Wie unterschiedlich erinnert wird
Das Erinnern an die Vertreibung Ist in seiner Gesamtheit weit vielfältiger, als es die zahlreichen politischen Festreden, die gängige Vertreibungsliteratur oder die derzeitige Behandlung des Themas in den Medien vermuten lassen. So wird beispielsweise in der Öffentlichkeit meist an Frauen. Kinder und alte Menschen erinnert, während die Schicksale der Männer kaum Erwähnung finden. Die Erfahrungen mancher Gruppen wurden bisher nahezu völlig ausgegrenzt, obwohl es doch jedem einleuchten dürfte, dass man möglichst viele unterschiedliche Erinnerungen kennenlernen müsste, um sich ein adäquates Bild vom historischen Geschehen machen zu können. Ähnliches gilt auch im Umgang mit der Vielfalt von unterschiedlichen Berichten überidentische Situationen. Dass Menschen über ein und dasselbe Ereignis unterschiedlich erzählen, gehört zum allgemein anerkannten Erfahrungskanon der Menschheit; selbst wenn Zeugen nach ihrem bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit sagen, weichen ihre Berichte infolge subjektiver Betrachtungsweisen und kulturhistorischer Gewohnheiten voneinander ab. Berichte von Betroffenen sowie deren Erinnerungen sind keineswegs Spiegelbilder vergangener Begebenheiten und können nicht als Beweise für die eine oder andere Interpretation dienen; man sollte nachdenklich mit ihnen umgehen und sie als Hinweise nutzen, um weiterführende Fragen zu stellen und sie als Elemente einer vorsichtig abwägenden Urteilsbildungen zu berücksichtigen. Angesichts der großen Vielfalt von Bausteinen, die uns in Gestalt einer Vielzahl von Berichten und Erinnerungen zur Verfügung stehen, bleibt es jedem überlassen, wie feinsinnig er oder sie damit umgeht, ob min sich auf einige wenige oft wiederholte Klischees beschränkt oder möglichst differenzierend nach erkennbaren Linien und Umrissen vergangener Ereignisse sucht.
Der folgende Abschnitt bietet Anregungen an, wie man sich im vielfältigen Reichtum des Erinnerns an die Vertreibung orientieren und vor einer blinden Übernahme fremder Meinungen schützen könnte. Um im voraus zu verdeutlichen, wie groß die Unterschiede zwischen den Erfahrungen einzelner Bevölkerungsgruppen gewesen sind, sei als Einführung an zwei wenig bekannte Gruppenerfahrungen erinnert - an die der in Polen verfolgten Nazis einerseits, und andererseits an die der nicht ausgewiesenen NS-Gegner, die in der Tschechoslowakei 1945/46 ihre Umsiedlungen selbst organisierten.
Zu denjenigen, die am Kriegsende mit Sicherheit Schweres zu erwarten hatten, gehörten jene Angehörigen der deutschen Minderheit im Polen der Zwischenkriegszeit, die sich im September 1939 dem Volksdeutschen Selbstschutz, einer im Zusammenhang mit dem Überfall auf Polen gegründeten paramilitärischen Organisation, an geschlossen hatten:
Der Volksdeutsche Selbstschutz bestand zwar nur kurz (regional unterschiedlich zwischen drei und zwölf Monaten), ihm gehörten aber weit über 100000 wehrfähige Angehörige der deutschen Minderheit in, und er ist nachweislich für den Tod einiger Tausend Polen und Juden, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber von weit über 10000 Menschen verantwortlich. Seine Aufgabe bestand offiziell darin, Volksdeutsche zu rekrutieren und zu organisieren, die später in SS und Polizei übernommen werden sollten, deutschen Besitz zu bewachen sowie polizeiliche Hilfsdienste bei SS- und Gestapo-Aktionen zu leisten. Vielerorts verselbständigte sich die Miliz aber zu einer Organisation, in der deutschstimmige Polen als Rache für angebliche oder tatsächliche frühere Diskriminierungen, aus Rassenwahn oder auch nur aus purer Mordlust Verbrechen verübten. Darüber hinaus setzten die SS-Führer, Chefs der Zivilverwaltung und andere Instanzen der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft Selbstschutz-Angehörige als orts- und personenkundige Helfer und Denunzianten und als Mitglieder von Exekutionskommandos im Rahmen der Ausrottungsaktion gegen die polnische Intelligenz und die Juden ein.'
Über die Erfahrungen dieser weit über 100000 Männer in Nachkriegspolen finden sich in der Vertreibungsliteratur kaum Informationen, obwohl sie es damals besonders schwer hatten. Es ist nicht einmal bekannt, wie viele von ihnen flüchteten, wie viele nach Kriegsende ihr Leben verloren bzw. wie viele inhaftiert und zu welchen Strafen verurteilt wurden.
Im Polen galt ähnlich wie in anderen Staaten für die Bestrafung von NS-Verbrechen eine Sondergesetzgebung. die im Prinzip von den Alliierten für alle Länder spätestens seit Jalta und Teheran vorgesehen war und die nach den unmenschlichen Exzessen der nationalsozialistischen Besatzungspolitik auf polnischem Gebiet ein weites Feld zur Ahndung krimineller Delikte vorfand. Die entsprechenden Sondergerichte wurden erst im Zusammenhang mit der sich seit Herbst 1946 allmählich normalisierenden Strafjustiz aufgelöst. Angesichts der Tatsache, dass ca. 100000 Deutsche allein dem Volksdeutschen Selbstschutz angehört hatten, weisen die Zahlen der in Nachkriegspolen inhaftierten Deutschen darauf hin, dass viele von ihnen schon vor Kriegsende geflüchtet sein müssen.
Infolge der besonderen Rechtsverhältnisse jener Zeit befanden sich Anfang Mai 1945 nämlich 50 611 Personen In Haft, darunter 2121 Deutsche und 35428 Volksdeutsche. Im Herbst 1945 sollen ca. 60000 Menschen - davon ca. die Hälfte Volksdeutsche - in polnischen Gefängnissen und Lagern gefangen gehalten worden sein, und im Dezember 1945 sollen sich in den Lagern ca. 25000 Menschen aufgehalten haben, die entsprechend den damaligen Kriterien Deutsche, Volksdeutsche, Kriegsgefangene und der Kollaboration Beschuldigte waren. In den Gefängnissen sollen zu derselben Zeit über 35 020 Personen gewesen sein, darunter 1 469 Personen, denen die Zugehörigkeit zu einer nationalsozialistischen Organisation zur Last gelegt wurde und 2 S60 Kriegsgefangene. Ab 1946 saßen in den Gefängnissen hauptsächlich wegen Verb rechen Angeklagte oder Verurteilte ein, darunter auch solche, denen die Zugehörigkeit zu einer nationalsozialistischen Organisation angelastet wurde: Im Frühjahr gab es in der Mehrzahl der Gefängnisse mit Ausnahme von Verurteilten und Verdächtigten bereits keine Deutschen mehr, in den restlichen wurden einige hundert Personen aufgefunden und in die zentralen Arbeitslager gebracht oder nach Breslau geschickt, wo man sie In die Repatriierungs-Transporte eingliederte.
Die Selbstschutzangehörigen mussten allerdings auch in der Bundesrepublik strafrechtliche Verfolgung fürchten, und einige wenige standen tatsächlich vor Gericht, wie etwa Heinz Mocek aus Chojnice/ Konitz, der wegen siebzehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft, oder Wilhelm Richardt und Werner Sorgatz, die zu zweimal lebenslänglich wegen 45fachen Mordes bzw. zu vier Jahren Haft wegen Beihilfe zu 60fachem Mord verurteilt wurden. Insgesamt scheinen nur wenige Mitglieder des Volksdeutschen Selbstschutzes für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen worden zu sein, aber auch diejenigen, die straflos davonkamen, hatten an das Kriegsende und die Vertreibung mit Sicherheit keine guten Erinnerungen. Möglicherweise hatten es manche von ihnen ohnehin vorgezogen, nach dem Krieg nach Deutschland umzusiedeln, als in Polen zu bleiben, aber da wir kaum über Infor-mationen über ihre spezifischen Gruppenerfahrungen verfügen, können wir über solche Fragen nur spekulieren.
Die Angehörigen des Volksdeutschen Selbstschutzes bilden keineswegs die einzige im deutschen Erinnern vernachlässigte Gruppe derjenigen Vertriebenen, die nach Kriegsende die Strafjustiz zu fürchten hatten. Über die Schicksale der insgesamt rund 300000 Volksdeutschen, die in der Waffen-SS oder der über 760000 Soldaten, die aus den annektierten Gebieten stammten und 1944. in der Wehrmacht dienten, finden sich in der Vertreibungsliteratur kaum Informationen, auch an die Lebensgeschichten der in der Tschechoslowakei, in Ungarn, Jugoslawien oder Rumänien gerichtlich verurteilten, in Gefängnissen misshandelten oder oft einfach ermordeten Träger des NS-Regimes - in den meisten Fällen handelte es sich um Männer - wird kaum erinnert. Ähnlich mangelhaft sind auch die gängigen Informationen über spezifische Erfahrungen der NS-Gegner unter den Vertriebenen, obwohl auch sie bemerkenswerte Einblicke in die Geschichte der Vertreibung bieten - zum Beispiel die deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei.
Die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP) wurde infolge der NS-Zerschlagung des Staates verboten. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches suchten ihre befreiten Mitglieder die Verbindungen untereinander wieder aufzunehmen, wie etwa der aus dem KZ Dachau zurückgekehrte Parteisekretär aus der nordböhmischen Stadt Tetschen/ Decin, Roman Wirkner (1907-1987), berichtete. Dort fasste ein Kreis jüngerer Sozialdemokraten am 6. Juni 1945 den Beschluss, als Präventivmaßnahme eine geschlossene Ansiedlung in Deutschland vorzubereiten, und schon anderntags gingen Beauftragte illegal über die Grenze, um in Sachsen mit Parteifreunden und Behörden über die Aufnahme zu verhandeln. Nach ihrer Rückkehr nahmen sie Verhandlungen mit den tschechoslowakischen Behörden auf, um Voraussetzungen zum Schutze der sogenannten Antifaschisten im Sinne des Erlasses des Ministeriums des Inneren der Tschechoslowakischen Republik vom 16. Mai 1945 zu sichern und die geplante Aussiedlung von rund 100000 Personen vorzubereiten. Es folgten komplizierte Verhandlungen unter chaotischen Bedingungen auf beiden Seiten der deutsch-tschechoslowakischen Grenzen, erschwert durch die Notwendigkeit, in den einzelnen Besatzungszonen jeweils separat verhandeln zu müssen; so reiste etwa im Herbst 1945 ein weiterer Beteiligter, Alois Ullmann (1888-1957) mit einem tschechischen Ministerialvertreter zur US-Militärregierung nach Mün-chen, wo erwirkt wurde, einen weiteren Vortrupp von 200 Vertrauensleuten in legalem Transport zu entsenden, dem dann im ganzen Aufnahmebereiche der US- Zone Deutschlands die Transportlenkung oblag. Roman Wirkner und seine Kollegen konnten ihr Vorhaben nicht ganz nach ihren eigenen Vorstellungen verwirklichen, da sich ihre Idee, 100000 Menschen in Deutschland geschlossen anzusiedeln. als praktisch undurchführbar erwies. Sie erreichten aber, dass rund 82600 Personen ausgesiedelt werden konnten.“
Wie mühsam die Organisierung dieser Umsiedlungen war, können wir der Schiederschen Dokumentation entnehmen, beispielsweise einer Erklärung des thüringischen Lindesamts des Innern vom 11. September 1946 zu Verbreitungen eines ersten Transpons von 5000 Personen zur Ansiedlung in thüringischen Landkreisen, oder einer Anweisung der Sowjetischen Militär-Administration in Berlin an die Umsiedler-Abteilung des Landes Sachsen, mit den Verwaltern der deutschen und tschechischen Partei in Verbindung zu treten, um die Aufnahme von 30000 Umsiedlern vorzubereiten. Roman Wirkner berichtete auch über Probleme in der Tschechoslowakei infolge der Tatsache, dass die Prager Regierungsautorität in den Bezirken noch nicht gefestigt gewesen sei und die tschechischen Bezirkbehörden willkürlich entscheiden konnten. Er machte auch auf politische Konflikte zwischen den deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten aufmerksam, als erstere schon im Frühsommer 1946 von letzteren als Trabanten von Jaksch und Schumacher denunziert wurden.
Aber selbst nachdem die mühsamen Vorbreitungen bewältigt worden waren, erwies sich die praktische Durchführung des Umsiedlungsvorhaben als weitaus komplizierter als erwartet, wie Wirkner berichtete:
In Transportzüge eingereihte deutsche Arbeiter und Sozialisten, denen in der Westzone schon das Aufnahmegebiet sichergestellt war, wurden anderweitig verschoben, ihre Fahrnisse beschlagnahmt, obwohl zollbehördliche Ausfuhrgenehmigungen Vorlagen. Familien wurden auseinandergerissen. Die geringe Waggonzuteilung verhinderte eine raschere Folge der Abfertigung von Transporten, um die Menschen in Sicherheit bringen zu können. Bangen und Unzufriedenheit steigerten sich. Unkenntnis der Hintergründe und Schwierigkeiten erzeugten Panikstimmung. In Notzeiten erst, da zeigt sich der Charakter, diese geflügelten Worte sind folgerichtig nicht immer der Gradmesser für menschliche Tugenden und Schwächen. Es waren zu turbulente Zeiten, als dass über Recht und Unrecht, Unverständnis oder Böswilligkeit diskutiert werden konnte.
Beide der soeben vorgestellten Gruppen, die NS-Verbrecher ebenso wie die Orga-nisatoren der freiwilligen Umsiedlungen, repräsentieren nur einen kleinen Teil der Vertriebenen. Dennoch bieten ihre Erinnerungen wichtige Spuren auf der Suche nach Informationen über die unterschiedlichen Erfahrungen der Vertriebenen sowie die damaligen Lebensbedingungen der Deutschen in Polen und die Tschechoslowakei: Schon allein diese beiden Beispiele widerlegen die bis heute verbreitete Vermutung, dass in jenen Staaten alle Deutsche gleich behandelt worden seien. Aus diesem Grunde erweisen sich bisher vernachlässigte Erinnerungen als wertvoll für die Erforschung der Geschichte der Vertriebenen. Sie helfen uns, Irrtümer zu korrigieren, weisen auf
Lücken in unserem historischen Wissen hin und verfeinern unser Vermögen, die Komplexität des vergangenen Geschehens möglichst differenziert zu erfassen. Sie werfen aber auch ein neues Liehe auf die Frage, wessen Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis vertreten bzw. nicht vertreten sind und welche Gruppen der Betroffenen an d er Gestaltung des öffentlichen Erinnerns maßgeblich beteiligt waren bzw. wessen Erinnerungen mehr Gehör verdienen als ihnen bislang zuteil wurde.
Vernachlässigte Erfahrungen von 4,8 Millionen Deutschen
Die größte Gruppe der Vertriebenen, deren Erfahrungen vernachlässigt werden, bilden diejenigen, die unter der Kontrolle der alliierten Regierungen umgesiedelt wurden. Es waren ca. 4,8 Millionen Deutsche aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Der größte Teil von ihnen - ca. 4,1 Millionen Menschen - wurde im Jahre 1946 ins heutige Deutschland gebracht.'5 Ihre Umsiedlung entsprach der Potsdamer Ankündigung der Großmächte vom Sommer 1945 sowie dem im November 1945 erstellten Plan des Alliierten Kontrollrates. In der Bundesrepublik wurde den spezifischen Erfahrungen dieser Menschen erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet, wenn man bedenkt, dass für ihre Ausweisung und Umsiedlung jene Regierungen verantwortlich waren, gegen die bis heute allerorts Anklagen erhoben werden. Die Schiederscbe Dokumentation ist ein Beispiel dafür.
Dieser Dokumentation zufolge seien aus Polen im Jahre 1946 zwei Millionen Deutsche in international organisierten und überwachten Transporten (und kleine Gruppen aus dem sowjetischen Teil Ostpreußens) umgesiedelt worden, denen zwischen 1947 und 1949 noch weitere 650000 gefolgt seien. In den drei Binden, die der Vertreibung der Deutschen aus Polen bzw. aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße gewidmet sind, finden wir vielerlei Angaben, aber nur ein kleiner Teil davon betrifft die Erfahrungen der soeben genannten Gruppe.
Der erste Band enthält auf 160 Seiten eine historische Einleitung und auf 494 Seiten Augen-und Zeltzeugenberichte über die Zeit vom August 1944 bis unmittelbar vor der deutschen Kapitulation. Der zweite Band umfasst 896 Seiten, deren größter Teil regional geordnete Berichte über die Lage der Deutschen unter russischer Besatzung und polnischer Verwaltung bietet. Erst im dritten Abschnitt wird über die Umsiedlungen berichtet. Davon werden die nach dem Potsdamer Abkommen durchgeführten Umsiedlungen auf den Seiten 707-874 behandelt, doch nur auf den Seiten 759-834 liegen Berichte über die Ausweisungserfahrungen des Jahres 1946 vor, die ca. zwei Millionen Menschen betrafen. Im dritten Band können wir uns auf 505 Seiten überpolnische Gesetze und Verordnungen der Jahre 1944- 1955 informieren. Insgesamt befassen sich also nur 8,13% des gesamten Umfangs mit den Umsiedlungserfahrungen derjenigen Deutschen, die von den alliierten Regierungen aus Polen nach Deutschland gebracht wurden; das ist unbegreiflich wenig. Demgegenüber wurde den Erfahrungen der während des Krieges geflüchteten und von den NS-Behörden zwangsevakuierten Menschen proportional unangemessen mehr Raum gewidmet.
Aus den vernachlässigten Erfahrungen geht hervor, dass Deutsche in Polen in der ersten Nachkriegszeit häufig Opfer von Misshandlungen und Gewalttaten wurden, aber nicht überall:
In einigen Orten gelang es noch im Lande befindlichen deutschen Stellen, Pastoren und Verwaltungsangestellten in polnischen Diensten, die Organisation dir Aussiedlung in die Hand zu nehmen. Die Bevölkerung blieb dadurch zumindest in ihren Heimatorten vor den Willkürtaten und Plünderungen bewahrt, von denen sonst die Ausweisungen In der Regel begleitet wurden.
Bei den Massenumsiedlungen des Jahres 1946 seien am Anfang nicht immer die Verordnungen eingehalten worden: Erst mit dem Sommer 1946 trat insofern eine Besserung ein, als sich die inzwischen festgelegten Richtlinien über die Durchführung der Ausweisung auszuwirken begannen. Insgesamt seien die Transporte nach und nach besser organisiert worden, wenngleich nach dem Urteil der Schiederschen Dokumentation dennoch unzureichend. Die polnischen Behörden hätten keine sonderliche Anstrengung gemacht, um eine wirklich ordnungsgemäße und humane Überführung der deutschen Bevölkerung nach Westen zu gewährleisten. Bemerkenswert ist auch die folgende Erkenntnis über die emotionale Befindlichkeit der Betroffenen:
Nach jahrelangen [sic] schweren Leiden erschien fast allen Deutschen aus Polen die Ausweisung als eine Erlösung. Die Empfindung des Dankes und die Freude darüber, die zurückliegenden Bedrängnisse und menschenunwürdigen Lebensverhältnisse überlebt zu haben und endlich von ihnen befreit zu sein, überdeckten für einen Moment die Erkenntnis des schweren Loses, das die zwangsweise Ausweisung aus der seit Generationen bewohnten Heimat bedeutete.“
Alle derartigen Hinweise der Schiederschen Dokumentation wurden bei der Auswahl der veröffentlichten Augen- und Zeltzeugenberichte nicht angemessen berücksichtigt und fanden bisher auch ein geringes Echo in den gängigen Erinnerungsbildern.
Auch die Erfahrungen der Deutschen aus der Tschechoslowakei sind nur unzureichend bekannt, obwohl zwei Bände der Schiederschen Dokumentation die Überschrift Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung der Tschechoslowakei tragen. Im ersten Band finden wir auf 357 Seiten eine historische Einleitung {S. 3-178) und 33 Dokumente (S. 181-357) wie politische Erklärungen, Gesetzes teste und Verordnungen, daneben auch das Protokoll der Besprechung zwischen Vertretern der amerikanischen Militärregierung in Deutschland und der CSR etc. Unter der Überschrift Die Ausweisung nach der Potsdamer Konferenz finden wir auf nur 16 Selten (S. 115-131) Informationen über die unter der Kontrolle der alliierten Regierungen durchgeführten Transporte von ca. 1,2 Millionen Ausgewiesenen in die US-Zone und ca. 0,75 Millionen in die SBZ. Der zweite Band bietet auf 818 Seiten Augen- und Zeitzeugenberichte. Davon betreffen 98 Berichte (S. 3-458) die Zeit vor der Potsdamer Konferenz, und nur 22 Berichte (S. 459-518) Allgemeine Transporte nach der Potsdamer Konferenz. Weitere Berichte befassen sich mit den Sondertransporte[n], also den freiwilligen Aussiedlungen der Antifaschisten. Nach drei zusammenfass enden Erlebnisschilderungen (S. 553-707) folgen Berichte über die Vertreibung der Deutschen aus der Slowakei, die sich weitgehend auf die Zeit vor dem Kriegsende beziehen (S. 711-819). Auch im zweiten Band zur Tschechoslowakei wird somit den Erfahrungen jener 1.9 Millionen Deutschen aus dem heutigen Tschechien, die im Jahre 1946 unter der Kontrolle der alliierten Regierungen umgesiedelt wurden, nur sehr wenig Raum gewidmet.
Organisatorisch gesehen sei der Ausweisungsprozess ohne größere Störungen abgewickelt worden, min könne dies als ordnungsgemäßes Verfahren im Sinne der Potsdamer Beschlüsse bezeichnen, heißt es in der Schiederschen Dokumentation. Dennoch waren die Autoren der Meinung, dass das zweite Gebot der Potsdamer Vereinbarung über die ordnungsgemäße und humane Umsiedlung nicht eingehalten worden sei; als menschlich könne man es nicht bezeichnen: Die kalte Nüchternheit der Durchführung trägt schon wieder unmenschliche Züge. Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass auch in der Tschechoslowakei nicht alle Ausgewiesene damals zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen werden mussten:
Niedergedrückt von dem ihnen angetanen Leid meldeten sich zahlreiche Sude-tendeutsche freiwillig zum Abtransport. Nicht selten suchten sie sogar ihre baldige Zulassung zu den Transporten durch persönliche Zuwendungen (Geld und Wertsachen) an die zuständigen tschechischen Funktionäre zu erkaufen. [...] Als in den Sommermonaten auch die Ausweisung in die Sowjetzone begann, drängten sich die Menschen zu den Transporten, die in die amerikanische Zone gingen, um nicht weiter im sowjetischen Einflussbereich und unter dem in ihm herrschenden System leben zu müssen.
Viele der Betroffenen hätten es angesichts der gegebenen Situation als vorteilhaft betrachtet, die Tschechoslowakei zu verlassen:
Unter dem Eindruck der konsequenten tschechischen Entrechtungspolitik, die alle Voraussetzungen für ein Weiterleben in der CSR entzog, empfand der Großteil der sudetendeutschen Bevölkerung die Ausweisung für den Augenblick nicht in ihrer ganzen Schwere, sondern eher ab eine Befreiung von einem unerträglichen Druck."
Über die Ausweisungen und Umsiedlungen der Deutschen aus Ungarn bietet der einschlägige Band auf 106 Seiten eine historische Einleitung und auf 199 Seiten Augen- und Zeitzeugenberichte; davon betreffen 18 Seiten (S. 117-135) die Ausweisung von 170000 Deutschen im Jahre 1946 und von weiteren 50000 Deutschen in den Jahren 1947/48. Auch in Ungarn soll es am Anfang Schwierigkeiten gegeben haben: Die Versorgung der ersten Züge, die schon im Januar 1946 in der amerikanischen Zone eintrafen, entsprach keineswegs den Grundsätzen einer humanen Durchführung. [...] Die Zustande besserten sich dann allerdings erheblich und konnten zwei Monate später als geregelt bezeichnet werden. Ähnlich wie in Polen und in der Tschechoslowakei, mussten auch in Ungarn manche Deutsche offensichtlich nicht gezwungen werden, in den Nachkriegsjahren ihre Heimat zu verlassen und In Deutschland Zuflucht zu suchen:
Die Willkür und Gesetzlosigkeit in den Jahren 1947/48 bitte sich so verstärkt, dass sich die Volksdeutschen in dieser Zeit wirklich aus den alten und ihnen bisher selbstverständlichen heimatlichen Bindungen zu lösen begannen und danach trachteten, das Land, in dem sie rechtlos geworden waren, zu verlassen. Nach den zurückgekehrten ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, die wegen der Razzien und
Verfolgungen möglichst schnell über die Grenze zu entkommen suchten, begannen jetzt auch die Zivilisten, sich allein oder mit ihren Familien den unsicheren Verhältnissen durch die Flucht zu entziehen, oder meldeten sich freiwillig zur Aussiedlung.1'
Die unzureichende Beachtung der Erfahrungen jener Vertriebenen, die von den alliierten Regierungen um gesiedelt wurden, führt zu verzerrten Erinnerungsbildern, wie eine vom Verlag F. A. Brockhaus in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung im Jahre 2005 herausgegebene Weltgeschichte der Neuzeit zeigt. Dort begegnen wir der Behauptung, dass sich im Laufe der Zeit, und selbst nach der Potsdamer Konferenz, für fast 17 Millionen Deutsche, die im Zuge der Neuordnung Europas ihre Heimat in Ostmittel- und Südosteuropa verlassen mussten, nichts verändert habe: Zwar wurde im Kommuniqué festgehalten, dass diese Überführung der Bevölkerung in ordnungsgemäßer und humaner Weise zu geschehen habe, auf die Realität der Vertreibungen hatte dies jedoch keinen Einfluss. Solch irrtümliche Aussagen hätten die Verfasser schon allein anhand der Schiederschen Dokumentation. korrigieren können - wenn sie sie sorgfältig und gelesen und die darin gebotenen Informationen und Interpretationen kritisch reflektiert hätten.
Die unausgewogene Auswahl der in der Schiederschen Dokumentation publizierten Berichte sowie die Widersprüche zwischen den darin vorliegenden Informationen und Interpretationen hindern viele Benutzer und Autoren der Vertreibungsliteratur bis heute daran, die Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Umgang mit der deutschen Zivilbevölkerung, den Kriegsfolgen und dem Verhallen der alliierten Regierungen zu erkennen. Die Vernachlässigung solcher Unterschiede nährt den Eindruck, als wären die einstigen Kriegsgegner Deutschlands für das schwere Los aller heimatlos gewordenen Umsiedler, Evakuierten, Flüchtlinge, Vertriebenen und Ausgewiesenen zwischen 1939 und 1949 unterschiedslos verantwortlich gewesen. Diesen Eindruck zu erwecken war erklärtermaßen die Intention der Herausgeber, wie wir gesehen haben. Die Schiederche Dokumentation ist aber ein umfangreiches Werk, und ihre Herausgeber waren um die Einhaltung der üblichen Maßstäbe geschichtswissenschaftlichen Arbeitens bemüht. Die aus gewählten Augenzeugenberichte sollten zwar eine bestimmte Gesamtinterpretation des Geschehens bekräftigen, doch genau in dieser Hinsicht scheiterten sie. Ein naiver Leser wird es nicht bemerken und davon ausgehen, dass in dem umfangreichen Werk die grundlegenden interpretativen Botschaften der Herausgeber und Autoren nachgewiesen worden seien. Einen aufmerksamen Leser regen die in der Dokumentation enthaltenen Dokumente und Widersprüche dazu an. weitere Informationen zu suchen, um sich selbst sein Urteil darüber zu bilden, in welchem Ausmaß die alliierten Regierungen sich darum bemühten, in den kriegszerstörten Regionen die Ordnung wiederherzustellen und auf die Umgesiedelten Rücksicht zu nehmen.
Vier sudetendeutsche Frauen und Männer erinnern sich
Den Kern des Erinnerns in die Vertreibung bilden Augenzeugenberichte. Zu selten wird beachtet, dass die Vertriebenen ihre Erinnerungen in recht unterschiedlicher Art und Weise erzählten. Dieser Umstand, nämlich wie disparat die Informationen von Augenzeugen häufig sind, lässt sich anhand der Erzählungen zweier Frauen über den berüchtigten Brunner TODes marsch demonstrieren. Beide Augenzeuginnen ließen keinen Zweifel daran, dass sie persönlich Erschütterndes erlebt und viele Frauen, Kinder und alte Menschen Schlimmes erlitten hatten. Frau M. v. W. wurde nicht namentlich identifiziert, und wir erfahren nichts über ihren familiären Hintergrund. Aus ihrem Bericht geht hervor, dass sie im April 1945 Krankenschwester in Brünn war, die tschechische Sprache perfekt' beherrschte, zwischen dem Kriegsende und Dezember 1945 In verschiedenen Lagern festgehalten wurde und danach nach Österreich flüchtete. Ihr Bericht ist nicht chronologisch erzählt und stellt nicht ihre persönlichen Erfahrungen dar. Sie sucht durch einzelne Detailangaben den Eindruck von Genauigkeit zu erwecken, wobei es ihr aber weniger um die Darstellung konkreter Situationen als um die Erfassung des ihrer Meinung nach Allgemeinen geht.
Am Beginn ihres Berichts will Frau M. v. W. Im April 1945 die anderswo nicht nachgewiesenen Wo ne des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes im Rundfunk gehört haben: Wehe, wehe, wehe dreimal wehe den Deutschen, wir werden sie liquidieren! Auch soll sie beim Einzug der Russen am 25. April 1945 aus dem Fenster ihrer Wohnung beobachtet haben, wie direkt öffentlich Vergewaltigungen von Frauen, Prügeleien und Misshandlungen und Beschimpfungen die gesamte deutsche Bevölkerung in höchste Erregung und Gefahren brachte (sic). Danach erzählt Frau M. v. W nicht über ihre persönlichen Erfahrungen, sondern über Gräuel, die von Tschechen an Deutschen verübt worden seien und deren Zeugin sie gewesen sein will. Somit unterscheidet sich ihre Schilderung der Lebensverhältnisse in Brünn am Kriegsende grundlegend von denen der anderen Augen-zeugin, Frau Zatschek, deren Erinnerungen an jene Zeit wir bereits oben kennengelernt haben. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Berichte der beiden Frauen über den Brunner Todesmarsch.
Frau M. v. W. konzentriert sich auf die Schilderung dramatischer Szenen:
Unbeschreibliche Szenen hüben sich auf der Straße nach Pohrlitz [Pohorelice] abgespielt, um so mehr als am Nachmittag ein fürchterliches Gewitter niederging und die Straßengräben überflutete. Die müden und erschöpften Menschen rutschten auf dem aufgeweichten Boden aus, wurden wohl mit Prügeln und Peitschenhieben traktiert, waren aber im allgemeinen nicht mehr auf die Füße zu bringen. Die Straßengräben waren gefüllt mit Kleidungsstücken, Koffern, Lebensmitteln, die die Erschöpften abwarfen, und dazwischen saßen die Erschöpften, die auch an Erschöpfung gestorben sind.
Die schon oben zitierte Frau Maria Zatschek hinterließ uns andere Erinnerungen an dieselbe Begebenheit. Sie berichtet über sehr viel Leid, aber erzählt such über Alltagssorgen oder zwischenmenschliche Beziehungen, wie wir gesehen haben. Während Frau M. v. W. Gräuel hervorhebt, begegnen wir im Bericht von Frau Zatschek konkreteren und damit emotional bewegenderen Schilderungen.
Frau Zatschek musste Brünn zusammen mit ihrem 85jährigen Vater und ihrer knapp zehnjährigen Tochter Annemarie verlassen und verlor damals ihren Vater. Am 15. Juni 1945 notierte sie Im Lager Pohrlitz:
Zum Pfarrer ging Ich heute und bat ihn um seinen Besuch bei meinem Vater. Der Geistliche war sehr entgegenkommend, doch ersuchte er mich, nicht darüber zu sprechen, da er keine Bewilligung hätte. Auch käme er in Zivil und ohne Ministranten. Zur festgesetzten Stunde am Nachmittag trafen wir uns in der Baracke. Heiße Sonne Heß den schlechten Geruch noch quälender sein. Die Türen waren weit geöffnet, ein Mohnfeld, groß und rotblühend, leuchtete im Hintergrund. Die Kranken lagen auf übelriechendem Stroh.
Papa konnte nicht mehr sprechen, doch war er bei Bewusstsein. Er empfing die Sterbesakramente. Fromm, wie er gelebt hat, bereitete er sich zur letzten Stunde vor. Annemarie ersetzte den Ministranten. Die meisten der Kranken finden Trost und dankten dem Priester, der freudig seine Pflicht erfüllte. Knieend beteten wir mit ihnen. Diese erhabene Stunde in all dem Elend wird uns immer in Erinnerung bleiben.
Über den nächsten Tag erfahren wir:
In der folgenden Nacht starben wieder 20 Personen, darunter mein Vater. Seine letzten, nur geflüsterten Worte waren: Gerhard blutet die Hand. Bei seinem Verscheiden war ich nicht, er ist ohne Todeskampf eingeschlafen. Erst heute konnten wir den Verstorbenen sehen: Niemand hat ihm die Augen zugedrückt. Irgendwo wurden alle verscharrt. Nie habe ich erfahren, wo die Grabstätte sich befinde. Keinen Schmerz fühlen wir, wir gönnen dem fast 86jährigen die Ruhe. In den nächsten Tagen las der Geistliche in der Pfarrkirche die Seelenmesse, der wir beiwohnen konnten.
In jenem Lager Pohrlitz sind beide unsere Augenzeuginnen einer und derselben Person begegnet - der Krankenschwester Schüben. Frau M. v. W. hinterließ uns das folgende Porträt:
In diesem Revier schaltete und waltete eine Schwester namens Schubert. Sie selbst rühmte sich vor Zeugen, dass sie bereits über 2000 Deutschen ins bessere Jenseits verholfen hat und wohl dafür die tschechische Staatsbürgerschaft verdient hätte. Allem Anscheine nach war sie wohl Tschechin von Geburt, aber mit einem Deutschen verehelicht gewesen. Sie hatte viele tschechische Verwandte, denen sie immer wieder Schmuck und Wertsachen, die sie den unglücklichen deutschen Kranken und Sterbenden geraubt hatte, zukommen ließ. Die minderwenigen Schmuckstücke schenkte sie den Partisanen.
Aus dem Bericht von Frau Zatschek spricht hingegen eine andere Erinnerung an jene Schwester Schubert. Sie war damals wegen der lebensgefährlichen Erkrankung ihrer Tochter Annemarie in besondere Bedrängnis geraten:
Eine einzige Lagerschwester gibt es, Frau Schubert- Wenig Mittel, um helfen zu können, stehen ihr zur Verfügung, und zu viel Arbeit lastet auf ihr. Sie gibt mir etwas Tierkohle, doch hält sie Annemaries Zustand für hoffnungslos. Mein Entsetzen wir unbeschreiblich. Dringend bitte ich sie um irgendeine Hilfe, doch nichts kann sie mir geben, was mein Kind retten könnte.
Frau Zatschek bestach schließlich den Lagerleiter mit Zigaretten und konnte abends heimlich in der Apotheke des Ortes für ihre Tochter die rettende Medizin bekommen. Bald danach bekamen Frauen mit kranken Kindern die Erlaubnis, das Lager zu verlassen und im On zu wohnen, und damit verlor Frau Zatschek auch die Krankenschwester Schuhen aus den Augen.
Anhand solcher Erinnerungen können wir uns kein Urteil darüber bilden, wer die Krankenschwester Schüben war und wie sie sich wann verhielt, aber wir werden vor naiver Gutgläubigkeit gewarnt, zumal die beiden Augenzeuginnen häufig unterschiedliche Erinnerungsbilder bieten.
Beide lassen uns beispielsweise wissen, dass in diesem Lager schlimme Vergewaltigungen vorkamen, beide weisen darauf hin, dass die verbrecherischen Handlungen von russischen Soldaten zu verantworten gewesen seien, und dennoch gewinnen wir zwei voneinander abweichende Bilder jener Situation. Frau M. v. W. gab Folgendes zu Protokoll:
Nacht für Nacht wurden alle Frauen, die kranken, die alten und auch 70-jIhrigen Frauen vergewaltigt. Und zwar wurden von den Partisanen die Soldaten hereingelassen und die Frauen kamen jede Nacht zwei- oder mehrmals an die Reihe. Ich konnte beobachten, wie ein Soldat ein zartes 11-jähriges Mädchen missbrauchen wollte, wobei sich die entsetzte Mutter mit übermenschlichen Kräften dagegen wehrte und sich dem Soldaten selbst anbei, um das Kind zu retten. Die Mutter wurde von dem Soldaten blutig geschlagen, trotzdem aber ließ sie das Kind nicht frei. Mein eigenes Dazwischentreten erfolgte in dem Momente, als der Soldat mit der Pistole die Frau bedrohte. Da ich gebrochen russisch sprach, konnte ich dem Soldaten Vorwürfe machen, so dass er schließlich von dem Kinde ließ.
Frau Zatscheks Aussagen bieten ein Bild, das nicht weniger erschütternd ist, aber doch grundlegend anders:
Nach einigen Tagen begannen die Russen, uns Frauen aufzulauern. Nachts stürzten sie ins Lager. Wir honen Schreie und Schießen und Angstgeschrei aus einer anderen Baracke. Mir zog sich das Herz zusammen. Die Russen überrannten die tschechischen Lagerwachen Viel Böses geschah in dieser Nacht. Die alten Männer, die den Frauen helfen wollten, wurden niedergeschlagen. Annemarie legte unsere Polster über mich. Wiewohl ich glaubte, ersticken zu müssen, war ich dadurch geschützt. Eine junge Frau bekam einen Blutsturz und starb am Morgen. In der nächsten Nacht waren die Wachen verstärkt worden. Die Russen mussten sich zurückziehen.
Die beiden Augenzeuginnen haben uns unterschiedliche Berichte von ein und demselben historischen Ereignis hinterlassen, weil sie sich an die Erfahrungen, die sie teilten, unterschiedlich erinnerten. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Zeugenaussagen erfordert, dass wir solche Unterschiede beachten, ehe wir, wie etwa Peter Glotz im Jahre 2003, Augenzeugenberichte als wahre historische Aussagen präsentieren. Warum Glotz die Aussagen von Frau M. v. W. ausführlich zitierte und die von Frau Zatschek unberücksichtigt ließ, hat er nicht erklärt.” Wir können nur darüber spekulieren, ob es sich in diesem Fall um Oberflächigkeit und Unkenntnis oder um gezielte Manipulation gehandelt haben mag.
Die meisten Augenzeugenberichte bieten unterschiedliche Erinnerungsbilder von der Situation der Deutschen in der Tschechoslowakei des Jahres 1945. Am Beispiel der Erinnerungen zweier Männer, die im Unterschied zu den beiden Frauen das Erinnern an die Vertreibung in der deutschen Öffentlichkeit maßgeblich mitgeprägt haben, können wir uns vor Augen führen, wie breit gefächert die sudetendeutschen Vertreibungserfahrungen waren. Auch diese beiden Männer haben ihre Heimat verloren, aber ihre Erfahrungen ähneln denen der beiden Brünner Frauen in keiner Weise.
Ernst Lehmann (1906-1990), Sohn des bekannten nationalsozialistischen Volks-kundlers Emil Lehmann {1880-1964) und selbst Publizist, verließ mit seiner Familie die Tschechoslowakei zum ersten Mal schon vor dem Münchner Abkommen im Jahre 1938. Damals sollen 230000 Sudetendeutsche ins Dritte Reich geflüchtet sein, nachdem ihr Führer Konrad Heulern am 17. September 1938 entsprechend Hitlers Anweisungen das Sudetendeutsche Freikorps gegründet und von Deutschland aus zum bewaffneten Kampf gegen die demokratische Tschechoslowakei aufgerufen hatte. Jene Septembertage 1938 zehnen mit ihrer Ungewissheit über den Ausgang an den Nerven. Wer konnte - so auch ich - brachte die Seinen über die Grenze In Sicherheit, erzählte Lehmann nach dem Krieg. Mit der deutschen Besatzungsarmee kenne er zurück, aber er erlebte auch das Kriegsende nicht in seiner Heimat: Auf einem Fahrrad schlug Ich mich mit den letzten acht Kameraden meiner Einheit zu unserer Kommandantur in Padua durch. Mit dieser gelangte ich nach verlustreichen Kämpfen mit Partisanen über die Alpen und in USA-Gefangenschaft in Bayern.
Über die Situation in der Tschechoslowakei am Ende des Krieges wurde Ernst Lehmann nur vom Hörensagen unterrichtet:
Meine Frau berichtete u. a., dass sie beim Herannahen der Russen mit den Kindern Reichenberg [Liberec] verließ und zu ihrer Mutter nach Teplitz-Schönau [Teplice] fuhr. Aber auch dorthin kamen die Russen sehr bald. Als bekanntgegeben wurde, dass derjenige, der an einem Stichtag seine Wohnung nicht bewohnt, ihrer verlustig erklärt würde, kehrte sie mit der zwölfjährigen Tochter nach endloser und menschenunwürdiger Fahrt in einem überfüllten Viehwagen nach Reichenberg zurück. Don fand sie die Wohnung mit russischen Soldaten belegt. Es gelang ihr aber, sie freizubekommen. Dafür musste sie die nächtlichen Besuche dieser Soldaten in Kauf nehmen, die sich aber tadellos aufführten und nur kleine Wünsche äußerten in Bezug auf Kleidungsinstandhaltung oder Verpflegung. Recht oft fiel von den kin-derlieben Soldaten sogar etwas von ihren Lebensmitteln für die Tochter ab. Eines Tages verlangte bewaffnete Soldateska Einlass. Nach einer gründlichen Hausdurchsuchung, vor allem der Bücher, (es war bereits die a. Hausdurchsuchung durch Tschechen) wollte man meine Frau ohne weitere Erklärung als Geisel für mich festnehmen. Aus tschechisch geführten Gesprächen entnahm sie schließlich, dass eine Partei im Hause mich als SS-Angehörigen denunziert hatte. Nun war es ihr leicht möglich, mit Hilfe von Lichtbildern, der Feldpost-Nr. und von Feldpostbriefen diese Anschuldigungen als haltlos zurückzuweisen.
Wegen des in Teplltz krank zurückgelassenen zweijährigen Sohnes kehrte sie kurz darauf wieder nach dort zurück. In Teplitz nicht als wohnhaft gemeldet, wurde sie bald mit den Kindern, dem Kinderwagen und einem Handwagen mit zwei großen Koffern gemeinsam mit vielen anderen Leidensgenossen nach Zinnwald transportiert und dort den Russen übergeben, d. h. sie wurde ohne Geld, Lebensmittelkarten oder Aufenthaltsgenehmigung und ohne einen Rat für die Zukunft in das Nichts entlassen.
Ernst Lehmann traf bald nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft seine Familie, fand zunächst in Mittelfranken Unterkunft bei einer Bauernfamilie und erhielt eine Anstellung als Lehrer. Don suchte er den Anschluss an seine neue Umwelt. Wie er berichtet, fand er bald eine Zukunftsvision: Auch erste Kontakte zu Schicksalsgefährten ergaben sich und die Kenntnisnahme von Botschaften von Pater Reichenberger aus den USA und von Wenzel Jaksch aus London, die eine baldige Rückkehr in die Heimat verhießen. Bald konnte er durch Aufklärung über sudetendeutsche Verhältnisse sogar manchen Landsleuten zur Anstellung im Schuldienst verhelfen und im Kreis namhafter sudetendeutscherund ostdeut-scher Kulturpolitiker um die Bewältigung des Unfassbaren ringen. Die Bibliographie seiner In der Bundesrepublik veröffentlichten Schriften und der von ihm redigierten Zeitschriften ist lang, und auch um Neuauflagen alter Bücher völkischer Autoren hat er sich verdient gemacht, weil er deren Tradition besonders schätzte. Von einer Suche nach Informationen zur Geschichte der Vertreibung finden sich darin keine Spuren.
Zu seinem wichtigsten Betätigungsfeld wurde die so genannte Ostkunde, die Informationen über die Vertreibung sowie über den deutschen Osten im Schulunterricht verbreiten sollte Ernst Lehmann konnte zwar über die Vertreibung nicht aus eigener Erfahrung berichten, fand aber dennoch als Zeitzeuge großes Gehör. Sein 1964 formuliertes Bild der Vertreibung gewann bei n2chkommenden Generationen so sehr an Popularität, dass sich seine Zeilen wie ein Spiegelbild der heute gängigen Vorstellungen von der Vertreibung lesen:
Der Einbruch der Sowjetarmee nach Ostmitteleuropa und Ostdeutschland und die Neubildung der von den Deutschen besetzten Staaten loste einen Erdrutsch aus, der mehr als 17 Millionen Menschen deutscher Zunge um die angestammte Heimat, den ererbten oder erworbenen Besitz, um Beruf, Ansehen, Ehre und Menschenwürde brachte und in Freiwild jeglicher Haßorgien verwandelte, sofern sie sich nicht durch die Flucht nach Restdeutschland dem Zugriff der neu en Machthaber entzogen. Mindestens 2,5 Millionen fielen den Unmenschlichkeiten der Vertreibung zum Opfer, 2 Millionen wurden als Facharbeiter in den Vertreibungsgebieten zurückbehalten, etwa 800000 Deutsche wurden in die Sowjetunion als Zwangsarbeiter verschleppt.
Die Ostkunde, das neue Fach in bundesdeutschen Schulen, habe alte Wurzeln, hob Lehmann immer wieder hervor. Sie
reichen zurück in die vielseitigen Bemühungen noch vor dem ersten Weltkrieg, dem Deutschtum in aller Welt im Unterricht Geltung zu verschaffen, sodann in die Volksschutzarbeit, die u. a. vom VDA [Verein für das Deutschtum im Ausland] und der hündischen Jugend getragen wurde und den Blick insbesondere für die Volksinseln im Osten schärfte.'
Diesen Traditionen entsprechend engagierte sich Lehmann auf dem rechten Rind der Vertriebenenpolitik:
Neben der Landsmannschaft gehöre ich wohl seit Gründung dem Witikobund an, einer der drei sudetendeutschen Gesinnungsgemeinschaften, die vor allem den völkischen Kreis der Jugendbewegung umfasst und durch die Witiko-Briefe und den Politischen Zeitspiegel gut über die Zeitlage orientiert.
Ernst Lehmann repräsentiert eine Drehscheibe der Zeiten, die am Erinnern an die Vertreibung als ihrem Mittelpunkt fixiert ist: Sein Status als Vertriebener verhilf ihm dank der besonderen Kulturförderung für Vertriebene jene Traditionen zu pflegen, die nach dem Zweiten Weltkrieg eher einer tiefgreifenden kritischen Aufarbeitung als der weiteren unkritischen Pflege bedurft hätten. Lehmann konnte mit staatlicher Unterstützung zum Fortleben der völkischen Traditionen der Vorkriegszeit als ostdeutsches Kulturerbe beitragen und bemühte sich, sie in die Lehrerausbildung und in die Schulklassen der sich rasch modernisierenden Bundesrepublik einzubringen. Als Rechtfertigung galt der Hinweis, dass die westdeutschen Unkenntnisse und falschen Vorstellungen über die deutschen Ostgebiete überwunden und der Weg zu einer Bildung eines neuen Volkes aus West- und Ostdeutschen als Folge der Eingliederung der Vertriebenen frei gemacht werden sollten. Politisch engagierte sich Ernst Lehmann in den Vertriebenenorganisationen, in denen der Witikobund ebenso beliebt war wie im rechts extremen Segment des bundesdeutschen politischen Spektrums. In der Öffentlichkeit wurden solche Verbindungen zwischen dem Fortleben unrühmlicher völkischer Traditionen, der Vertriebenenpolitik und dem Rechtsextremismus immer wieder kritisiert, und die Ostkunde setzte sich bundesweit als neues Schulfach nicht durch. Dennoch machen sich im Erinnern an die Vertreibung die Veröffentlichungen einstiger Ostkundler wie Ernst Lehmann nachhaltiger bemerkbar als die persönlichen Erinnerungen jener Menschen, die von den Kriegs- und Umsiedlungsfolgen unmittelbar weit schwerer betroffen waren als er.
Ein anderer bekannter Vertriebenenfunktionär, Walter Becher (1912-2005), wurde zu einem erfolgreichen Politiker. Auch er nahm schon 1938 als Angehöriger des Sudetendeutschen Freikorps von München aus am bewaffneten Kampf gegen die Tschechoslowakei teil, wurde 1939 mehrere Monate im Zusammenhang mit dem damals geltenden Homosexualitäts-Strafparagraphen von der Gestapo in Dresden inhaftiert, diente 1940-45 in der Wehrmacht und wirkte von 1968 bis 1982 als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Auch er stilisierte sich gern als Augen- und Zeitzeuge, seine veröffentlichten Memoiren tragen sogar den Titel Zeitzeuge. Darin berichtete er über seine Erfahrungen während des Kriegs, während der Vertreibung sowie danach in der Bundesrepublik. Seine Erinnerungen eröffnen erstaunliche Einblicke in die Art und Weise, wie ein namhafter Vertriebenenpolitiker mit Informationen umgeht.
So berichtet Becher über seinen Verteidigungskampf gegen den Warschauer Aufstand, als er dort als Wehrmachtssoldat eingesetzt war, Folgendes:
Am I. August 1944 brach in Warschau der Aufstand der polnischen Untergrund- arm aus. Wir wehrten uns, dorthin verlegt, so gut es ging am Erlöserplatz gegen die aus allen Winkeln losballernden Gewehrsalven. Eine nahegelegene Kirche nahm Gefallene und Verwundete von beiden Seiten auf. Sie wurde unser Schutzwall, bis wir nach dem Ab flauen der Kämpfe anderntags die hinter uns brennende Hauptstadt in Richtung Süden verließen."
Walter Bechers Bericht aus dem Jahre 1990 vermittelt einen falschen Eindruck über jenen Aufstand, in dem innerhalb von 63 Tagen über 150000 Menschen getötet und die Reste der polnischen Hauptstadt durch jene Besetzungsmacht, in deren Diensten Becher stand, systematisch dem Erdboden gleichgemacht wurden. Bechers Aussagen werfen nicht nur ein Licht auf die mangelnde Präzision im Umgang mit Tatsachen, sondern auch auf seinen Umgang mit persönlichen Erinnerungen. Darüber hinaus scheint er auch nichts davon zur Kenntnis genommen zu haben, was die historische Forschung seit Ende des Krieges aufgearbeitet hat.
Als Walter Becher auf seiner Flucht aus Warschau im westböhmischen Egerland eintraf, will er Hunderte fliehender Menschen gesehen haben, darunter abrüstende Soldaten, Mütter mit Kindern an der Hand und im Rucksack. Gestalten, an deren Leibern letzte erhaltene Habe hing, Figuren, die sich in den Schutz der Nacht begaben und nur einem Ziele zustrebten: der rettenden Grenze im Westen. Er kehrte in seine Heimat in Karlsbad zurück, obwohl er Gerüchte über schwere Misshandlungen von Deutschen in jener Stadt gehört haben will. Von dort aus unternahm er mehrere Reisen zwischen der Tschechoslowakei und Bayern: Wahrscheinlich war es das Bestreben, die Kunde von diesem Geschehen nach dem Westen zu bringen, das mich veranlasste, dreimal die Fahrt nach Bayern anzutreten, dreimal wieder zurückzukehren und dann erst die Heimat endgültig zu verlassen. Über eine dieser Reisen berichtet er in seinen Memoiren Folgendes:
Am Rückweg fuhr ich, sott den Steig durch die Waldungen zu benützen, auf der offenen Straße von Ober- nach Untersandau [Horni bzw. Dalni Zandov] direkt in die Arme eines tschechischen Feldwebels. Er kam auf einem Motorrad dahergebraust, verlangte meinen Ausweis und sin mich prüfend an. Ich zeigte ihm den Entlassungsschein [...] und fragte Ihn geradeheraus, was er meine: ob ich mit dem Fahrrad oder besser mit der Eisenbahn nach Karlovy Vary (Karlsbad) fahren solle. Ich zappelte an dem seidenen Faden zweier Schrecksekunden-in solchen Augenblicken steht die Weltenuhr still bis er schließlich sagte: No, jedete s kolem! (Fahren Sie mit dem Rad!) Er entließ mich mit einer lässigen Handbewegung, gab Gis und fuhr bergwärts zu den Posten.
Im Herbst 1945 beschloss Walter Becher, sich in Bayern niederzulassen: Auf der Suche nach einer neuen Heimat war Ich dann, ein Vierteljahr voller Kreuzfahrten und Irrungen durcheilend, Mitte Oktober 1945 endgültig in München angekommen. Seine eigenen Erfahrungen in der Tschechoslowakei entsprachen nicht jenen Berichten, die er als Vertriebenenpolitiker in der Bundesrepublik lebenslang für die Rechtfertigung seines politischen Tuns hielt.
Von Gräueln will Walter Becher, eigenen Aussagen zufolge, erst in München erfahren haben:
Als wir in München die Kunde von den strangulierten Soldaten vernahmen, die man an den Kandelabern des Wenzelsplatzes mit den Füßen nach oben wie Fackeln verbrannte schenkten wir dieser und ähnlichen Meldungen keinen Glauben. Erst als uns im 27. 12. 1945 ein Erlebniszeuge schilderte, wie er selbst mit anderen Internierten gezwungen wurde, die verkohlten Leichen abzunehmen und obendrein noch auf den Mund zu küssen, ahnten wir, dass sich Schreckliches vollzog. Der Hussitensturm setzte sich von Prag in die böhmische Provinz, von dort in das mährische und schlesische Sudetenland, aber auch nach dem Westen in die amerikanisch besetzte Zone fort.
Walter Becher prüfte den Bericht seines Gewährmannes nicht nach, zumal er schon vor diesem Offenbarungserlebnis, nämlich im November 1945, gegen die Mauer des Schweigens zu kämpfen beginn. Damals legte er die erste Sammlung von Berichten an:
Da wir weder private noch staatliche Mittel zur Verfügung hatten, regte ich die Durchführung einer Volksgruppenabgabe an, die wir unter dem Leitwert Gegen die Mauer des Schweigens in die Wege leiteten. Ihr Verlauf wurde ein erst es großes Gemeinschaftserlebnis. Tausende angesprochene Frauen und Männer verkauften Bausteine und 20-Pfenmg-Klebemarken, die uns am Ende den damals stattlichen Betrag von 201000 DM erbrachten. Bereits 1951 ermöglichte dies den Druck der Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen sowie mit ihrem ebenso großen Erlös die effektive Arbeit sudetendeutscher Zentralstellen.
Auf diese Weise wurde Walter Becher zum erfolgreichen Vertriebenenpolitiker. Die Vertreibung der Sudetendeutschen präsentierte er als Hussitensturm oder Holocaust auf offener Straße und behauptete, der tschechoslowakische Präsident Edvard Benes sei Hauptschuldiger neben Stalin und Hitler. In der Bundesrepublik hat, soweit bekannt, bis heute niemand danach gefragt, ob Bechers Berichte üb er die Vertreibung nicht ähnlich irreführend sind wie sein Augenzeugenbericht über den Warschauer Aufstand 1944.
Seine politischen Erfolge brachten Becher bis an die Spitze einer denkbaren Karriereleiter für Angehörige seiner Zunft, aber er war dennoch am Lebensende unzufrieden. Die vertriebenen Frauen, Kinder und Greise
wurden nach dem heulenden Elend der Vertreibung nicht von einem gesicherten Sozialsystem, sondern von dem Chaos eines zerfallenen Staates empfangen und der gezielten Entwurzelung preisgegeben. [...] Die hohe Politik der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere jene, die von Willy Brandt, Walter Scheel, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher zu verantworten ist, beruht auf einer ebenso brutalen wie kaltherzig durchgeführten Opferung der Heimatrechte der deutschen Vertriebenen.
Wenn wir danach fragen, was die vier soeben vorgesteilten Augen- und Zeitzeugenberichte über die Vertreibung aus der Tschechoslowakei aussagen, dann begreifen wir rasch, welche Vorsicht im Umgang mit Erinnerungen als Informationsquelle geboten ist. Hier begegnen wir einem unsachlich emotionalen Bericht einer namentlich nicht bekannten Frau, dort einem Unterzeichneten und informativen Bericht einer zweiten Augenzeugin, und keine der beiden Frauen konnte uns vermitteln. dass es sich um ein außerordentliches Ereignis gehandelt hat. Zugleich haben wir die Beispiele zweier Männer kennengelernt, die das Erinnern an die Verneinung weit mehr als die beiden Frauen prägten, ohne dass sie über persönliche Erfahrungen von Misshandlung und Vertreibung berichten konnten. Anhand der Zeugnisse dieser vier Personen können wir überhaupt nicht beurteilen, wie viele Vertriebene welche Erfahrungen gemacht haben, und erst recht können wir uns kein Bild über die Lebensverhältnisse der Deutschen in der Tschechoslowakei am Kriegsende oder gar über die Ursachen und Verantwortlichkeiten für damalige etwaige kriminelle Handlungen machen. Die Frage, wie repräsentativ wessen Erinnerungen sind, kann jedoch von seriösen Historikern nicht leichtfertig übergangen werden, wenn wir die Lebenserfahrungen der Vertriebenen kennenlernen und die Folgen der bisher gängigen Manipulationen mit Zeugenberichten überwinden möchten. Schon heute liegen diesbezüglich wertvolle Hinweise vor.
Wie repräsentativ sind wessen Erinnerungen?
Frauen. Kinder und alte Menschen gehörten zweifellos zu denjenigen, die an den Folgen des Krieges schwer zu leiden hatten, während es vor allem Männer waren, die die Entscheidungen trafen und deshalb die politische Verantwortung für jene Entwicklungen mittrugen, die zur Vertreibung führten. Die Biographien der Männer können daher oft mehr zum Erinnern an die Vertreibung und zur Klärung ihrer Ursachen beitragen als die der Frauen, und auch Männer machten 1945 in der Tschechoslowakei unterschiedliche Erfahrungen.
Zwischen Mai 1945 und Ende 1948 wurden von den tschechoslowakischen Sondergerichten 33463 Personen - vorwiegend Männer - verurteilt, von denen rund 50% Deutsche waren. Von den 713 Todesurteilen wurden 475 gegen Deutsche ausgesprochen; das war mehr als die Hälfte, aber eine beachtliche Zahl der zum Tode Verurteilten waren Tschechen. Auch diese Zahlen weisen darauf hin, dass die Tätigkeit der neuen Justiz- und Verwaltungsbehörden in der Nachkriegstschechoslowakei keineswegs auf die Aufzählung antideutscher Maßnahmen reduziert werden kann, wie es in der Vertreibungsliteratur üblicherweise geschieht. Die Auseinandersetzung der tschechischen Politik mit der Vorgeschichte und der Geschichte des Krieges beruhte damals nicht auf einer ethnisch oder rassisch begründeten Vorstellung, wonach sich alle Deutschen gleichermaßen schuldig gemacht hätten und die Schuldigen allein unter den Deutschen zu suchen gewesen seien oder alle Deutschen gleich behandelt werden sollten. Die nach Kriegsende erhobenen Vorwürfe richteten sich gleichermaßen gegen alle Staatsbürger der 1938 zerschlagenen Tschechoslowakei, die sich diesem Staat gegenüber illoyal verhalten hatten, unabhängig von ihrer ethnischen, politischen oder religiösen Zugehörigkeit.
Obwohl das entscheidende Merkmal nicht die Nationalität, sondern die Staatsloyalität war, waren von den damaligen Formen der tschechoslowakischen Vergangenheitsbewältigung zwar nicht nur Deutsche und Ungarn, aber vor allem Deutsche und Ungarn und zugleich die meisten von ihnen betroffen. Große Bedeutung kam aus der Sicht der Staatsräson der Tatsache zu, dass die meisten Deutschen und die meisten Ungarn 1935-1938 solche politischen Parteien unterstützt hatten, die an der Zerschlagung des Staates beteiligt gewesen waren. Darüber hin aus hatten sie ihre tschechoslowakische Staatsangehörigkeit freiwillig oder unfreiwillig aufgegeben und die deutsche bzw. ungarische erworben. Deshalb stellten sie zwei mit dem Kriterium der Nationalität umschriebene Gruppen dar. gegen die sich die Verfolgung wegen staatsverräterischer Handlungen richtete. Hatten sich Menschen deutscher bzw. ungarischer Nationalität während des Krieges offen oder durch ihr politisches Handeln zur tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit bekannt, wurden sie anders behandelt. Auch einige Gegner des NS-Regimes, dessen Opfer und Widerstandskämpfer deutscher oder ungarischer Nationalität erlitten nach dem Krieg in der Tschechoslowakei Misshandlungen, aber ihre Erfahrungen unterscheiden sich dennoch beträchtlich von denen ehemaliger NS-Anhänger.
Um die vielfältigen Erfahrungen politisch verantwortlicher Männer unter den Deutschen in der Tschechoslowakei zu erforschen, liegt in Gestalt eines 1991 in Kopenhagen erschienenen biographischen Nachschlagewerks eine bemerkenswerte Quelle vor. Obwohl es in deutscher Sprache geschrieben ist und die Geschichte der deutschen Minderheiten im östlichen Europa behandelt, find das Werk bisher kaum Eingang in das Erinnern an die Vertreibung. Es trägt den Titel Von Reval bis Bukarest. Statistisch-biographisches Handbuch der Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1919-1945. Der dänische Historiker Mads Ole Balling unternahm gründliche Archivrecherchen, weshalb sein Werk eine wahre Fundgrube für jeden ist, der sich mit der Geschichte der Vertriebenen beschäftigen möchte. Es informiert darüber, wer die politischen Repräsentanten der deutschen Minderheiten im östlichen Europa waren und liefert Auskünfte über etliche spätere Vertriebenenpolitiker. Damit vermittelt es auch wertvolle Einblicke in die Schicksale jener Männer, deren Erfahrungen im Mythos Vertreibung meist nicht einmal erwähnt werden.
Die in der Tschechoslowakei am 19. und 26. Mai 1935 gewählten 110 deutschen Abgeordneten und Senatoren, gemeinsam als Parlamentarier bezeichnet, bilden eine politisch repräsentative Gruppe. Es handelt sich um die Setzten freien Wahlen, in denen die späteren Vertriebenen ihre Stimmen den Parteien und Politikern ihrer Wahl unbehindert geben konnten. Die Wahlbeteiligung war mit 92,8 % sehr hoch-, und die Gewählten repräsentierten rund 95% der deutschen Wähler; fünf Prozent der Deutschen wählten entweder tschechische Parteien, die multiethnisch verfassten jüdischen Parteien oder die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, die ebenfalls nicht nach ethnischen Gesichtspunkten organisiert war, da sie der Nationalität ihrer Mitglieder keine große Bedeutung beimaß.
Die hier relevanten Egebnisse lassen sich mit Angaben über vier Parteien zusammenfassen: Die Sudetendeutsche Partei gewann ca. 67 %, die Deutsche Sozialde-mokratische Arbeiterpartei ca. 16 %, die Christlichsoziale Volkspartei ca. 7 % und der Bund der Landwirte ca. 6 % der deutschen Wahlstimmen. Da sich die beiden zuletzt genannten Parteien im März 1938 der Sudetendeutschen Partei anschlossen und diese wiederum im Herbst 1938 in der NSDAP aufging, bedeuten die oben genannten Wahlergebnisse von 1935, dass zur Zeit der Zerschlagung der Tschechoslowakei nur die Sozialdemokratische Partei mit ihren rund 300000 Wählern eine zahlenmäßig ins Gewicht fallende Opposition gegen das NS-Regime repräsentierte-zusammen mit den oben erwähnten weiteren kleinen Gruppen deutscher Wähler anderer Parteien. Damit dürften rund vier Fünftel der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei am Vorabend des Zweiten Weltkriegs die mit dem Nationalsozialismus alliierten Parteien und rund ein Fünftel Parteien der NS- Gegner gewählt haben. Wer waren nun die 110 frei gewählten Personen und wie haben sie den Krieg und die Vertreibung erlebt?
Die meisten der deutschen Parlamentarier waren zwischen 1880 und 1900 geboren worden. Der älteste unter ihnen war Karl Anton Edmund Hilgenreiner, Dr. phil. et Dr. theol., am 23.2. 1867 in Friedberg/Hessen geboren und seit 1898 Professor für Kirchenrecht an der Prager deutschen Universität. Politisch arbeitete er eng mit seinem sechs Jahre jüngeren Universitätskollegen, dem aus Aspern bei Wien stammenden Roben Mayr-Harting, zusammen, der in den Jahren 1926-1929 Justizminister der tschechoslowakischen Regierung gewesen war. Obwohl beide Politiker fest in den Strukturendes tschechoslowakischen Staates verankert waren, schlossen auch sie steh 1938 der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins an, die in Hitlers Auftrag die Zerstörung des Staates betrieb. Beide traten anschließend auch der NSDAP bei. Hilgenreiner hielt sich ansonsten vom NS-Regime fern und wurde 1944 in einem Gestapogefängnis und 1945 vorübergehend in einem tschechischen Arbeitslager inhaftiert. Danach ging er nach Österreich, wo er 1948 starb. Sein Kollege Mayr-Harting blieb nach Kriegsende in Prag, wurde dort vom damaligen Präsidenten Edvard Benes persönlich unterstützt und starb 1948 in Prag.
Diese beiden Biographien passen in kein gängiges Bild von sudetendeutschen Lebensläufen. Weder handelt es sich um fanatische Nationalsozialisten noch um naiv-nichtsahnende Sudetendeutsche. Sie passen auch nicht in das gängige Bild der Nachkriegstschechoslowakei als eines wild gewordenen Landes, in dem die Deutschen blind aufgrund antideutscher Hass- oder Rachegefühle verfolgt worden wären, nur weil sie Deutsche waren. Es handelt sich um keine Ausnahmen unter den älteren deutschen Parlamentariern: Franz Spina, 1868 im ostböhmischen Städtchen Markt Tümau/Mestecko Trnavka geboren und zweisprachig aufgewachsen, war ein seit 1917 als Universitätsprofessor tätiger Slawist und gehörte dem Bund der Landwirte an. 1920 bis 1938 vertrat er diese Partei im Prager Parlament, 1926 bis 1929 als Minister für öffentliche Arbeiten und 1929 bis 1935 als Gesundheitsminister sowie 1935 bis 1938 als Minister ohne Geschäftsbereich in der tschechoslowakischen Regierung. Anders als seine beiden oben erwähnten Kollegen legte Spina sein Mandat nieder, als seine Partei im März 1938 mit Henleins Sudetendeutscher Partei fusionierte. Wenige Monate später starb er. Zu den ältesten Parlamentariern zählte auch Ludwig Czech. Er wurde 1870 im heute ukrainischen Lwiw/ Lemberg geboren, war schon in der Habsburgermonarchie ein bekannter Sozialdemokrat und wirkte 1921 bis 1938 als Vorsitzender der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei. Zwischen 1920 und 1925 war er Vizepräsident des Prager Abgeordnetenhauses und gehörte 1929 bis 1934 als Minister für soziale Fürsorge, 1934 bis 1935 als Arbeitsminister und 1935 bis 1938 als Gesundheitsminister der tschechoslowakischen Regierung an. Im März 1938 wurde er durch den späteren Vertriebenenpolitiker Wenzel Jaksch aus seinem Amt als Parte ¡Vorsitzender, Fraktionsvorsitzender und Mitglied des Parteivorstands verdrängt und ist 1942 als Jude in Theresienstadt umgekommen.
Die Gruppe der ältesten. 1935 gewählten deutschen Parlamentarier bestand aus Politikern, die die in einer demokratischen Gesellschaft üblichen Formen deutschtschechischer politischer Zusammenarbeit praktizierten. Für das Erinnern an die Vertreibung ist die Tatsache von großer Bedeutung, dass keiner von ihnen später als Vertriebenenpolitiker wirkte. Schon allein ihres Alters wegen wäre es auch falsch, ihre Biographien als repräsentativ für die Vertriebenen zu betrachten.
Ganz anders sehen die Biographien der jüngeren unter den 110 damals frei gewählten deutschen Abgeordneten und Senatoren aus: Die jüngsten von ihnen wurden zwischen 1903 und 1905 geboren. Sie gehörten durchweg der Sudetendeutschen
Panel und ab 1938 der NSDAP in und wirkten in der Regel tatkräftig an der Zerschlagung der Tschechoslowakei mit-also jenes Staates, dem sie als Parlamentarier ihre Loyalität geschworen hatten. Ihre Lebensgeschichten ähneln sich in hohem Maße und führen in vielen Fällen in die spätere Bundesrepublik.
Der 1905 in Karlsbad geborene Rudolf Sandner wurde 1935 erstmals ins Parlament gewählt und war 1936 bis 1938 Propagandachef der Sudetendeutschen Partei. Er flüchtete im September 1938 nach Deutschland, um sich als Leiter der Dienststelle Waldsassen des Nachrichtendienstes des Sudetendeutschen Freikorps am Kampf der paramilitärischen Einheiten Hitlers im tschechoslowakischen Grenzgebiet gegen die Republik zu beteiligen. Nach der Zerschlagung und Besetzung des Landes machte Rudolf Sandner Karriere in der SA. als Mitglied des Großdeutschen Reichstages und als Gaupresseamtsleiter Nach dem Krieg wurde er in der Bundesrepublik Vertriebenenpolitiker, unter anderem Vorstandsmitglied des Witikobundes und Bundesorganisationsleiter des Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten. Er starb 1983 im bayerischen Oberstdorf.
Auch der 1904 in Karlsbad geborene Fritz Köllner wurde 1935 für die Sudetendeutsche Partei gewählt und flüchtete im September 1938 nach Deutschland, um von dort aus seinen Kampf gegen die Tschechoslowakei offen aufzunehmen. Er wurde in Breslau Führer der Gruppe Schlesien des Sudetendeutschen Freikorps. Danach war er Gaugeschäftsführer und Gauorganisationsleiter im Reichsgau Sudetenland, SA-Brigadeführer und Mitglied des Großdeutschen Reichstages. Am 23. Januar 1939 wurde er vom Reichsarbeitsminister zum Reichstreuhänder der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Sudetenland, wirkte 1939/40 als stellvertretender Gauleiter und diente danach in der Wehrmacht. Nach Kriegsende wurde er verhaftet und im Februar 1947 in Prag zu 25 Jahren Gefängnis bzw. Zwangsarbeit verurteilt. Nach seiner Amnestierung und Ausweisung 1955 war er als Oberregierungsrat und Referatsleiter im bayerischen Arbeitsministerium tätig und spielte bis zu seinem Tod 1986 in Taufkirchen bei München unter anderem als Vorstandsmitglied des Witikobundes auch weiterhin eine wichtige Rolle im sudetendeutschen politischen Leben.
Auch die fünf im Jahre 1903 geborenen Parlamentarier repräsentierten vor dem Krieg alle die Sudetendeutsche Partei und waren während des Krieges aktive Nationalsozialisten (drei von ihnen gehörten der SS und zwei der SA an). Einer von ihnen wurde seit Mai 1945 in Prag vermisst, einer starb 1948 in Marburg an der Lahn, und drei starben in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik. Einer von ihnen war ein NS-Politiker von überregionaler Bedeutung - der nordböhmische Gymnasialprofessor Ludwig Eichholz, der 1938 als SA-Obersturmbannführer zum Gauamtsleiter und 1939 zum Regierungsdirektor in der Abteilung für kulturelle Angelegenheiten beim Reichsstatthalter in Reichenberg/Liberec avancierte und ab 1942 Leiter bzw. ab 1944 Präsident der Hauptabteilung Wissenschaft und Unterricht in der Regierung des Generalgouvernements in Krakau war. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft wurde Eichholz 1948 Gymnasiallehrer in Höxter an der Weser und 1959 Oberstudienrat und Leiter des Vertriebenen-, Schul- und Kulturamts dieser Stadt. Daneben betätigte er sich als Leiter der dortigen Volkshochschule und der Stadtbücherei sowie ab 1955 als Kreisobmann der Sudetendeutschen Landsmannschaft und Mitglied des Sudetendeutschen Rates. Er starb 1964 in Höxter an der Weser.
Unter den 110 Parlamentariern waren auch 19 Gegner des Nationalsozialismus. Zehn von ihnen emigrierten nach der deutschen Besetzung des Landes, darunter auch die einzige Frau unter den 110 hier betrachteten Politikern, Irene Kirpal. Sie kehrte nach dem Krieg in die Tschechoslowakei zurück, wo sie am 17. Dezember 1977 in Aussig/Usti nad Labem starb. Zwei der Emigranten, Wenzel Jaksch und Rudolf Zischka, starben in der Bundesrepublik, drei belieben bis zu ihrem Lebensende in England, zwei in Schweden und einer in New York. Von den neun NS- Gegnern, die unter der deutschen Besatzung lebten, starben zwei als Opfer der NS-Verfolgung und sieben überlebten das NS-Besatzungsregime; von ihnen starben sechs nach dem Krieg in der Tschechoslowakei, während einer, Franz Macoun, 1947 nach Schweden auswanderte.
Die emigrierten Parlamentarier standen während des Kriegs in Kontakt mit der tschechoslowakischen Exilregierung in London, aber nur vier von ihnen unterstützten deren Bestrebungen, den 1938 zerschlagenen Staat wiederherzustellen. Die anderen sechs emigrierten NS-Gegner schlossen sich dem späteren Vertriebenenpolitiker Wenzel Jaksch an, der 1939 der Forderung nach Wiederherstellung der Tschechoslowakei in den Grenzen vor dem Münchener Abkommen von 1938 seine Unterstützung versagte, nach dem Krieg in der Sudetendeutschen Landsmannschaft mit ehemaligen Nationalsozialisten zusammenarbeitete und, wie wir gesehen haben, die Revision des Potsdamer Abkommens anstrebte. Jaksch wurde vielfach von seinen einstigen Parteikollegen kritisiert, etwa von Rudolf Zischka (r&95-l980)F der 1935 ebenfalls für die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei ins Parlament gewählt worden war. Zischka emigrierte 1938, lebte 1939 bis 1962 in Bolivien und übersiedelte 1962 in die Bundesrepublik- 1964 war er Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger deutscher Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei, der auch zwei weitere emigrierte Parlamentarier angehörten. Sie profilierte sich als eine der bekanntesten Gruppierungen von Kritikern der Vertriebenenpolitik.
Eine weitere besondere Gruppe unter den Parlamentariern bildeten die 12 Angehörigen der schon erwähnten paramilitärischen Organisation Sudetendeutsches Freikorps. Sie flüchteten am Vorabend des Münchener Abkommens, um gegen jenen Staat zu kämpfen, dessen Politik sie bis dahin als Parlamentarier mitbestimmt hatten, kehrten im Dienste des Besatzungsregimes zurück, und bildeten die Gruppe der nach Kriegsende in der Tschechoslowakei am schärfsten Verfolgten, weil sie schon vor dem Krieg mit der Waffe in der Hand gegen den eigenen Staat gekämpft hatten. Einer von ihnen fiel im Krieg an der Front, zwei von ihnen wurden nach Kriegsende in der Tschechoslowakei hingerichtet, einer starb im Prager Gefängnis, bevor ihm der Prozess gemacht wurde; einer wurde im Mai 1945 in Karlsbad erschossen, und sieben habenden Rest ihres Lebens in der Bundesrepublik verbracht.
Einer der beiden in Prag Hingerichteten war der bekannteste sudetendeutsche Politiker, Karl Hermann Frank (1898-1946), der berüchtigte SS-Obergruppenführer und Deutsche Staatsminister für Böhmen und Mähren. Ihm wurde unter wechselnden Reichsprotektoren die eigentliche Verantwortung für die verbrecherische NS-Besatzungspolitik zugeschrieben. Seine Hinrichtung im 22. Mai 1946 in Prag und internationale Belehrung, und der deutschböhmische Publizist Egon Erwin Kisch hielt die Erinnerung daran in seiner Glosse Die letzten Schritte des K. H. Frank fest: Noch im vorigen Jahr, als er Staatsminister des Deutschen Reiches war, Höherer SS-und Polizeiführer und dergleichen über das Protektorat Böhmen und Mähren, wo er unumschränkt regierte, als er Herr über Leben und Tod war und auch reichlich davon Gebrauch machte, als er noch der glanzvolle Tyrann Karl Hermann Frank war, wurden ihm andere Tribünen gebaut. K. H. Franks Bruder Ernst Frank (1900-1982) gehörte später zu den bekannten Sudeten deutschen Verlegern und veröffentlichte mehrere apologetische Bücher über seinen hingerichteten Bruder; noch 1994 ist eine Neuauflage eines solchen Erinnerungsbuches erschienen, wie wir sehen werden.
Insgesamt sind von den 110 Parlamentariern 54 vor und 56 nach 1949 verstorben. Von der ersten Gruppe starben 17 vor 1945 und 14 im Jahre 1945 in der Tschechoslowakei, davon zehn in der Haft, und zwei wurden vermisst. Sechs wurden 1946/47 hingerichtet und weitere zwei starben in der Haft. Ab 1948 vernarben sieben in der Tschechoslowakei, davon einer in Haft, drei ehemalige Parlamentarier starben in der SBZ, drei In Österreich und sechs in Großbritannien bzw. Schweden. Die weitaus größte Gruppe starb in Westdeutschland. Es war keine repräsentative, sondern eine politisch weitgehend homogene Gruppe: 41 der in der Bundesrepublik lebenden vertriebenen Parlamentarier hatten der Sudetendeutschen Partei bzw. der NSDAP angehört, und nur zwei weitere - zwei ehemalige Sozialdemokraten - gehörten vor dem Krieg zu den NS-Gegnern; Wenzel Jaksch und Rudolf Zischka. Wie soeben erwähnt, arbeitete der Erstgenannte in den sudetendeutschen Vertriebenen Organisationen mit, während der zweite, Rudolf Zischka, zu den führenden Kritikern der Landsmannschaft gehörte.
Aus unserer Übersicht geht hervor, dass 90 der 110 frei gewählten Abgeordneten und Senatoren der deutschen Parteien aktiv den Nationalsozialismus unterstützt haben, zumindest als NSDAP-Mitglieder. Damit wurde die deutsche Bevölkerung weitgehend von Politikern repräsentiert, die den Staat, in dem sie lebten und dessen Schicksal sie als Parlamentarier mitbestimmten, verrieten und im Dienste des NS-Regimes offen bekämpften. Anhand dieser Erkenntnis können die Gründe dafür, warum die Ausweisung der deutschen Bevölkerung in der tschechischen Gesellschaft breite Unterstützung find, besser nachvollzogen werden, als wenn wir uns nur an die vertriebenen Frauen, Kinder und alten Menschen erinnern. Unsere Parlamentariergruppe weist auch auf die Gründe hin, warum es während des Zweiten Weltkriegs für die meisten Europäer schwer vorstellbar war. wie sich die von diesen Abgeordneten repräsentierte Bevölkerung nach der Niederlage des Großdeutschen Reiches stärker für das Zusammenleben mit ihren tschechischen und slowakischen Nachbarn in einem gemeinsamen Staat begeistern sollte als zuvor. Eine Fortsetzung der aus der Vorkriegszeit bekannten Probleme entlang der deutschen Ostgrenzen wollte niemand mehr fürchten müssen.
Der Nationalsozialismus war unter den jüngeren politischen Repräsentanten der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei beliebter als unter den älteren; da sich aber die Vertriebenenpolitiker in der Bundesrepublik gerade aus der jüngeren Generation rekrutierten, war der Anteil der ehemaligen NS-Anhänger unter den sudetendeutschen Vertriebenenpolitikern außerordentlich hoch. Dies erklärt, warum im sudetendeutschen Erinnern an die Vertreibung und im politischen Leben insgesamt markante kulturhistorische Kontinuitäten zur NS-Zeit bemerkbar sind und warum die Erinnerungen der NS-Gegner über Jahrzehnte weitgehend verdrängt wurden.
Das sudetendeutsche Erinnern an die Vertreibung wurde nahezu ausschließlich von Männern gestaltet; unter ihnen befanden sich überproportional viele Angehörige der ehemaligen Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins bzw. der NSDAP. Das Erinnern wurde nicht von jenen unschuldigen Frauen, Kindern und alten Menschen geprägt, die als die eigentlichen Opfer der Vertreibung angesehen werden. Jene Männer, die für das politische Handeln der sudetendeutschen völkischen Bewegung und ihre Allianz mit dem Nationalsozialismus verantwortlich waren, trugen nach dem Krieg in hohem Maße die Mitverantwortung für die öffentliche Verbreitung von Legenden, sie schufen das undurchsichtige Zahlenlabyrinth, begründeten die feindselige Rhetorik gegenüber den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, unterstellten den Tschechen, Polen und Russen kollektive Gefühle der Rache und des Hasses und forderten die Revision der Nachkriegsordnung. Sie schürten Unversöhnlichkeit und behinderten eine rational-empirische historische Aufarbeitung der Erinnerungen. Auch unsere Gruppenbiographie der letzten frei gewählten Vertreter der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei zeigt deutlich, dass nicht die Vertriebenen, sondern die Vertriebenenpolitiker für jene Probleme verantwortlich sind, die das Erinnern an die Vertreibung bis heute belasten.
Das umstrittene Erinnern der Vertriebenenorganisationen
Bund und Länder [...] haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung dir Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fordern.
In der Bundesrepublik ist, 'wie wir gesehen haben, aus der Vielfalt von Erfahrungen und Erinnerungen ein in der gesamten Gesellschaft dominantes und strukturell über Generationen gleich gebliebenes Erinnerungsbild hervorgegangen, das als Mythos Vertreibung bezeichnet werden kann.:; Zur Personifizierung dieses Narrativs sind die Vertriebenenorganisationen geworden. Ihr im Jahre 1958 gegründeter Dachverband-Bund der Vertriebenen {BdV)-ist aus jenen Organisationen hervorgegangen, die 1950 die Vertriebenen als die vom Leid jener Zeit am schwersten betroffenen Menschen präsentierten, wie es in der Charta der deutschen Heimatvertriebene heißt- Dies Urteil formulierten die Politiker, bevor Historiker mit ihren Forschungen begonnen hatten, und auch die Ursachen der Vertreibung sollen schon bekannt gewesen sein, wie wir am Beispiel des Festakts der Ostdeutschen Landsmannschaften von 1951 in der Frankfurter Paulskirche gesehen haben: Die Oder-Neiße-Linie sei ein alter politischer Traum Polens gewesen; der tschechische Deutschenhass sei seit Generationen mit täglicher Hetze genährt worden; die Härte der deutschen Verwaltung in Warschau und Prag während des Krieges sei eine unkluge und verantwortungslose Antwort auf jenen Hass gewesen, der schon 1919 zu blutigen Gräueln geführt habe; dieser slawische Hass habe sich unter dem Einfluss bestimmter tschechischer und polnischer Staatsmänner gesteigert, die Stalin, Truman und Attlee die Hand bei der Unterzeichnung des Potsdamer Abkommens von 1945 geführt hätten. All dies versuchen seitdem zahlreiche Vertriebenenpolitiker mit Hilfe unzähliger staatlich geförderter Autoren, Organisationen und Publikationen zu beweisen. Sie fühlen sich als Repräsentanten der Vertriebenen und fanden im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts viel Unterstützung in der deutschen Öffentlichkeit. Zugleich wurden sie stets auch vielfach kritisiert.
Wer glaubt, was die Vertriebenpolitiker über die Vergangenheit erzählen, kommt zu einer naheliegenden Schlussfolgerung: Ihren politischen Forderungen sollte nachgekommen werden, die Vertreibung sollte ähnlich wie die NS-Verbrechen erinnert und entsprechende politische sowie staatsrechtliche Konsequenzen sollten gezogen werden. All das muss in der Nachkriegszeit vielen Deutschen rhetorisch vertraut, plausibel und logisch erschienen sein. Probleme ergaben sich aus dem fehlenden Bezug solcher Erinnerungsbilder zu den als Vertreibung bezeichneten historischen Ereignissen, und so mangelte es auch den Zielvorstellungen der Vertriebenenpolitiker an politischem Wirklichkeitsbezug.
Der Bund der Vertriebenen ist die zentrale politische Plattform der Vertriebenenpolitiker und gilt als politischer Sprecher aller von Heimatlosigkeit Betroffenen: Er ist der einzige repräsentative Verband der rund 15 Millionen Deutschen, die infolge Flucht, Vertreibung und Aussiedlung in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme gefunden haben und noch finden. Die wichtigsten Träger des BdV sind 21 (im Jahre 2008) Landsmannschaften als regionale Vereinigungen von so genannten Landsleuten aus verschiedenen Gebietendes östlichen Europa- Sie wurden nicht als vom Verstände als notwendig erkannte, zur Erreichung eines bestimmten materiellen oder politischen Zweckes geschaffene Organisationen gegründet, sondern als organisatorisch erwachsene Form des Zusammenschlusses von Menschen gleichen Stammes und gleicher Heimat. Deshalb wäre es verfehlt, die Landsmannschaften als Vereinigungen der von der Vertreibung betroffenen Menschen und als politische Organisationen in dem in parlamentarischen Demokratien üblichen Sinn des Wortes zu betrachten.
Die Organisationsform geht auf die völkische Tradition aus der Zwischenkriegszeit zurück, wie wir am Beispiel der schon nach 1918 im Deutschen Reich und Österreich gegründeten sudetendeutschen Heimatvereine gesehen haben. Die Landsmannschaften seien aus der Wirklichkeit der deutschen Stämme des Ostens erwachsen. Ihre Ziele betreffen primär ihre jeweiligen Stammes- bzw. Heimatgebiete und sie verstehen sich nicht als demokratisch legitimierte Interessenverbände der Vertriebenen:
Die Einheit des landsmannschaftlichen Gedankens wird sich daher niemals in einer gleichen, starren Form äußern können, sondern vor allem immer in der gemeinsamen Zielsetzung, der Wiedergewinnung der Heimat und der Pflege des Heimatgedankens im weitesten Sinn dieses Wortes. Es braucht ja. kaum hinzugefügt zu werden, dass diese Pflege des Heimatgedankens ihren stärksten Ausdruck in der kulturellen Arbeit finden muß.11
Zu den Mitgliedern gehörte stets nur ein kleiner Teil der Vertriebenen. Nach Angaben der Landsmannschaften soll der Organisationsgrad der Landsleute 1955 nur 16,4% betragen haben", und im Jahre 1965, bei der letzten Allensbach- Umfrage zum Thema Vertriebene ergab sich: Nur knapp ein Prozent gehörte einer Landsmannschaft an. Genaue Angaben sind nicht bekannt, und das liegt nicht zuletzt an den Unklarheiten darüber, wer überhaupt als Vertriebener zu bezeichnen sei.
Darüber stritten sich sogar führende Vertriebenenpolitiker untereinander; selbst einer der bekanntesten von ihnen, der in Kattowitz geborene einstige Bundesverkehrsminister und Sprecher der Sudetendeutsch en Landsmannschaft, Hans- Christoph Seebohm, musste sich 1950 öffentlich gegen die Vorwürfe eines anderen prominenten Vertriebenenpolitikers, Waldemar Kraft, wehren: Es ist eine Unwahrheit von Herrn Kraft, dass ich erst im Juli 1949 entdeckt habe, dass ich Heimatvertriebener sei. Seebohm erklärte, dass die Landsmannschaften keineswegs nur die von Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen, sondern die Landsleute repräsentierten und dass es nur darauf ankommt, dass die Mitglieder sich als Landsleute bewähren, das Bewusstsein für ihre Heimat pflegen und bereit sind, den friedlichen Kampf um die Rückgewinnung und später den Wiederaufbau ihrer Heimat durchzuführen:
Es gibt viele Landsleute aus den deutschen Ostgebieten, die im Wege ihrer beruflichen Entwicklung oder infolge der Bedrückung durch das nationalsozialistische Regime oder infolge von Schicksalseinflüssen, die mit dem Krieg zusammenhingen, Ihre Heimat vorübergehend verlassen haben oder auch zum Zeitpunkt der Vertreibung sich nicht in ihrer Heimat aufhielten. Diesen deshalb die Berechtigung abzusprechen, sich als Landsmann und Heimatvertriebener zu bezeichnen, halte ich für völlig abwegig.
Mit Sicherheit lässt sich nur sagen. dass sich die Klientel des BdV weder mf die von der Vertreibung betroffenen Menschen beschränkt noch deren Mehrheit repräsentiert.
Die Vertriebenenpolitiker entwickelten mit Hilfe staatlicher Förderung ein beachtliches Netzwerk von Organisationen unterschiedlicher An. Heute behauptet der BdV, er habe zwei Millionen Mitglieder. Diese Zahl kann nicht überprüft werden und ähnelt in erstaunlicher Weise der schon aus den 1950er Jahren bekannten Angabe, der BdV habe zweieinhalb Millionen Mitglieder und über 10000 Ortsverbände. Heute sollen die Mitglieder in den rund 6.000 regionalen Gliederungen und den über 1000 Heimatkreisvereinigungen bzw. Heimatortsgemeinschaften organisiert sein. Dass es sich nicht nur um Vertriebene handelt, ist der Sitzung des BdV zu entnehmen: Die Mitgliedschaft in den Landsmannschaften und Lan-desverbänden ist nicht auf Vertriebene beschränkt; dementsprechend befinden sich unter den Mitgliedern viele Nichtvertriebene. Darüber, wie hoch der Anteil der Letzteren ist, liegen keine Informationen vor, und dementsprechend unklar ist, wie viele Vertriebene überhaupt zu. den Mitgliedern zählen.
Dennoch hat man sich in der Bundesrepublik darin gewöhnt, den BdV als die Repräsentation der von der Vertreibung betroffenen Menschen zu betrachten. Dis ist ein großer politischer Erfolg für die Vertriebenenpolitiker. besonders wenn mm bedenkt, wie wenig sie mildem kulturhistorischen Windel, der die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu einer pluralen, demokratisch selbstbestimmten Öffentlichkeit machte, Schritt zu halten vermochten. Ihren Erfolg verdanken sie vor allem ihrer eigenartigen Stellung in der deutschen Gesellschaft, die sich aus den in der Gründungszeit getroffenen und bis heute nicht revidierten Entscheidungen ergeben hat. Die Vertriebenenpolitiker sind keineswegs nur von ihren eigenen politischen Leistungen abhängig; sie brauchen nicht um Mitglieder zu werben und ihre politischen Anliegen für die Öffentlichkeit verständlich und nachvollziehbar zu machen. Ihre Verbände sind zu einer staatlich geförderten öffentlichen Institution geworden, die von der Aura der Unschuld und eines vermeintlich von den einstigen Kriegsgegnern an der deutschen Nation verübten Unrechts umwoben ist. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass die Träger der Vertriebenenorganisationen stets in konfliktreichen Beziehungen zu zahlreichen Vertriebenen, einem beachtlichen Teil der deutschen Medien sowie allen bisherigen Bundesregierungen standen. Die Vertriebenenorganisationen schufen und repräsentieren ein Milieu, das kulturell und politisch rasch in die Isolation geriet und dennoch bis heute im Symbolgefüge deutscher nationaler Identität hohes Ansehen genießt.
Zu den bemerkenswertesten Folgen dieser Entwicklung gehört die verbreitete Stereotypisierung der Vertriebenen als einer Gruppe deutscher Staatsbürger besonderer An. Die Landsmannschaften, die sich ah ihre Repräsentanten ausgeben, werden entweder als Vereinigungen von Ewiggestrigen angeprangert oder als unverstandene Opfer einer feindseligen Welt verteidigt, meist jedoch einfach ignoriert, und die jeweilige Sicht wird oft gedankenlos auf die Gesamtheit der einstigen Vertriebenen übertragen. Über die Frage, warum eigentlich Organisationen, die sich als Repräsentanten von rund 15 Millionen von schwerem Leid betroffener Menschen präsentieren, in einer modernen demokritischen Gesellschaft zum Objekt endloser Kontroversen geworden sind, wird kaum diskutiert. Deswegen wird Ott übersehen, dass all die verschiedenen Bilder der Vertriebenen eines gemeinsam haben: Die Vertriebenen werden mit dem Etikett einer vermeintlichen kulturellen Eigenart versehen und somit mental aus dem kulturhistorischen Kontext der Bundesrepublik ausgegrenzt, obwohl ihnen von fast allen politischen Parteien stets Sympathiebekundungen entgegengebracht werden.
Diese Stellung der Vertriebenenverbände geht auf die Förderung eines angeblich besonderen ostdeutschen Kulturerbes durch bundesdeutsche Politiker zurück. Letztere schufen damit zwei schwerwiegende kulturpolitische Hürden auf dem Wege zur mentalen Integration der Vertriebenenpolitiker: Erstens trugen sie zur Verfestigung und zur allgemeinen Akzeptanz der Vorstellung bei, dass die Vertriebenenorganisationen eine besondere Kultur sui generis repräsentieren würden, die sich von der ihrer Umwelt unterscheide. Zweitens erklärten sie es zu ihrer Aufgabe, jenes angeblich besondere Kulturgut zu bewahren. So wurde das schon erwähnte Image der Vertriebenen als am schwersten vom Leid der Zeit betroffenen Menschen durch deren Nimbus als einer kulturell eigenständigen und ein wenig absonderlichen Gruppe ergänzt; die Landsmannschaften gelten als Hüter nicht nur des vermeintlich authentischen und daher richtigen Erinnerns an die Vertreibung, sondern auch eines eigentümlichen Kulturguts. Fahnenaufzüge und puppenartig wirkende Trachtenfrauen sind das bekannteste Symbol der Vertriebenenkultur, obwohl sich weder in Schlesien noch in der Tschechoslowakei oder anderswo die Deutschen je anders als andere Europäer gekleidet haben, und such die Vertriebenen auf deutschen Strafen nicht an ihrer Kleidung erkennbar sind. In der Schaffung des Stereotyps der Vertriebenen als einer kulturell von anderen Deutschen abweichenden Gruppe wurden den Vertriebenenpolitikern durch die staatliche Kulturförderung Grundlagen zur Betätigung außerhalb der bundesdeutschen Öffentlichkeit erschaffen, die maßgeblich zum Fortleben jener Tendenz aus der Nachkriegszeit beigetragen haben, die die Vertriebenen als Fremde auszugrenzen pflegte.
Ausgestattet mit dem Image von Repräsentanten der am schwersten betroffenen Kriegsopfer mit besonderer Gruppenkultur sowie mit gesicherten staatlichen Finanzmitteln in beträchtlicher Höhe, brauchten die Vertriebenenpolitiker weder auf die politische und kulturhistorische Vielfalt der Vertriebenen noch auf kritische Summen aus der deutschen Öffentlichkeit Rücksicht zu nehmen. Ihr auf Bewahrung einer vermeintlichen kulturellen Eigenständigkeit gerichtetes Image regte nicht dazu an, sich in die bundesdeutsche Gesellschaft einzufügen und auf abweichende Haltungen als selbstverständliche Bestandteile einer freien demokratischen Diskussionskultur zu reagieren. Das ist der Grund, warum die Vertriebenenverbände seit Generationen wiederholen und fordern, was ihre Mitglieder schon in der Gründungszeit glaubten und forderten, als wäre das Festhalten an den Erinne-rungsbildern und Zielvorstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit lobenswert. In einer Gesellschaft, in der die Vergangenheitsbewältigung im Sinne einer Loslösung von kulturhistorischen und mentalen Kontinuitäten zugunsten der Zuwendung zu freiheitlich-demokratischen Wertvorstellungen und Praktiken rasche Fonschritte machte, konnten Kontroversen um die Pflege des in den 1930er und 1940er Jahren noch populären völkischen Kulturerbes und die diesem Erbe verpflichteten Vertriebenenorganisationen nicht ausbleiben, auch wenn ihr Anspruch, für alle Vertriebenen in der Bundesrepublik zu sprechen und zu handeln, sehen in Frage gestellt worden ist.
Das Bundesvertriebenengesetz (Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, BVFG) aus dem Jahre 1953 sichert im Paragraphen 96 die Grundfinanzierung der Kulturpflege der Vertriebenen und damit wohl auch der Pflege des Erinnerns an die Vertreibung aus den öffentlichen Haushaken, darunter auch dem Bundeshaushalt. Die Geschichte der Vertreibung wird darin zwar nicht direkt als ein Themen- oder Aufgabenbereich genannt, dürfte aber unter die Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung ergeben, fallen:
Bund und Länder haben entsprechend ihrer durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten sowie Einrichtungen des Kulturschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern.
In welcher Höhe die Kulturförderung erfolgt, lässt sich ebenso wenig feststellen wie die Zahl der Vertriebenen, denen sie jeweils zu Gute kommt. Es handelt sich jedoch um beachtliche Summen. Im Jahre 1998 soll allein die vom Bund aufgewendete Summe ca. 23,6 Millionen Euro betragen haben; unter der rot-grünen Regierung soll sie gekürzt, von der darauf folgenden Regierung der Großen Koalition wieder angehoben und im Jahre 2009 ca. 17,8 Millionen Euro erreicht haben. Insgesamt ist es schwierig, sich eine Vorstellung von der Höhe und Verwendung der Fördermittel zu verschaffen, denn auch hier treffen wir auf ein verwirrendes Zahlenlabyrinth. Die in der Öffentlichkeit genannten Zahlen sind recht unter-schiedlich. zumal die Vertriebenenverbände aus verschiedenen Bundes- und Lan-desministerien unterstützt werden. Viele Kultureinrichtungen, die der Kulturförderung nach §, 96 BVFG dienen, bestehen zugleich als eigenständige Rechtsträger, die zwar formell, aber keineswegs faktisch ihre Aufgaben unabhängig von den Vertriebenenverbänden wahrnehmen. Zur Illustration der Schwierigkeiten bei der Suche nach Informationen über die finanziellen Mittel, mit denen die deutschen Steuerzahler das kulturelle Leben der Vertriebenenorganisationen unterstützen, genügen einige wenige Beispiele aus der Fachliteratur.
So schreibt etwa der Historiker Manfred Kittel: Zumindest die finanziellen Zuwendungen für die Kulturarbeit der Vertriebenen wuchsen während der Ära Kohl von 3 Millionen DM (1982) auf über 45 Millionen DM (1998) exponentiell an. Im Handbuch des BdV aus dem Jahre 1993 ist dagegen zu erfahren, dass für die ostdeutsche Kulturarbeit 1980 rund 12,6 Millionen DM aus Bundesmitteln und rund 16,5 Millionen DM von den Ländern aufgewandt wurden, um rund 200 Zuwendungsempfänger zu fördern. Die größten Teile kamen der Kultur-, Heimat- und Volkstumspflege sowie der Wissenschaft und Forschung zugute, in weiteren Rubriken einer entsprechenden Aufstellung werden etwa Schrifttum und Büchereien, Ostdeutsche Häuser, Ausstellungen, Ostkunde, Ostdeutsche Wochen, Wettbewerbe oder Patenschaften aufgeführt. Die regionale Aufteilung zeigt, dass ca. 73,7 % der Gesamtaufwendungen den überregionalen Einrichtungen und Aufgaben gewidmet wurden, von den restlichen Mitteln kamen knapp ein Drittel den Nordostdeutschen und je knapp ein Viertel den Schlesiern und den Mitteldeutschen, 16,5 % den Sudetendeutschen und rund 5 % den Südostdeutschen zugute.” Der historischen Forschung zur Geschichte der Vertriebenen wurde dabei wenig Aufmerksamkeit gewidmet, weil das Erinnern an das Kulturgut der Vertreibungsgebiete und die Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge eindeutig im Vordergrund standen.
Was sich hinter diesen Zahlen verbirg, wurde etwas konkreter anhand einer parlamentarischen Anfrage für das Jahr 1996 erklärt: Von ca. 20.5 Millionen DM für die institutionelle Förderung gingen damals die höchsten Zuwendungen an das Marburger Herder-Institut (2,9 Millionen DM) und die Stiftung Deutschlandhaus Berlin (2,36 Millionen DM). Sieben weitere Institutionen wurden mit Summen zwischen einer und zwei Millionen DM und weitere 11 Institutionen mit Summen unter einer Million DM gefördert. Von ca. 22,6 Millionen DM Projektmitteln wurden etwa 7,1 Millionen für Museen, 2,36 Millionen für Wissenschaft, 4.4 Millionen für kulturelle Breitenarbeit und weitere Summen unter einer Million für Bibliotheken, Musik, Kunst und Literatur bereitgestellt. Hinzu kirnen 1,2 Millionen DM für kulturelle Aussiedler-Integration und eine relativ erstaunlich hohe Summe — 6,3 Millionen DM - für grenzüberschreitende Kulturarbeit-. Welche finanziellen Mittel die Vertriebenenpolitiker je zur Erforschung der Geschichte der Vertreibung zur Verfügung gestellt bekamen, scheint nicht feststellbar zu sein.
Fest steht nur, dass es den Vertriebenenorganisationen trotz dieses hohen Aufwands nicht gelungen ist, zur Suche und Verbreitung von auch nur grundlegenden Informationen über die Vertreibung viel beizutragen. Jutta Faehndrich stellte in ihrer Untersuchung der Heimatbücher der Vertriebenen fest, dass die Geschichte der Vertreibung kaum behandelt wird: Die Schilderung der eigentlichen Vertreibung fällt interessinterweise in fast allen Heimatbüchern recht knipp aus; dass in einem Buch von 800 Seiten dem Zweiten Weltkrieg, der Besetzung durch die Rote Armee und der Vertreibung acht Seiten eingeräumt werden, ist durchwegs repräsentativ. Die gängigen Erinnerungsbilder beschrieb der finnische Historiker Pertti Ahonen so:
In der Diktion der Vertriebenenverbände konstituierten die Vertreibungen nicht nur ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einen Verstoß gegen die fundamentalen ethischen Prinzipien unserer Zivilisation. Wegen ihrer unterschiedslosen Brutalität und ihres übergroßen Ausmaßes handele sich um etwas noch viel Schlimmeres: das größte Kollektivverbrechen in der Geschichte, das den Vertriebenen einen mit den jüdischen Überlebenden des Holocaust vergleichbaren Opferstatus verlieh.
Solche Erinnerungsbilder und historischen Urteile beruhen nicht auf der wissen-schaftlichen Erforschung der Erfahrungen der Betroffenen, sondern weisen Übereinstimmung mit dem oben erwähnten Mythos Vertreibung auf. Die bis heute praktizierte Kulturförderung gemäß §96 des Bundesvertriebenengesetz, die der in den 1950er Jahren konzipierten Aufklärung des In- und Auslandes im Sinne des Anti-Potsdam-Revisionismus diente, behinderte die Öffnung der Vertriebenenverbände für die kulturelle Vielfalt der persönlich betroffenen Menschen. Gerade Letzteres aber wäre der Erforschung der als Vertreibung bekannten historischen Ereignisse zu Gute gekommen, und noch mehr. Es wäre die unabdingbare Voraussetzung gewesen für ein besseres Kennenlernen der Geschichte der Vertriebenen über das hinaus, was schon die ersten bundesdeutschen Politiker erzählt hatten. So wie es gekommen ist, hatte die in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 verankerte Vorstellung, dass die Vertriebenen die vom Leid jener Zeit im schwersten betroffenen Menschen gewesen seien, das Ausbleiben der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Vertriebenenorganisationen zur Folge, und das entfremdete dieses Milieu jenen Teilen der deutschen Gesellschaft, die sich um eine Aufarbeitung der NS- und Kriegsgeschichte bemühten, einschließlich solcher Teile der einstigen Heimatlosen.
Die Vertriebenen Organisationen stellten sich von Anfang an als Verbinde der un-schuldigen Opfer schwerer, von den einstigen Kriegsgegnern verübter Unrechtshandlungen dar und schwiegen über die Geschichte ihrer Mitglieder und Funktionäre in der NS-Zelt. Sie prangerten wirkliche oder vermeintliche sowjetische, polnische und tschechische Gräueltaten, Fehlentscheidungen Ger alliierten Großmächte sowie vermeintliche Irrwege der gesamten europäischen Geschichte an. Damit begünstigten sie das Fortleben jener kulturhistorischen Tradition, durch die die Deutschen als Nation in ein langwieriges und teilweise bis heute fortdauerndes mentales Konfliktverhältnis zu anderen europäischen Nationen geraten ist. Es überrascht daher nicht, dass sich die Protagonisten solcher Geschichtsbilder stets auch der Hinweise auf das vermeintlich schon nach dem Ersten Weltkrieg den Deutschen zugefügte Unrecht und entsprechender Traditionen bedienen, In der sich wandelnden Bundesrepublik sind die Vertriebenenorganisationen zu einer wichtigen Plattform für das Fortleben kulturhistorischer Traditionen aus der Zwischenkriegs- und der NS-Zelt geworden.
Unter den führenden Vertriebenenpolitikern, die als unschuldige Vertreibungsopfer angesehen werden wollten, waren die einstigen Nationalsozialisten von Anfang an nicht nur zahlreich vertreten, sondern auch einflussreich; selbst unter den Mitautoren und Signataren der Charta der deutschen Heimatvertriebenen fanden sich SS-An gehörige wie Waldemar Kraft, Rudolf Wagner oder Erik von Witzleben. Andere beklagten nun den Heimatverlust und versuchten zu verschweigen, dass sie ihn zuvor bejubelten - wie etwa Axel de Vries, als er in der Revalschen Zeitung vom 18. Oktober 1939 schrieb: Heute verlässt der erste deutsche Dampfer mit Volksdeutschen Umsiedlern den Hafen unserer alten Stadt. Nach langen Tagen mühevoller Vorbereitungen und unruhevollen Wartens geht die erste geschlossene Gruppe Baltendeutscher an Bord, dem Ruf des deutschen Volkes und seines Führers folgend. Selbst unter den beliebten Rechtsexperten des Vertriebenenmilieus begegnen wir ehemaligen Nationalsozialisten wie Hermann Raschhofer (1905-1979). Der gebürtige Österreicher wirkte 1941 bis 1945 als Professor und Direktor des Instituts für Völkerrecht und Reichs recht an der deutschen Universität in Prag und gehörte zum engen Kreis der Vertrauten von Karl Hermann Frank; nach dem Krieg profilierte sich Raschhofer, seit 1955 ordentlicher Professor für Völkerrecht an der Universität Würzburg, als Rechtsexperte für Vertreibungsfragen, und eines seiner Bücher wurde noch 1988 als Standardwerk neu aufgelegt. Diese Personalpolitik im Vertriebenenmilieu wurde nicht von allen Bundesbürgern gebilligt.
Entsprechenden kritischen Hinweisen begegnete die Öffentlichkeit immer wieder. Selbst im viel gelesenen Nachrichtenmagazin Der Spiegel war etwa in einem Bericht vom Sudetendeutschen Vertriebenentreffen im Jahre 1961 zu lesen: Dass die tschechische Endlösung des sudetendeutschen Problems ohne den nationalsozialistischen Sündenfall der deutschsprachigen Einwohner Böhmens und Mährens schlechterdings nicht möglich gewesen wäre, übersehen die von Seebohm angeführten Landsmannschafts-Revisionisten freilich geflissentlich. Die von ihrem früheren Parteifreund Karl Hermann Frank ab 1939 unter dem Schutz deutscher Bajonette eingeleitete und nur durch den Einmarsch alliierter Truppen beendete Zwangsgermanisierung des tschechischen Volkes werten sie heute als belanglose Episode, die eigene Austreibung durch die Benesch-Miliz hingegen als eine An Völkermord.
Besonders häufig wurde der sudetendeutsche Witikobund kritisiert. Aus einer Mitgliederliste des Witiko-Bundes geht hervor, dass von 634 Mitgliedern (1958) über 600 sudetendeutsche NS-Funktionäre waren, war 1961 in der Wochenzeitung Die Zeh zu lesen:
Von den 13 Mitgliedern des Bundesvorstandes der sudetendeutschen Lands-mannschaft sind zehn Witiko-Leute. Vorsitzender ist Dr. Franz Böhm, einst persönlicher Referent Henleins, parteiamtlicher NSDAP-Gaurichter und Beisitzer des Standgerichts in Reichenberg. Ein Vorstandsmitglied, Dr. Franz Ohmann, war bis zum März dieses Jahres Amtsrichter in Hessen. Dann wurde er amtsenthoben. Die Staatsanwaltschaft wirft dem ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter vor, in Prag die Personalbogen von inhaftierten Juden und Antifaschisten mit dem Vermerk Rückkehr unerwünscht versehen zu haben.
Während sich Staatsanwaltschaften und Gerichte mit sudetendeutschen Vertriebenenfunktionären befassen (der überführte Schreibtischmörder Krumey war Kreisobmann der sudetendeutschen Landsmannschaft), beschäftigt sich der Witiko-Bund mit der Zukunft der alten Heimat.
Aber es waren nicht nur die Vertriebenenpolitiker, die der eigenen Geschichte aus dem Wege gingen, auch die Bundesregierungen nahmen an der Vergangenheit ihrer Mitglieder und Beamten wenig Anstoß:
Der Mann, der Adenauers CDU die Vertriebenen zuführte und zur Symbolfigur für die Rechtslastigkeit dieser Liaison wurde, war Theodor Oberländer, der Ressortminister von 1953-1960. Der promovierte Land- und Volkswirtschaft]er aus Thüringen war einst beim Hitler-Putsch von 1923 mitmarschiert, hatte als Reichsführer des Bundes Deutscher Osten (BDO) und als Ostexperte der Wehrmachts- Sondereinheit Nachtigall maßgeblich zur rücksichtslosen Germanisierung der östlichen Nachbarn beigetragen. Oberländer brachte es sogar fertig, die Schlüsselpositionen seines Ministeriums systematisch mit ehemaligen Nationalsozialisten zu besetzen.
Solche Kontinuitäten wurden such von vielen Vertriebenen angeprangert. So lesen wir in dem 1962 veröffentlichten Buch Die Henleins gestern und heule des aus der Tschechoslowakei stammenden Kurt Nelhiebel eine deutliche ¿Anklage gegen die ehemaligen Führer der Fünften Kolonne Hitlers. Nelhiebel dokumentierte schon damals detailliert die NS-Vergangenheit sowie das politische Wirken zahlreicher führender sudetendeutscher Vertriebenenpolitiker und warnte vor der Wiederkehr der sudetendeutschen Nationalisten in das öffentliche Leben. Ihren Einfluss hielt er für äußerst bedenklich, wies aber auch darauf hin, dass die Verantwortung nicht bei ihnen allein zu suchen sei: Von dieser Verantwortung kann auch die Bundesregierung nicht frei gesprochen werden, da sie sich mit den politischen Zielen und revanchistischen Forderungen der Landsmannschaftsfunktionäre identifiziert. Welche Folgen die personellen Kontinuitäten zwischen der NS- und der Nachkriegszeit in den Vertriebenenorganisationen für das Erinnern an die Vertreibung hatten, wurde dennoch bis heute nicht erforscht, analysiert und in der Öffentlichkeit diskutiert.