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Begeben wir uns nicht bei unserer Argumen-tation gegeniiber dem Osten in einer ausseror-dentliche Gefahr ? Der Osten kónnte auf die Idee kommen : Lassen wir die freien Wahlen zu, aber zu etwas Ahnlichem wie diesem Euro-paischen Parlament, das nichts zu sagen hat! Das ware doch durchaus eine Móglichkeit. Das ist aber nicht nur eine deutsche Frage, sondern dariiber hinaus eine europaische Frage und eine Frage der freien Welt.
Wir sollten uns nicht auf das Glatteis begeben, dass wir Massen von demokratischen Wahlem aufrufen, sich fur etwas zu entscheiden, was in Wirklichkeit keine grosse Bedeutung haben kann, solange die Zustandigkeiten nicht gegeben sind.
Ich glaube, das miissen wir iiberlegen. Es ist sehr gut móglich, im Sturmschritt auf Europa zuzueilen und dabei an Europa vorbeizugehen; diese Gefahr ist vorhandcn. Begeisterung in allen Ehren. Ich habe Verstandnis fur Begeisterung, und ich kann mich wahrhaftig auch fur manchcs begeistern. Trotzdem sollten wir auch nuchtern genug abwagen und sollten uns iiber-legen, welche Folgen entstchen, wenn wir ge-wisse Massnahmen beschliessen.
Das hat nichts mit der Frage « Minimalisten-Maximalisten », das hat nichts mit guten oder schlechten Europaern zu tun. Das sind Einwen-dungen, die aus der Verantwortung gegeniiber der Demokratie gemacht werden.
Nun ist uns auch noch gesagt worden, dieser Vertrag zwinge uns ja geradezu, eine Wahlord-nung zu erlassen und dafur zu sorgen, dass Wahlen durchgefiihrt werden.
Nun, ich glaube, dass das Ln dieser Form auch nicht richtig ist. Diese Behauptung ist juristisch durchaus anfechtbar. Der Vertrag sagt in sei-nem Art. 138 nicht — und die Artikel der anderen Vertrage gleichfalls nicht —, zu wel-chem Zeitpunkt diese Wahlen stattfinden sol-len. Er sagt nur, dass Wahlen stattfinden sollen. Unter welchen Voraussetzungen, das ist die Frage, die wir zu priifen haben, und wir haben dafur zu sorgen, dass die richtigen Voraus-setzungen gegeben sind.
Abgesehen davon: die politische Arbeits-gruppe mit meinem Freunde Dehousse erkennt an, dass Art. 138 kein Befehl ist, der sofort und bedingungslos auszufiihren ist. In der Wahlord-nung ist der Artikel 138 gar nicht voll ausge-schopft. In Art. 138 steht, dass die Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren durchgefiihrt
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werden sollen. In der Wahlordnung ist dieses einheitliche Verfahren nicht festgelegt worden, aus Grunden, die plausibel sind. Aber man kann auf diese Weise doch nur prozedieren, wenn man zugibt, dass man nicht die juristische Ver-pflichtung hat, die Wahlen auf alle Falle sofort oder auf vollstandige Weise durchzufiihren. Hier werden die Wahlen zwar nach dem Willen derer, die fur diese Konvention sind, so schnell wie móglich durchgefiihrt, aber doch nur zum Teil. Der Auftrag, den Art. 138 enthalt, ist nicht voll ausgeschópft.
Es kommt noch etwas anderes hinzu. Wir sagen : wir konnen uns nur an den Vertrag halten. Wir konnen fur keine Vertragsanderung eintreten. Dafiir ist der Zeitpunkt im Augen-blick nicht gckommen. In Wirklichkeit ist in dieser Konvention bereits eine Vertragsande-rung vorgesehen, die in dem Art. 138 nicht vor-gesehen ist. Diese Konvention sieht namlich vor, dass das gewahlte Parlament sich selbst eine Wahlordnung geben soli.
Damit wird also dem gewahlten Parlament in einem Punkte eine gesetzgeberische Befugnis zugestanden. Und wenn man glaubt, dass diese Móglichkeit besteht, dem Parlament eine gesetzgeberische Befugnis zu erkampfcn, dann vermag ich nicht einzusehen, warum man dann nicht weiter gehen, warum man dann nicht damit rechnen kann, dass man meinetwegen auch in der Auseinandersetzung mit den Ministerraten und den Regierungen weitergehende gesetzgeberische Befugnisse erstreitet, die dann dem Parlament erst die Móglichkeit geben, seine parla-mentarische Funktion wirklich zu erfiillen.
Es kommt noch ein weiterer Gedanke hinzu, der es mir schwer macht, mich einfach mit dieser Wahlkonvention abzufinden. Mit dieser Frage hat sich der Kollege Faure beschaftigt. Die Arbeitsgruppe sowohl ais auch der Politische Ausschuss haben vorgeschlagen, dass dieses Parlament verdreifacht werden soli. Ich habe dagegcn erhebliche Bedenken. Herr Faure hat uns immer wieder mit beredten Worten — er ist ja auch ein glanzender Redner und kann glanzend argumentieren, dariiber gibt es keinen Zweifel —, dargelegt, dass es notwendig sei, die Wahlkreise so klein wie móglich zu halten; nur auf diese Weise konne man einen Wahlkampf ftihren, und deswegen brauche man fur das neue Parlament móglichst viele, iiber 400, 426 Abge-ordnete.
Nun, das klingt sehr plausibel; es ist sogar etwas Richtiges daran, ich will das gar nicht
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