Eichinger WB Kap 1


Inhalt

1 Das Interesse an der Wortbildung

1.1 Vom Umgang mit komplexen Wörtern am Beispiel der Substantive....

1.1.1 Komposition: die Suche nach Zusammenhang......................................

1.1.2 Derivation: lauter Bekannte .................................................................. 2

1.1.3 Konversion: janusköpfige Lexeme und mehr ........................................ 7

1.1.4 Inkorporation: was zusammengehört.................................................... 15

1.1.5 Kurzwortbildung: to whom it may concern.......................................... 17

1.1.6 Zusammenschau.................................................................................... 18

1.2 Struktur und Funktion .......................................................................... 19

1.2.1 Strukturelle Analogien .......................................................................... 19

1.2.2 Erläuterung am Substantiv.................................................................... 22

1.3 Aufgaben der Wortbildungslehre........................................................... 25

1.4 Stellung der Wortbildung ...................................................................... 34

2 Wortarten und Wortbildungsarten

2.1 Vorbemerkung....................................................................................... 46

2.2 Generelle Verteilung.............................................................................. 50

2.3 Gründe für die Präferenzen ................................................................... 53

2.3.1 Die Lage beim Substantiv...................................................................... 54

2.3.2 Adjektivtypisches .................................................................................. 63

2.3.3 Ganz anders: das Verb ..........................................................................

3 Wortbildungsarten

3.1 Komposition.......................................................................................... 72

3.1.1 Der Zusammenhang der Dinge: Determinativkomposita ...................... 32

3.1.2 With a little help: Rektionskomposita................................................... 37

3.1.3 Das Beste beider Welten: Zusammenbildung ........................................

3.1.4 Jedes Ding hat zwei Seiten: Kopulativkomposita...................................

3.2 Derivation .............................................................................................

3.2.1 Derivationen als Textwörter..................................................................

3.2.2 Zum Substantiv.....................................................................................

3.2.3 Zum Adjektiv........................................................................................

3.2.4 Zum Verb..............................................................................................

3.3 Inkorporation........................................................................................

3.3.1 Inkorporation beim Substantiv .............................................................

3.3.2 Inkorporation beim Adjektiv ................................................................

3.3.3 Inkorporation beim Verb ......................................................................

3.4 Konversion............................................................................................

3.4.1 Allgemeines ...........................................................................................

3.4.2 Zum Substantiv.....................................................................................

3.4.3 Zum Adjektiv........................................................................................

3.4.4 Zum Verb..............................................................................................

3.5 Kurzwortbildung...................................................................................

4 Wortartenausbau

4.1 Das Substantiv ......................................................................................

4.1.1 Damit man über alles reden kann: Setzung...........................................

4.1.2 Zentrale Strukturen: Differenzierung und Rollenzuweisung .................

4.2 Das Adjektiv .........................................................................................

4.2.1 Damit man alles charakterisieren kann: Junktion .................................

4.2.2 Überblick: Junktionale Differenzierung.................................................

4.3 Das Verb ...............................................................................................

4.3.1 Wie man von etwas redet: Relationierung ............................................

4.3.2 Übersicht..............................................................................................

5 Literatur

5.1 Belegtexte .............................................................................................. 90

5.2 Wissenschaftliche Literatur ................................................................... 91

1.1.2[16] Derivation: lauter Bekannte

Von anderer Art sind die Funktionen der anderen zentralen Wortbildungsart, nämlich der Derivation oder Ableitung. Bei ihr wird ein Lexem mit einem Element aus einer abgeschlossenen Menge von gebundenen Wortbildungsmorphemen verbunden. Diese Morpheme, die nur in der Kombination mit einem lexematischen Elementaktualisiert werden können, dienen zumindest im Falle des Substantivs der Wortartencharakteristik und einer klassematischen Grobgliederung innerhalb der Wortart. Diese Wortbildungsmorpheme, insofern sie als an die Basislexeme angehängte Elemente verstanden werden, heißen Affixe. Je nach Stellung relativ zum Stamm werden sie auch spezifischer als Präfixe, die vor das Basislexem treten und als Suffixe, die rechts an die Basis treten, benannt. Beim Substantiv ist das Suffix, durch das Wortart und klassematische Einordnung gesichert werden, der zentrale und typische Fall für diese Art von Wortbildung. Da es nur eine aufzählbare Menge solcher Derivationsmittel gibt und wegen ihres abstrakteren Charakters sind die so entstehenden komplexen Wörter (Ableitungen, Derivate) weniger unmittelbar auf die Schematisierung welthaltiger Konstellationen angelegt, sie sind daher im Normalfall auch weniger überraschend. Ihre Interpretation lässt bei weitem nicht so viele Möglichkeiten offen, wie das beim Kompositum der Fall sein kann.

TEXTSTEUERUNG Dennoch ist auch hier die textuelle Funktion entscheidend, allerdings operieren abgeleitete Wörter auf einer anderen Ebene. Sie beeinflussen die Aussagestruktur, akzentuieren bestimmte Sichtweisen. Da sie [17]

merklich in die Struktur der Texte eingreifen, ist ihre Verwendung in vielen Fällen auch deutlich textsortensensitiv.

Unser Beispieltext (4) von den Schießbudenbildern und ihrer Gestaltung kennt keine einzige solche Bildung, die ein Substantiv wäre, was vom stilistischen Charakter, der Textsortenbindung auch dieses Mittels spricht. Die auf jeden Fall in solchen Mitteln liegende Kraft der Abstraktion wird bei diesem Text nicht gebraucht. Dass es an der Textsorte liegt und nicht am individuellen Stil, zeigt ein `wissenschaftlicherer' Text desselben Autors, Walter Benjamins wohl berühmtester Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Schon die Formulierung des Titels mit einem komplexen Wort wie Reproduzierbarkeit deutet an, dass der Text mit der substantivischen Fassung verschiedener Aspekte von Vorgängen zu tun haben wird. Vorgänge aber sind eigentlich Inhalte, die unmarkiert als verbale Lexeme kodiert werden:

(5) Und wenn die Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind, sich als Verfall der Aura begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen. (Benjamin 1996, S. 317)

Vier von sieben Substantiven — wobei zwei, Medium und Aura, noch als unanalysierte Simplizia aufgrund der Fremdheitssignale, die sie tragen, herausfallen - also eigentlich vier von fünf sind hier Derivative.

Wovon spricht der Text? Im Bereich der Medien, in denen Kunstwerke wahrgenommen würden, hätten sich verschiedene Dinge verändert. Das war das Thema des vorhergehenden Textteils, wo von den Folgen der Erfindung der Lithographie und der Photographie für die Frage nach der „Echtheit“[!] des Kunstwerks berichtet wird.

In dem Textteil, der unserem Ausschnitt vorhergeht, ist dieses Thema in aller Ausführlichkeit und mit Beispielen, in sprachlich gestreckter Form, in Strukturen also, die dem aggregativen Ende unserer Ausdrucksmittel zugehören, dargestellt. In dem Kapitel nun, zu dessen Beginn der zitierte Satz gehört, sollen Konsequenzen aus diesen Ausführungen gezogen werden. Da wäre es eine - mögliche, aber nicht nötige - Redundanz, das Fazit auch noch einmal in der gerade - in dem oben stehenden Kasten - zur besseren Information ausformulierten aggregativen Fassung zu präsentieren. Das geschieht aber in dem originalen Text nicht. In ihm werden die Inhalte gleich in einer Form präsentiert, die sie als Voraussetzung, als setzungsfähiges thematisches Element, einer folgenden Aussage geeignet erscheinen lassen. Dieser Zweck wird durch die Formulierung mit den Derivationen erreicht. Diese Wortbildungsart erlaubt es, die zusammenspielenden Elemente einer Szene in höchst integrierter Form darzustellen. Wenn man beispielhaft wie in (6) versucht, die Derivationen prädikativ zu expandieren, kann man sehen, was es heißt, es werde mit diesem Mittel in die Aussagestruktur eingegriffen.11 [18]

(6) Durch welche Medien Kunstwerke wahrgenommen werden, hat sich in letzter Zeit verändert. Deswegen verfällt ihre Aura. Das ist gesellschaftlich bedingt, was sich aufzeigen lässt.

Es wird in dem originalen Text im Gegensatz zu der propositionalen Entfaltung in (6) klar geschieden, was als thematische Voraussetzung und was als rhematische Aussage gelten soll. Gleichzeitig wird durch die Wahl der nominalen Formulierung jeweiligen ein griffiger Name für das besprochene Phänomen geschaffen, der Text ist so übersichtlicher (vgl. Heringer 1989, S. 140-143).

Zudem ermöglicht die Nominalisierung als Kern einer Nominalgruppe in den vorhandenen Junktoren, den Präpositionen bzw. dem Anschluss mit dem Genitiv12 gewisse Modifikationen. Hier wählt der Autor bei der Fügung Veränderungen im Medium den Anschluss mit der Präposition in, das heißt inhaltlich, er wählt das Ungefähre des Anschlusses mit der Präposition in gegenüber dem auch denkbaren Genitiv, der das Objekt unmittelbar fokussieren würde: Veränderungen des Mediums. Von den Bildungstypen her wird der Text von dem Suffix -ung dominiert, davor allem in Sachtexten als beliebtestes Mittel genutzt wird, um zusammenfassend Namen für Vorgänge - mögen sie vorher im Text expliziert sein oder nicht - zu prägen, und so diese Inhalte der substantivischen Setzung zur Verfügung zu stellen. So etwas hat natürlich stark anaphorische Wirkung, mag es im Einzelnen nun auf den Text oder andere Wissensvoraussetzungen verweisen. Und tatsächlich steht der von uns zitierte Textteil am Ende eines Abschnitts, der folgendermaßen beginnt:

(7) Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Wahrnehmung (Benjamin 1996, S. 317)

Die Derivation Wahrnehmung ist an dieser Stelle schon eingeführt, Art und Weise wird im Verlauf des Textes noch in `Medium' übersetzt. So bleibt das verbale Lexem das dann mittels -ung zum Satznamen gemacht wird, das sich zum Subjekt und Thema des in (5) zitierten Schlusssatzes dieses Abschnitts eignet. Dass solch ein nominaler Kern dann durch links und rechts von ihm stehende Attribute näher bestimmt werden kann, erlaubt es, auch die anderen Mitspieler in die kondensierte Form mit aufzunehmen.

wortartfestlegung Das Suffix, das formal die Basis der Wortbildung und semantische darstellt, und somit auch generell die semantische Kategorisierung Klasse kennzeichnet (hier: `Vorgang'; nomen actionis), welcher das ganze Wort zugehört, ist funktional doch bloß ein aus einer überschaubaren Menge von Markierungen, die uns zeigen, in welcher seiner möglichen syntaktischen und subkategorialen Funktionen der Basisinhalt hier auftaucht. Dabei kann man bei deverbalen (`von verbalen Lexemen abgeleiteten Substantiven') die Bildung mit dem Suffix -ung als die Default-Option, den Normalfall dieser inhaltlichen Umsetzung, betrachten. Sie hebt lediglich die Bedeutung des verbalen Lexems ohne sonstige Veränderungen in den substantivischen Bereich. Dass es [19] sich hier um die Nulloption handelt, kann man unter anderem daran sehen, dass genau diese Funktion in einer bestimmten Zahl historisch fest gewordener Fälle durch jenen Akt einer historischen Transition (`Wortartwechsel ohne Addition eines Wortbildungsmorphems') zustande kam, den man meist implizite Ableitung nennt: Verfall ist ein Beispiel dafür. Der zentrale Status der Vorgangsbenennung im deverbalen Bereich erklärt die Beibehaltung dieses isolierten Typs bei zentralen Verben und ihre starke Stellung im System. Sie bringt es mit sich, dass das Vorhandensein der alten Wörter dieses Typs das jetzige Normalmuster mit -ung blockiert: *Verfallung ist genau deshalb nicht realisiert. Alle anderen Möglichkeiten dieser Umsetzung in dem Bereich der Vorgangs- und Handlungsbeteiligten - das müssen andere deverbale Derivationen ja dann sein - haben ein zusätzliches Merkmal, das ihre Univerbierung fördert und rechtfertigt, und sie merkmalhafter macht. Semantisches Korrelat dafür ist die häufig beobachtete Tatsache, dass die Züge des Usuellen, Regelmäßigen zum Bestandteil des Wortbildungsmusters gemacht werden. So wird der Name für den, der eine Handlung ausführt, an dem ein Vorgang abläuft oder der in einem Zustand ist, meist mit der Regelmäßigkeit, mit der er das tut bzw. ihm das geschieht, korreliert - in passenden Fällen wird eine Berufsbezeichnung oder eine Art von Berufsbezeichnung daraus: vom Gepäckträger zum Bedenkenträger, der nur als einer kritisierbar wird, dem das `Tragen von Bedenken' zur zweiten Natur geworden ist.

integrationstypeN In einem Text, der sich räsonierend und argumentie-
am beispiel rend hin- und herbewegt, mal aggregierend erzählt, mal integrierend Schlüsse zieht, ist es von Nutzen, Namen für alles mögliche zu haben, was in diesen Sätzen vorgekommen ist. Substantivische Derivationen sind das probate Mittel zur Erfüllung dieser textuellen Funktion - das zeigt sich an dem folgenden Ausschnitt aus Thomas Bernhards „Holzfällen. Eine Erregung“ besonders deutlich.13

(8) Aber ich hatte vor den Auersbergischen auf dem Graben so getan, als wüßte ich nichts vom Selbstmord der Joana und ich spielte ihnen meine totale Überraschung, gleichzeitig Erschütterung vor, obwohl ich um elf Uhr vormittag auf dem Graben von dem Unglück nicht mehr überrascht und auch nicht mehr erschüttert gewesen war, denn ich hatte davon schon um sieben Uhr früh erfahren gehabt und ich hatte tatsächlich den Selbstmord der Joana durch das mehrmalige Aufundabgehen auf dem Graben und der Kärtnerstraße schon ertragen können, aushalten können in der kalt-frischen Grabenluft. Tatsächlich wäre es besser gewesen, der auersbergischen Mitteilung vom Selbstmord der Joana die Wirkung der totalen Überraschung zu nehmen, indem ich nämlich gleich hätte sagen sollen, ich wisse längst, dass sich die Joana umgebracht habe, selbst wie sie sich umgebracht habe, die genauen Umstände, dachte ich, hätte ich ihnen sagen sollen und sie damit um ihren Mitteilungstriumph bringen, den sie tatsächlich auf die gemeinste Weise ausgenützt und also genossen haben, wie ich feststellte vor dem offenen Knizegeschäft; anstatt so zu tun, als wisse ich überhaupt nichts vom Tod der Joana, die Rolle des absolut Überraschten, Vorden[20]kopfgestoßenen, mit der grauenhaften Nachricht Überfallenen spielend, versetzte ich die Auersbergischen in die Verzückung plötzlicher Unheilsbringer, was gar nicht meine Absicht gewesen sein konnte naturgemäß, was ich aber durch Ungeschicklichkeit selbst verursacht hatte, indem ich vorgab, vom Selbstmord der Joana zu dem Zeitpunkt des Zusammentreffens mit den Auersbergischen nichts zu wissen, nicht das geringste; die Ahnungslosigkeit spielte ich die ganze Zeit […]. (Bernhard 1984, S. 16/17)

Dieser Text redet von Ereignissen und ihren Folgen, von ihrer mentalen Verarbeitung. Diese Abläufe werden, wie zu erwarten ist, in Verben gefasst, die solche mentalen Vorgänge bezeichnen wie überraschen oder erschüttern, allerdings hier auch schon, da es um die Konsequenzen auf der Ebene der erzählten Zeit geht, in Perfektformen. Textuell überraschend aber ist vielleicht, wenn auch die zeitliche Stufung dazu passt, dass bereits vor dieser verbalen Ausführung die Namen für diese Vorgänge, die entsprechenden Derivationen mit dem Suffix
-ung, auftauchen. Von der Überraschung und Erschütterung des Erzählers ist die Rede, noch bevor die Vorgänge in der entsprechenden Verbform ausgeführt worden wären. Außerdem sehen wir auf den ersten Blick, dass sich eine für einen erzählenden literarischen Text auffällige Häufung von Derivationen findet. Sie sind oben im Text fett gedruckt. Noch deutlicher ist der dadurch signalisierte Trend zur Nominalisierung, zu erkennen an der Häufung nominaler Verbformen, von Infinitiven und Partizipien. Sie sind im Text unterstrichen und wir werden auf sie später zurückkommen. Es ist offenkundig, dass die Wahl dieser Bildungen in dem zitierten Textausschnitt einen distanzierenden stilistischen Wert hat. Dabei ist eine Bildung wie Wirkung ein ganz gängiges, lexikalisiertes Wort. Dieses normale Wort wird jedoch bereits in Kombination mit dem Genitivattribut der totalen Überraschung stilistisch hervorgehoben. Diese Verdichtung in der Nominalgruppe scheint uns eher bestimmten fachlichen Diskursen, nicht einem erzählenden Text zuzugehören. So wird indirekt vorbereitet, dass wir die indem späteren Kompositum Mitteilungstriumph ausgedrückte Bewertung und ihre Geltungsbehauptung in einem Kompositum nicht mehr so überraschend finden. Allerdings sind in diesem Kompositum zwei stilistisch diskrepante Elemente miteinander kombiniert. Das prosaisch-fachliche Derivat Mitteilung wird mit dem hyperbolischen Gefühlswort Triumph zusammengebracht. Das dient als Brücke zu der Isotopieebene des Textes, der auch die Ableitung Verzückung zugehört. Das ist an sich schon ein herausgehobenes Lexem, und wird in diesem Fall noch gesteigert durch die unmittelbare Konfrontation mit dem Lexem Unheilsbringer, das seinen stilistischen Reiz nicht zuletzt der paradigmatischen Folie des lexikalisierten Heilsbringers verdankt, auf das es sich analogisch bezieht. Im deutlichen Gegensatz zur stilistischen Überhöhung der auersbergischen Mitteilung ist unser Erzähler dann noch als `ungeschickt' und `ahnungslos' gekennzeichnet, aber eigentlich nicht wirklich, sondern erwird sprachlich dargestellt als oder wie einer, der eben diese Rollen spielt. Und das wird nicht dadurch erreicht, dass die Handlungen erzählt würden, die das beweisen, sondern indem die entsprechenden Eigenschaften als zuordenbare Größen - in Form der zugehörigen deadjektivischen Derivation mit -keit - vor der Person her getragen werden. Dabei führt uns der Text am Ende in einer steigernden Folge von der Ungeschicklichkeit zur Ahnungslosigkeit.

Wortfamilien Derivationen, das können wir an diesen exemplarischen Verwendungen sehen, dienen besonders der Verknüpfung von im Text auf verschiedene Weise gegebenen Informationen. Dazu ist es nötig, dass man die lexe-matischen Kerne, von denen diese Informationen vermittelt werden, grammatisch möglichst vielfältig einsetzen kann. In diesem Sinn erlaubt die Wortbildungsart der Derivation auf einfache Weise den Wechsel zwischen Wortarten und semantischenKlassen. Am klarsten sieht man das an den Wortfamilien, die sich um verbale Lexeme sammeln.

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Verb

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rechnen

schleifen

nomen actionis

Rechnung

Schleifung

nomen acti

Rechnung

Schliff

nomen agentis

Rechner

Schleifer

nomen instrumenti

Rechner

nomen actionis (neg.)

Rechnerei

Schleiferei

nomen loci

Schleiferei

(nach Augst 1999, S. 1081 und 1203)

Was hier am Beispiel von zwei relativ beliebig ausgewählten verbalen Lexemen zusehen ist, gilt generell, es gibt einen systematischen Ausbau der Wortfamilien, die auf jeden Fall einfache Vorgangswörter, Ergebniswörter, Handelndenwörter, Werkzeugswörter, Wörter des Ortes und konnotativ angereicherte Möglichkeiten der Vorgangsbezeichnung umfassen.

An diesen Beispielen sieht man nochmals, dass klassematische Einordnung und Wortartwandel die zentralen Aufgaben dieser Bildungsart sind. Sie dient dazu, dass die vorhandenen lexikalischen Kerne in den verschiedenen denkbaren Funktionen angewendet werden können. Was unmittelbar der Prädikation dient, kann durch die klassematische Einordnung als substantivisches Verbalabstraktum der Setzung zugänglich gemacht werden, das Lexem kann so den Kern einer Nominalphrase ausmachen, über die erneut prädiziert werden kann. Aber, wie wir an den bewertenden Textfortsetzungen gesehen haben, können die Prädikationen auch als Handlungstypen benannt werden. Damit kann die Bewertung einer Prädikation in die nominalenElemente einer nachfolgenden Proposition eingehen - die Proposition wird als Element eines Typus benannt, etwa, wenn eine Äußerung im nächsten Satz als diese Verleumdung qualifiziert wird. Kennzeichnend ist aber, dass immer, und selbst in diesem letzten Fall, die lexematische Basis kaum Überraschungen bietet, und dass sich die Bedeutung durch die Endlichkeit des Suffixinventars wesentlich leichter errechnen lässt als bei der Komposition. So ist es denn auch nicht die Schaffung von neuen Konzepten, die hier dominiert, sondern die Einordnung in zentrale und als nützlich erachtete Klassen.

1.1.3 Konversion: janusköpfige Lexeme und mehr

Konversion heißt in der üblichen Terminologie der Wortbildungslehre zweierlei.Zum einen kann damit der Wortartwechsel generell gemeint sein: in diesem Sinne [22] dient zum Beispiel das Suffix -ung der Konversion von verbalen Lexemen zu Substantiven. In diesem Fall spricht man auch gern von Transposition. Der Gegenbegriff dazu wäre die Modifikation. Zum anderen ist damit nur jener Typ von Wortartwechsel gemeint, den man ausschließlich an der Verwendung des flexivischen Inventars der Wortart erkennt, die sich am Ende dieses Prozesses ergibt (der Zielwortart). Der Terminus Konversion (Transition) steht dann als Benennung für eine merkmalärmere Variante des Wortartwechsels neben dem der Derivation. In diesem zweiten Sinn soll diesesWort hier verstanden werden.

WORTBILDUNG Auch diese Art von Umsortierung von Lexemen lässt sich
AM RANDE DER gut am Substantiv aufzeigen, gilt doch die Substantivierung,
MORPHOLOGIE insbesondere die sogenannte Substantivierung von Infiniti-
ven und Partizipien als der klassische Fall der Wortbildungstechnik Konversion. Für diesen Typ bietet der auch schon für die Derivation herangezogene Text (8) eine Reihe von Beispielen, die zeigen, welche Funktion diese Art von Wortbildung, allgemeiner vielleicht: diese Technik der Umkategorisierung, hat. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass es gegen Ende des Texts eine Reihe von Personenbezeichnungen gibt, die als Nominalisierungen verbaler Fügungen erscheinen. Überrascht, vor den Kopf gestoßen, überfallen ist unser erzählendes Ego. Und die Konversion einer Verbform zum Nomen erlaubt es, auch noch die aus dem verbalen Umfeld stammenden Modifikatoren (absolut, mit der grauenhaften Nachricht) mit aufzunehmen. Wie immer man die entsprechende Umsetzung des verbalen Lexems an die-ser Stelle beschreibt - wir werden darauf zurückkommen -, der Autor sagt uns eigentlich selbst, wozu er diese Art von Ausdrucksweise nutzt: er vergibt Namen für Rollen des Erzählers. Das ist in dem Text um so deutlicher, als das Erzähler-Ich ja selbst sagt, dass es gar nicht mehr überrascht, vor den Kopf gestoßen, überfallen war, sondern jemanden spielte, der solch einen Namen verdient. Und so sagt uns diese Formulierung, dass es nicht um das Überraschtsein, das Vor-den-Kopf-Gestoßen-Sein und das Überfallensein geht, sondern um einen Rollennamen für den davon Betroffenen.

An weiteren Beispielen kann man sehen, dass diese formal so unaufwendige Technik fast beliebige Möglichkeiten bietet, um einen Namen aus verschiedenen Teilen einer verbalen Szene zu destillieren. Partizip II und Infinitiv als die nominalen infiniten Formen mit guter Systemeinbindung im verbalen Bereich bieten sich hier als die ideale Schnittstelle zwischen der flexivischen und der lexikalischen Morphologie an. Hatten wir es bisher in den Beispielen von Namen für einen `Betroffenen' mit typischen Partizip-II-Fällen zu tun, so finden wir als Abstraktion einer Handlung, die ausgeführt wird, den Infinitiv, versehen mit den flexivischen Merkmalen des Substantivs14 als einen Vorgangsnamen. Diese Form eines nomen actionis, hat noch mehr von der Dynamik der verbalen Basis an sich als etwa entsprechende Ableitungen auf -ung. Das ist ganz deutlich sichtbar an einem Beleg wie das mehrmalige Aufundabgehen.

In dieser Verwendung des Verbalnomens Infinitiv liegt aber auch die Möglichkeit der Kategorienangleichung durch die verbale Semantik. So wird in unserem Text ein punktuelles Verb als explikatives Genitivattribut eines [23] punktuellen Nomens gewählt, das damit zum semantischen Zentrum der Nominalgruppe wird, mit der Betonung allerdings, dass es um den Punkt geht: zum Zeitpunkt des Zusammentreffens gegenüber denkbaren Formulierungen wie: beim Zusammentreffen.

Gleichzeitig wird in der Infinitivform inhaltlich die von uns zitierte Passage als ein Subtext zusammengefasst, in der uns in ausgebreiteter Weise ein Geschehnis erzählt wird, das am Schluss den Namen Zusammentreffen bekommt. Auch Reaktionen werden so qualifiziert: die Information, die ihm die Auersbergischen gaben, sollten einen Überraschten treffen. Und auch die vorgeführten oder prätendierten Eigenschaften des Autoren-Egos werden so besprechbar: Ahnungslosigkeit beziehungsweise Ungeschicklichkeit sind diese Eigenschaften - über ihre Rollenfunktion kann dann gesprochen werden.

KONVERSION UND Ein kurzer Text mag zeigen, dass die hier angedeutetenDERIVATION tenÄhnlichkeiten und Unterschiede in der Nutzung von Derivation und Konversion nicht dem durchaus markanten Individualstil des Autors Peter Handke angehören, sondern systematisch so angelegt sind;

(10) Ich lebte kaum mehr mit meiner Zeit, oder ging nicht mit, und da mir nichts je so zuwider war wie die Selbstzufriedenheit, wurde ich zunehmend gegen mich aufgebracht. Welch ein Mitgehen hatte sich zuvor ereignet, was für eine grundandere Begeisterung war das gewesen, in den Stadien, im Kino, auf einer Busfahrt unter Wildfremden. War das ein Daseinsgesetz: Kindliches Mitgehen, erwachsenes Alleingehen? (Handke 1987, S. 17)

Was sich ereignet, der Vorgang, heißt Mitgehen, ist also die Konversion aus der Nennform des Verbs, in der über mögliche Partner des gemeinsamen Gehens generalisiert wird. Es geht ja nicht jemand mit jemandem, vor allem die mögliche Subjektanbindung wird strukturell sehr viel tiefer angesetzt, am natürlichsten wohl als Possessivartikel. Die Suffixbildung dagegen, die ebenfalls ein verbales Lexem im substantivischen Rahmen verwendbar macht, tut mehr, und das schon vor der syntaktischen Realisierung. So wird gesagt, was etwas ist, was also in die .`Kiste' einer Vorgangskategorie gesteckt wird. So in unserem Text bei dem Wort Begeisterung, mit dem Suffix -ung. Mit dieser Wortbildungsart werden stärker nominal strukturierte Grenzen gesetzt.15 Und dennoch gibt auch die Konversion versuchsweise Namen, weil es sich aber um Versuche handelt, erscheinen sie uns oft weniger gewöhnlich. Das gilt sicherlich auch für die hier gebrauchten Formen Mitgehen und Alleingehen. Und was in einem Satz mit den entsprechenden Verben eine Art restriktive Adverbiale wäre: als Kind, als Erwachsener, erbt in der nominalen Fügung mit der Vagheit des attributiven Anschlusses außerdem zumindest einen Teil der wertenden Bedeutung, welche die Adjektive kindlich oder erwachsen neben ihrer Zugehörigkeitsbedeutung haben. Und auch in diesem Textstück zeigt sich, wie wichtig die Funktion der Text-organisation bei den Derivationen ist, nämlich bei der deadjektivischen Derivation Selbstzufriedenheit, die - selbst klassifizierend - vorausweist auf Elemente und Ver[24]haltensweisen, von denen dieser Zustand erzeugt wurde. In der Aufzählung all dessen, was nicht mehr ist, wird dieser Verweis kataphorisch ex negativo aufgelöst

FLEXION IN DER Konversion (Transition) ist wie gesagt eigentlich ein NaNOMINALGRUPPE me für zweierlei, einerseits für den Tatbestand, dass Lexeme durch Wortbildungstechniken die Wortart wechseln, andererseits für jene Technik, die das allein durch die Hinzufügung der entsprechenden Flexive leistet. In diesem zweiten Sinn ist sie bei dem Gang durch die zentralen Wortbildungsarten, auf dem wir uns befinden, von Belang. Die Konversion ist im Deutschen zweifellos Domäne des Substantivs16, Substantivierung ist der Hauptfall von Konversion. Substantivierung bedeutet praktisch, dass ein Artikel vor ein anderes Element gesetzt wird, das somit zum Kern einer Nominalgruppe erklärt wird, und dass an das Flexem aus einer anderen Wortart die nominalen Flexive treten. Dabei ist an zwei Stellen Wortartwechsel schon so in das morphologische System des Deutschen eingegangen, dass man eigentlich nur mit Mühe von Konversion im technischen Sinne der Bildung sprechen kann.

… und das Das ist zum einen, vielleicht nicht besonders überraschend, beim Adjektiv Adjektiv der Fall. Das Adjektiv in der Nominalgruppe, links vom Nomen, ist ja von seinem ganzen Kategorien- und Flexionssystem weit vom Substantiv entfernt. So kann man relativ problemlos annehmen, dass dasAdjektiv in dieser flektierten Form, wenn kein weiteres Nomen mehr folgt, die in ihm angelegte nominale Struktur voll nutzt. Neben der primären attributiven Verwendung hat das Adjektiv somit, zumindest in den zentralen Fällen der Wortart, sekundäre Verwendung als Substantiv, bei der einfach das ohnehin realisierte nominale Flexionsinventar in Verbindung mit dem Artikel genutzt wird. Die Genusvarianz des Adjektivs wird dabei sozusagen natürlich genutzt, indem die Maskulina und Feminina Personen des entsprechenden Geschlechts bezeichnen, ebenso wie der Plural, während das Neutrum ein Abstraktum bildet, das einen spezifischen Namen für die Eigenschaft bildet. Dessen Besonderheit zeigt sich schön an dem folgenden Beispiel, wo die substantivische Verwendung des flektierten Adjektivs neben eine formgleiche, aber bedeutungsverschiedene Derivation mit dem Suffix {-e} gestellt wird:

(11) Das Wort Chaos kommt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich das Klaffende, weit Offenstehende, Leere des Weltraumes. In den antiken Kosmogonien, schon bei den Vorsokratikern, aber auch in der noch älteren Schöpfungsgeschichte der Bibel ist diese Wüste und Leere der Urgrund allen Werdens, aus dem schließlich der Kosmos hervorgehen kann. (Cramer 1994, S. 83)

Das Leere und die Leere, die Derivation mit dem -e-Suffix benennt den Tatbestand ,die Substantivierung des Adjektivs, was diesen Tatbestand qualitativ ausmacht.17 Für die entsprechenden Personenbezeichnungen stehe das folgende Zitat aus Bert Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“, in denen dieser zudem ebenso auffällig wie regelmäßig als der Denkende apostrophiert wird: [25]

(12) Die Neuen mußten sich alles neu berichten lassen, wodurch sie das Auffällige daran wahrnahmen. (Brecht 1967, S. 49)

Diese Beispiele von substantivischen Verwendungen adjektivischer Lexeme, aber auch von solchen, die als Partizipien erst dazu geworden sind, zeigt, wie nahe die beiden nominalen Wortarten beieinander stehen, so dass das Adjektiv, gerade in derVerteilung der Flexion, die das Deutsche heutzutage kennzeichnet, leicht als Substantiv auftreten kann, wenn sich rechts von ihm in der eröffneten nominalen Klammer kein weiterer Kandidat findet. Die Partizipien, die hier vorkommen, und von denen wir in den früher zitierten Texten schon weitere Beispiele gesehen haben, dokumentieren, dass es mit den sogenannten Nominalformen des Verbs Standardübergänge zwischen den schembar unvereinbaren Wortarten Substantiv und Verb gibt - wenn auch beim Partizip sozusagen auf dem Umweg über das Adjektiv.

… und der Klarer noch als bei den Partizipien ist das beim Infinitiv, den man Infinitiv als einen Namen für ein verbales Lexem verstehen kann. Als die infiniteste der infiniten Formen hat sie verschiedene Möglichkeiten der Annähe-rung an eine syntaktisch nominale Verwendung. So erscheint auch hier das Wort Konversion als ein fast zu grobes Etikett für einen mehrstufigen Übergang. Manchmal reicht es, einfach den Namen des Verbs zu zitieren, wie in Sprichwörtern der Art, dass Reden Silber, aber Schweigen Gold sei, wo eben weder die Infinitivkonstruktionen zu reden und zu schweigen als syntaktische Anschlüsse des Verbs gewählt werden, noch die vollen Substantivierungen mit dem Artikel: das Reden und das Schweigen. Bei der gerundartigen Aufrufung des Namens steht eine Art generischer Nennung im Vordergrund, sie ist aber überhaupt nur im Nominativ und Akkusativ möglich:

(13) Auch wenn Katzen vor seiner Tür jaulten, stand er auf vom Lager, selbst bei Kälte, und ließ sie in die Wärme ein. „Ihre Rechnung ist einfach“, sagte er, „wenn sie rufen, öffnet man ihnen. Wenn man ihnen nicht mehr öffnet, rufen sie nicht mehr. Rufen, das ist ein Fortschritt.“

Aber wo Geldhaben herrschen bedeutet, da ist herrschen nichts, was Geldstehlen entschuldigen kann. (Brecht 1967, S. 36, 73)

Am anderen Ende stehen Infinitive, die wie wirkliche Substantive behandelt werden. Das kann im Fall des Nominativs und Akkusativs, wo die jeweils andere Option besteht, zur Konkretisierung eines Einzelfalls dienen, ist ansonsten aber einfach auch den morphologischen Zwängen des Deutschen geschuldet:

(14) Eine Wissenschaft vom Werden ist im Entstehen. (Cramer 1994, S. 264)

Er sei bis ans Ende der Äste gekrochen, und die vielfältigen Bewegungen, das Um-sich- und Übersichgreifen müßten ihm gutgetan haben. (Brecht 1967, S. 70)

So ist es sicherlich übertrieben, wenn all diese Übergänge, die schon in der Nominalität der Form angelegt sind und nur in unterschiedlicher Weise entfaltet zu werden brauchen, gleichermaßen unter dem Begriff der Konversion laufen. [26]

… und Aus dem selben Grund gibt es auch in der umgekehrten Rich- umgekehrt? tung definitorische Schwierigkeiten. Wie sind die vielen desubstantivischen Verben zu beurteilen, die lediglich aus einer substantivis Basis und dem Element {-en} bestehen? Wir haben oben schon beiläufig darauf hingewiesen, dass es von der Behandlung dieses Problems ganz entscheidend abhängt, welche Schwerpunkte die Wortbildung des Verbs hat, genauer gesagt, ob die Drivation zu ihnen gehört oder nicht. Verben dieses strittigen Typs gibt es viele, und es lassen sich ohne weiteres auch neue Exemplare bilden:18

(15) [...] aber als er's treppauf muttern hörte, wußte er, dass er „Stairway to Heaven“ auch diesmal nicht komplett aufs Band kriegen würde.

[...] beim Seidenbody („Häkchen G. denk dran“) hausmeisterte ihnen allerdings Herr Scheuffele entgegen.

Der Junior-Jogi schlachtschüsselt in der Tiefe des Raumes.

Erst gegen Abend raffte Gregor sich auf, moltofillte K. s Dübellöcher. (Politycki 1997, S. 16, 242, 346, 364)

Die Mutter des pubertierenden Helden der Geschichte kommt die Treppe herauf; Herr Scheuffele ist in dem Roman als Prototyp des Hausmeisters gezeichnet, kann also sprachlich nicht anders, als dem Paar im dritten Teil der Geschichte als solcher entgegenzukommen; der Sohn des Metzgers bereitet eine Schlachtschüssel zu; von K., der Held in im letzten Teil des Romans, verlassen, füllt Gregor Wandlöcher der ehemals gemeinsamen Wohnung mit Moltofill. Was passiert hier?

Handelt es sich hier darum, dass die verbalen Flexionsmorpheme den Übertritt von der einen in die andere Wortart markieren, also um Konversion im technischen Sinn? Dafür spricht natürlich, dass im aktuellen Satz die verbalen finiten Endungen einfach den Infinitiv der Nennform ersetzen. Oder geht es darum, dass hier mittels eines Suffixes {-en} Ableitungen von substantivischen Basen gebildet wurden? Dafür spricht, dass dadurch ja nicht so sehr eine Verbform gebildet wird, sondern ein Name für ein verbales Lexem, wie wir oben formuliert haben. Vielleicht gibt es aber doch noch ein Drittes: vom Verb aus gesehen ist der Infinitiv eine verbale Form mit nominaler Charakteristik, und so könnte man vom Substantiv aus den Infinitiv eine substantivische Form verbalen Charakters nennen, wie das eindeutig bei jenen Typen der Fall ist, wo man nicht recht sagen kann, ob Substantiv oder Verb primär ist, das heißt bei Beispielen vom Typ Arbeit vs. arbeiten (vgl. Augst 1999, S. 40ff.). Wie man an den obigen Beispielen sieht, funktioniert dieser Wechsel in vielen Fällen, an die in man nie gedacht hätte. Diese Regelmäßigkeit, die ebenfalls von einer flexivischen Sekunddärverwendung zu sprechen erlaubte, wird lediglich bei nicht autochthonen Basen durch echte Ableitungen mit dem Element {-ier} durchkreuzt - wobei hier die Einschätzung in der Sprachgemeinschaft offenbar schwanken kann, wie das Nebenander von Formen wie filtern und filtrieren zeigt, oder auch die regional differente Verteilung von grillieren (in Österreich) und grillen.

Dazu gehört, dass auch die Basen dieser nichtautochthonen Bildungen häufig Besonderheiten zeigen. Zumeist handelt es sich um lediglich gebundene lexikalische [27] Morpheme, so genannte Konfixe, bei denen man im Unterschied zu den autochthonen Basen davon ausgehen kann, dass sie für den Benutzer des Deutschen nicht im selben Maße wortartenmäßig fixiert sind, und so immer ein Signal ihrer Realisierung als Substantiv, Adjektiv oder Verb brauchen. Man hat das in diesen Fällen mit dem Konzept der Suffixalternanz zu beschreiben versucht. Wir wollen dafür halten, dass sie um Unterschied zu den meisten autochthonen Lexemen so erst die Möglichkeit bekommen, überhaupt als ein Wort realisiert zu werden. Ein typisches Beispiel fürdiesen Fall sind Morpheme wie {mform(a[t])}, {demonstr(a[t])}, innov(a[t])} usw.:

(16) […] er informierte sie, wer von den alten Bekannten […] geflohen […] war.

[…] er blickte demonstrativ lange zur Mutter. (Hein 1997, S. 141, 179)

die letzten Innovationen

[...] die Herrschaft des Akademismus in Leben und Kunst.

Seltsam stagnatives, lasches Erörtern der Lage.

[…] und wurde Rigorist. Was vor Zeiten ein Rezitator war.

Wenn der Existenzialismus nach dem Krieg, den Menschen in die Freiheit stieß, so muß er heute gegen die frei-verfälschte Welt reexistenzialisiert werden. (Strauß 1997, S. 79, 117, 74, 77, 115/16)

Eine seltsam internationalistische Kompetenz wird für das Verständnis dieser und all der anderen Wörter verlangt, die zu denselben Elementen bildbar sind.19 An der lateinischen Wissenschaftssprache orientierte Bildungsmuster stellen die Grundlage für die Allomorphie im Basislexem dar. Bestärkend und modifizierend wirken einerseits Traditionen der französischen Weltsprachenposition, andererseits natürlich weitaus deutlicher die Überformungen durch die nunmehrige lingua franca der Bildungssprachlichkeit, das Englische.20 Die Auffaltung der in den obigen Beispielen angesprochenen lexemfähigen Einheiten möge erhellen, welche Ausbaumöglichkeiten so realisiert und welche Sprachbezüge dadurch aufgerufen werden. Erkennbar produktiv sind zum Beispiel folgende Typen, die typische Reihen von Umkategorisierung ausbilden: [27]

[…]

[29] Diese beispielhafte Aufzählung soll dokumentieren, dass sich hier doch auch ein Zusammenhang der Bildungsstrukturen rekonstruieren lässt, der von primären und sekundären Funktionen auch bei diesen Lexemen zu sprechen erlaubt. Die Ableitungsrichtungen sprechen davon, dass auch hier das Konzept des Wortartwechsels anzuwenden ist, und dass auch in diesen Fällen manche Übergänge eher angelegt sind als andere. Wo aber jede Wortart erst ihr Aktualisierungsmerkmal bekommt, um wortfähig zu werden, kann natürlich die Technik der eigentlichen Konversion nicht greifen.24

Die Konversion erscheint somit zwischen der Nutzung von Voraussetzungen ausder Flexionsmorphologie und der syntaktisch oder textuell angebundenen ad-hoc-Konversionen zu schwanken. Die wirklich häufigen und zentralen Fälle von Konver-sion sind eher Teile eines systematischen Wechselprozesses am Rande der flexions-morphologischen Kodierung an systematisch dafür vorgesehenen Übergangsstellenals vergleichsweise beliebige Wechselprozeduren im Rahmen einer lexikalisch zu ver-stehenden Wortbildung.25

… und andere [30]So sind denn die Produkte anderer Arten von Konversion
Formen auch immer vergleichsweise auffällig, seien es die Substantivierungen von anderen Wortarten wie das Ich, das Für und Wider, mein Ein und Alles, `Tomi, das Irgendwo'. (Ransmayr 1991, S. 9), aber auch Adjektivierungen die zue Tür (s. insges. Duden 1998, S. 427ff.). Wie schon das Beispiel für Adjektivierungen zeigt, erreichen diese Wörter häufig nur in einem gewissen Ausmaß bzw. erst in einem zeitlichen Verlauf alle Möglichkeiten der jeweiligen Zielwortart. Typisch ist das etwa bei den recht seltenen Konversionen von Substantiven in den Adjektivbereich, die zumindest zunächst nur zur Verwendung als Adkopula führen. In diesem Status scheinen derzeit drei lockere Bewertungswörter zu sein: etwas ist klasse, scheiße, spitze.

(21) Im Lied „Raus“ geht es darum, wie aus Liebe Hass werden kann. Die Alte ist scheiße und muss raus. (jetzt 41, 1999, S. 8).

Mehr noch gilt die Bewertung als auffällig für jene Bildungen, die wohl systematisch hierher gehören, traditionell aber unter der Sonderbezeichnung Zusammenrückungen laufen. Bei ihnen handelt es sich um Nominalisierungen von praktisch beliebigen Einheiten, die so zitierbar gemacht werden. Motsch (1999, S. 326) prägt für die Ergebnisse dieser Umsetzungen den Terminus `Verbalphrasennominalisierungen'. Es geht um Bildungen wie Den-Teufel-an-die-Wand-malen. In diesem Umfeld kommen auch lexikalisierte Bildungen mit Eigennamencharakter vor: der Gottseibeiuns ist ein Name für den Teufel, das Vergissmeinnicht einer für eine Blume. In der erwähnten Terminologie müssten das nicht nur Satznominalisierungen, sondern sogar Äußerungsnominalisierungen sein. Außerdem lässt sich das Muster zumindest spielerisch auch auf andere Einheiten ausweiten. Die beiden zuletzt genannten Phänomene zeigen, dass wir uns nunmehr im nicht so strikt geregelten Randbereich der Wortbildung befinden. Entsprechend lassen sich diese Mittel mit stilistischem Sonderwert nutzen, wie das folgende Beispiel unschwer zeigt:

(22) Der Gingganz

Ein Stiefel wandern und sein Knecht
von Knickebühl nach Entenbrecht

Urplötzlich auf dem Felde drauß
begehrt der Stiefel: „Zieh mich aus!“

Der Knecht darauf: „Es ist nicht an dem,
doch sagt mir, lieber Herre, -! wem?“

Dem Stiefel gibt es einen Ruck:
“Fürwahr, beim heiligen Nepomuck,

Ich GING GANZ in Gedanken hin …
Du weißt, dass ich ein andrer bin,

seitdem ich meinen Herrn verlor …“
Der Knecht wirft beide Arm empor,
[31]

als wollt er sagen: „Laß doch, laß!“
Und weiter zieht das Paar fürbaß.

(Christian Morgenstern: »Galgenlieder«)26

1.1.4 Inkorporation: was zusammengehört

So sind wir denn mit den zuletzt diskutierten Sonderfällen der Konversion [Transition], die man Zusammenrückungen nennen könnte, und auch mit jenem Bildungstyp, der Zusammenbildung genannt wird, bei jenen Arten der Wortbildung, die als allmähliche Univerbierung in der syntagmati­schen Abfolge des Satzes nebeneinanderstehender Elemente verstanden werden können. Wir haben dafür, in lockerer Anlehnung an einige neue terminologische Vorschläge den Begriff der Inkorporation gewählt. Er überdeckt als ein leitendes Prinzip eine Reihe von Wortbildungsarten, die sich vom zentralen Bereich der Komposition und Derivation in Richtung auf das syntaktische Ende der Wortbildung hin erstrecken. […]

RelationeN Es gibt aber eine Vielzahl vom komplexen Wörtern, die sich
ohnE eines derivationellen Suffixes bedienen, um zum Substantiv zu RelatoreN werden, sich in der lexikalischen Basis aber nur annäherungsweise auf sonst auch syntaktisch oder phraseologisch ausgeführte Verbindungen beziehen. Das muss so kompliziert formuliert werden, da sie sich ja auf solche Fügungen in einer Weise beziehen, die gerade die spezifisch syntaktischen Verbindungsmittel beiseite lässt. Das klassische Zentrum dieser Bildungen - beim Substantiv - sind die Fälle, wo eine Wortgruppe, der aber genau das an Bindungsmitteln fehlt, was die syntaktische Wortgruppe aktualisiert und zusammenbindet, mittels eines Suffixes abgeleitet wird. Es handelt sich um Wörter wie Dreiachser `Lastwagen mit drei Achsen'. Häufig ist die Analyse etwas ambivalent: ist ein Gepäckträger `ein Träger von / für Gepäck', also technisch gesprochen ein Kompositum oder `jemand, der das Gepäck trägt', und damit ein lexikalischer Typ von Inkorporation. Eindeutig ist die [32] zweite Lesart, wenn die lexikalische Basis ihrerseits bereits einen Phraseologismus darstellt. Der Bedenkenträger ist zweifellos kein `Träger von etwas', sondern `jemand, der Bedenken trägt'.

und das Erbe In einem weiteren Sinne gehören zu einer solcherart verstandevon Rektion nen Kategorie der Inkorporation all jene Bildungstypen, welche die vor allem in verbalen Lexemen angelegten Komplemente und - zum Teil - Supplemente in entsprechender, d.h. lexikalisch geformter Weise in sich aufnehmen. Das sind zuvorderst die sogenannten Rektionskomposita. Das beginnt dann logischerweise schon da, wo in als nominal gekennzeichnete verbale Lexeme - `Substantivierungen' von Infinitiv oder Partizip - Elemente aus dem syntakto-semantischen Umfeld dieses Lexems eingebaut werden. Das können einfache syntaktisch rekonstruierbare Beispiele sein wie oben in (13) und (14): bei Geldhaben oder Geldstehlen wird einfach das Objekt integriert. In diesem Fall, da es sich semantisch bei Geld um ein Kontinutativum handelt, auch formal völlig unauffällig. Bei Umsich- und Übersichgreifen ist der syntaxnahe Part dieser Inkorporation ganz deutlich - und das unabhängig davon, wie man dieses Problem orthographisch gerne gelöst hätte. Aber es gibt auch die stärker integrierten, unmittelbar auf semantische Schematisierung zurückgreifenden Inkorporationen.

(23) Gefrorene Windstriche an jedem Zweig, das Papierklirren der Rauhreifbäume … (Botho Strauß: »Die Fehler des Kopisten«. München 1997, S. 187)

Auch hier scheint es aber naheliegender, nicht das Papierklirren von anderen Arten des Klirrens zu scheiden, sondern das Ganze als eine nominale Fassung der Proposition, dass Raureifbäume wie Papier klirren, zu verstehen.

Dieses Modell der Univerbierung lässt sich natürlich noch unterschiedlich akzentuieren, wenn Wortbildungsmorpheme weitere Informationen liefern, als nur den nominalen Charakter des verbalen Lexems zu betonen.

(24) Der Dichter als Durcheinanderwerfer, als Prophet des selbstgefertigten Eschatons, der Ja-Sager zu Zerstörung und Entropie. (Strauß 1997, S. 83)

Auch hier haben wir es logischerweise nicht mit einer Klassifikation von Werfern zu tun, sondern einer agensorientierten Nominalisierung eines verbalen Lexems mit seiner direktionalen Bestimmung.

(25) […] diesem stumpfsinnigen, ordinären, erzkatholischen Kunstmißbraucher, der seit vielen Jahrzehnten der größte aller kulturellen Umweltverschmutzer in diesem Lande ist. (Thomas Bernhard: »Holzfällen. Eine Erregung«. Frankfurt/M. 1984, S. 258)

Von ähnlichem Typ ist Kunstmißbraucher, eine ad-hoc-Nominalisierung mit einer verbalen Basis (mißbraucht) ohne Folie eines lexikalisierten Wortes Mißbraucher. Dagegen neigt Umweltverschmutzer eher zu einer Klassifikation der Verschmutzer, d.h. zu einer Interpretation als Kompositum, in einer anderen Sicht - von der musterprägenden Kraft von [Umwelt + [kritisch zu sehende Handlung]nomen agentis - auch zu einer analog ausgebauten Klassifikation der Umweltsünder.27[33]

(26) Sowohl der Machtunterworfene als auch der Machthaber können leicht grobe „Fehler“ begehen. (Albert Martin / Volker Drees: »Vertrackte Beziehungen. Die versteckte Logik sozialen Verhaltens«. Darmstadt 1999, S. 84)

Mit lexikalischen Konversen auf verbaler Basis `die Macht haben', `der Macht unterworfen sein' wird hier ein Paar aufeinanderbezogener Personenbezeichnungen gebildet, die beide auf dem Prinzip der Inkorporation beruhen, allerdings in unterschiedlicher Weise in die Üblichkeiten der Wortbildung eingebaut sind Nutzt Machthaber das gängige Muster der nomina agentis auf -er, um so die angedeutete Fügung lexikalisch zu integrieren, so wird in Machtunterworfener die sekundäre substantivische Verwendung des adjektivischen Lexems genutzt, um einerseits das Äquivalent eines syntaktischen Dativs (der Macht) zu integrieren, und andererseits des substantivischen Charakter zu sichern.

Es ist ganz offenkundig, dass wir uns damit ganz nahe an der Nominalgruppensyntax befinden, wo dependentielle Strukturen des adjektivischen Bereichs entweder, wie gerade angedeutet, übernommen werden oder sich in syntaktisch gesteuerten Attributionen wie den genitivi subiectivi oder obiectivi niederschlagen.

1.1.4 Kurzwortbildung: to whom it may concern

Wir hatten es bisher mit Techniken der Wortbildung zu tun, die uns durch die Kombination von einfacheren Zeichen bzw. zumindest durch die flexivische Vereindeutigung beim Verstehen helfen: wir haben ja auch bisher versucht, die relative Motivation, die in den einzelnen Bildungstypen liegt, etwas auszuleuchten. Manchmal wird einem die Genauigkeit und Explizitheit dabei etwas zuviel. Das kann mindestens drei Gründe haben. Entweder sind an der Kommunikation über einen bestimmten Sachverhalt ausschließlich Spezialisten beteiligt, die der dauernden expliziten Erinnerung nicht bedürfen oder die Kommunikation findet in einer zusammengehörigen Gruppe statt, die ihre Zusammengehörigkeit über ein Verständnis auch nicht voll explizierter Zusammenhänge signalisiert. Zum dritten gibt es Anforderungen einer womöglich textsortenspezifischen Ökonomie, die es geraten erscheinen lassen, nicht die höchste mögliche Explizitheit zu wählen, aber sich dennoch an bestimmten inhaltlichen Stellen nicht einfach auf formale Mittel der Referenzsicherung wie Pronominalisierung zu verlassen.

Das Umfeld dieser drei Gründe ist der Boden für das Aufkommen oder eine verstärkte Verwendung von Kurzwörtern, bei hinreichender praktischer Relevanz für die Allgemeinheit können solche Kurzformen auch in die normalsprachliche Ebene eindringen.

So kann man denn die Verwendung von Kurzwörtern insgesamt als eine Folge des Ökonomieprinzips ansehen, dem die Sprecher folgen. Da bekanntlich das Ökonomieprinzip am besten funktioniert, je näher es an der Grenze zum Zusammenbruch der Kommunikation ist, sind Kurzwörter an sich schlechter zu verstehende Varianten [34] bereits existierender Lexeme, die in einer auf Sprechbarkeit hin orientierten formalen Reduktion nur eine mehr oder minder starke Erinnerung an die Vollform bewahren. Gelegentlich kann die Vollform dahinter verschwinden, so dass die alte Kurzform die einzige, das heißt die neue Vollform wird. In gewisser Weise haben so Kurzwörter mehr vom Phraseologismus als von der eigentlichen Wortbildung - das Kurzwort ist eine Art Metapher der Ausdrucksform. Manchmal hat diese Form hohen emblematischen Wert. So verwundert es auch nicht, dass andererseits wieder viele dieser Bildungen eine Art Ikonismus auf anderer Ebene suchen.

1.1.5 Zusammenschau

Wir haben von dem grundlegenden Inventar der Wortbildung gesprochen, und davon, wie und in welcher Funktion sie uns in unserem sprachlichen Leben begegnet. Wir haben das der Einfachheit halber - die Bedeutungen von Substantiven lassen sich am einfachsten isolieren - am Beispiel der Substantive behandelt.

Funktion Dabei hat sich eine dreifache funktionale Schichtung ergeben. Den Kern dessen, was der Wortbildung eigen ist, finden wir in den Techniken der Komposition und der Derivation wieder. Diese Techniken werden funktional abgerundet durch Arten der Wortbildung, die dann bruchlos in Bereiche der flexivischen Morphologie hinüberführen. Sie werden üblicherweise unter dem Oberbegriff der Konversion geführt. Analog dazu führen andere Arten ohne klaren Schnitt bis hin zur Univerbierung syntaktisch einander benachbarter Elemente: hierher gehören Rektionskomposita und Zusammenbildungen.

und Technik Was die einzelnen Wortbildungsarten angeht, so hilft die Komposition neue Objekte der Setzung zu konstituieren. indem dem Leser oder Hörer schemageleitete und textunterstützte Modifikationen bereits vorhandener Wortkonzepte abverlangt werden. Die Derivation mit dem festen Inventar ihrer Suffixe verhilft zu einer groben klassematischen Einordnung und zur Akzentuierung bestimmter Sehweisen in Verbindung mit bestimmten Basislexemen. Zumeist dient die Derivation der Überschreitung von klassema­tischen und von Wortartgrenzen. Das Überschreiten der Wortartgrenzen, das die Derivation prägt, ist für die drei großen Wortarten des Deutschen ohnehin schon im flexivischen Raume angelegt. Adjektivische Lexeme sind sekundär auch zur substantivischen Verwendung geeignet, das Substantiv zur verbalen und das Verb zur adjektivischen und zur substantivischen. das macht den Kern dessen aus, was man gerne Konversion nennt. auf dem Gebiet der Modifikation, die wir von Kompositum kennen, gibt es Taktiken der Univerbierung, die sich an semantische Strukturen anlehnen, denen auch bestimmte syntaktische Hierarchisierungen entsprechen. Traditionell haben die Techniken aus diesem Bereich verschiedene Namen: wir wollen sie unter dem Begriff der Inkorporation zusammenfassen. [35]

1.2 Struktur und Funktion

1.2.1 Strukturelle Analogien

Die strukturalistisch orientierte synchronische Wortbildungsforschung, welche sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Deutschen beschäftigte, hat besonderen Wert gelegt auf die strukturale Analogie in Konstruktionen, die dem naiven Blick als unterschiedlich erscheinen. Das betraf zunächst längere Zeit vor allem die Parallelen zwischen den verschiedenen Arten von Wortbildung, dann mehr das Herrschen derselben Strukturierungsprinzipien bei syntaktischen Konstruktionen und der Konstruktion komplexer Lexeme.

OPERATOR- Ein wesentlicher Punkt war dabei und ist es weiterhin noch, OPERAND- dass hierarchische Binarität und eine Operator-Operand-Struk-BEZIEHUNGEN tur bzw. Rechtsvererbung zumindest die zentralen Bereiche der deutschen Wortbildung prägten. Nun ist dieses Modell zunächst entwickelt und am schlagendsten ausgeführt worden im Bereich der Komposition.

Lexem-Lexem Dabei gilt als Paradefall des Kompositums das Determinativ-
Beziehungen kompositum. Bei ihm handelt es sich um eine Struktur aus zwei Elementen mit lexikalischer Bedeutung, die in vielen Fällen auch als eigenständige Lexeme auftreten können. Der Binarität der formalen Struktur entspricht eine inhaltliche Determinationsbeziehung, die der klassischen Unterscheidung von genus proximum und differentia specifica nachmodelliert ist. So ist denn auch das Zweitglied, das Determinatum, zuständig für die klassematische Kategorisierung, die Erstelemente, Determinantia genannt, schränken die so eröffnete Klasse auf eine Subklasse ein. Der Erfolg eines neuen Kompositums beruht nun darauf, inwieweit - zumindest im Zusammenhang des jeweiligen Textes - diese Subklassifikation als eine dem Zweitelement inhärente Eigenschaft aufgefasst werden kann. Kontingente Eigenschaften werden in der Nominalgruppe tendenziell nicht so eng mit dem lexikalischen Kern der Nominalgruppe verbunden. So ist logischerweise das Zweitelement, das bestimmte Wort, das Determinatum, ein Element, das selbständig auch als Substantiv auftreten kann, sei es ein primäres Substantiv, sei es, dass es durch einen ,reinen' Konversionsprozess oder einen Derivationsvorgang zu einem Substantiv geworden ist. Das Erstelement unterliegt in dieser Hinsicht keinen grundsätzli- chen Beschränkungen, allerdings deutlichen statistischen Unterschieden. Bei weitem am häufigsten sind ebenfalls substantivische Erstglieder, mit großem Abstand folgen verbale Erstelemente, fast eine Randgruppe stellen die Bildungen mit adjektivischen Erstelementen dar. Andere Erstelemente tauchen lediglich vereinzelt auf. Im Folgen- den sind die Typen mit Substantiv, Verb, Adjektiv, Adverb, Präposition und Pronomen beispielhaft aufgeführt:

(27) [...] und er sang hoch [...] seine Tamino-Arie. Die Mähdrescher fahren über die Hügel. [...] wie die Herkunft seines Schwachsinns. [...] niemals vom Einstweh überwältigt zu werden. Soviel Vorgeschmack auf die Hölle. So wenig Nachgeschmack vom Paradies.

[...] aus denen niemals schöne Gleichgültige, nachdenkliche Selbstbetrügerwerden. (Strauß 1997, S. 9, 17, 22, 64, 107, 16)

Die auftauchenden komplexen Wörter folgen Wortbildungsmustern, welche die Interpretation erleichtern: dabei ist es am leichtesten, wenn das Zweitelement, aber auch das Erstelement gewisse Relationen bereits formal anbieten. Das betrifft verbale, adjektivische, aber auch bestimmte relationale substantivische Elemente, die bestimmte Relationen wahrscheinlicher erscheinen lassen als andere.

(28) ⇒ Für zwei Tage Sommer im April. Hitzevorschuß. (Strauß 1997, S. 10)

Sah zur Franzi, als hinge er an ihren unentwegt Klugsätze formulierenden Lippen, [...]. (Politycki 1997, S. 167)

Flieder und Spiräen zeigen am baren Weiß die ersten Schmutzränder des Welkens. (Strauß 1997, S. 16)

Ausstellungen, die den Gewaltregimen des Jahrhunderts gewidmet sind. (Strauß 1997, S. 1076)

So bietet in dem ersten Beispiel, einem Rektionskompositum, die Rektion des des verbalen Nomens, Vorschuss an etwas, den Hinweis auf die naheliegendste Interpretation, die auch vom Kontext gestärkt wird.28 Beim zweiten Beispiel wird die attribu tive Beziehung ins Prinzipielle hypostasiert, prinzipiell kluge Sätze, im dritten Fa hilft uns der Kontext mit den weißen Blumen, die relationale Instruktion des Won Rand nicht als ,Rand von' sondern als ,Rand bestehend aus' zu lesen. Dagegen sin wir im letzten Fall, bei dem die Substantive Regime und Gewalt miteinander verbur den sind, gezwungen, Gewalt als eine Art charakteristischer Eigenschaft mit Regirr in Verbindung zu bringen. Bei diesen Komposita mit zwei substantivischen Glieder und nicht relationalem Zweitglied wird eine Reihe von Relationen abgeprüft und m den klassematischen Verhältnissen im komplexen Wort verrechnet. Das geht häuf] auf dem Wege eines analogischen Verfahrens, das nach einer Reihe von Bildunge oder nach einem besonders prägnanten Muster Deutungen oder die Schaffung neuer Bildungen erlaubt. Die groben Muster sind nicht unähnlich den in der Satzsemant mit einer gewissen Präferenz kodierten Beziehungen, es gibt subjektsorientierte Relationen wie agentische Subjektsbeziehungen, nichtagentische Subjektsbeziehungen wie bei Vorgangs- und Zustandssubjekten sowie instrumentale und kausale Urheberbeziehungen, wie in den folgenden Beispielen; in diesen wird dabei nicht zwischen den eigentlichen Komposita und dem Inkorporationstyp des Rektionskompositums geschieden:

(29) ⇒ Marotten von Berühmtheiten, Studentenstreiche. (Rehmann 1999, S. l7) `subj-ag' - Die Studenten machen Streiche

Wie ein durch die Wolken brechender Sonnenschein, (ebd. S. 8) `subj-ag' - Die Sonne scheint

⇒ [...] für ein Arbeitsgeräusch hält wie Computerklappern oder Maschinensurren `subj-ag - Computer klappern, Maschinen surren [37]

Von Zeit zu Zeit dröhnt eine unverständliche Lautsprecherstimme durch den Waggon (ebd. S. 8) `caus' - Vom Lautsprecher geht eine Stimme aus ⇐ der Lautsprecher lässt seine Stimme erschallen

wechselt ständig Stand- und Spielbein (ebd. S. 7) `instr' - mit dem Bein steht man ⇐ Das Bein steht

Daneben finden sich objekts-orientierte Beziehungen wie objeff objaff, pat, fin, cons:

(30) ⇒ dass das keine Liebeserklärung ist (ebd. S. 8) objaff - (jmd.) erklärt seine Liebe

dann greift sie nach der Reisetasche (ebd. S. 7) fin - die Tasche ist für die Reise

Und es treten adverbiale Relationen wie `Vergleich', `Entsprechung', mod, loc, temp auf:

(31) Ihre Kleidung gibt keine Auskunft über das Herkunftsland (ebd. S. 7) ,loc'

eine […] ganz der Belehrung hingegebene Altersstimme (ebd. S. 17) `Entsprechung'

Daneben hat man aber auch mit spezifischen lexikalischen Bezügen bzw. Bezügen zu tun, die eher bei den attributiven Techniken der Syntax wiederzufinden sind, wie `Teil von'oder `Bestehen aus', `Haben', `Identität', `Bereich':

(32) ⇒ Abseits vom abfließenden Menschenstrom setzt sie die Tasche hin (ebd. S. 7) `Bestehen aus' - Strom der/von Menschen

ein in Pastellfarben zwischen Blau und Türkis getöntes Seidentuch (ebd. S. 7) `Bestehen aus' - Tuch aus Seide

Jeder England-Erfahrene weiß (ebd. S. 8) `Bereich' - mit England Erfahrene

Die Komposita mit adjektivischem Erstglied benennen häufig einen namenfähigen Teil der Beziehung, die in der Attribution (implizite Prädikation) bzw. einer ursprünglich adverbialen Beziehung (mod) schon angedeutet war.

(33) mit engem geschlitzten Rock und lockerem Oberteil (ebd. S. 7) - oberes Teil

So ähnlich ist das mit entsprechenden fast nur gebunden vorkommenden Elementen (s.o. Pastellfarben).

Gleiches gilt für die sonstigen Typen, die ja häufig irgendwie adverbial angebunden sind:

(34) ⇒ Junge Frau oder ältere Dame - irgendwo im ungenauen Zwischenfeld (ebd. S. 8) `loc/mod'

Sie empfindet die Nichtreaktion (ebd. S. 9) `mod/neg'

Lexem-Suffix- Was die Form angeht, lässt sich das binäre Schema mit der Spe-Beziehungen zifizierung von links nach rechts auch auf die Suffixderivation noch einigermaßen problemlos anwenden. Auch die Suffixe bestimmen ja semantische Klasse und formale Eigenschaften wie Genus und Flexionstyp. Allerdings handelt es sich bei den auf dieser Ebene gegebenen semantischen Instruktionen nicht so sehr um lexikalische Bedeutungsangaben, als vielmehr um Instruktionen zur Aktualisierung eines bestimmten klassematischen Aspekts der in der lexikalischen Basis angelegten Bedeutung. Im Suffix werden hyperklassematische Relationen thematisiert, wie sie beim Kompositum die beiden Teile desselben verbinden. Darauf spielen ja schon die klassischen Bezeichnungen nomen actionis `Name für die Handlung', nomen agentis `Name für den Handelnden', nomen acti `Name für das Ergebnis' und nomen instrumenti `Name für das Mittel' an, mit denen die suffixalen Umsetzungsmöglichkeiten verbaler Lexeme durch Nominalsuffixe beschrieben werden.

(35) [...] breitet sich in ihrem Körper die Vorstellung aus […] als Hüter und Beschützer […] liest die Anweisungen (Rehmann 1999, S. 8, 40, 9)

Zu erheblichen Schwierigkeiten auf formaler wie inhaltlicher Ebene führt die Anwendung des Binaritäts- wie des Determinationsprinzips bei allen konversionsähnlichen Bildungen sowie dem stark präfigierungsorientierten Bereich der verbalen Wortbildung, d.h. in jenen Bereichen, wo das Muster der Inkorporierung vorherrscht. Offenkundig wachsen die Schwierigkeiten, je stärker bestimmte Mittel der Transposition dienen, und sinken, sofern Modifikation den zentralen Punkt darstellt. In einer funktionalen Sicht, der die vorgeführten Deutungen entstammen, lassen sich diese Unterschiede zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen.

1.2.2 Erläuterung am Substantiv

Wir wollen das an der Wortart Substantiv erläutern, über die sich am leichtesten in einigermaßen uneingebundener Verwendung reden lässt. Beim Substantiv ist es die Funktion der Setzung, welche die Einheitlichkeit dessen sichert, was hier in der Wortbildung geschieht. Im Wesentlichen hat dieser Bezug auf die Setzungsfähigkeit zwei Seiten:

MODFIKATION Entweder hat die Basis eines komplexen Worts allein schon UND substantivische Merkmale, dann können die Wortbildungs- TRANSPOSITION mittel die so gegebene Vorgabe nur in der einen oder anderen Weise beeinflussen: man spricht in diesen Fällen von Modifikation. Oder die Basis allein ist noch nicht als Substantiv bestimmt, dann wird sie in der einen oder anderen Weise in diese Rolle überführt: in diesem Fall spricht die Wortbildungslehre von Transposition.

reine Modifikation Die Komposition ist die typische Struktur für die Modifikation. Komposita bleiben in der Wortart des am rechten Ende stehenden Grundworts. Diese Wortbildungsart kann auf dieser Ebene nichts ändern, sie differenziert vorhandene Setzungen, indem auf Schemata verwiesen wird, die uns im Text, in intertextuellen und sonstigen Wissensbezügen angedeutet werden. Das Wiedererkennen formaler und struktureller Analogien in Reihen von Bildungen erleichtert uns zweifellos das Verstehen. Beides, das Formale wie das Inhaltliche haben wir an einem Beispiel wie Ölfarbe gesehen. Schon Farbe allein ist ein Substantiv, dessen Bedeutungsumfang durch die Voransetzung des determinierenden Elements Öl auf eine Subklasse eingeschränkt wird: etwas über Hundert solcherart mit dem Determinatum/Zweitglied Farbe gebildeter Komposita, die Hyponyme dieses Oberbegriffs benennen, verzeichnet das rückläufige Wörterbuch von Gustav Muthmann (1988, [39] S. 187). neben der hier vorliegenden Kategorie `in der Farbe enthaltendes Element' gibt es eine Reihe von anderen Subtypen, die unser lebensweltliches Interesse an solchen Subklassifikationen erkennen lassen:

(36) Enthaltensein: Anilin-, Blei-, Bronze-, Eisenoxid-, Emaille-, Kalk-, Kasein-, Latex-, Leim-, Tempera-, Wasserfarbe usw.

Objekt: Aluminium-, Eier-, Eisen-, Metall-, Ofen-, Plakat-, Stoff-, Teigfarbe usw.

Subjekt/Instrument: Maler-, Fingerfarbe

Vergleich/Typ: Eierschalen-, Erd-, Fleisch-, Leucht-, Meer-, Perlmutt(er)-, Regenbogen-, Rosen-, Scharlach-, Mode-, Popfarbe

Wirkung/Zweck: Fluroszenz-, Interferenz-, Kenn-, Kontrast-, Schock-, Signal-, Warnfarbe

Art und Weise: Gegen-, Grud-, Komplementär-, Lieblings-, Misch-, Pastell-, Spektral-, Standard-, Voll-, Zwischenfarbe

u.a.m.

Wortartwechsel Am anderen Ende der Wortbildungsarten steht die Konversion als Mittel des formal unaufwendigsten Wechsels der Wortart. Ein lexikalisches Element aus einer anderen Wortart - logischerweise mit einer anderen Funktion - wird durch flexivische Markierung als Substantiv ausgezeichnet, und so als setzungsfähig markiert. Prädestiniert zu diesem Zweck erscheinen aus leicht erkennbaren Gründen die infiniten Formen des Verbs, die nicht zu Unrecht Nominalformen des Verbs genannten Infinitive und Partizipien. Es werden bei ihnen eben nicht nur die lexikalischen Kerne, sondern auch Merkmale der ursprünglichen Flexionsform in die neue Wortart mit herübergenommen. Man kann gerade am Infinitiv schön sehen, wie die funktionalen Übergänge durch entsprechende Aktualisierungsmarker kenntlich gemacht werden. Man sieht an diesen zentralen Fällen aber auch, dass bei den von uns zu behandelnden zentralen Wortarten diese Möglichkeit der Umkategorisierung bereits eingebaut ist, so dass hier die flexivischen Möglichkeit bruchlos in die Wortbildung übergehen. Dennoch hat auch der Übergang in den zentralen Fällen seine graduierende Abstufung, wie man das anhand eines oben schon angesprochenen Beispiels zeigen kann:

(37) Welch ein Mitgehen

FORM

KONSTRUKTIONSTYP

Ich werde mit den Anderen mitgehen:

Lass mich mitgehen!

Mit Anderen mitzugehen ist schön

Mit Anderen Mitgehen ist schön

Das Mitgehen mit Anderen

Der gemeinsame Gang mit Anderen

Komplexes Prädikat

`Modalitäts'-Konstruktion

zu-Junktion

Syntaktische Isolierung / Gerund

Substantivierung

Derviationelle Hypostasierung

Man sieht den Übergang, man sieht aber auch den Schritt, der mit der Substantivierung gemacht wird, wenn auch der Infinitiv als Nominalform eine Graduierung dieses Übergangs erlaubt. Der wird auch dadurch klar gemacht, dass eine ganze Reihe [40] dieser Bildungen einen von der Verbhandlung mehr oder minder abgehobenen selbständigen Platz in unserem Lexikon gefunden haben; so verzeichnet wiederum Muthmann (1988, S. 566ff.) nebeneinander die folgenden Verben und Substantive:

(38) baden - Baden; beben - Beben; behagen - Behagen; bestreben - Bestreben; leben - Leben; leiden - Leiden; s. befinden - Befinden; schreiben - Schreiben; sterben - Sterben; treffen - Treffen; treiben - Treiben; vorhaben - Vorhaben

… und Kategorisierung Dagegen bieten die Suffixe der ebenfalls weithin als
Transposition dienenden Suffixableitung bereits eine Sortierung in relevante Grobkategorien an. Gemeinsam mit der Transposition haben die Suffixbildungen allerdings, dass der semantische Kern, das, worum es geht, in der Basis, in diesem Fall im linken Element der Bildung liegt. Im Unterschied zur Transposition wird aber auf die lexikalische Bedeutung der Basis, und nicht auf bestimmte formale Merkmale Bezug genommen.

Etwas komplizierter liegt der Fall bei den Präfixbildungen, die im nominalen Bereich eher der Modifikation dienen, während sie beim Verbum eine ähnlich die Wortart bestimmende und semantisch kategorisierende Funktion haben wie die meisten Suffixe beim Nomen.

Die Ausbildung von Wortfamilien mit Hilfe deverbaler Ableitungen bei den Substantiven zeigt in typischer Weise die Leistung der Derivation beim Nomen: Prüfer - Prüfling - Prüfung - Prüferei erlauben es, unterschiedliche Aspekte der von dem Lexem {prüf}29 aufgerufenen Handlungszusammenhänge in dem komplexen Wort zu aktualisieren und so aus der Prädizierbarkeit in dem jeweiligen Satz zu nehmen.

MODIFIKATION UND An der Grenze hin zu Funktion der Komposita liegen in
GENERALISIERUNG dieser Hinsicht eine Reihe von Bildungen, die zunächst wie `normale' Komposita aussehen, bei denen aber eigentlich nicht durch Modifikation aus einer Klasse eine Subklasse ausgesondert wird, sondern wo aus klassifikatorischen Gründen der ebenfalls links im Wort befindliche semantische Schwerpunkt ein eine Oberkategorie eingeordnet wird. Hierher gehört eine Reihe von Fach- und Wissenschaftskomposita, welche einen Spezialfall der fachlich relevanten Oberklasse zuordnen; so werden spezifische Vorgänge durch entsprechende Komposita (z.B. Bearbeitungsprozess) in die Klasse der -prozesse eingeordnet.30

1.3 Aufgaben der Wortbildungslehre

Wortbildung hilft uns, wenn uns die Wörter fehlen. Sei es, dass wir in einem Text Zusammenhänge aufzeigen wollen, sei es, dass die Sprechergemeinschaft das Gefühl hat, im Lexikon ihrer Sprache sei eine interessante Stelle nicht gefüllt. Diese beiden Sichtweisen, die textuelle und die lexikalische, führen auch zu entsprechenden [41] Akzentsetzungen in der Wortbildungsforschung; so beschäftigt sich vom Lexikon her kommend die analytische Wortbildungsforschung eher mit der Frage, wie existierende Wortbildungen strukturiert sind, die synthetische Wortbildungsforschung, die es mit Syntax oder Text zu tun hat, eher mit der Produktivität von Wortbildungsmitteln und -mustern.

Welche Alternativen hätte man, wenn man den angedeuteten Benennungsproblemen nicht mit Mitteln der Wortbildung zu Leibe rücken würde? Man könnte es mit Wortschöpfung, also der Schaffung neuer Simplizia aus dem Inventar phonotaktisch möglicher Kombinationen des Deutschen versuchen. Das scheint am ehesten zu funktionieren, wenn in irgendeiner Weise entweder ikonische Wiedererkennbarkeit oder der Anschluss an sprachlich Verwandtes gesichert ist. Im ersten Fall handelt es sich um onomatopoetische oder lautsymbolische Anschlüsse: vielleicht könnte man die Benennung einer zwergenähnlichen Kunstfigur als Schlumpf hierher rechnen. Für den zweiten Fall könnte man das meistzitierte Beispiel für Wortschöpfung, die Bildung von Gas in Anlehnung an griechisch χαoς heranziehen. Mit dieser Erinnerung an das Wort einer Bildungssprache sind wir ganz in der Nähe einer weiteren Möglichkeit, uns aus der Benennungsnot zu helfen: durch verschiedene Modelle der Entlehnung in sprachlichen Kontaktsituationen. Dabei muss man die Bedeutung entweder im Entlehnungsprozess lernen oder festlegen - im alltagssprachlichen Kontext dürfte ein Wort wie Prion hierher gehören. Manche Strukturen werden aber in der entlehnenden Sprache, in unserem Fall dem Deutschen, produktiv. Man denke an Bildungsmittel wie -itis: Rederitis, aber auch lexematische Kerne wie techn-, die in mancherlei wiedererkennbaren Verbindungen vorkommen, so dass eine offenbar im deutschsprachigen Raum entstandene Musikmode Techno heißt. Dass hier eigenständige Bildungsmuster stehen, dafür mag die Bildung Handy für den Typ von tragbaren Telefonen stehen, die im angelsächsischen Raum cellular oder mobile phones heißen.

MOTIVIERTHEIT Was hier kurz zu den Alternativen - Wortschöpfung und Entlehnung - gesagt wurde, spricht implizit schon vom Vorzug, den die Wortbildung gegenüber diesen Formen, wenn sie in Reinkultur auftreten, hat. Denn nur die Wortbildungen erinnern uns in ihrer Form an sprachliche Elemente, die wir schon kennen und helfen uns so, die Bedeutung aus unserem Wissen über diese Bestandteile und bestimmte strukturelle Regeln in mehr oder minder hohem Ausmaß zu errechnen. Wortbildungen appellieren an unser sprachliches Gedächtnis, fordern uns auf, sie an unsere Erfahrungen und Schemata, die wir mit den bekannten Elementen verbinden, anzuschließen, und sie auf diese Weise sinnvoll in neue Schemata einzufügen.

… und Text Kontextuelle und intertextuelle Bezüge helfen uns, den Sinn in den neuen Wörtern zu finden. Das ist es, was man die Motiviertheit der Wortbildungen nennt. Am unmittelbarsten ist ihr Effekt an Bildungen zu zeigen, die wir noch nicht kennen und die nicht einem gängigen Muster folgen. Das kann man an dem Wort Isolirschemel aus der folgenden Notiz Jean Pauls sehen, das den Weg ins deutsche Lexikon nicht geschafft hat:

(39) Sein Studierstuhl ist ein Isolirschemel, auf dem er sich mit Wiz für jeden der ihn angreift vollädt. (Jean Paul 1996, S. 256) [42]

Mit Hilfe des Kontextes und unseres Wissens um das Ende des 18. Jahrhunderts modische Reden von Elektrizität und Elektrisiermaschinen können wir die Motivation dieser Bildung rekonstruieren, die wohl auch für unseren damaligen Autor als ad-hoc-Bildung gelten muss. Tatsächlich kennen wir aber viele komplexe ,wortgebildete Wörter schon aus dem Zusammenhang des Lexikons. Sie sind lexikalisiert, was häufig mit der Annahme zusätzlicher mehr oder minder regelhafter Bedeutungsmerkmale einhergeht. Ihr Motivationsgrad sinkt, sie werden demotiviert, nähern sich dem Pol der Idiomatisierung an. Bestes Beispiel dafür sind vielleicht die volksetymologischen Re-Etymologisierungen solcherart nur mehr durchsichtiger Wörter, wie des Substantivs Windhund, das aus einer Koppelung zur Verdeutlichung des alten Wortes Wind zu einer andeutenden Rassebezeichnung mit dem Merkmal `schnell wie der Wind' wurde.

Man sieht hier, wie die beiden Elemente des neuen Wortes sich gegenseitig Kontext sind, so dass wir versuchen, sie sinnvoll in ein einziges Schema kognitiver Deutung zu bringen. Wir vergessen dabei die anderen Optionen der Wörter. Gerade wenn die Lexikalisierung relativ deutliche Präferenzen vorgeprägt hat, kann eine Um-Kontextualisierung zu verblüffenden Konsequenzen führen. Man denke an die brotlosen Berufe des Zeichners Paul Flora, von denen hier nur der Kaiserjäger genannt sein soll:

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Dass das auch bei weniger institutionalisierten Bildungen funktioniert, mag wie­derum ein Jean-Paulscher Aphorismus verdeutlichen:

(41) Von der Strickleiter behält der Dieb am Ende nur den Strick und die Leiter. (Jean Paul 1996, S.258)

Die lexikalisierte Benennung Strickleiter vor unserem Auge, treffen wir auf das Wort Dieb und interpretieren das Bild nach dem Schema des diebischen Einsteigens, während uns das Auseinandernehmen der Teile des komplexen Worts zu der Funktion der gemeinten Gegenstände im Script des gerichtsmäßigen Hängens führt. [43]

… und Lexikon haben mit der Art der Beispiele, die wir bisher zur Illustration gewählt haben, implizit einen Schritt getan, der meistens gemacht wird, wenn man davon spricht, es gehe bei der Wortbildung um das Ausfüllen von Benennungslücken.31 Man denkt dabei zunächst an den zumindest im Deutschen spektakulärsten Fall, die Komposition, genauer gesagt, den Fall des substantivischen Determinativkompositums. Es handelt sich hierbei um das zweifellos eindrucksvollste Mittel zur benennungsschaffenden Verdichtung. Diese Struktur sagt uns im Prinzip in der extremsten Form nur, dass zwei lexemfähige Bedeutungen miteinander verknüpft werden. Das rechte, das Zweitelement, bestimmt Wortart, grammatische Kategorien und semantische Klasse, das linke, das Erstelement, schränkt die Bedeutung der Bildung auf einen Spezialfall ein. Dabei helfen uns, wie andeutungsweise gezeigt, strukturelle Kenntnisse und unsere sonstigen intertextuellen Erfahrungen, die vorhandenen Hinweise zur Beziehung zwischen den beiden Elementen aufzulösen. Bei Komposita, die wir schon kennen, gibt es zudem häufig eine oder eine überschaubare Anzahl präferierter Lesarten, die uns in den Sinn kommen, wenn ein Wort ohne Kontext auftaucht. So sehen die Wörter Holzhaus und Stoffhaus nicht nur auf den ersten Blick völlig gleich aus. Dennoch tendieren muttersprachliche Sprecher des Deutschen dazu, ohne Kontext Holzhaus als ein aus Holz gefertigtes Haus, also im Sinne einer Material-Relation zu verstehen, Stoffhaus dagegen als ein Kaufhaus für Stoffe, also als Exemplar eines anderen häufigen Musters, in dem eine Zweck-Relation vorherrscht. Wir ordnen also diese Bildungen auf den ersten Blick verschiedenen paradigmatisch ausgebauten Mustern zu, wir können diesen Unterschied auch durch systematisch verschiedene syntaktische Umschreibungen, durch Paraphrasen, verdeutlichen. Das Wort Holzhaus gehört so in eine Reihe mit Ziegelhaus, Blechhütte, Holzkiste, Holzschrank usw., alles in allem also in ein wohlausgebautes, da praktisch nützliches Muster von Benennungen von Artefakten, deren spezifischer Unter- schied bzw. auch deren klassifikatorische Gemeinsamkeit in der Materialangabe liegt. Diese Lesart ist naheliegend und oft lexikalisiert in Fällen, wo diese Beziehung einen hohen Grad an kultureller Erwartbarkeit hat. Ein Wort wie Holzhaus scheint für solch eine Benennungstiefe kulturell fast ideal eingebettet: Holz gehört - und gehörte - zwar im Umfeld unserer Kultur und ihrer Geschichte zu den erwartbaren Hausbau-Materialien, ist aber doch nicht der häufig nicht erwähnenswerte Normalfall des aus Ziegeln oder Ähnlichem gebauten Hauses, so dass sich dieses Wort gut dazu eignet, kulturell geprägte Erfahrungen aufzurufen: sei es der seit einigen Jahren wieder aufkommende Trend zu natürlichem Bauen, der sich in der Holzbauweise niederschlägt, sei es ein Teil der eigenen regionalen Geschichte, die durch bäuerliche Wohnbauten, die aus Holz gefertigt waren, bis zur Mitte unseres Jahrhunderts geprägt war, seien es prägende Geschichten aus Holzbaukulturen wie der skandinavischen. Holzhaus ist daher ein gutes komplexes Lexikonwort und nicht nur ein ad-hoc-Wort, weil es im Alltag unserer Lebenswelt einen sinnvollen Namen ergibt. So würden wir ein Wort wie Lebkuchenhaus m der Bedeutung eines Hauses, das aus [44] Lebkuchen besteht, am ehesten in die mögliche Welt der Märchen setzen, prototypisch in eine Hänsel-und-Gretel-Welt.

Bei der Bildung Stoffhaus - auch wenn es in Kinderwelten Häuser aus Stoff gibt - ist die erste Wahl wohl jenes Verständnis, bei dem [-haus] im Sinne von Kaufhaus verstanden wird, und wo im ersten Teil des Worts jene Dinge genannt werden, die dort gehandelt werden: Stoffe eben, oder Schuhe im Schuhhaus, Autos im Autohaus, was auch immer sprachlich genau im Elektrohaus oder im Sanitätshaus. Die schnodderige Verallgemeinerung des letzten Halbsatzes soll nicht die Schwierigkeiten der Paraphrase verschleiern, vielmehr liegen Charme und Nutzen dieser Art von Wortbildung gerade darin, dass die Beziehungen nicht expliziert werden müssen, sondern dass man sich darauf verlassen kann, dass der Text, unsere intertextuell vermittelte Weltkenntnis und die Kenntnis vorhandener Muster und häufiger Relationen uns beim Verstehen solcher Bildungen helfen. Dieser musterhafte Zusammenhalt, der als Versuch einer Namengebung verstanden werden kann, stellt auch einen deutlichen Schritt über nahe verwandte syntaktische Formen hinaus dar. So ist die beschreibende Wirkung entsprechender adjektivischer Attributbildungen, z.B. beim Materialtyp deutlich höher als beim Kompositum, wiewohl man sich links vom Nomen noch im durchaus verwandten Raum der Determination befindet. Wenn so Hans-Magnus Enzensberger (1987, S. 16) von den „riesigen Backstein-, Granit- und Sandsteinbergen des Ostermalen“ als „den steingewordenen Monumenten der schwedischen Bourgeoise“ schreibt, so ruft er in den Komposita, deren Erstglieder Steinarten bezeichnen, eine Klassifikation steingewordener Monumentalität auf. Wenn er einige Seiten weiter ein landsitzartiges früheres Eisenwerk darstellt, und dabei „der hölzerne Turm, dessen Glocke die ganze Gemeinde zur Arbeit rief“ (S. 36), erwähnt wird, so wird dem Turm mit dem Adjektivattribut hölzern eine individuelle Qualität zugesprochen, wie das mit einem Kompositum Holzturm nicht in gleicher Weise möglich wäre. Dieser klassifikatorische Charakter der Komposita gegenüber dem eigenschaftszuordnenden Charakter der Links-Attribution ist es auch, was es so mühsam erscheinen ließ, die relative Natürlichkeit von ad-hoc-Remotivierungen lexikalisierter Komposita völlig ernst zu nehmen: eine Tasse aus Milch - tiefgefroren - eine Milchtasse zu nennen, bedarf intensiver textueller Stützung.32 Dieser isolierte Charakter der Komposition wird am klarsten bei Beispielen wie den gerade diskutierten, in denen substantivische Lexeme miteinander kombiniert werden, die in sich keinen eindeutigen Hinweis darauf tragen, welche Beziehungen von ihnen ausgehen könnten.

und relationale Wenn eins der beiden Elemente - denn auch längere Bildun- Elemente gen sind in der Regel binär segmentierbar - jedoch solch einen Hinweis gibt, ist die Interpretation gleich viel leichter, die Auswahl ist eingeschränkt. Durch die grammatische Anbindbarkeit werden uns bestimmte Optionen der Interpretation nahegelegt. Der typische Fall dafür sind bestimmte ver[45]bal geprägte Elemente, bei denen die szenenschaffende Kraft dieser Wortart in Verbindung mit der lexikalischen Vernetzung der beiden Teile unser Verstehen steuert. So geht in die eine Zeit lang heftig diskutierten Komposita vom Typ Putzfrau das handelnde Subjekt gemeinsam mit der potentiell prädizierten Handlung ein: `Frau, die putzt', in das Substantiv Putzlappen das Prädikat mit einer instrumentalen Bestimmung, wie sie bei einem Verb wie putzen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist: `Lappen, mit dem man putzt'. Aber auch hier scheint das typische Merkmal von Komposita in der zusätzlichen Kategorisierungsleistung zu liegen, die man traditionell mit dem Terminus der Übersummativität zu fassen versucht; in unserem Fall betrifft das jenen Bedeutungsüberhang, der die Komposita als Namen für Typisches oder Professionelles erscheinen lässt: nicht jede Frau, die putzt, ist eine Putzfrau, sondern nur eine, die beruflich durch diese Handlung kategorisierbar wird. Und auch, dass Sätze möglich sind wie: er hat ein altes Hemd als Putzlappen benutzt, zeigt, dass Putzlappen eine funktionale Gesamtcharakteristik besitzt. Besonders deutlich ist dieser Effekt bei substantivischen Komposita mit einem adjektivischen Erstglied, deren syntaktische Erläuterung eigentlich auch kein Problem darstellt. Ein Wort wie Rotlicht kann in verschiedene Kontexte gehören, vom wärmenden niederspektralen Licht der Medizin, über das zum Halten mahnende Licht der Verkehrsampel, rote Warnlampen an Geräten, bis hin zur Markierung von Prostitution durch ein rotes Licht. Das alles zeigt nur, dass wir mit diesem Kompositum nur bestimmten konventionellen Verwendungen roten Lichts einen Namen geben. Nicht jedes rote Licht ist ein Rotlicht, Je spezieller nun diese Bedeutungen sind und je weniger wir sie in eine einfache und sinnfällige Beziehung zu den Teilen bringen können, desto demotivierter oder idiomatisierter nennen wir sie (vgl. Bergmann 1988). Der Grad dieser Idiomatisierung, dieser Bedeutungsidiosynkrasien mag in ganz eigenwilliger Weise variieren. So bedeuten die Substantive Holzhaus und Holztisch systematisch dasselbe, sie erlauben uns, von Häusern oder Tischen zu sprechen, die aus dem Baumaterial Holz hergestellt sind. Dennoch scheint uns eine Spezifikation wie Hartholztisch viel `normaler' als *Hartholzhaus; d.h. Holzhaus scheint noch um eine Stufe typisierter zu sein.

Mit diesem ersten Gang durch typische Bereiche der Wortbildung sind wir der Frage etwas nähergetreten, was es eigentlich heißt, Wortbildungen dienten zur Auffüllung von Benennungslückcn im Text und im Lexikon. Wir haben versucht, den spezifischen Platz der Wortbildung im Gegensatz zu denkbaren anderen Optionen, der Wortschöpfung und der Entlehnung, zu charakterisieren. Wir haben auch gesehen, was sie von syntaktischen Fügungen mit analogem lexikalischen Material trennt. Wir haben den Vorteil und die Grenze dessen beleuchtet, was man Motiviertheit nennt, und wir haben an Beispielen diskutiert, wie man aus textueller und aus lexikalischer Perspektive die Produktivität der Wortbildungsprozeduren beschreiben kann.

Ganz nebenher haben wir bei der exemplarischen Diskussion einer Reihe von substantivischen Determinativkomposita gesehen, was die Sprachwissenschaft an der Wortbildung interessiert und auf welchen Ebenen und mit welchen Methoden sie dabei die Untersuchungen in diesem Bereich angeht. Ausgangspunkt ist dabei immer, dass in der Wortbildung eine sprachliche Möglichkeit betrachtet wird, welche ein [46] Stück weit die Nachteile der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens für das Gedächtnis aufhebt. In den nach den Mustern und Modellen der Wortbildung entstnadenen und entstehenden Wörtern finden wir im Bezug auf bekannte Teile und Prozeduren eine relative Motiviertheit, die den einfachen Wörtern, den Simplizia fehlt. Dieser Rekurs auf Bekanntes erleichtert das Verstehen, selbst wenn auch bei diesen komplexen Lexemen gleich wieder die Konventionalisierung zuschlägt.

... und morphologische Diese relative Motivation lässt sich aus verschiedenen Rekonstruktion Richtungen beleuchten. Der klassische strukturalisti-sche Ansatz zielt auf die Segmentation in Konstituenten bei komplexeren Bildungen auf die Erstellung einer Hierarchie in der Regel binär organisierter unmittelbarer Konstituenten sowie der sich anschließend ergebenden Klassifikation der Teile, aber auch der Kombinationsmuster. Wie auf anderen Beschreibungsebenen sind Stammbaumdarstellungcn bzw. entsprechende Klammerungssysteme die typischen Darstellungsmittel dieses Ansatzes. Wie eine beispielhafte Darstellung bisher besprochener Exempel zeigt, wird hier eine an den Wortarten orientierte Darstellung angeboten, deren Kombinationsmuster - in den Bäumen augenfällig - Grundtypen mit einer rechtsvererbenden Struktur erkennen lassen:

(42)

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N

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V N

Isolier- -haus

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N

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N N

Wind- -hund

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N

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N N

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V SuffNom

Kaiser- jäg- -er

[…]

Auf die genauere Ausfährung sei hier noch verzichtet, auch auf die Diskussion ambivalenter Fälle:

(43)

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N

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N/Adj/V? Fuge N

Elektr- -o- haus …

[47]Auf die genauere Ausführung sei hier noch verzichtet, auch auf die Diskussion ambivalenter Fälle:

Ungeachtet dieser Vorläufigkeit wird hier jener Grundtyp der Organisation sichtbar, den gewisse Schulen Rechtsvererbung nennen, und der in der morphologisch orientierten Diskussion als die im Deutschen weithin vorherrschende Determinans-Determinatum-Struktur beschrieben wird ist. Das rechte Element bestimmt wesentliche Merkmale der Gesamtkonstruktion. Nicht immer sind allerdings die Analysen eindeutig:

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Manchmal wird das zu mehr oder minder guten Scherzen genutzt:

(45)

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[48]

Hierbei hat die untere Variante glücklicherweise die höhere kulturelle Wahrscheinlichkeit für sich.

Nur andeutend sei darauf hingewiesen, dass dieses generelle Muster bei bestimmten Arten der Wortbildung, die sich nicht als Morphemaddition beschreiben lassen, zu Problemen führt: Besuch zu besuchen oder das Essen zu essen. Das führt bei der morphologischen Analyse gerne zu Lösungen mit Nullmorphemen:

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(46) N N

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V N V N

{besuch-} {ø} {essen} {ø}

Woran sich natürlich die Diskussion anschließt, wann und wie hier der Unterschied zwischen Null und Nichts zu bestimmen sei.

Noch problematischer ist in dieser Hinsicht das `Elementen-Zooming' bei der Kurzwortbildung, die sich ja nicht einmal immer auf Morpheme bezieht, wie man am Element des folgenden Beispiels gut sehen kann:

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(47) B a fö g

Bundes ausbildungs rderungs gesetz

Wegen der so grundlegenden Andersartigkeit kann man sich natürlich fragen, wo hier die Grenzen der Wortbildung hin zu anderen, bisher noch nicht recht beschriebenen Techniken ökonomischen Sprachgebrauchs liegen.

Man möchte dabei sowohl an terminologische Festschreibungen der verschiedensten Art denken, die uns eine Art indexikalische Stütze geben, so wenn der Vater dei Valenzgrammatik, Lucien Tesnière, seine Wortarten gemäß den entsprechenden Endungen im Esperanto benennt: O für Substantive, E für Adjektive, I für Verben, wenn die Einheit für den elektrischen Widerstand in der Physik in honorifizierender Weise Ohm gesprochen und Ω geschrieben wird, wenn internationalistische Kürzungen Langformen quasi übersetzen: Sauerstoff = O = Oxygen, Handelsmarke = ™ = trade mark, wenn piktographische Siglen ihre knappe Nachricht an uns richten, wie das im politischen Bereich das A im Kreis der Anti-Atomkraftbewegung tut, als auch an jene ikonisierenden Übersetzungen in das Buchstabensystem wie T-Profil, S-Linie, U-Profil mit derzeit seriös wohl noch nicht genutzten Mustern wie 8ung o.ä.. Viel wissen wir dazu noch nicht, klar ist allerdings, dass jene letztgenannten Typen ikonisch eine Art absoluter Motivation suchen - eine Art Onomatopoetica der Graphie -, die normalen Wortbildungstypen die Erhöhung des Grades relativer Motivation, und die anderen genannten Typen von den Kurzwörtern anfangend eine Art indexikalischer Motivation, welche die Eingeweihtheit in die Art des Hinweises verlangt, wenn er wirksam sein soll. [49]

Kritisch, weil zweifellos eine Erscheinung, die innerhalb der Wortbildung zu lösen ist, sind Problemfälle aus zentralen Bereichen der Bildung komplexer Verben. Wenn die Infinitiv-Endung -en ein Flexiv ist und daher bei Wortbildungsanalysen als wort- formbildend in der Regel ausgeschieden wird, ist zwar ein Verb wie aufessen kein Problem:

(48)

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V

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Präf V

auf- -essen

Präfixe gelten nicht als wortartdeterminierend. Ein Problem sind sie aber in den Fällen, wo sich ein nichtverbales Lexem als Basis findet, das auch nicht vorher in ein entsprechendes verbales Simplex eingegangen ist. Ein solcher Fall ist zum Beispiel das Verb aufgabeln, das man in etwa folgendermaßen zu analysieren hätte:

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(49) V

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NP[?] V

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Präf N

auf- -gabel- ø

Damit stehen wir vor vielfältigen Problemen. Neben der Verschärfung des ø-Morphem-Dilemmas haben wir auch noch mit dem virtuellen Charakter der restlichen Einheit zu kämpfen. Wenn wir aber, wie es hier in den oben aufgeführten ø-Morphem-Fällen sinnvoll ist, annehmen, dass das Auftreten des entsprechenden Flexivinventars - im vorliegenden Beispiel also der Infinitivendung in der Nennform - die Wortart klarmacht, kommt man kaum umhin, den Tatbestand, dass das Element -gabel- hier im verbalen Umfeld auftaucht, mit dem Präfix auf- in Verbindung zu bringen, da man ja sonst in das Problem der angedeuteten Vertikalität der obigen Struktur gerät. Da Elemente wie auf- hochgradig typisch für das Verb und dort reihenbildend sind, ist das nicht prinzipiell abwegig, führt aber gerade im verbalen Bereich zu einer auffälligen Verkehrung des üblichen Strukturmusters. Ein Verb wie aufgabeln ist dann ja nicht zu erläutern als ein Fall von *gabeln durch auf-; vielmehr handelt es sich um den Aufruf eines bestimmten Untertyps des auf-Musters, in dem Gabel als ein sinnvolles Schemaelement auftauchen kann. Wir können davon ausgehen, daß im Lexikon des Sprechers ein `Transporttypus' gespeichert ist, der sich um das zentrale Verb aufladen anordnet, und bei dem eine der typischen Untergruppen die ist, bei der das Instrument genannt wird, das zum Aufladen genutzt wird. Solch ein Verb steht also als ein insgesamt reproduzierbares und analog weiterbildbares Muster zur Verfügung. Und morphologisch funktioniert das auf der Basis, dass hier das Präfix für die Sicherung der Wortartzugehörigkeit zuständig ist. Gerade bei den Verben lassen sich solche Prozeduren logischerweise mit den Beziehungen korrelieren, die von der verbalen Valenz bzw. weiteren Abhängigkeitsrelationen ausgespannt [50] werden. Die entsprechenden Verhältnisse sind in Eichinger (1989) mit vielleicht etwas eindeutiger Syntaxlastigkeit dargestellt. […]

1.4 Stellung der Wortbildung [56]

Wir haben bisher an verschiedenen Stellen gesehen, dass die Wortbildungslehre die Mittel der Morphologie nutzt, um Einheiten zu schaffen, die im Räume der Äußerungen als ganze Elemente einen Platz finden können. Dieser Raum der Äußerungen ist strukturell von der Syntax beherrscht, die dann wiederum von Grundstrukturen der Aussageintention, die sich in so etwas wie Thema-Rhema-Strukturen niederschlagen, überlagert wird.

Wörter iN In diesem Raum textuell überlagerter syntaktischer Struktu-SATZ UND TEXT ren müssen die Wortbildungen eingebaut werden, in ihm sind sie aber auch als etwas Spezifisches zu erkennen. Das führt natürlich dazu, dass Strategien und Weisen der Kodierung gewählt werden, die nicht gänzlich different sind von dem, was auf den anderen Ebenen passiert, die aber trotzdem die Eigenleistung dieses Bereichs zeigen. Zudem haben, wie bereits angedeutet, die verschiedenen Arten von Wortbildung einen unterschiedlichen Sinn - das schlägt sich dann natürlich in einer unterschiedlichen Nähe oder Ferne zu anderen linguistischen Ebenen nieder, die gänzlich anderen oder vergleichbaren Funktionen dienen. Wie sich diese Nähe und Ferne, diese Ähnlichkeit und relative Eigenständigkeit niederschlagen, hat zudem unmittelbar damit zu tun, welche Optionen das Deutsche bei seinem typologisch-strukturellen Charakter zur Verfügung stellt.

Man kann das anhand zentraler Wortbildungsmöglichkeiten der wichtigsten Wortarten andeuten. Die Wortbildung des Substantivs betrifft gemäß der syntaktischen Verwendbarkeit dieser Wortart Möglichkeiten, den lexikalischen Kern der Nominalgruppe auszubauen, Information in ihm zu kondensieren bzw. zu modifizieren oder lexikalische Einheiten überhaupt erst für den Gebrauch als lexikalischer Kern der Nominalgruppe geeignet zu machen. Die sich ergebenden Konstruktionen müssen also als spezifische Möglichkeiten erkennbar sein, diesen Platz in deutschen Sätzen einzunehmen. Der Einfachheit der Argumentation halber wird hier nur auf die Gesetzmäßigkeiten der geschriebenen deutschen Standardsprache eingegangen, die gegebenenfalls nötigen Modifikationen im Hinblick auf andere subsystemische Varietäten werden nicht berücksichtigt.34 [57]

Zum Beispiel: Die Analyse substantivischer Wortbildung hat mit den grund-Der Kern der sätzlichen Gesetzmäßigkeiten der deutschen Nominalgruppe Nominalgruppe zu rechnen. Was gehört zu dieser Prägung durch den Sprachtyp? Bei der syntaktischen Realisierung eines Substantivs als Kern einer Nominalgruppe spielt das Verhältnis zwischen diesem zentralen Substantiv und dem Artikel bzw. verwandten determinierenden Elementen eine zentrale strukturierende Rolle. Zwischen diesen beiden Elementen oder Positionen in der Nominalgruppe besteht eine Korrelation, die man mit dem Begriff der Nominalklammer zu erfassen versucht. Für unseren Zweck ist die wichtigste Eigenheit dieser Klammer, dass nur in ihrem Bereich die nominale Flexion und die durch Kongruenz gesteuerten Zusammenhänge zwischen den beteiligten Elementen auftauchen und strukturierend wirksam werden. Artikel und Substantiv spielen bei der Zuordnung der verschiedenen flexivischen Kategorien eine Rolle, auch das Paradeattribut dieses Bereichs, das attributive Adjektiv, ist auf jeden Fall immer flektiert und im Einzelnen in verschiedener Weise in das Kongruenzsystem eingebunden. Diese unterschiedlichen Weisen, die sich in der Wahl der schwachen (nominalen) oder starken (pronominalen) Endungssätze niederschlagen, sollen jetzt nicht genauer erläutert werden. Wesentlich ist, dass die Erweiterungen links vom Kernsubstantiv bis hin zu diesem im Bereich der Flexion und Kongruenz liegen. Zudem ist die Beziehung zum Adjektivattribut von einer eigentümlichen Ambivalenz gekennzeichnet. Wenn das Adjektiv, wie man an den Kongruenzbeziehungen schon sieht, auch auf jeden Fall formal abhängig ist vom Auftreten und den Eigenheiten der Artikel-Substantiv-Gruppe, so handelt es sich strukturell wie semantisch doch um eine freie Hinzufügung, umgekehrt sättigt eigentlich das Substantiv eine Leerstelle des Adjektivs. Ein Adjektiv wie gut eröffnet eine Leerstelle für die Bezeichnung von jemandem oder etwas, von dem angenommen werden soll, dass er oder es diese Eigenschaft hat. Wesentlich offener und formal anders strukturiert ist die rechte Hälfte der Nominalgruppe. Erstens ist hier kein klammerndes Ende abzusehen. Zum zweiten sind es nicht Flexion und Kongruenz, welche an dieser Stelle die Zusammenhänge in der Nominalgruppe klar machen, sondern verschiedene Arten von Abhängigkeit, deren Abstufung durch verschiedene Arten von Junktoren klargemacht wird. Dabei führen rektionsähnliche Beziehungen zu einer Signalisierung der Abhängigkeit durch Genitive und feste Präpositionalverbindungen, freiere Beziehungen nutzen Präpositionen oder konjunktionale Gleichsetzungsoperationen. Und je weiter man nach rechts kommt, desto aussagehaltiger, ,satzförmiger' werden die Formen, auf die wir treffen. Eine solche Beschreibung der Struktur der deutschen Nominalgruppe nimmt den typologischen Status des Deutschen ernst, der gegenüber den europäischen Nachbarsprachen durch eine eigenwillige Verknüpfung zweier Typen von Information gekennzeichnet ist. Im Deutschen wirken Informationen aus der Serialisierung auf eine zum Teil ergänzende, zum Teil gegenseitig unterstützende Weise mit Informationen aus der Morphologie zusammen.

…und die drei Wege hat die Wortbildungslehre hier drei Möglichkeiten, um
der Wortbildung mit ihren Mitteln anzugreifen. Sie kann Elemente durch das Zusammenwirken adjektivischer und nominaler Flexion am rechten Ende der Klammer als Substantive kennzeichnen, sie kann Wörter als Ganze [58] in ihrer semantischen Klasse, ihrem Genus und Flexionstyp usw. kennzeichnen. Diese Art von Information wird im Deutschen ja prinzipiell rechts vom Nomen kodiert. Links vom Nomen kann die Wortbildung Informationen, die in der Syntax mehr oder minder explizit zu geben wären, als bereits behauptete Eigenschaften an dem Platz, der dafür gedacht ist, einbauen. Dieser Platz ist eindeutig links vom Nomen, wir haben ja andeutungsweise gesehen, dass dem adjektivischen Attribut solche Eigenschaften zukommen. Klar ist, dass hiermit zumindest in den jeweiligen Übergangsbereichen das Problem auftaucht, wo einerseits, bei der Attribution, die Syntax endet und die Wortbildung beginnt, andererseits, bei der Wortart- und Wortklassenkennzeichnung, die flexivische Morphologie endet und die Wortbildung beginnt. Um klarzumachen, wo hier die Unterschiede liegen und wo Abgrenzungsprobleme auftreten, sollen die eben angedeuteten Verhältnisse noch an einigen Beispielen verdeutlicht werden.

Den Standardweg zur intensionalen Anreicherung und extensionalen Beschränkung der Reichweite von substantivischen Lexemen stellt zweifellos die Bildung substantivischer Determinativkomposita dar. Die übliche Analyse dieses Bildungstyps durch geordnete syntaktische Paraphrasen zeigt schon, dass dieser Typ von Komposition dazu dient, verschiedene Arten von Relationen zu integrieren. Beim typischsten Fall, der sogenannten N+N-Komposition, handelt es sich um Relationen, die, zum Teil in selbständigen syntaktischen Beziehungen, zum Teil in attributiven Fügungen, mit den diesen Ebenen entsprechenden Mitteln ausgedrückt werden können. Wenn wir zum Beispiel den folgenden Beleg haben,

(58) Amselpaarhüpfzeit (im Zug vor Augsburg, 1. April) (Handke 1998, S. 39)

dann heißt das Folgendes: Wenn man die Verhältnisse syntaktisch zu analysieren versucht, könnte man sagen, dass im Kern ein Lexem {hüpf} steht, an das in Subjektsrelation das Lexem {paar} angebunden wird und in temporaler Relation das Lexem {zeit}. Wenn man so will, ist hier die Proposition, dass es sich um ein Paar von Amseln handle, impliziert. Paraphrasierend könnte man sagen: `Zeit, zu der die Amselpaare hüpfen'. Integriert in eine attributive Struktur wäre anzusetzen: `Zeit der hüpfenden Paare von Amseln'. Die Wortbildungsstruktur ebnet die hierarchischen Strukturen der verschiedenen Arten von syntaktischer Verdichtung ein, und signalisiert durch Unselbständigkeitsmerkmale das Tiefergehen auf den Stufen der Wortbildungshierarchie. Dabei wird bei {hüpf} die Abhängigkeit durch deutliche Merkmale der nicht-selbständigen Realisierung gekennzeichnet - traditionell sagt man, es handle sich um den Verbstamm. Weniger deutlich ist das bei Amselpaar, wo lediglich das Fehlen jeglicher Aktualisierungsmerkmale die Abhängigkeit signalisiert. Aufgrund der Ungewöhnlichkeit der Wortbildung kann man zudem über die genaue Hierarchie an dieser Stelle im Unklaren sein. Ist der April die Paarhüpfzeit für Amseln, was eine ganz nette Interpretation wäre, oder die Hüpfzeit für Amselpaare. Nachdem es nicht mehr Kontext gibt als den oben angegebenen, ist die Sache nicht endgültig entscheidbar, es hängt eigentlich damit zusammen, ob wir der Einheit Paarhüpfzeit einen einheitlichen Sinn geben können und wollen. Was wir daraus für Komposita insgesamt ablesen können, ist, dass sie unsere Dekodierungsstrategien in ganz spezifischer Weise instruieren. [59]

Was geschieht im Deutschen, wenn wir im Text auf ein Kompositum treffen? Auf die Erstelemente von Komposita stoßen wir, nachdem wir die Nominalklammerpraktisch ganz durchlaufen haben. Diese Strecke der Nominalgruppe ist durch Kongruenz und ihren Ausdruck in flexivischen Elementen gekennzeichnet. Wir wissen, was wir dabei zu erwarten haben, in der Reihenfolge von pronominaler und nominaler Flexion, von verschiedenen Bedeutungsgruppen von Adjektiven und dergleichen mehr. So gesehen begegnen wir mit dem ersten Element eines Kompositums einer Insel der Nichtaktualisierung. Dort werden die Abhängigkeiten und hierarchischen Beziehungen auf eine vergleichsweise wenig explizite Weise signalisiert - und auf jeden Fall nicht mit den Aktualisierungsmerkmalen der jeweiligen Wortart. Mit diesen Techniken können an dieser Stelle Elemente in den Kern der Nominalgruppe, das substantivische Lexem integriert werden, die in ihrer syntaktischen Realisierung der linken und der rechten Hälfte der Nominalgruppe zugehören können. Die Elemente, die attributiv rechts vom Nomen angeschlossen werden, werden dabei spiegelbildlich links vom Kernnomen angefügt, und geraten so aus dem Bereich hinzugefügter neuer Information in den Bereich links vom Nomen, wo wir mit bereits erwartbarer Information rechnen.

(59) Sie werden, wenn Sie durch die Dörfer dieser Leute gehen, deren Frauen ausschließlich mit Bundesbahnwaggonvorhängen und -überzügen umwickelt gekleidet herumgehen sehen und die Hüften aller Männer ausschließlich mit Bundesbahnwaggonfenstergurtgürteln umschnallt! (Jonke 1979, S. 176)

a) Bundesbahnwaggonvorhänge vs. Vorhänge aus den Waggons der Bundesbahn

3 2 1 1 2 3

b) Bundesbahnwaggonfenstergurtgürtel vs. Gürtel aus Gurten der Fenster von Waggons

5 4 3 2 3 1 2 3 4
der Bundesbahn
5

Diese relativ strikte Abgrenzung von Wortbildung gegenüber syntaktischen Konstruktionen verdankt das Deutsche der Kombination von Stellungsordnung und Verteilung flexivischer Strukturen in der Nominalgruppe. Das betrifft zum Beispiel die Integration adjektivischer Erstglieder, die im Deutschen flexionsfrei erfolgt und auf relativ wenige Adjektive beschränkt ist. Die folgenden Beispiele sollen auch darauf hindeuten, dass hier wie auch sonst in der Wortbildung, die Akzeptabilitätsgrenze für solche Bildungen nicht eindeutig festliegt (vgl. Motsch 1999, S. 380):

(60) Wo seine „Bekannte" zu einer bedenklichen Hochform auflief in puncto Laufend-Blöd­sätze-des-Tages-ablassen-und-es-nicht-Merken, wo sie sich in ihren abgerissenen Jeans zwar als höchst langbeinig erwies, vornehmlich aber als doofbeinig. Sah zur Franzi, als hinge er an ihren unentwegt Klugsätze formulierenden Lippen, […]. (Politycki 1997, S. 167, 169)

An anderer Stelle setzt die Suffixderivation an, nämlich unmittelbar am Ende des flexivischen Bereichs, vor der Flexion des Kernnomens. Dort wird in quasimorphologischer Art eine generelle Klärung über die substantivischen Paradigmenkategorien gesucht.

(61) die entfesselten Erinnerer, die unter Ausschaltung des umwälzenden Herzens […] niemals vergessen können. (Strauß 1997, S. 56)

In diesem Polster sind sie sicher vor den Härten und Schärfen des Tages. [60]

Bei der leisesten Ungenauigkeit bricht er ab und korrigiert. Sein musikalisches Gedächtnis ist unfehlbar, sein Pfeifen virtuos. Wie in allen Dingen, so strebt er auch hier nach Perfektion.

[…] die Hinterlassenschaft geordnet (Rehmann 1999, S.78, 95, 164)

Die Suffixe dienen, wie in den Beispielen angezeigt, primär der Veränderung der Wortart, beziehungsweise der Festlegung der Wortart Substantiv. Sie sind in dieser Funktion auch weithin spezialisiert. Deverbal sind eine ganze Reihe von Bildungen, hier vertreten durch das nomen agentis Erinnerer und das nomen actionis Ausschaltung. Die Suffixe {-e}, {-heit/-keit/-igkeit} und {-ion} leiten deadjektivische Bildungen ab, in denen die jeweilige Eigenschaft benannt wird. Die von Partizipia II herzuleitenden Bildungen auf {-nis} und {-schaft} sind nomina acti, die hierzu verwendeten Suffixe stehen eher am Rande der heute produktiven Muster.

Dass wir hier nahe an der Flexionsmorphologie sind, zeigt sich daran, dass an dieser Stelle im Bereich der Movierung Doppelungen der klassematischen Information auftreten können, die es schwer machen, zu entscheiden, wo die Grenze zwischen Flexions- und Wortbildungsmorphologie liegt. Sofern aber in solchen Fällen nur das jeweils am weitesten rechts stehende Element in einen paradigmatischen morphologischen Wandel eingebunden ist, halten wir diese Unterscheidung für nützlich. So ist {-in} ein Wortbildungsmorphem, ebenso wie dann beim Adjektiv die Steigerungsmorphologie:

(62) Wenn die Zahnarzthelferinnen hier alle so schöne Löcher im Kleid haben (Politycki 1997,S. 165)

Aber die schlimmste Krankheit […] ein verzehrendes Heimweh nach den Marschen und den versunkenen Wäldern Frieslands. (Ransmayr 1991, S. 38)

Die Suffixe leisten auf explizite Weise, was wir bei Simplizia aus der Nominalsemantik direkt ablesen müssen, nämlich die Einordnung in Subklassen, die uns bei der grammatischen Sortierung helfen. Als zusätzlichen Nutzen bringen sie mit sich, dass die Paradigmenkategorie Genus durch die Suffixe ziemlich eindeutig determiniert wird.

Die dritte grundlegende Möglichkeit ist die einfache Integration in die Wortart Substantiv. Sie nutzt die strikte Begrenzung nominaler Flexion auf den Raum links von N auf die Weise, dass man ein praktisch beliebiges Element mit substantivischer Flexion versehen, an die äußerste rechte Grenze der Nominalklammer bringt - was dort steht, ist das Kernsubstantiv der Nominalgruppe. Das ist natürlich am leichtesten bei einem Element, das ohnehin schon flektiert im Rahmen der Nominalgruppe vorkommt. Das ist der Fall beim attributiven Adjektiv. Hier scheint es übertrieben, bei der Substantivierung von einem echten Wortartwechsel auszugehen, das Adjektiv verändert, wenn es an den rechten Rand der Nominalgruppe tritt, seine Flexion gar nicht. Man kann somit die substantivische Verwendung dieses Typs für eine sekundäre Verwendung der Wortart Adjektiv halten, wobei sich zeigt, welche Wörter zum Kernbereich dieser Wortart gehören, denn nur sie erlauben solch eine Verwendung. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass mit diesen Adjektiven das, was man Konversion nennt, deutlich in der wortartspezifischen Morphologie fundiert ist, sodass man hier eigentlich nicht von Konversion, sondern von Umkategorisierung reden sollte: [61]

(63) Der Alte griff mit einer raschen Handbewegung nach dem Fähnchen.

Das Tiefrote hier, über den Faltenwurf der Plane Verspritzte, das Leuchtende, das sei alles Jägerblut. (Ransmayr »Die letzte Welt«. Frankfurt/M. 1991, S. 16/17, 23)

In gewisser Weise in eine andere Richtung weisen die Bildungstypen, die wir hier unter dem Oberbegriff „Inkorporation“ zusammengefasst haben, also Bildungen, wo die semanto-syntaktische Nachbarschaft zur allmählichen Univerbierung der Bildungen führt. Sie setzen grundsätzlich an den Beziehungen an, die im Zweitelement, der rechten Konstituente, angelegt sind. Bevorzugt ist das natürlich bei Determinativa der Fall, in die ein verbales Lexem mit seiner Bildungsfähigkeit eingegangen ist. Diesen univerbierenden Wortbildun­gen und den Schemata, die sich in den Valenzbeziehungen der Syntax niederschlagen, liegen somit die gleichen Strukturen zu Grunde. Es sind die Kodierungstechniken von Syntax und von Wortbildung, die dann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.

(64) Ich prüfe nochmals: der frische Augenglitzer auf dem Foto (Strauß 1997, S. 141) vs. die Augen glitzern frisch

Ein Übermaß an Fratzenschneiderei (Strauß 1997, S. 115) vs. jmd. schneidet Fratzen

eine durch die in ein paar Stunden anbrechende Finsternis rollende gewälzt zischende Chorkonzertunterhaltung (Jonke 1979, S. 237) vs. man wird durch ein Chorkonzert unterhalten

als fröhlich bunte Volksfesterinnerung (Jonke 1979, S. 237) vs. man erinnert sich an das Volksfest

Was an dieser Stelle bei der Ableitung der Wortbildung aus den notgedrungen expliziten syntaktischen Fügungen als merkwürdige Restriktion erscheint, ist eigentlich ein einigermaßen perzeptiv ökonomischer Umgang mit den in der Lexembildung möglichen Kodierungstechniken. In ihnen ist die Umsetzung von nur semantisch rekonstruierbaren präpositionalen Fügungen im Prinzip nicht vorgesehen, daher sind auch all jene Dinge nur schwer auf diese Weise zu kodieren, die im Bereich der substantivischen Attribute durch freie Präpositionalphrasen ausgedrückt werden. Das heißt, leicht zu kodieren sind all jene regierten Relationen, die in der weniger integrierten Form der Attribution unverändert als präpositionale Phrasen mit erwartbarer Präposition oder als Genitivattribut kodiert werden - und natürlich als Adjektivattribute, was aber das angesprochene Problem nicht betrifft. Damit wären das - indirekte - Dativobjekt und bestimmte adverbiale Beziehungen am schwersten so zu kodieren.

Einen doppelten Platz hat die Präfixbildung in diesem Spiel. Sie hat von der Struktur her natürlich Ähnlichkeiten mit der Derivation mit Suffixen, auch hier tritt an ein lexematisches Element ein lediglich der Wortbildung dienendes gebundenes Wortbildungsmorphem. Andererseits modifizieren diese Präfixe - zumindest im nominalen Bereich - die Basis in einer Weise, die eher an die Komposition erinnert:

(65) […] das von Fama vorausgesagte Unheil zu bannen. (Ransmayr: »Die letzte Welt«. Frankfurt/M. 1991, S. 113)

Was heißt das für den Platz der Wortbildung im Gefüge der Ebenen linguistischer Beschreibung? Es heißt eigentlich, dass sie Techniken entwickelt hat, die es erlauben, an alle verschiedenen als benachbart zu denkenden Bereiche anzuschließen. So erscheint denn der Übergang zur Komposition im Licht ihres oben geschilderten Platzes in der Nominalgruppe als das Umkippen der Linie syntaktischer Verdichtungstypen, die vom Satz bis zur attributiven Fügung reichen, in den Bereich des Lexikons hinein. Die Derivation systematisiert den Platz vor der Flexion, die Konversion setzt an Übergängen an, die in der Flexionsmorphologie bereits vorgearbeitet sind und die Inkorporation erlaubt den unmittelbaren Zugriff auf lexikalische Einheiten, die einer Generalisierung bestimmter syntaktischer Fügungen entsprechen. Auf diese Art und Weise erscheint die Wortbildung des Substantivs umfassend ausgebaut.

Wir das bei den anderen Wortarten genau aussieht, wwird in den folgenden Kapiteln darzustellen sein.

… und Text-Ökonomie Worauf wir beim Substantiv noch nicht eingegangen sind, ist ein Spezifikum dieser Wortart, nämlich die Kurzwortbildung. Eigentlich handelt es sich bei dieser Reduktionstechnik mehr um ein Verfahren mit einer Intention, die den üblichen Interessen der Wortbildung zuwiderläuft. Wo diese eigentlich Verständnis durch relative Motivation aufzubauen versucht, erinnert die Kurzwortbildung allenfalls noch an Grundstrukturen, ist ökonomisch auf Kosten der Explizitheit.

(66) `All these Initials', says Philip,

`It's supposed to save paper und typing time'' says Pamela. `We had a memoround about it. Acrowhatsits to be used whenever possible in University correspondence.' (David Lodge (1988): Nice Works. London, S. 84)

Dieses Zitat aus englischen Verhältnissen, das sich aber problemlos auf die deutschenübertragen lässt, hebt auf die Akronyme ab, also Bildungen, die eine ausgeführte Kurzwortklassifikation unter die Initialkurzwörter rechnet, einen Fall der Kopfformen, der in weiten schriftsprachlichen Kommunikationsbereichen prägend ist.

(67) Eine typische offene KW-Silbe kann also einer Silbe des BL nur dann entsprechen, wenn sie bereits dort eine offene Silbe ist [...]. In diesen Fällen kann nicht festgestellt werden, ob das SI-KW nach dem typischen Muster, also mit offenen KW-Silbengebildet wird, oder ob die Silbenstruktur des BL übernommen wird, da beide identisch sind. (Kobler-Trill 1994, S. 77)36

Es sind das jene Wörter, wo die Anfangsbuchstaben oder -laute, so klar mag das hier nicht sein, zu einer neuen Bildung zusammentreten. Der vorstehende Text ist insofern typisch, als eine der Hauptfunktionen dieser Bildungen ist, fachliche Texte von unnötiger terminologischer Länge zu befreien. Dennoch, und das wird auch an diesem kurzen Text schon deutlich, in dem eigentlich nur drei Kurzwort-Typen vorkommen, hält sich die Leserfreundlichkeit solcherart systematisch komprimierter Texte in Grenzen. Das ist weniger der Fall, wenn die Kurzwörter zumindest in den einschlägigen Kreisen, eine gewisse Geläufigkeit haben. Dazu gehören Bildungen wie DaF für [63] Deutsch als Fremdsprache, und BDI für den Bundesverband der deutschen Industrie. Schon an diesen beiden relativ harmlos wirkenden Beispielen wird das Doppelgesicht auch der Bildung usueller Kurzwörter erkennbar. Natürlich sind die Bildungen kürzer, und in diesem Sinne bei textueller Rekurrenz zweifellos ökonomischer. Andererseits neigen diese Bildungen, zumindest bei den Kennern des jeweiligen Weltzusammenhangs zur Verselbständigung: Der Namensgebungsakt, der in der Verbindung zur langen Basisform liegt, wird textuell nicht mehr wiederholt, das Ganze bekommt terminologischen oder Namencharakter. Und wie es mit terminologisch geprägten Einheiten auch sonst geht, werden sie, außer als ein Mittel zur reibungslosen Spezialistenkommunikation auch zur Gruppenstabilisierung genutzt. Mehr noch als bei sachlichen Kürzungen spielt das bei Kürzungen eine Rolle, die im Gegensatz dazu typischerweise Gruppensprechsprachen zugehören. Viele dieser Bildungen gehören einem Bereich an, den man im Rahmen der Fachsprachenforschung als Werkzeugsprache bezeichnet hat. Das beginnt bei deiktisch bedingten Verkürzungen, wie sie für praktische Zusammenhänge typisch sind, wo denn eben in handwerklichen Zusammenhängen jede noch so kompliziert zu benennende Maschine auf den generischen Schluss reduziert wird - das ergibt dann elliptische Endformen. Jede noch so kompliziert zu benennende Bohrmaschine kann so auf den Bohrer zurückgefahren werden. Das ist eine funktionale Möglichkeit, die parallel ist etwa zu metonymischen Setzungen des Markennamens: der Bosch für den Kühlschrank - also eine Art Kopfform. Beide prinzipiell textuell und empraktisch eingebundenen Möglichkeiten tauchen an einzelnen Stellen in der Stabilität des Durchschnittssystems auf, von (Violon)cello bis (Fahr)rad, von Tempo(taschentücher) bis Tesa(film). Gerade bei dem letzten Typ ist die `prototypische' kulturspezifische Einbindung offenkundig: wenn schon im österreichischen Deutsch das bundesdeutsche Tempo aufgrund der anderen prädominanten Marke Scotch heißt. Mit den zunehmenden Akronymprägungen englischsprachig beeinflusster Bereiche der modernen Alltags- und Technikkultur gewinnt hier der Typ der Verselbständigung von Akro­nymen eine gewisse Bedeutung: bei den Computerleuten heißt der SCSI-Adap­ter mit einer gewissen phonetisch-phonotaktischen Erweiterung gern Skasi. Diese spezifische Bildung ist auch deshalb von Interesse, weil sie von einem anderen Zusammenhang der Dinge zeugt, der in den letzten Jahren in Tendenzbeschreibungen andeutungsweise angesprochen wird. Auf <i> endende Kurzwörter wechseln auf mehr oder minder deutliche Weise in den Bereich einer in verschiedenen Nischen ausgebauten, allerdings meist deutlich sprechsprachlichen, Ableitung mit {-i} hinüber - vielleicht könnte man sogar eine Allographie <i, y> annehmen. Von der echten Kopfform Uni(versität) zur i-Ableitung Profi ist an sich kein weiter Weg. Allerdings stellt sich der Ableitungsweg dieses Worts aufgrund der phonotaktischen Bedingungen, denen dieser Bildungstyp zu folgen scheint, etwas komplizierter dar. Bildungen auf {-i} scheinen zumindest präferiert zu einsilbigen, auf Konsonanten endenden Basen gebildet zu werden. Im Fall von Profi ist nun diese Basis eine Art Konfix, das sich als Kopfelement einer im Deutschen praktisch nur in der entlehnten Form Professional vorkommenden Basis erklären lässt. Solche Bildungen könnte man auch Lexemkernbildungen nennen: sie scheinen in diesem Bereich insbesondere dafür eine Rolle zu spielen, dass Basen mit entsprechender phonotaktischer Form entstehen. Softi wie Grufti, Blödi wie Hirni, [64] Spasti wie Evi, ja auch Knacki (`zu Gefängnis Verknackter') sind auf diese Weise zu erklären. Auch die regional verstärkten Sachbezeichnungen um Müsli, Rösti und dergleichen passen in diese Reihe. Hierbei sind zum Teil stark assoziativ zu deutende Bildungen möglich, so wenn zum Beispiel eine Unterwäschefirma einen Slip Sloggi nennt. Das {-i}-Muster bleibt erkennbar, zudem irgendwelche Assoziationen zwischen Slip und slim. Dass wir uns hier in einem interessanten, weil nur schwer entwirrbaren Zwischenbereich autochthoner und nichtautochthoner Wortbildung befinden, mag auch der Name TeVi einer Kette von Elektrogeschäften zeigen. Auf der graphischen Oberfläche - der Wahl der Groß- und Kleinbuchstaben - wird gan zoffenkundig auf den Internationalismus TV `Fernsehen' Bezug genommen, der im Deutschen im Unterschied zu den europäischen Nachbarsprachen eine ambivalente Stellung hat. Gesprochen wird er entweder mit den deutschen Buchstabennamen, oder in englischer Lautung mit Endbetonung. Der Name des Geschäfts scheint in dieser Hinsicht zu mischen, und bringt auf diese Weise jedenfalls `Stammbetonung' mit sich, wodurch das Ganze als eine {-i}-Bildung auf Basis eines solcherart rekonstruierten `Lexemstammes' des deutsch gesprochenen Initialworts interpretierbar wird. Auch die oben angedeutete Allographie zeigt, dass wir uns mit diesen Bildungen im sprachlichen Übergangsbereich befinden, so wenn etwa ein Müsliriegel Corny heißt. Aber auch an anderen Stellen des Kurzwortfeldes gibt es eigentümliche Übergangsphänome einer Art Pseudo-Suffigierung, wenn auch häufig in medialen, d.h. `gemachten' Zusammenhängen. Hier scheinen sich sozusagen zufällige Endungen systematisch auszuweiten. Dabei bildet sich eine Generalisierung über deutlichschriftlich geprägten Endformen aus, so etwa bei <x>, das ja zum Beispiel schon bei Fax eine lediglich graphisch bedingte Überschreitung gegenüber anderen Struktureigenschaften der anzusetzenden Basisform Faksimile darstellt.37 Dazu passen ins Deutsche gekommene englische Plurale, die graphisch zu <x> umgesetzt werden: man vergleiche die Firma Techtronics, die sich Tektronix schreibt. In ein solches Umfeld passt es dann, dass das <x> am Ende von Index zum klassenbildenden Endelement entsprechender Börsenverzeichnisse wurde: Dax (`Deutscher Aktienindex').Ähnlich mag es sein mit bestimmten Firmennamen, die am rechten Rand das Initialwort AG integriert haben, so wie in Dywidag oder Keramag oder ähnlichen Bildungen. Man könnte sich auch überlegen, ob das Zweitelement {-com} wie in Telekom, Intercom, Mobilcom einen gewissen Selbständigkeitscharakter gewinnt. Letztlich ist offenkundig, dass etwa das Element /-a/ zumindest als klassenmarkierendes Endelement bei Produkten des alltäglichen Ge-brauchs gewählt wird. Das mag, wie oben schon im Fall von /i/ gesehen, zum Teil in den Ausgangslexemen angelegt sein, zum Teil aber nicht: so steckt in Rama zweifellos noch Margarine (und der Rahm), aber auf keinen Fall findet sich so etwas in Nivea oder bei dem Kurzwort Exqisa, einer Quarkcreme.38 Eine weitere Margarinemarke, Sanella, lässt neben einer konfixartigen Basis gar eine Art Suffixerweiterung erkennen. Man kann sehen, dass hier in [65] Ansätzen Entwicklungen zu sehen sind, wie sie sich bei dem Element /i/ schon in weitergehendem Ausmaß finden.

Man kann dieser kurzen Diskussion entnehmen, dass die Kurzwortbildung zunächst einer eigenen Kodierungsstrategie folgt, die sich an verschiedenen Stellen an die normalen Gesetzmäßigkeiten der Wortbildung annähert. Gleichzeitig erweist sich, dass unter dem Oberbegriff der Kurzwortbildung technisch vergleichbare Dinge zusammengestellt werden, die aber in funktional ganz verschiedenen Subsystemen auftauchen. So hat das Initialkurzwort als Repräsentant jenes Bildungstyps, der seine Bestandteile aus mehreren Elementen des Ausgangsworts nimmt (`multisegmental'39) eine Domäne in schriftsprachlicher Sachkommunikation. Dazu gehören auch jene Bildungen, die nur ein Element kürzen und das andere - normalerweise das zweite - als Langform belassen (`partielle'). Die `Sprecheinheitenwörter', die ein Element durch Verkürzung einer längeren Form gewinnen (`unisegmental') - z.B. auch mit der Neigung zu den i-Endungen - gehören dagegen zentral zum Bereich gesprochener Substandardvarietäten des Deutschen. Eine vergleichsweise geringe Zahl solcher Bildungen hat den Status einer im geschriebenen Standard des Deutschen verankerten Bildung relativer stilistischer Unauffälligkeit gewonnen. In der einen oder anderen Weise kombiniert sich in beiden Verwendungsweisen verkürzende Darstellung mit gruppensoziologischen Signalisierungsstrategien. Daneben existieren empraktische Kürzungsstrategien, die sich zum Teil im lexikalischen System niedergeschlagen haben. Eine spezifische Anwendung der Kürzungsstrategien findet sich im medialen Umfeld, vor allem in der Namenbildung. So muss die Frage vorerst offen bleiben, inwieweit die derzeit übliche formale Subklassifikation auf diese Verhältnisse abzubilden ist. Eine durch die hier angedeuteten Zusammenhänge leicht modifizierte Untergliederung der Bildungstypen in diesem Bereich sollte darauf Rücksicht nehmen, dass von zentraler aktueller Produktivität offenbar die im schriftsprachlichen Bereich fundierten Bildungen sind, bei denen - zum Teil in Kombination mit Langelementen - bestimmte zum indexikalischen Verweis auf die Langform besonders geeignete Teilelemente zu einem `Kurzlexem' zusammengestellt werden. Wichtigste Anforderung formaler Art scheint zu sein, Elemente so zu kombinieren, dass in der Kurzform minimale Sprechbarkeitsanforderungen erfüllt werden, d.h. dass eine deutschen Silbenstrukturen entsprechende Konstruktion entsteht. Präferiert wird dabei eindeutig ein Muster mit der Silbenstruktur KV. Dazu verhilft, wenn es sonst nichts gibt, die Buchstabierform der Buchstaben unseres Alphabets. Was sich traditionell im Lexikon als Kürzung einer Langform niedergeschlagen hat, ist dagegen der festgewordene Fall einer grundsätzlich deiktisch-textuell gewordenen Kürzung: die dabei bleibenden Teile machen zumeist morphologischen Sinn, es ist eine Reduktion auf relevante Merkmale. Unter den neueren Kopfformen - d.h. Bildungen, bei denen der Anfang stehen bleibt - haben offenbar die besten Chancen die Strukturen, die über den Endvokalismus in eine Art klassifikatorisches System eintreten.40 Grob ergäbe sich daraus eine Klassifikation der Kurzlexeme wie die folgende: [66]

0x08 graphic
Kürzungen

l KURZWÖRTER:

Kombination lesbarer Kurzeinheiten

1.1 Vollkurzwörter
(nur Kurzeinheiten)

1.2 Teilkurzwörter (in Kombination
mit Langelementen)

1.1.1 Akronyme

        1. in silbischer Kombination

1.1.1.2 mit Silbenauffüllung

1.1.2 aus silbischen Elementen

1.1.2.1 Ausgangssilben

1.1.2.2 Zielsilben

1.1.2.3 Mischung

1.1.3 Mischformen

2 GEKÜRZTE WÖRTER:

Reste von Langeinheiten

2.1 Kopfform

2.1.1 Kürzung auf Morphem

2.1.2 Kürzung auf morphologische Teile
analog zu 2.2

2.2 Endform

2.3 Rumpfform

2.4 Klammerform

1 Kurzwörter

1.1 Vollkurzwörter

1.1.1 Akronyme

1.1.1.1 BaföG [Bundesausbildungsförderungsgesetz], BUND [Bund für Umwelt- und Naturschutz in Deutschland]; Dax [Deutscher Aktienindex]

1.1.1.2 EU [Europäische Union]; Kfz [Kraftfahrzeug]; ADAC [Allgemeiner deutscher Automobilclub]; Tbc [Tuberculose]

1.1.2 aus silbischen Elementen

1.1.2.1 Kripo [Kriminalpolizei]

1.1.2.2 Schiri [Schiedsrichter]

1.1.2.3 Juso [Jungsozialist], Gestapo [Geheime Staatspolizei]

1.1.3 Degussa [Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt]; taz [Tageszeitung]

2 Gekürzte Wörter

2.1 Kopfformen

      1. Ober [Oberkellner]; Dia [Diapositiv]

      2. Prof [Professor], Telekom [Telekommunikation]; Pulli [Pullover]

2.2 Endformen

2.2.1 Rad [Fahrrad]

2.2.2 Bus [Omnibus]

2.3 Rumpfformen

2.3.1 Lisa41

    1. Klammerformen

2.4.1 Naturdoktor [Naturheildoktor]42

11 Die Terminologie aggregativ `gestreckt', grammatisch explizit - integrativ `kondensiert', `implizit' bezieht sich auf Raible (1992).

12 Den man mit Weinrich (1993) sogar zu den Präpositionen zählen könnte.

13 Die vorkommenden Komposita, werden, da von der Funktion dieser Wortbildungsart oben schon die Rede war, im Folgenden ignoriert.

14 Also als das, was man gemäß der lateinischen Grammatik ein Gerund nennen würde.

15 Zu einer Beschreibung dieser Zusammenhänge s. Eichinger (1995a, S. 178-189).

16 Und des Verbs, wenn man es so handhabt, wie wir das tun werden.

17 Zudem bestätigt die Verwendung des Worts Wüste hier, was wir oben zu seiner semantischen Ambivalenz gesagt haben.

18 Ohne dass die Leichtigkeit dieses Übergangs an die offenbar kaum beschränkten Möglichkeiten des Englischen heranreichen würde.

19 Auf Probleme in diesem Zusammenhang verweist Volmert (1990, S. 58/59); vgl. generell Munske (1988, S. 69-71).

20 Beispiele wären die an Themavokal und Partizip-Perfekt-Bildung des Lateinischen orientierten Elemente /a/ bzw. /at/, die Suffixe -iv oder -ität, aber auch -ation für das Französische. Für das Englische spricht z.B. das präferierte (c( in Recital, andererseits werden durch die Form der englischen Wörterwie demonstrate die tradierten Bildungsmuster `am Leben gehalten'. Für die Bildungsbasis sind morphophonologisch oft kompliziertere Zusammenhänge anzusetzen: vgl. die Basis {proiic; proiec(t)}.

24 Vgl. Harras (1997, S. 123ff.), Bergmann (1998) .

25 Ähnlich wird das z.B. im Anschluss an Vogel (1986) auch bei Motsch (1999, S. 17) gehandhabt, nicht eindeutig in dieser Hinsicht Duden (1998, S. 426ff.).

26 Bemerkenswert hier auch die `gemeinschaftliche Deutung' Morgensterns: „Verf. hat sich erlaubt, aus dem Wort des Stiefels: „Ich ging ganz in Gedanken hin …“ die Wörter „ging ganz“ herauszugreifen und, zu einem Ganzen vereinigt, zum Range eines neuen Substantivs masc.gen. (in allen Casibus unveränderlich ohne Pluralis) zu erheben. Ein Gingganz bedeutet für ihn fortan ein in Gedanken Vertiefter, Verlorener, ein Zerstreuter, ein Grübler, Träumer, Sinnierer“. (Morgenstern 1965, S. 224)

27 Zu bedenken wäre auch noch die musterstützende Kraft von üblichen Nachbarbildungen, lexikalisierten Verbalabstrakta wie Missbrauch, (auch in ähnlicher Einbindung: Machtmissbrauch), aber auch Umweltverschmutzung. Sie allein könnten schon den Platz eines entsprechenden nomen agentis in ihrer Nachbarschaft freimachen. Das spricht gegen eine allzu strikte Grenzziehung zwischen synthetisierenden und analogisierenden Erklärungstypen.

28 Sonst wäre sicherlich ähnlich naheliegend `Vorschuss bei Hitze', analog zu hitzefrei.

29 Ein beliebtes Beispiel spätestens seit von Polenz (1972).

30 Über diese und ähnliche Zusammenhänge macht sich auch Donalies (1999a) Gedanken; sie geht offenkundig eher davon aus, in den zu beschreibenden Objekten stecke eine aristotelisch eindeutige Abgrenzung gegeneinander. Das zwingt zu weitgehenden Kompromissen.

31 Als kommunikativ als Lücken empfundene Erscheinungen wollen wir auch die Fälle betrachten, bei denen ein Objekt in seiner Benennungsmotivation als durchsichtig und diese als nicht mehr adäquat betrachtet wird, wie z.B. beim Wechsel der Benennung von Raubvogel zu Greifvogel.

32 Vgl. Günther (1981, S. 272/73); die von Eisenberg (1998, S. 221) dazu zitierten Fälle belegen genau diesen Effekt: um lexikalisierte Komposita konterdeterminierend auf eine der weniger gängigen Lesarten festzulegen, braucht es Einiges an textuellem Aufwand (zur relativen Aufwendigkeit von Bildungen und den textuellen Konsequenzen vgl. auch Matussek [1994]).

34 Das betrifft nicht nur die weithin vernachlässigte Darstellung der Regiolekte, sondern auch die mediolektale Frage, inwieweit zum Beispiel bestimmte jugendsprachliche Bildungen Teil dieses zentral schriftsprachlich geprägten Systems sind, oder dort nur als eine Art Zitatform aus einer anderen sprachlichen Welt zu werten sind.

36 KW = Kurzwort, BL = Basislexem, SI-KW = Silbenkurzwort

37 Man vergleiche auch das Nebeneinander von Xerox und xerokopieren.

38 Wobei leicht irritierend ist, dass das Produkt mit folgendem Slogan als Maskulinum beworben wird: „Exquisa. Keiner schmeckt mir so wie diesa“. Abgesehen vom Reim spielt hier sicherlich ein lockerer Bezug auf das imaginierte Genus von Quark eine Rolle.

39 Die hier und in den folgenden Klammern erwähnte Terminologie bezieht sich auf Kobler-Trill (1994).

40 Bildungen wie Bus zu Omnibus und Cello zu Violoncello bleiben dann marginal, wenn man nicht in Betracht zieht, dass auch bei den modernen Kopfformen nichtautochthoner Basen Prof(essor), Bib(liothek)) eigentlich nur soviel Material geliefert wird, bis die Differenzierungsfunktion geleistet ist.

41 Deutsch wohl nur einige Namen; vgl. aber englisch flu [influenca]

42 S. Gersbach/Graf (1984), S. 161.

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