Die Geographie der Allgäuer Dialekte im Überblick
Bevor es dazu mit konzentrierter Information losgehen kann, sind noch einige wenige Klarstellungen nötig:
Mundartliche Formen erscheinen im folgenden Text in kursiver Schrift, zusätzlich werden folgende Zeichen verwendet:
ə steht für einen unklaren "Murmelvokal", wie er regelmäßig für die Endung -en vorkommt, z.B. in liagə (lügen) und Bubə (Buben).
å repräsentiert den dumpfen Laut zwischen a und o, beispielsweise in gååt (geht) oder fråågə (fragen).
Nasalität wird, soweit technisch möglich, durch eine Tilde über dem Vokal angezeigt, z.B. gãũ (gehen).
Schwäbisch und Alemannisch im Allgäu
Gleich vorab eine Klarstellung: Den einen, einheitlichen Allgäuer Dialekt gibt es nicht, auch wenn von ihm immer wieder gesprochen und geschrieben wird. Man stößt nämlich zwischen Bodensee und Ammergebirge auf solch gewaltige Mundartunterschiede, dass selbst fremde Ohren sie nicht überhören können. Dieser Gebietsstreifen ist sogar von einer ganz scharfen Mundartgrenze, der Wiib-Weib-Linie, durchschnitten. Sie schlägt nach der traditionellen und noch heute in der Sprachwissenschaft üblichen Einteilung das Westallgäu (einschließlich dem Umland von Wangen und Isny) und das Oberallgäu südlich von Immenstadt dem Alemannischen zu, die übrigen Gebiete des Allgäus aber dem Schwäbischen.
Im Alemannischen sind die alten hohen Langvokale, mhd. î, û, iu (= langes ü), weitgehend als Monophthonge erhalten, z.B. bliibə, Zit, Huus oder Hüüs, Hüüsər oder Hiisər; im Schwäbischen hingegen sind sie, wie in der Hochsprache, zu Diphthongen geworden: bleibə, Zeit, Hous, Heisər, am Lech mit wesentlich offenerer Aussprache blaibə, Zait, Haus, Haisər (Linie 1 auf Karte 1).
An der alemannisch-schwäbischen Grenze im Allgäu trennen sich jedoch noch andere auffällige Dialektmerkmale. Im Gegensatz zum Schwäbischen gibt es nämlich im alemannischen Allgäu keine Nasalierung der Vokale, was für die Ober- und Westallgäuer die Differenzierungsmöglichkeit bei den Vokalen ganz erheblich reduziert. Wenn ein südwestlicher Allgäuer beispielsweise Baa sagt, kann er damit die 'Bahn' oder den 'Bach' meinen; ein schwäbischer Allgäuer trennt hier hingegen ganz deutlich: Bãã gegen Baa bzw. Baach oder ãbrennə (anbrennen) gegen aabrennə (abbrennen).
Besonders markant ist auch der Unterschied bei den häufig verwendeten alten Kurzverben für 'gehen', 'stehen', 'lassen', 'haben' (< mhd. gân, stân, lân, hân). Die Ober- und Westallgäuer sagen dafür gång, stång, lång, hång, die Schwaben artikulieren hingegen gãũ, stãũ, lãũ, hãũ. Hier sei noch angemerkt, dass es dafür am Bodensee um Lindau und im angrenzenden Vorarlberg gåå, ståå, låå, håå heißt, bei unseren nächsten Nachbarn im Kleinwalsertal goo, stoo, loo ,haa.
Karte 1: Die Einbettung des Allgäus in die großen Mundartlandschaften
Sprachliche Abgrenzung zum Bairischen ...
Wer bislang das weit verbreitete Klischee vom Lech als der durchgehenden Stammes- und Sprachgrenze zwischen den Schwaben und den Baiern glaubte, muss diese Meinung bei näherem Hinsehen bzw. Hinhören korrigieren. Denn am Ostrand des Allgäus verlaufen die Grenzen zwischen den schwäbischen und den bairischen Dialektmerkmalen meist weit östlich des Lechs. Erst etwa ab dem oberen Ammergebiet und dem Hohenpeißenberg verdumpft altes a zu o oder å, dafür wird altes ä und æ zum hellen a; es heißt also westlich Daag, Wassər gegen östlich Doog, Wåssa (Tag, Wasser) sowie westlich Käschtlə, Määdlə, däät gegen östlich Kastl, Maadl, daad (Kästchen, Mädchen, täte) (vgl. Linie 2 auf Karte 1).
Weitere wichtige Kriterien für die Abgrenzung zum Bairischen (Linie 3 auf Karte 1) sind der Auslaut -en (schwäbisch immer -ə, bairisch meist als Konsonant erhalten, also z.B. essə gegen essn). Westlich dieser Linie ist auslautendes -r immer erhalten, östlich ist es vokalisiert (so bairisch Muatta gegen schwäbisch Muattər).
Ein markantes bairisches Merkmal sind auch die Pronomen ees und enk für 'ihr' und 'euch', die ab der Linie 4 bodenständig anzutreffen sind. Westlich davon, im Ostallgäu, heißt es dafür diar und uib.
Einzig wegen der Lautung oa für mhd. ei, also broat, i woaß, hoaß, Loatər (breit, ich weiß, heiß, Leiter) erhält der Gebietsstreifen am oberen Lech von Schongau über Füssen bis ins Außerfern um Reutte ein leicht bairisches Kolorit (Linie 5 auf Karte 1). Dass die Verhältnisse bei diesem Laut aber etwas komplizierter sind, erfahren Sie im weiteren Verlauf.
... und zu den schwäbisch-alemannischen Nachbarn
Entgegen aller Vermutung bildet die Staatsgrenze zu Österreich keine klare Mundartgrenze. Im nördlichen Bregenzer Wald spricht man nur geringfügig anders als im Westallgäu; vergleichbar dazu gibt es eine große sprachliche Nähe zwischen Pfronten und dem Tannheimer Tal oder zwischen Füssen und dem Tiroler Raum um Vils und Reutte. Einzig das Kleinwalsertal hebt sich durch die aus der alten Heimat, dem Ober-Wallis, mitgebrachten und bewahrten Sprachmerkmale ziemlich deutlich von den Oberallgäuer Nachbarn ab. Fließend und ohne auffällige Sprünge geht auch das Idiom der Unterallgäuer - wen auch immer man dafür halten mag - in jenes der Mittelschwaben über.
Weitere wichtige Sprachunterschiede innerhalb des Allgäus
Die alten halbhohen Langvokale (mhd. ô, oe und ê) erscheinen im Osten des Allgäus und im oberen Illertal als Diphthonge, beispielsweise groaß, Roasə, gräaßər, bäas, Kläa, Schnäa (groß, Rose, größer, böse, Klee, Schnee). Im Westallgäu und im Bereich Kempten - Memmingen heißt es dafür grooß, Roosə, greeßər, bees, Klee, Schnee (gelbe Linie Karte 2).
Der oben bereits als Abgrenzungskriterium zum Bairischen erwähnte mhd. Diphthong ei in Wörtern wie "breit", "heiß", "Leiter", "heißen" klingt im Allgäu ganz unterschiedlich: Am Bodensee und am Lech heißt es broat, hoaß, vom Westallgäu über Memmingen bis tief ins schwäbische Unterland sagt man broit, hoiß, und an den Oberläufen von Iller und Wertach ist die Aussprache brait, haiß heimisch (grüne Linien). Vor einem Nasal, also in Wörtern wie "Stein" und "eins", ergibt sich jedoch innerhalb des Allgäus eine andere Lautgeographie: Am Bodensee heißt es Stua, uas, im West- und Oberallgäu Stui, uis, im Zentrum und im Norden Stoin, oins und am Lech wiederum nasaliertes Stua, uas.
Das Ostallgäu und das Lechgebiet unterscheiden sich vom größeren Rest des Allgäus durch die o-Lautung für mhd. ou, z.B. gloobə, Loob(a), oo für "glauben", "Laub", "auch" (blaue Linie auf Karte 2).
Nur im nordöstlichen Allgäu, wie übrigens auch im Kleinwalsertal, sind fast alle ursprünglich einsilbigen Wörter auf "-rn" oder "-rm" (z.B. gern, Korn, Kern, Hirn, Turm) durch den Einschub eines "Sprossvokals" zweisilbig geworden: gäarə, Koarə, Käarə, Hiarə, Duurə (lila Linie auf Karte 2).
Karte 2: Die Sprachgrenzen innerhalb des Allgäus
Allgäuer Gemeinsamkeiten
Bei aller Unterschiedlichkeit im Inneren und Verwandtschaft nach Norden, Westen und Süden haben die Allgäuer auch einige auffällige mundartliche Gemeinsamkeiten, die man außerhalb kaum zu Ohren bekommt: So enden viele männliche Hauptwörter auf "-er" im Dialekt auf ein volltoniges -ar, etwa Måålar (Maler), Kemptar, Trachtar (Trichter). Weibliche Substantive haben meist eine Mehrzahl-Form auf ein volltoniges -a, wodurch immer eine deutliche Unterscheidung zur Einzahl gegeben ist, so etwa Tannə, Hittə (in der Einzahl) gegen Tanna, Hitta (in der Mehrzahl). Dies gilt südlich einer Linie Wangen- Isny - Legau - Kaufbeuren - Denklingen - Hohenpeißenberg. Auch die südlichen Nachbarn, etwa um Vils und im Tannheimer Tal sowie am Nordrand Vorarlbergs, nicht aber die Kleinwalsertaler, sind diesbezüglich sprachliche Allgäuer (vgl. grüne Fläche auf Karte 2).
Im Wortschatz findet man hingegen nur wenig Allgäutypisches: Allenfalls die Bezeichnung Feel für 'Mädchen' (vermutlich aus lateinisch "filia" für 'Tochter') und allat oder alla für 'immer', herzuleiten wohl von "allent", decken sich in ihrer Verbreitung ungefähr mit dem Gebiet des Allgäus.
Die Zukunft unserer Dialekte
Entwicklung und Perspektiven
Trotz einer positiven Grundeinstellung zum Bodenständigen sind auch im Allgäu die Dialekte rasant auf dem Rückzug. Die Ursachen hierfür sind u. a. der Bevölkerungszuzug (Flüchtlinge), die zunehmende Mobilität, die Schulen und nicht zuletzt der Tourismus. Auch der Einfluss der Medien ist im Allgäu keineswegs geringer als anderswo.
Aber ganz aussterben werden die Dialekte wohl in absehbarer Zeit nicht, sie verändern sich nur in Richtung auf einen regionalen Ausgleichsdialekt, der großflächiger eine Verständigung ermöglicht; die lokalen, kleinräumigen Eigenheiten der Mundarten werden sich aber sicher verlieren.
Viele Mundartwörter gehen aber auch zwangsläufig dadurch verloren, dass die Sachen oder Vorgänge, die sie einst benannten, im heutigen Alltag und in der modernen Arbeitswelt keine Rolle mehr spielen.
Identitätsverlust durch Verbaierung
Gegenüber dem Bairischen, das täglich in den landes- und sogar bundesweiten Medien präsent ist und daher auch überregional als salonfähig gilt, werden es die Allgäuer Dialekte im Überlebenskampf deutlich schwerer haben. Besonders auffällig zeigt sich dies heute schon in der Allgäuer Gastronomie, wo man zwar durch dialektnah gestaltete Speisekarten und Aufschriften gerne Bodenständigkeit zu beweisen versucht, dabei aber zunehmend altbayerische Bezeichnungen für Speisen, Getränke und Gefäße einführt: Schmankerl, Lüngerl, O'batzta, Hax'n, Hendl, Spatz'n, Radi, Schwammerl, Fleischpflanzerl, Würstl, Ripperl, Brett'l, Jagatee, Stamperl, Glasl, Flascherl, Haferl und noch manch weiterer Blödsinn.
Überhand nimmt hierzulande bajuwarischer Folklorismus auch bei den Benennungen von Hotels, Gasthäusern und Berghütten: Man schreibt Stüberl statt Stüble, Stub'n statt Stube, Häusl statt Häusle, Alm statt Alp oder Alpe.
In ähnlicher Weise hat beispielsweise auch der ursprünglich im Allgäu fremde Fasching die einheimische Fasnacht schon fast ganz aus den Medien und in der Folge auch aus der alltäglichen Umgangssprache verdrängt.
Da auch andere Organisationen, die sich nach eigenem Bekunden der Heimat- und Brauchtumspflege verschrieben haben (Trachtenvereine, Volkstheater, volkstümliche Unterhaltungsmusik), sich schon stark einer folkloristisch geprägten Bajuwarisierung geöffnet haben und grundlos östliche Vorbilder imitieren, droht dem Allgäu so langfristig der Verlust wesentlicher Elemente seiner Identität. Sollte sich an dieser Tendenz nichts ändern, ist das Allgäu leider auf dem besten Weg, langfristig zu einem nichtssagenden westlichen Anhängsel des oberbayerischen Alpenrandes zu verblassen.
Vielleicht interessiert es Sie, wie dieses von mir so sehr betonte Anliegen in der "Süddeutschen Zeitung" aufgegriffen wurde. Dort können Sie auch eine kleine Dialekt-Hörprobe anklicken.
Eine Kostprobe aus dem alten bodenständigen Wortschatz
Wissen Sie, was die Bschittə oder das Hattlwassər sind und dass sie im Gschääl(t), in der Standə oder im Lachəloo lagern, bevor man damit die Wiesen und Weiden bschittət ?
Können Sie sich vorstellen, dass die Wörter Obratə, Irbetə, Bollədeerə und Dillə alle dasselbe benennen, nämlich den Dachboden im bäuerlichen Wohnhaus? Gegen das Unterland zu lassen hingegen die Ausdrücke Koarəboodə oder Droidboodə auf eine ursprünglich ganz andere Zweckbestimmung dieses Raumes schließen (siehe Karte Dachboden).
Dass man aus Riis, Daas, Dåås, Daus auch Buschla oder Boarzə macht und damit iischiarə oder eifuirə kann, ist Ihnen sicher nicht neu.
Was aber haben Kiida und Grumbbra miteinander zu tun, und warum sagt man zu letzteren gebietsweise auch Erdepfl oder Bodəbiara?
Woher kommt wohl die Bezeichnung Loreija für die Reihen, an welche man abends das halbdürre Heu recht?
Was ist wohl gemeint, wenn man über Klattra, Zaggla, Schindla oder Bolla an den Schenkeln der Kühe redet?
Hätten Sie gedacht, dass das alte keltisches Wort "tsigros" für eine Art 'Quark' im Allgäu noch als Ziigr oder Ziigərə weiterlebt?
Warum sagen wohl die Westallgäuer Singatə zu dem zur Weihnachtszeit gebackenen Früchtebrot, wo es doch anderswo im Allgäu Zäaltə, Biarəzäaltə oder Biarəbroot heißt?
Übrigens: Kennen Sie den alten Spruch von der Katze, die auf der Boi oder Bai (also auf dem Fenstersims) hockt und mit einem Bobbələ Gaarə foiggət?
Dass der zweite Werktag in der Woche im westlichen Allgäu Ziisdag, östlich der Iller aber Aftərmäätag u.ä. heißt, erklärt sich sehr wahrscheinlich mit der alten Grenze der Bistümer Konstanz und Augsburg (zur genauen Verteilung siehe Karte "Dienstag").
Und ganz sicher hätten Sie auch vermutet, dass es wohl mit "Pater noster", also mit der lateinischen Form des "Vater unser" zu tun haben muss, wenn man früher im Allgäu zum Rosenkranz Bååtər, Bautər, Nustər oder Nüstər sagte.
Wenn Sie beim Lesen dieser paar Zeilen bei sich Wortschatzlücken entdeckt haben sollten, dann ist das noch lange kein Grund zum briaggə (siehe Karte "weinen"), denn vielleicht helfen Ihnen die im folgenden Kapitel angegebenen Literaturhinweise weiter.
Weit umfassendere und tiefer gehende Auskünfte zu diesen und vielen anderen Wörtern, also zu ihrer Herkunft und geographischen Verteilung, erhalten Sie teils im bereits erschienen "Kleinen Bayerischen Sprachatlas", ganz sicher aber in dem bald erscheinenden "Kleinen Sprachatlas von "Bayerisch-Schwaben" (siehe unten!).