerannt hä e. Der Gesang verstummte. Die Gläu-
bigen verließen den Weg. Er folgte ihnen, bahnte sich einen Weg
durch eine niedrige Hecke. Vor ihm breitete sich ein fl aches Amphi-
theater aus, in dessen Mi e ein steinerner Stupa von doppelter
Mannshöhe aufragte. Die Schüler trennten sich von den Priestern
und bildeten einen Halbkreis um den Stupa. Ihre Laternen warfen
vielfarbige Scha en.

Wo war Bakrish?

Orne drehte sich um. Der Priester war nicht

mehr in seiner Nähe. Was erwartete man von ihm? Wie konnte er
hier Frömmigkeit zeigen?

Ein bärtiger Priester trat vor den Stupa. Er trug eine schwarze

Ku e und eine rote Kop edeckung. Seine Augen leuchteten. Die
Schüler erstarrten.

Orne stand im äußeren Ring. Was ha e das mit seiner Probe zu

tun? Was sollte er hier?

Der Priester breitete die Arme aus, senkte sie wieder. Er begann

mit einem wei ragenden Baß zu sprechen: »Ihr steht vor dem
Schrein des Gesetzes und der Reinheit. Diese beiden Begriff e sind
unzertrennlich, wenn es um den wahren Glauben geht. Gesetz
und Reinheit! Hier liegt der Schlüssel zum Großen Mysterium,
das uns das Paradies öff net.«

Erneut spürte Orne das Warnsignal und gleich darauf das

Anschwellen einer Psi-Macht. Sie war irgendwie anders als alles
bisher Erlebte. Sie hämmerte im Takt mit den Worten des Priesters,

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

verstärkte sich, als die Leidenscha seiner Sprache zunahm.

Orne versuchte sich auf den Sinn der Worte zu konzentrieren.

»... die unsterbliche Tugend und Reinheit aller großen Propheten!
Empfangen in Reinheit, geboren in Reinheit, ihre Gedanken geba-
det für alle Zeit in Reinheit. Unberührt von der Niedrigkeit der
Materie, weisen sie uns den Weg!«

Mit einem Schock erkannte Orne, daß die Psi-Macht um ihn

nicht von einer Maschine kam, sondern von den Emotionen der
Zuhörer, die zusammenströmten zu einem mächtigen Feld. Der
bärtige Priester spielte mit den Gefühlen der Menge wie ein geüb-
ter Musiker auf einem Instrument.

»Habt Vertrauen in die ewige Wahrheit dieses gö lichen

Dogmas!« rief der Priester.

Weihrauch stieg Orne in die Nase. Eine unsichtbare Elektron-

ikorgel stimmte dumpfe Klänge an, eine getragene Melodie mit
grollenden Passagen, welche die Stimme des Priesters begleiteten,
ohne sie je zu übertönen.

Priester am Rande des Halbkreises schwangen Weihrauchfäs-

ser. Bläuliche Wolken stiegen in die Nacht. Eine Glocke klang auf,
hell und durchdringend. Sie läutete siebenmal.

Orne nahm die Szene wie hypnotisiert auf. Massen-Emotionen

wirken wie eine Psi-Macht!

dachte er.

Der Priester vor dem Stupa ballte die Fäuste und reckte sie zum

Himmel. »Allen wahren Gläubigen das ewige Paradies!« rief er.
»Ewige Verdammnis aber allen Ketzern!« Er senkte die Stimme.
»Ihr, die ihr die ewige Wahrheit sucht, sinkt in die Knie und betet
um Erleuchtung! Betet, daß euch der Schleier von den Augen falle!
Betet um die Reinheit, die Erleuchtung bringt! Betet um den Segen
des All-Einen!«

Ku en raschelten und knisterten, als die Schüler auf die Knie

sanken. Nur Orne blieb stehen. Er fühlte sich erhaben, geläutert,

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157

Frank Herbert – Die Riten der Götter

am Rande einer großen Entdeckung: Massen-Emotionen erzeugen
eine Psi-Macht!

Er wollte Bakrish rufen, ihm seine Erkenntnis mit-

teilen.

Ein empörtes Murmeln ging durch die Reihen der Schüler. Es

drang nur verschwommen an Ornes Ohren. Zornige Blicke trafen
ihn. Das Murmeln schwoll an.

Das Warnsignal in Orne tobte. Er erwachte aus seiner Erstar-

rung und erkannte die Gefahr.

Ein Schüler am anderen Ende des Halbkreises deutete auf ihn.

»Was ist mit dem da? Weshalb kniet er nicht wie wir?«

Orne warf einen suchenden Blick in die Runde. Wo war Bakrish?

Jemand zerrte an seiner Ku e, wollte ihn in die Knie zwingen.
Orne machte sich frei. Gleich jenseits der Hecke befand sich der
Weg.

»Ketzer!« rief eine Stimme aus der Menge. Orne spürte die

Psi-Macht wie ein Netz, das über ihn geworfen wurde, das sein
Bewußtsein trübte und die Vernun fesselte.

Andere nahmen das Wort auf. »Ketzer! Ketzer!«
Orne zog sich Schri für Schri zurück. Furcht ha e ihn erfaßt.

Die Wut der Menge war etwas Grei ares – eine Zündschnur, die
knisterte und rauchte und jeden Moment zur Detonation führen
konnte.

Der bärtige Priester blickte starr zu Orne herüber. Sein Gesicht

erschien wie ein Kaleidoskop von Farben. Das Amphitheater
ha e etwas Dämonisches, Alptraumha es an sich. Mit einemmal
merkte Orne, daß er immer noch die Laterne hochhielt. Ihr Licht
fi el auf den Pfad neben der Hecke.

Abrupt erhob der Priester vor dem Steinmal die Stimme zu

einem Wahnsinnsschrei: »Bringt mir den Kopf des Ketzers!«

Orne schleuderte die Laterne wie einen Speer, als die Meute der

Fanatiker auf ihn eindrang. Er wirbelte herum, fl oh den dunklen

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158

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Pfad entlang. Hinter sich hörte er die Schreie der Verfolger.

Der Weg, im Sternenlicht nur schwach zu erkennen, machte

einen Bogen nach links. Ein dunkler Fleck zeigte sich in der Kurve.
Zweige schlugen Orne ins Gesicht. Ein Wald?

Dann fi el der Pfad steil ab, wand sich nach rechts, wieder

nach links. Orne stolperte über eine Wurzel, wäre um ein Haar
gestürzt. Seine Ku e verfi ng sich in einem Strauch, und er verlor
kostbare Sekunden, als er sie loshakte. Der Mob war dicht hinter
ihm – ein kreischendes Rudel, bunte Lichtkleckse. Orne verließ
den Weg hangabwärts, zwängte sich durch eine dichte Baum-
gruppe. Wieder verfi ng sich die Ku e in den Sträuchern. Er löste
den Gürtel, strei e das lästige Gewand ab.

»Ich höre ihn!« rief jemand. »Da unten!«
Die Verfolger hielten an, schwiegen einen Herzschlag lang.

Zweige knackten überlaut, als Orne sich einen Weg durch das
Unterholz bahnte.

»Ihm nach!«
Sie waren wieder hinter ihm her.
Orne stürzte, schli erte ein Stück den Hang hinunter, lief

geduckt über den Pfad und arbeitete sich durch ein Dickicht. Er
fror in den Sandalen und den leichten Shorts, die er unter der Ku e
getragen ha e. Zweige zerkratzten seine Haut. Der Mob war wie
eine Menschenlawine über ihm – Fluchen, Trampeln, Knacken.
Lichter tanzten. Gestalten in Ku en huschten durch das Dunkel.

Wieder kam Orne an einen Pfad. Er führte nach rechts, den Berg

hinunter. Stolpernd und keuchend folgte Orne diesem neuen Weg.
Seine Beine schmerzten, und er ha e Seitenstechen. Die Dunkel-
heit nahm zu. Wieder ha e er eine Baumgruppe erreicht. Er hielt
an, lehnte sich schweratmend an einen Stamm und horchte.

Der Mob war ein Stück zurückgefallen. »Ein Teil von euch geht

hier entlang!« befahl jemand. »Die übrigen folgen mir!«

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Ornes Atem ging stoßweise. Gehetzt wie ein Tier, weil er einen

Moment lang die Vorsicht vergessen ha e! Die Worte von Bakrish
kamen ihm in den Sinn: »Vorsicht ist die Schwester der Furcht ...«

Etwa fünfzig Meter über Orne rief jemand: »Hört ihr ihn?«
Ein Stück weiter links erwiderte eine Stimme: »Nein!«
Orne löste sich aus dem Scha en des Baumstamms, schlich auf

Zehenspitzen weiter.. Er hörte Schri e weiter oben am Hang, aber
sie verloren sich im Dunkel. Verwirrte Rufe, dann Stille.

Meter um Meter schob sich Orne vor. Manchmal kroch er auf

allen vieren, um nur ja kein unnötiges Geräusch zu verursachen.
Wieder stieß er auf den Pfad. Seine Armwunde schmerzte wie ver-
rückt. Er sah, daß er den Verband verloren ha e.

Allmählich gewöhnte er sich einen festen Rhythmus an – im

Schutze von Sträuchern, von Baum zu Baum, wo die Scha en am
tiefsten waren. Nach einer Weile spürte er Gras unter den Füßen.
Die Bäume und Sträucher wurden spärlicher. Orne erkannte,
daß er das letzte Stück des Hangs erreicht ha e, das in den Park
des Tempelbezirks überging. Zu seiner Rechten sah er schwach
erhellte Fenster. Er kam an eine Mauer. Orne duckte sich, preßte
sich an die Wand. Allmählich ließ sein Zi ern nach.

Bakrish ha e gesagt, daß Abt Halmyrach in der Nähe sei.
Der Abt,

dachte er. Warum gebe ich mich mit den niedrigeren

Rängen ab? Wo war Bakrish, als ich ihn brauchte? Handelt so ein Agent
des UA?

Orne kam sich vor wie von einem Traum befreit. Dogma und

Ritual! Was für ein hohles Geschwätz!

Ein Raubtierlächeln huschte über seine Züge. Er dachte: Ich

erkläre hiermit, daß ich die Probe bestanden habe! Sie ist vorüber. Ich
habe die einzelnen Prüfungen mit Erfolg hinter mich gebracht.

Schri e erklangen zu seiner Linken.
Orne gli hinter einen Baum. Im schwachen Sternenlicht sah

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160

Frank Herbert – Die Riten der Götter

er einen Priester in einer weißen Ku e den Weg entlangkom-
men. Orne preßte sich gegen den Stamm. In der Krone schimpf-
ten verschlafen ein paar Vögel. Irgendwoher kam der betäubende
Du von Nachtblüten. Die Schri e näherten sich. Einen Moment
lang zögerte Orne noch. Dann schnellte er aus seinem Versteck,
umklammerte den Hals des Priesters – ein kurzer Druck auf einen
bestimmten Nerv, und der Mann brach zusammen.

*

Neid, Begehren und Ehrgeiz beschränken einen Menschen auf das Reich
der Maja. Und was ist dieses Universum? Nichts als der Spiegel seines
Neides, seines Begehren und seines Ehrgeizes.

NOAH ARKWRIGHT

Die Weisheit von Amel

»Wahnsinn!« sagte der Abt. »Du hast deinen Freund aufgestachelt,
den Mob auf Orne zu hetzen. Und das, nachdem ich es ausdrück-
lich verboten ha e. Ahh, Macrithy ...«

Macrithy stand mit hängenden Schultern im Arbeitszimmer

des Abtes. Abt Halmyrach ha e die Lotus-Stellung eingenommen.
Zwei Finger erhoben, starrte er Macrithy unverwandt an.

»Ich dachte nur an dich!« setzte sich Macrithy zur Wehr.
»Du hast überhaupt nicht gedacht.« Der Abt war furchtbar in

seinem ruhigen, schmerzerfüllten Urteil. »Du hast nicht an die
Menschen gedacht, die in eine heulende blutgierige Meute ver-
wandelt wurden. Orne hä e sie in die ewige Hölle stoßen können.
Vielleicht tut er es noch, wenn er sich seiner Macht bewußt
wird.«

»Ich kam her, um dich zu warnen, sobald ich erfuhr, daß er ent-

wischt war«, sagte Macrithy.

»Welchen Sinn hat diese Warnung?« fragte der Abt. »Ahh, mein

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161

Frank Herbert – Die Riten der Götter

lieber Freund, wie konntest du so einem Irrtum verfallen? Alles,
was nun geschieht, ist die Folge deines Tuns. Ich kann nur anneh-
men, daß du es darauf angelegt hast, diese Situation herbeizufüh-
ren.«

»Oh, nein!« rief Macrithy entsetzt.
»Wenn Worte und Taten einander widersprechen, so glaube

den Taten«, sagte der Abt. »Weshalb willst du uns vernichten,
Macrithy?«

»Ich will es nicht!« Macrithy wich zur Wand zurück. »Ich will

es nicht!«

»Aber du tust es! Geschah es vielleicht, weil ich Bakrish und

nicht dich zu Ornes Guru bestimmt habe? Ich konnte dich nicht
wählen, mein Freund. Du hä est Orne und dir selbst den Unter-
gang gebracht. Das dur e ich nicht zulassen.«

Macrithy vergrub das Gesicht in den Händen. »Er wird uns alle

vernichten«, schluchzte er.

»Bete, daß dem nicht so ist«, entgegnete der Abt leise. »Sende

ihm deine Liebe und dein Mitgefühl. Vielleicht erwacht er dann.«

»Was nützt jetzt noch Liebe?« fragte Macrithy. »Er wird dich

aufsuchen ...«

»Natürlich«, murmelte der Abt. »Weil ich ihn rief. Schluß jetzt

mit den Gedanken an Gewalt, Macrithy! Bete, daß deine Seele
geläutert werde! Ich will das gleiche tun.«

Macrithy schü elte langsam den Kopf. »Zum Gebet ist es nun

zu spät.«

»Daß gerade du so etwas sagst!« Trauer schwang in der Stimme

des Abtes mit.

»Verzeih mir!« bat Macrithy.
»Nimm meinen Segen und geh!« entgegnete Halmyrach. »Und

bi e auch den Go Orne um Vergebung. Du hast Ihm vielleicht
großes Leid zugefügt.«

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162

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Eine irdische Macht kann einen Engel vernichten. Dies ist die Lektion
vom Frieden. Es genügt nicht, den Frieden zu lieben und nach Frieden
zu streben. Man muß auch seine Nächsten lieben. Auf diese Weise mei-
stert man den dynamischen Liebes-Konfl ikt, den wir Leben nennen.

NOAH ARKWRIGHT

Die Weisheit von Amel

Orne kam durch eine schmale Gasse ins Zentrum des Tempelbe-
zirks. Er bemühte sich, unauff ällig dahinzuschlendern, aber er
blieb im Scha en der Hauswände. Die Ku e des überwältigten
Priesters war ihm zu weit und schlei e am Boden nach. Er ho

e,

daß irgend jemand den Mann fi nden würde – aber nicht zu bald.
Der Priester lag gefesselt und geknebelt unter den Büschen im
Park.

Und nun zum Abt,

dachte Orne.

Der Geruch von billigen Eintopfgerichten hing über der Gasse.

Das Schlapp-Schlapp von Ornes Sandalen hallte von den Haus-
wänden wider.

Licht fi el aus einer schmalen Seitengasse. Orne hörte Stimmen.

Er blieb stehen. Zwei Priester kamen ihm entgegen. Sie waren
schmal, blond und ha en gütige Gesichtszüge.

»Möge euer Go euch Frieden gewähren«, murmelte Orne.
Die beiden hielten an. Ihre Gesichter lagen jetzt im Scha en.

Der Mann zur Linken erwiderte: »Ich bete für dich, daß Go deine
Wege leite!« Der andere hüstelte und fügte hinzu: »Können wir
dir dienen?«

»Ich bin zum Abt gerufen worden«, erklärte Orne, »und scheine

mich verirrt zu haben.« Er wartete sprungbereit.

»Die Wege hier sind ein Labyrinth«, meinte der Priester zur

Linken. »Aber du befi ndest dich ganz in der Nähe.« Er drehte sich
zur Seite, so daß sich sein scharfes Profi l gegen das Licht abhob.

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163

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Du biegst dort vorn rechts ab, gehst ein Stück geradeaus und
folgst der dri en Quergasse links. Sie endet am Hof des Abtes. Du
kannst ihn nicht verfehlen.«

»Ich danke euch.«
Der Priester, der ihm die Auskun erteilt ha e, wandte sich

erneut an Orne und sagte: »Wir fühlen deine große Macht, Frem-
der. Bi e, gib uns deinen Segen!«

»Er sei euch gewährt.«
Die beiden verneigten sich tief. Dann fragte einer von ihnen:

»Wirst du der neue Abt, Fremder?«

Orne unterdrückte sein Entsetzen. »Haltet ihr es für weise, über

solche Dinge nachzudenken?«

Die Priester zogen sich zurück. »Wir ha en keine böse Absicht«,

sagten sie. »Verzeih uns!«

»Gern«, entgegnete Orne. »Vielen Dank für eure Hilfe.«
»Ein Dienst am Nächsten ist ein Dienst an Go «, murmelten

sie. »Möge dir Weisheit geschenkt sein!« Sie sprachen nicht ganz
im Gleichklang, so daß ihre Worte sonderbar nachhallten. Noch
einmal verneigten sie sich, dann gingen sie weiter.

Orne starrte ihnen nach, bis die Dunkelheit sie verschluckte.

Merkwürdig,

dachte er. Was sollte das alles?

Aber er wußte nun, wo er den Abt fand.

*

Du erweist deinem Herrn nicht unbedingt deine Liebe, wenn du ihn nach
außen hin durch eine Barriere abschirmst. Wie soll er da seine Diener
beobachten und erkennen, ob sie ohne Selbstsucht ihre Pfl icht erfüllen?
Nein, mein Sohn, eine solche Barriere ist o ein Werk der Furcht, und in
ihrem Innern sammelt sich Staub an.

SPRÜCHE der ÄBTE

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164

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Die Gasse, die zum Haus des Abtes führte, war so schmal, daß
Orne die Mauern zu beiden Seiten berühren konnte, wenn er
die Arme ausstreckte. Die wenigen Glühkugeln vermochten das
Dunkel kaum zu erhellen. Es roch nach Moder und frisch umge-
grabener Erde. Die Straßendecke wies Sprünge und Risse auf.

Am Ende der Gasse entdeckte Orne eine graue Mauer mit einem

Tor. Auf der Brüstung befanden sich spitze Eisenhaken, und das
Tor war verschlossen.

Sieh mal einer an!

dachte Orne zynisch. Ist auf Amel doch nicht

alles Reinheit und Frieden?

An diesem Ort lauerte die Gewalt. Schmale Gassen ließen sich

leicht verteidigen. Menschen, die scharfe Befehle erteilten, besa-
ßen im allgemeinen einen Hang zum Militärischen. Unter dem
Mantel der Psi-Krä e und des ständigen Friedensgeschreis ver-
bargen sich also militante Ambitionen.

Orne warf einen Blick über die Schulter. Die Gasse war wie

ausgestorben. Er holte tief Atem, strei e die Priesterku e ab und
warf einen Zipfel über die Mauer. Der Stoff verhakte sich an den
Eisenspitzen. Orne zerrte mit aller Kra daran. Das Gewebe hielt
sein Gewicht aus. Vorsichtig, die Fußspitzen gegen die Mauer
gestemmt, arbeitete er sich nach oben. Er vermied die Eisendorne,
kauerte einen Moment lang auf der Brüstung und betrachtete
seine Umgebung. Ein Hof, blühende Sträucher in Pfl anzbo ichen,
ein ma erleuchtetes Fenster im Obergeschoß des Hauses ...

Gefahr!
In den Scha en da unten konnte sich ein ganzes Heer von

Wachtposten verbergen. Aber Orne wußte instinktiv, daß die
Gefahr einen anderen Ursprung ha e. Sie kam von dem hellen
Fenster.

Orne löste den Saum der Ku e vom Eisengi er, sprang in den

Hof hinunter und zog sich rasch wieder an. Schri für Schri

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165

Frank Herbert – Die Riten der Götter

schlich er zur Hauswand. Er vermied die Topfpfl anzen und hielt
sich stets im Scha en.

Von einem Balkon unterhalb des Fensters hingen Kle erpfl an-

zen herab. Orne ruckte an einem der Triebe. Mit einem Knacken
löste sich das Ding. Zu schwach. Er tastete sich entlang der Haus-
mauer. Ein Lu zug strei e seine Wange. Er blieb stehen, starrte in
das Dunkel – eine off ene Tür.

Ein prickelndes Gefühl der Furcht erfaßte ihn. Er beachtete es

nicht, trat ein. Ein Treppenhaus.

Licht fl ammte auf.
Orne erstarrte. Dann, als er die Fotozelle neben dem Eingang

bemerkte, hä e er um ein Haar laut aufgelacht. Ein Schri zurück
– Schwärze; wieder ein Schri vorwärts – Licht.

Die Treppe führte in einer weitgeschwungenen Kurve nach

links. Orne erklomm die Stufen auf Zehenspitzen. Am Ende ent-
deckte er eine Tür mit einem goldenen A.

Der Abt?
Die Tür besaß weder ein Schloß noch einen Code-Mechanis-

mus. Orne schob sie einen Spalt auf. Ein schwaches Klicken.

»Ah, ich ha e dich erwartet.«
Ein schwach vibrierender, dünner Tenor.
Orne sah zuerst ein breites Himmelbe . Der dunkelhäutige

Alte, der sich in den Kissen aufrichtete, kam ihm merkwürdig
bekannt vor. Ein schmaler Kopf mit Geiernase, der hohe, völlig
kahle Schädel ...

»Ich bin Abt Halmyrach«, sagte der Greis mit brüchiger Stimme.

»Willkommen, mein Sohn! Laß dich segnen!«

Der Geruch von Alter und Staub hing im Raum. Irgendwo im

Scha en tickte eine altmodische Uhr.

Orne trat zwei Schri e auf die Gestalt in dem langen, weißen

Nachthemd zu. Das Warnsignal in seinem Innern verstärkte sich.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Er hielt an. »Sie haben große Ähnlichkeit mit einem Mann auf
Marak – Emolirdo ...«

»Mein jüngerer Bruder«, erklärte der Abt. »Behauptet er immer

noch, sein Vorname sei eine Abkürzung von Agony?«

Orne nickte.
»Ein kleiner Scherz von ihm. In Wirklichkeit heißt er Aggadah

– nach dem Talmud, einer sehr alten religiösen Schri .«

»Sie sagten, daß Sie mich erwartet hä en.«
»Gewiß, denn ich ha e dich gerufen.« Die Blicke des Abtes

schienen Orne zu durchdringen. Einer der mageren Arme deutete
auf den Stuhl neben dem Be . »Bi e, nimm Platz. Es tut mir leid,
daß ich dich in meinem Schlafgemach empfange, aber im Alter
geizt man mit seinen Krä en. War mein Bruder wohlauf, als du
ihn zuletzt sahst?«

»Ja.«
Etwas an dem ausgezehrten Alten deutete Krä e an, mit denen

Orne bisher noch nie in Berührung gekommen war. Tödliche Gefah-
ren schlummerten in diesem Raum. Orne sah sich um, bemerkte
schwarze Wandbehänge mit unheimlichen Mustern – Kurven und
Quadrate, Pyramiden, Kreuze, eine Art Ankerfl ügel ...

Der Boden war hart und kalt. Er bestand aus großen schwarz-

weißen Steinpla en in Pentagonform. In den Nischen erkannte
man Möbel aus poliertem Holz – einen Sekretär, einen niedrigen
Tisch mit Stühlen, einen Videorecorder in einem mit Schnitzereien
verzierten Regal. Orne wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem
Abt zu. »Haben Sie Ihre Wächter verständigt?«

»Wozu benötige ich Wächter? Sie schaff en erst die Furcht.«

Wieder deutete der schlaff e Arm auf den Stuhl. »Bi e, nimm doch
Platz! Es stört mich, wenn du so unbequem herumstehst.«

Orne betrachtete den Stuhl, ein altersschwaches Ding ohne

Armlehnen.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Eine ganz gewöhnliche Sitzgelegenheit«, sagte der Abt.
Orne nahm auf der Kante Platz. Nichts geschah.
»Siehst du?« Der Alte lächelte.
Orne fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der

Lu hier im Zimmer schien etwas zu fehlen, ein Bestandteil, den
seine Lungen brauchten. Irgend etwas stimmte nicht. Die Begeg-
nung verlief anders, als er erwartet ha e. Aber wenn er genau dar-
über nachdachte, so ha e er vom Verlauf dieses Zusammentref-
fens keine feste Vorstellung gehabt.

»Du hast Schlimmes hinter dir«, fuhr der Abt fort. »Es war not-

wendig, zum größten Teil jedenfalls. Dennoch besitzt du mein
volles Mitgefühl. Ich erinnere mich noch genau, was ich damals
empfand.«

»Ach? Kamen Sie auch hierher, um etwas herauszufi nden?«
»Gewiß – sogar etwas sehr Konkretes.«
»Weshalb wollen Sie den Untersuchungsausschuß vernichten?«

stieß Orne hervor.

»Eine Kampfansage beinhaltet nicht unbedingt den Willen zur

Vernichtung«, entgegnete der Abt lächelnd. »Hast du die Absicht
hinter deiner Probe erkannt? Weißt du, weshalb du dich diesen
gefährlichen Prüfungen unterzogen hast?« Die leuchtenden brau-
nen Augen waren fest auf Orne gerichtet.

»Ha e ich denn eine andere Wahl?«
»Gewiß – das beweist dein Herkommen.«
»Also schön – vielleicht war ich neugierig.«
»Worauf?«
Orne spürte, daß sein Herz rascher schlug. Er senkte die Lider.

Merkwürdig,

dachte er, verberge ich etwas?

»Bist du ehrlich zu dir selbst?« fragte der Abt.
Orne schluckte. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der von

seinem Lehrer zur Rechenscha gezogen wird. »Ich versuche es.

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Ich – vielleicht machte ich weiter, weil ich ho

e, von Ihnen Dinge

über mich selbst zu erfahren, die – die ich noch nicht weiß.«

»Sehr gut«, wisperte der Abt. »Aber du bist ein Produkt der

Marak-Kultur ...«

»Und der Nathanier-Kultur«, warf Orne ein.
Der Abt nickte. »Gerade diese beiden Zivilisationen besitzen

viele Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis – Rekonditionierung,
raffi

nierte Mikrochirurgie-Techniken, akulturelle Zwangsumfor-

mung. Wie kann es da Dinge über dich geben, die du noch nicht
weißt?«

»Ich – ich spüre einfach, daß es so ist.«
»Warum? Und in welcher Weise?«
»Wir erreichen mit unserem Wissen nie eine letzte Grenze. Das

ist das Wesen des unendlichen Universums.«

»Eine seltene Einsicht«, sagte der Abt. »Hast du je Angst emp-

funden, ohne genau zu wissen, weshalb?«

»Wem wäre das nicht so ergangen?«
Halmyrach nickte. »Du sprichst die richtigen Worte, aber ich

bezweifl e, daß du gemäß deiner Erkenntnis handelst. Ah, wenn
wir nur die Zeit hä en, dich in das Studium der thaumaturgischen
Psychiatrie und des Christentums einzuführen.«

»Was?«
»Uralte Dinge, entwickelt in einer Zeit, die weit vor unserer Zivi-

lisation lag. In der Christeros-Religion haben sich noch manche
Fragmente jener Techniken bewahrt.«

Orne schü elte den Kopf. Die Unterredung verlief ganz anders

als erwartet. Er fühlte sich in die Verteidigerrolle gedrängt – und
doch saß er nur einem alten Mann in einem lächerlichen Nacht-
gewand gegenüber. Nein, das stimmte nicht. Die Macht, die von
dem Greis ausging, ließ sich nicht verleugnen.

»Glaubst du wirklich, daß du hierherkamst, um deinen kostba-

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

ren Untersuchungssausschuß zu schützen? Um herauszubringen,
ob wir Kriege schüren?«

»Das war mit ein Grund.«
»Und wenn du nun tatsächlich entdeckst, daß wir einen Krieg

planen? Was dann? Bist du der Arzt, der das Geschwür heraus-
schneidet und der Menschheit ihre frühere Gesundheit wieder-
gibt?«

Zorn stieg in Orne auf, aber er verrauchte ebenso rasch, wie

er gekommen war. Gesundheit? Der Begriff störte ihn. Was war
schon Gesundheit in diesem Zusammenhang?

»Um uns lauern Scha enmächte«, fuhr der Abt fort. »Hin und

wieder durchbrechen sie die Dimensionen, die sie in Schach halten,
und zeigen sich in Formen, die auch wir wahrnehmen können.
Vom Standpunkt des Lebens aus betrachtet, sind einige dieser
Krä e gesund, andere wieder krankha . Es gibt Methoden, eine
Verbindung zu ihnen herzustellen, aber das bringt nicht immer
die erho

en Ergebnisse.«

Schweigend starrte Orne den Abt an. Er erkannte, daß er sich

auf einen gefährlichen Kurs begeben ha e. Wilde, erschreckende
Krä e wallten in ihm auf.

»Siehst du keine Parallelen zwischen den Dingen, die wir bisher

besprochen haben?« fragte Halmyrach.

Orne schluckte. »Vielleicht.«
»Die beste einer mechanistischen, wissenscha sbetonten Zivili-

sation hat dich gewogen, Orne, und dir einen Platz in ihrer Struk-
tur zugewiesen. Gefällt dir dieser Platz?«

»Sie wissen, daß es nicht so ist.«
»Es gibt etwas in deinem Innern, das die Zivilisation nicht zu

berühren vermochte – so wie es etwas gibt, das dein Untersu-
chungsausschuß nicht zu berühren vermag.«

Orne spürte einen Klumpen im Hals. Er dachte an Gienah,

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

Hamal und Sheleb. »Manchmal berühren wir zuviel.«

»Gewiß«, pfl ichtete ihm der Abt bei. »Aber der Großteil eines

jeden Eisbergs bleibt unter Wasser. So ist es mit Amel. So ist es mit
dir, mit dem UA, mit allen Dingen.«

Erneut, stieg Zorn in Orne hoch. »Worte!« murmelte er. »Nichts

als Worte!«

Der Abt schloß mit einem Seufzer die Augen. Als er wieder

sprach, klang seine Stimme sehr leise. »Guru Pasawan, der die
Anhänger Ramakrischnas zur Großen Einigkeit führte, lehrte die
Gö lichkeit der Seele, die Gleichheit allen Lebens, das Eins-Sein
der Gö er, die Harmonie aller Religionen, den unerbi lichen Fluß
der Ewigkeit ...«

»Ich habe genug von diesem Religionsgeschwafel!« fauchte

Orne. »Sie vergessen, daß ich inzwischen einige Ihrer Psi-Maschi-
nen kennenlernte. Ich weiß, welche Manipulationen ...«

»Betrachte meine Worte als Geschichtslektion«, unterbrach ihn

der Abt san . Seine großen, dunklen Augen waren unverwandt
auf Orne gerichtet.

Orne schwieg beschämt. Weshalb dieser Ausbruch? dachte er.

Was verbarg sich dahinter?

»Bis jetzt bestätigen die Entdeckung und Auslegung der Psi-

Krä e Guru Pasawan«, sagte der Abt. »An unserer Glaubenslehre
hat sich nichts geändert.«

»Oh?« Orne überlegte, ob Halmyrach ihm einen wissenscha li-

chen Go esbeweis liefern wollte.

»Das Zusammenwirken der gesamten Menschheit stellt eine

gewaltige Psi-Macht dar oder ein Energiesystem, wenn dir das
lieber ist. Der Name tut nichts zur Sache. Manchmal nennen wir
diese Macht Religion. Manchmal versehen wir sie mit einem Akti-
onsmi elpunkt, den wir Go nennen.«

»Ein Psi-Herd«, stammelte Orne. »Emolirdo deutete an, daß ich

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

– er sagte, daß ...«

»Daß du ein Go sein könntest?«
Die dunklen Hände des alten Mannes zi erten auf der weißen

Be decke. Orne spürte keine Furcht mehr, aber das Aufwallen der
inneren Krä e bereitete ihm Unbehagen.

»Ja, er sprach davon.«
»Wir haben die Erfahrung gemacht, daß ein Go ohne Diszi-

plin in unseren Dimensionen das gleiche Geschick erleidet wie ein
gewöhnlicher Sterblicher unter ähnlichen Umständen. Leider fühlt
sich die Menschheit immer zum Absoluten hingezogen – auch bei
Gö ern.«

Orne dachte an sein Erlebnis auf dem Berg, an den bärtigen

Priester und an die geballte Psi-Energie, die von der Menschen-
menge ausgegangen war.

»Man spricht mit einer gewissen Oberfl ächlichkeit von der

Ewigkeit, von absoluten Dingen«, meinte der Abt. »Betrachten wir
zur Abwechslung einmal ein endliches System, in dem irgendein
Wesen – meinetwegen auch ein Go – alle Möglichkeiten des Ler-
nens ausschöp und Allwissenheit erlangt.«

Orne verstand, worauf der Abt hinauswollte. »Es wäre schlim-

mer als der Tod.«

»Unsägliche Langeweile erwartet dieses Wesen«, pfl ichtete

Halmyrach ihm bei. »Die Zukun wäre eine ewige Wiederholung
– ein Abspulen alter Bänder.«

»Aber Langeweile ist eine Art Stase«, gab Borne zu beden-

ken. »Sie bricht irgendwann zusammen und verwandelt sich in
Chaos.«

»Und wo leben wir armen, auf die Endlichkeit beschränkten

Geschöpfe?«

Orne sah ihn fragend an, und der Abt setzte hinzu:
»Umgeben von Chaos. In einem unendlichen System, wo alles

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Frank Herbert – Die Riten der Götter

geschehen kann – an einem Ort des ständigen Wechsels. Unser
einziger absoluter Wert: Die Dinge ändern sich.«

»Wenn alles geschehen kann, dann ist es auch möglich, daß

unser hypothetisches Wesen vernichtet wird – selbst wenn es sich
um einen Go handelt.«

»Ein hoher Preis, um der Langeweile zu entrinnen, nicht

wahr?«

»So einfach kann es nicht sein«, protestierte Orne.
»Und ist es vermutlich auch nicht«, stimmte der Abt zu. »In uns

lebt ein Bewußtsein, das die Vernichtung leugnet. Das kollektive
Unbewußte, Paramatman, Urgrund, Sanatana Dharma, supermind,
ober palliat –

man hat ihm viele Namen gegeben.«

»Wieder nur Worte«, warf Orne ein. »Die Tatsache, daß ein

Name existiert, heißt noch nicht, daß auch das Ding existiert.«

»Ich freue mich, daß du klare Logik nicht mit korrekter Logik

verwechselst«, meinte Halmyrach. »Du bist ein Empiriker. Kennst
du die Legende vom Ungläubigen Thomas?«

»Nein.«
»Ah, dann kann ein Sterblicher einen Go belehren. Thomas ist

eine meiner Lieblingsgestalten. Er weigerte sich, wichtige Tatsa-
chen einfach zu glauben.«

»Er scheint ein kluger Mann gewesen zu sein.«
Der Abt nickte. »Er zweifelte, aber er ging in seiner Skepsis

nicht weit genug. Thomas fragte nie, wen die Gö er anbeten.«

Orne spürte, wie sich sein Innerstes nach außen kehrte, ganz

langsam. Krä e stiegen in ihm auf, Begriff e wurden neu geordnet.
Es war eine Bewußtseinsexplosion, ein gleißendes Licht, das ihm
die Unendlichkeit erhellte.

Der Augenblick ging vorüber. »Mahmud hast du nicht belehrt«,

sagte Orne.

»Nein.« Der Abt schü elte traurig den Kopf. »Mahmud ist uns

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173

Frank Herbert – Die Riten der Götter

entgli en. Wir erschaff en Gö er, Propheten – aber nicht immer
haben wir ein gutes Verhältnis zu ihnen.

Wenn sie die Weichen zum Verfall und Untergang stellen,

achten wir zu wenig darauf. Wenn sie sich bemühen, uns den Weg
zur Wahrheit zu weisen, bedecken Schleier unsere Augen. Das
Ergebnis ist immer das gleiche.«

»Und selbst wenn ihr den rechten Weg wählt, erreicht ihr nur

zeitweilige Ordnung. Ihr bringt es zu Macht, und sie zerspli ert
euch unter den Händen.«

Die Augen des Abtes erstrahlten in einem merkwürdigen Licht.

»Ich neige mein Haupt vor dir, Orne. Weißt du, wie viele unschul-
dige Menschen im Laufe der Geschichte gefoltert und grausam
umgebracht wurden – unter dem Deckmantel der Religion?«

»Die Zahl spielt keine Rolle.«
»Warum gerät die Religion immer außer Kontrolle?« stöhnte

der Abt.

»Sie wissen, was ich heute nacht da draußen erlebte?«
»Ich erfuhr es, kurz nachdem du entkommen warst«, erwi-

derte Halmyrach. »Und ich fl ehe dich an, hege keinen Groll gegen
uns!«

»Sie wollten mir die explosive Energie der Religion vor Augen

führen«, sagte Orne. »Es ist wahr – ein Sterblicher vermag einen
Go zu belehren.« Er zögerte. »Oder einen Propheten. Ich schätze
Sie, Abt Halmyrach.«

Tränen strömten dem Alten über die mageren Wangen. »Was

bist du, Orne? Ein Go oder ein Prophet?«

Orne unterdrückte die Sinneswahrnehmungen, wandte sich

den neuen Zusammenhängen zu. »Das eine, das andere – oder
keines von beiden. Man hat die Wahl. Ich nehme Ihre Warnung an,
Halmyrach. Ich werde keine neue Religion gründen, die irgend-
wann entartet.«

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174

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Was wirst du dann tun?« fl üsterte der Abt.
Orne drehte sich um, hob den Arm. Ein zuckendes Flammen-

schwert tauchte dicht vor seinen Fingerspitzen auf. Es war auf
den Kopf des Abtes gerichtet. Orne entdeckte Furcht in den alten
Augen.

»Was geschah mit dem ersten Menschen, der diese Form der

Energie anzap e?« fragte Orne.

»Er wurde bei lebendigem Leibe verbrannt – als Hexenmeister«,

entgegnete Halmyrach heiser. »Er wußte nicht, was er mit der
Macht anfangen sollte, nachdem er sie ins Leben gerufen ha e.«

»Es ist also gefährlich, eine unbekannte Macht herbeizuholen?

Wie nannte man jenes Phänomen?«

»Einen Salamander.«
»Die Menschen hielten ihn für einen Dämon mit eigenem

Leben«, sagte Orne. »Aber Sie wissen mehr darüber, Ehrwürdiger
Abt, nicht wahr?«

»Es ist ungeformte Energie«, wisperte der Abt und ließ sich in

die Kissen zurücksinken. Orne bemerkte seine Schwäche, fl ößte
ihm Energie ein.

»Danke«, sagte Halmyrach. »Manchmal vergesse ich meine

Jahre, aber sie vergessen mich nicht.«

»Sie zwangen mich, die Dinge anzuerkennen, die ich bereits

besaß«, meinte Orne. »Ich zweifelte an der Existenz jenes höhe-
ren Bewußtseins, das sich hin und wieder in Menschen, Gö ern,
Propheten oder Maschinen manifestiert. Aber Sie haben mir die
Probe auferlegt und mich gelehrt, an mich selbst zu glauben.«

»So werden Gö er erschaff en ...«
Orne erinnerte sich an seinen alten Alptraum: »Gö er werden

nicht geboren, sondern erschaff en.«

Er sagte: »Sie hä en die Legende

von Thomas beherzigen sollen. Gö er beten in der Tat. Ich rief
Mahmud, und Mahmud war nicht von euch erschaff en. Ich ver-

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175

Frank Herbert – Die Riten der Götter

ursachte Leid und Schmerzen. In einem unendlichen Universum
kann ein Go hassen.«

Der alte Mann preßte beide Hände vor die Augen. »Was haben

wir getan! Was haben wir nur getan!«

»Psi-Krä en begegnet man mit Psi-Krä en«, erklärte Orne.
Orne setzte seinen Willen ein. Er projizierte sich in den Raum,

in fremde Dimensionen, und fand einen Platz, wo ihn die Psi-
Energie nicht ablenkte. Irgendwo heulte die Stille, aber er achtete
nicht darauf. In seinem Innern tickte der Gedanke an lodernde
Sekunden.

ZEIT!
Er tauschte Symbole wie Energieblöcke, manipulierte Energie

wie Einzel-Impulse. Zeit und Spannung. Spannung ist gleich Ener-
giequelle. Energie plus Widerstand ist gleich Energiezuwachs. Um einen
Faktor zu verstärken, muß man ihm entgegenwirken. Energiezuwachs
plus Widerstand ergibt (Zeit/Zeit) neue Identitäten.

»Also wird man wie das Schlimmste, dem man entgegenwirkt«,

fl ü-

sterte Orne der ZEIT zu.

Die ZEIT zeigte es anschaulich: Großes wurde klein, Priester

verfi elen der Sünde ...

Irgendwo weit weg spürte Orne den Strom chaotischer Energie.

Ein Fließen ohne Unterlaß, inmi en einer großen Leere. Er stellte
sich vor, daß er auf einem Berg stand, und unter seinen Sohlen
war harter Fels. Er tastete mit beiden Händen die lebendige Erde
ab.

Ich besitze also Gestalt,

dachte er.

Eine Stimme erreichte ihn aus der Tiefe. Er wurde den Berg hin-

untergezogen, hierhin und dorthin gezerrt. Orne widerstand den
Krä en, strömte der Stimme entgegen.

»Gebenedeit sei Orne! Gebenedeit sei Orne ...«
Es war der brüchige Tenor des Abtes. Dann erkannte er andere

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176

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Stimmen – Diana, Stetson ... eine ungeheure Zahl.

Orne sah mit Sinnen, die er eigens zu diesem Zweck schuf. Er

schaute in Dimensionen, die er geformt ha e. Immer noch spürte
er in der Ferne den Strom des Chaos, aber das vermochte ihn nicht
aufzuhalten. Man mußte nur die richtigen Dinge betrachten. Die
Schleier würden fallen.

»Gebenedeit sei Orne!« betete der Abt.
Orne ha e Mitleid mit den alten Mann. Er war wie das Gleich-

nis Emolirdos – der Scha en eines dreidimensionalen Körpers in
einem zweidimensionalen Universum. Halmyrach existierte in
einer dünnen Zeitschicht. Das Leben projizierte seine Materie ent-
lang dieser Dimension.

Der Abt betete zu seinem Go Orne, und Orne erhörte ihn. Er

kam vom Berggipfel herab, schwebte über dem Be des Greises.
»Sie haben mich noch einmal gerufen!«

»Ich weiß nicht, welche Wahl du getroff en hast«, murmelte der

Abt. »Go , Prophet – oder was sonst?«

»Merkwürdig«, sagte Orne. »Sie existieren in diesen Dimensio-

nen und doch außerhalb. Ich sah Ihre Gedanken durch ein ganzes
Lebensalter brennen, und sie benötigen nur Sekunden für die
Reise. Sobald Sie sich bedroht fühlen, zieht sich Ihr Bewußtsein
in die Nichtzeit zurück. Sie zwingen die Zeit nahezu zum Still-
stand.«

Der Abt ha e die Hände erhoben. »Ich fl ehe dich an, beant-

worte meine Frage!«

»Sie kennen die Antwort längst.«
»Ich?« Halmyrach riß erstaunt die Augen auf.
»Sie kennen sie seit Jahrtausenden. Ich sah es. Bevor sich die

Menschen in den Raum wagten, betrachteten einige von ihnen
das Universum in der richtigen Weise und fanden die Lösung. Im
Sanskrit nannte man es die Maja ...«

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177

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Die Maja«, wiederholte der Abt leise und nickte. »Ich über-

trage mein Bewußtsein auf das Universum.«

»Das Leben scha

sein eigenes Motiv«, fuhr Orne fort. »Wir

projizieren unseren eigenen Daseinsgrund. Und vor uns – immer
der große Zusammenbruch und das große Erwachen. Vor uns –
immer die gewaltige, lodernde Zeit, aus der sich der Phönix erhebt.
Der Glaube, den wir besitzen, ist der Glaube, den wir schaff en.«

»Wie beantwortet das meine Frage?« wollte der Abt wissen. »Ich

wähle das, was jeder Go wählen würde«, erklärte Orne. Und er
verschwand aus dem Schlafgemach des Abtes.

*

Wie Orne andeutete, holt der Prophet, der Tote erweckt, in Wirklichkeit
die Materie des Verstorbenen in eine Zeit zurück, in der sie lebendig war.
Der Mann, der sich von Planet zu Planet bewegt, sieht den Raum in
Abhängigkeit von der Zeit: Ohne die dazwischenliegende Zeit gibt es
keinen Raum. Orne wiederum hat unser Universum als einen Ballon
geschaff en, der sich zu ungleichmäßigen Dimensionen ausdehnt. Auf
diese Weise nahm er meine Herausforderung an und erhörte mein Gebet.
Wir können unser Universum weiterhin durch die Symbolgi er unserer
Wahl betrachten. Wir können unser Universum weiterhin lesen wie ein
alter Mann, der die Nase gegen die Seiten eines Buches preßt.

Private Aufzeichnungen von ABT HALMYRACH

Tyler Gemine, der Chef des R&R, saß in seinem Büro auf Marak
und musterte den Besucher, den eine pompöse, nach Sandelholz
du ende Schreibtischpla e auf Distanz hielt. Der R&R-Boß war
fe und ha e fl eischige, joviale Gesichtszüge. Sein Mund lächelte,
aber die Augen wirkten hart. Im Moment ha e er die schwielige
Stirn in Falten gezogen.

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178

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Noch einmal, Admiral Stetson«, sagte er und warf einen Blick

auf das Familien-Hologramm, das den Schreibtisch zierte. »Sie
behaupten, daß Orne aus dem Nichts in Ihrem Büro au auchte?«

Stetson lümmelte in einem Besuchersessel. »Genau, Sir.«
»Wie der Kerl von Wessen? Ein Psi-Phänomen?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen, Sir. Orne stand plötzlich da,

grinste mich an und übermi elte die Botscha , die ich wortwört-
lich an Sie weitergegeben habe.«

»Und die ich als Einmischung betrachte«, fauchte Gemine.
Stetson verbarg seine Belustigung hinter einer besorgten Miene.

»Nun Sir, jetzt, da der Untersuchungsausschuß aufgelöst ist, benö-
tigen viele von uns einen Job.«

»Das verstehe ich.« Gemines harte Augen schienen Stetson zu

durchbohren. »Aber ich wehre mich energisch gegen die Behaup-
tung, daß der R&R gefährliche Fehler begangen hat.«

»Da war diese unglückliche Geschichte mit Hamal, Sir«, erin-

nerte ihn Orne. »Ganz zu schweigen von Gienah und ...«

»Ich sage ja nicht, daß wir vollkommen sind, Admiral«, unter-

brach ihn Stetson. »Aber unsere Position ist eindeutig. Der Rat hat
endgültig entschieden, daß der Untersuchungsausschuß aufgelöst
wird und wir ...«

»Nichts ist endgültig, Sir«, meinte Stetson. »Vielleicht haben Sie

Ornes Botscha doch nicht ganz verstanden.«

»Oh, sie ist überdeutlich«, meinte Gemine. »Und Sie verlangen

also von mir, daß ich Ihnen die Geschichte abnehme?« Er lockerte
nervös seinen Kragen. »Puh, ziemlich heiß hier ...«

Ohne das Gewicht zu verlagern, deutete Stetson auf eine Stelle

hinter Gemines linkem Ohr.

Der R&R-Boß drehte sich um und erstarrte. Mi en in der Lu

hüp e eine winzige Flamme auf und ab. Sie schwoll an, erreichte
einen beachtlichen Durchmesser.

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179

Frank Herbert – Die Riten der Götter

Gemine sprang auf. Sein Stuhl kippte um, aber das bemerkte er

nicht. Hitzeschwaden drangen auf ihn ein.

»Nun?« fragte Stetson.
Gemine versuchte auszuweichen, aber der Flammenball schni

ihm den Weg ab, drängte ihn in eine Ecke.

»In Ordnung!« kreischte Gemine. »Einverstanden. Ich bin mit

allem einverstanden.«

Die Flamme schrump e zu einem Punkt, erlosch.
»Orne erklärt es folgendermaßen«, meinte Stetson gleichmütig.

»Es gibt keine Stelle im Universum, an der nicht zu der einen oder
anderen Zeit Hitze geherrscht hat. Man muß lediglich Raum und
Zeit so verschieben, daß der Raum mit einer Periode des Feuers
zusammenfällt. Nehmen Sie Platz, Sir. Ich glaube nicht, daß Orne
dieses Spiel wiederholt, solange wir uns einig sind ...«

Gemine richtete seinen Sessel wieder auf, ließ sich in die Pol-

ster sinken. Schweiß bedeckte seine Stirn. »Aber – aber sagten Sie
nicht, daß ich die Organisation weiterhin leiten sollte?« fragte er
verzweifelt.

Nun verfi nsterte sich Stetsons Miene. »Verdammter Unsinn

– dieses Gleichnis von Axt und Axtstiel ...«

»Was?«
»Nach Ornes Worten leben wir in einem Universum, in dem

alles geschehen kann. Das bedeutet, daß man selbst den Krieg als
Möglichkeit einbeziehen muß«, knurrte Stetson. »Sie haben die
Botscha ja selbst gelesen.«

Gemine drehte sich ängstlich um. Die Flamme blieb verschwun-

den. Er räusperte sich und stützte die Ellbogen an der Schreib-
tischkante auf.

»Ich bin Ihrem Büro als Sonderberater zugeteilt«, fuhr Stetson

mürrisch fort, »und soll die Eingliederung des UA in den R&R«
– Er schni eine Grimasse – »leiten.«

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180

Frank Herbert – Die Riten der Götter

»Ja, gewiß.« Gemine setzte eine Verschwörermine auf. Er beugte

sich vor. »Haben Sie eine Ahnung, wo Orne im Moment steckt?«

»Er sagte etwas von Fli erwochen.«
»Aber ...« Gemine hob hilfl os die Schultern. »Bei seiner Macht...

ich meine, was er mit diesem Psi-Dings alles erreichen könnte ...«

»Mir hat er jedenfalls erklärt, daß er keine Lust habe, seine

Hochzeit noch länger aufzuschieben«, erwiderte Stetson fest.

*

Einmal Esper, immer Esper. Einmal Go , kann man selbst bestimmen,
wie die Zukun aussehen soll. Ich verneige mich vor Ihnen, Ehrwürdiger
Abt, und danke Ihnen für Ihre gütige Belehrung. Die Menschen sind
so daran gewöhnt, das Universum als ein Puzzle aus winzigen Teilen
zu betrachten, daß sie am Ende handeln, als bestünde es wirklich aus
winzigen Teilen. Die Matrix, mit deren Hilfe wir das Universum erfas-
sen, muß eine direkte Funktion dieses Universums sein. Wenn wir die
Matrix verzerren, bleibt das Universum in seiner ursprünglichen Form
erhalten; wir ändern lediglich unsere Betrachtungsweise. Ich sagte es
bereits zu Stet – es ist wie eine Drogenabhängigkeit. Wenn man etwas
durch Zwang herbeiführt, einschließlich des Friedens, muß man immer
im gleichen Stil weitermachen, um Zufriedenheit zu erlangen. Das mit
dem Frieden ist ein schreckliches Paradoxon: Man benötigt gleichzeitig
den Kontrast von immer mehr Gewalt. Der Friede kommt zu jenen, die
erkannt haben, was er bedeutet. Zum Dank für Ihre Belehrung werde ich
mein Versprechen halten: Die Menschheit besitzt einen Blankokredit bei
der Bank der Zeit. Noch kann alles geschehen.

LEWIS ORNE an ABT HALMYRACH

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181

Frank Herbert – Die Riten der Götter

P. S.: Auf meinem Grabstein soll folgende Inschri stehen: »Er wählte
die Ewigkeit über die Stufen der Endlichkeit.« Unser erster Sohn
wird übrigens Hal heißen. Er kann sich selbst eine Geschichte über den
Ursprung dieses Namens zurechtlegen. Ag hil ihm vielleicht dabei.

In Liebe,

L. O.

ENDE


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