48 Friedbert Ficker 22
sich jedoch, daB die politisch-tendenzióse Umformung ein Unterfangen ohne emsthafte Wirkung auf Gegenwart und Zukunft war, weil ihr der notwendige tragende geistige Grund fehlte.
Stattdessen haben seit der politischen Wende - trotz offensichtlicher Spannungen in der bulgarischen Kirche - Religion und Glaube, sowie im engen Zusammenhang damit christliche Bildthemen wieder an Aktualitat gewonnen. Dafur spricht die in herkómmlich iiberlieferter Weise streng frontał wiedergegebene Radierung “Sv. Nikola” aus dem Jahre 1992 von Plamen Petrov*7 ebenso wie M. Dimitrovs im gleichen Jahr entstandene Radierung “Fragmente aus der Vergangenheit.” Der Gekreuzigte erscheint dort fragmentiert und mit Domengestriipp umwickelt. Von dem zerbrochenen Hintergrund ist auch die Gottesmutter betroffen. Ein nachdenkliches, zeitkritisches Bild, wie es scheint, dessen bilanzierende Sichtweise nicht zu verkennen ist. Doch der Blick Marias verheiBt Hoffhung, fordert zur Besinnung und Neuordnung auf. Es ist zugleich der formale Versuch, das ikonographisch festgelegte Thema aus Konventionalitat und Erstarrung zu befreien und zeitgemaB zu interpretieren. Um eine der Zeit entsprechende Darstellung bemiiht sich auch Plamen Jordanov mit seinen farbigen Zeichnungen “Gekreuzigt” und “Auferstehung” vom Jahre 198788. Mit der nervigen Art der Strichfuhrung und der lockeren Verwendung der Farbę gelingt es dem Kunstler, die Themen aus der Atmosphare vordergrundiger gegenstandsgebundener Abbildung herauszuflihren und den biblisch iłberlieferten eigentlichen transzendentalen Gehalt des Geschehens sichtbar werden zu lassen. Religiose Malerei wird damit zum Bestandteil eines differenzierten Weltbildes, das uber die dritte Dimension hinaus nach der ErschlieBung neuer Erkenntnisebenen strebt. Demgegeniiber scheint sich die Radierung “Pope Stephan”89, in der die ósterreichisch-bulgarische Graphikerin Anna Kramer 1932 einen orthodoxen Priester aus ihrem Erlebniskreis festgehalten hat, auf den ersten Blick einfach und problemlos zu geben. Und doch ist es nicht nur das sichere Erfassen der portrathaften Zuge, das dem Blatt einen eigenen Reiz verleiht. Auch hier ist hinter der Oberflache wesentliches erfaBt, das uber die Einzelperson hinaus den Typ des orthodoxen Priesters ausmacht, der sich damit doch wesentlich von seinen Kollegen rómisch-katholischer Konfession oder protestantischer Herkunft unterscheidet. Beim Betrachten des Holzschnittes “Vor der Ikonę”90 die der Grafiker Dimitar Bakalov in der jiingsten Vergangenheit gestaltet hat, bleibt es dagegen offen, ob damit die riickwartsblickende Reminiszenz dargestellt werden sollte oder ob damit die Aufforderung zum aktiven Handeln mit dem Blick in die Zukunft gemeint ist. Man wird ein wenig an die Holzschnitte Zacharievs aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Die andachtig unter einer Ikonę sitzende jungę Bulgarin in Tracht fordert zu einem solchen Vergleich heraus. TraditionsbewuBtsein und lebendig erfaBte Gegenwart scheinen so der religiósen Kunst in Bulgarien noch immer einen tragenden Grund zu bereiten.
17 Slg. F. Ficker.
88 Ibidem.
89 Ibidem.
90 Ibidem.