Ritter Roland 20 Günther Herbst Die Jagd nach dem Schwarzen Stein

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Die Jagd nach dem

Schwarzen Stein

von Günther Herbst

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kleser: Larentia

Version 1.0

»Ehrwürdiger Abt, kommt schnell!«

Albian, gerade damit beschäftigt, eine Abschrift des

Gleichnisses vom Büßer Johannes zu verfertigen, ließ den
Federkiel sinken. Erneut gellte die Stimme Bruder
Bertholds auf. Albian sprang von seinem Stuhl hoch und
eilte hinaus in den Klosterhof. Mehrere Mönche standen
zusammen und diskutierten heftig. Sie alle machten
erschrockene, angstvolle Gesichter.

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»Was ist geschehen?« fragte Albian, der Abt. Bruder

Berthold deutete mit zitternder Hand auf das Wach-
häuschen neben der Klosterpforte. »Graf Kasimir und
seine Mannen nahen. Und es besteht kein Zweifel, daß die
Raubritter Mord und Totschlag auf ihr Banner geschrieben
haben ...«

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Auch das Herz des Abts wurde von Furcht und Sorge erfaßt.
Dennoch war er nicht überrascht. Er hatte geahnt, daß Graf Kasimirs
Kommen nicht zu verhindern war. Daß es aber so bald sein würde,
hatte er nicht gedacht.

»Legt die Ketten und Riegel vor«, wies er die Mönche an. Dann

ging er mit schnellen Schritten zum Wachhäuschen hinüber.

Während die Brüder die Klosterpforte zu sichern begannen, trat er

an die Seite des jungen Novizen Georg, der heute den Wachdienst an
der Pforte versah. Aus dem erhöht liegenden Fenster konnte er den
Zugang zum Kloster überblicken.

Ja, da kamen sie. Ein gutes Dutzend Reiter, angeführt von einem

Herold, der das trapezförmige Banner seines Herrn hochhielt. Das
Bannertier, ein aufgerichteter Bär, der in seinen Tatzen Schwert und
Keule trug, erschien Albian wie ein Symbol des Todes und der
Vernichtung. Und die Tatsache, daß sich Graf Kasimir selbst unter
den Reitern befand, ließ in der Tat das Schlimmste befürchten.

Die Reiter sprengten heran, zügelten ihre Pferde vor der Pforte.

Graf Kasimir blickte zum Fenster des Wachhäuschens hinauf.

»Ah, der Herr Abt ist höchstpersönlich zu unserem Empfang

erschienen«, sagte er. »Wir wissen die hohe Ehre zu schätzen.«

Kasimir war ein schlanker, hochgewachsener Mann in der Blüte

seines Lebens. Er hatte ein schmales Gesicht, dessen
hervorstechendstes Merkmal das spitze Kinn war. Mehrere Narben
und das Fehlen des rechten Ohrs zeigten an, daß er schon in so
manchem Handgemenge seinen Mann gestanden hatte.

»Was wollt Ihr, Graf?« fragte Albian ganz ruhig.
»Laßt uns ein«, erwiderte Kasimir mit einem scheinheiligen

Lächeln. »Dann sage ich es Euch.«

Der Abt ließ sich durch das Lächeln nicht täuschen. Nur zu gut

wußte er, daß es die wahren Absichten des Grafen nur übertünchen
sollte.

»Ich bin bereit, Euch einzulassen«, sagte er. »Aber nur Euch allein.

Und natürlich müßt Ihr vorher Eure Waffen ablegen, wie es in
unserem Kloster Sitte ist.«

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»Wenn dies Euer Wunsch ist...« Kasimir zog sein Schwert aus dem

Gehenk und übergab es einem seiner Getreuen. Dann blickte er
wieder nach oben. »So, nun öffnet mir!«

»Nicht bevor Ihr Euren Männern sagt, daß sie sich hundert Klafter

von der Pforte zurückziehen sollen.«

Das Lächeln des Grafen verflüchtigte sich. »Mißtraut Ihr mir,

Abt?« fragte er mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.

»Wenn Ihr mich so geradeheraus fragt - ja!«
Ein paar Augenblicke lang sah es so aus, als ob Kasimir nun zu

toben beginnen würde. Das tat er dann aber doch nicht. Statt dessen
lächelte er wieder. Es war das Lächeln eines Wolfes, der sich mit
gebleckten Zähnen über das Beutetier beugte.

»Nun gut, Abt Albian«, sagte er, »schenken wir uns das Gefecht

mit dem umwickelten Schwert. Ihr wißt, warum ich gekommen bin!«

»Ihr wollt den Schwarzen Stein!«
»So ist es«, bestätigte der Graf. »Also?«
Albian schüttelte den Kopf. »Wie ich schon vor Tagen Eurem

Sendboten sagte, sind wir nicht bereit, unser wundertätiges
Heiligtum herauszugeben.«

»Das ist sehr uneinsichtig und töricht von Euch, Abt. Der Stein ist

innerhalb der Mauern meiner Trutzburg weitaus besser aufgehoben
als hier im Kloster. Wie wollt Ihr und Eure Mönche das Heiligtum
schützen, wenn sich die gierigen Hände nichtswürdiger Räuber
danach ausstrecken?«

»Der Einzige, der seit langen Jahren seine Hände nach dem Stein

ausstreckt, seid Ihr, Graf Kasimir!«

Sekundenlang schwieg der Bannerträger des aufgerichteten Bären.

Dann lachte er kurz auf und legte die Maske der Scheinheiligkeit
vollends ab.

»Genug der leeren Worte, Abt«, sagte er und schob sein Kinn so

weit vor, daß es wie die Spitze einer Lanze wirkte. »Es ist nun an der
Zeit, Taten sprechen zu lassen, öffnet die Pforte!«

»Nein!«
»Ihr wißt, daß wir uns auch ohne Eure Einwilligung Zutritt

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verschaffen können?«

Sehr wohl wußte Albian dies. Das Kloster zum Schwarzen Stein

war keine Burg, die durch Wehrtürme und trutzige Mauern geschützt
wurde. Es lag auch nicht auf der Spitze eines steilen Berges, sondern
unten im Tal, frei zugänglich von allen Seiten.

Obzwar sich der Abt im Klaren darüber war, daß er die Absichten

des Grafen mit Worten kaum mehr ändern konnte, unternahm er
einen letzten Versuch, die Reiterschar fernzuhalten.

»Ihr würdet es wirklich wagen, das Kloster zu stürmen?« fragte er

mit grollender Stimme. »Wir stehen unter dem Schutz des Herrn!«

»Nun, so möge der Herr Euch schützen, wenn es ihm beliebt.«

Kasimir wandte sich seinen Getreuen zu. »Nikolaus, Jan, sorgt dafür,
daß die Pforte auf getan wird!«

Sogleich setzten zwei der Ritter ihre Pferde in Bewegung. Sie

ritten ganz nahe an die Außenmauer des Wachhäuschens heran und
machten unmittelbar unter dem Fenster halt. Geschickt wie Katzen
lösten sie ihre Füße aus den Steigbügeln und kletterten auf den
Rücken ihrer Reittiere. Schon streckte der eine seine Hände nach der
Fensterbrüstung aus, um sich hochzuziehen.

Georg, der die ganze Zeit über schweigend hinter dem Abt

gestanden hatte, machte einen entschlossenen Schritt nach vorne. In
der Hand hielt er das große Silberkreuz, das er von der Kette auf
seiner Brust gelöst hatte. Die Hand war zum Schlag erhoben.

»Georg«, sagte der Abt mahnend. »Wir sind Männer des Friedens,

nicht des Krieges. Ein Mönch hebt nicht die Hand wider seinen
Nächsten, selbst wenn dieser ihm Böses will!«

»Ich bin kein Mönch, ich will erst noch einer werden«, sagte der

Novize mit fester Stimme. Und dann hob er das Kreuz und hämmerte
es dem Ritter auf die Hand.

Der Getreue des Grafen stieß einen wilden Schmerzensschrei aus.

Er konnte sich nicht länger an der Fensterbrüstung festhalten, mußte
loslassen. Dadurch verlor er das Gleichgewicht und stürzte vom
Rücken seines Pferdes hinunter.

Inzwischen hatte sich der zweite Gräfliche schon fast nach oben

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gezogen. Kopf und Oberkörper tauchten bereits in der
Fensteröffnung auf. Erneut hob Georg das Kreuz.

Da surrte ein Pfeil durch die Luft. Tief bohrte sich die Spitze in die

Brust des Novizen. Georg gab einen gurgelnden Laut von sich. Er
schwankte hin und her wie ein Schilfrohr im Winde. Krampfhaft
versuchte er, sich auf den Beinen zu halten. Aber es gelang ihm
nicht. Das Silberkreuz glitt ihm aus den Fingern, und er stürzte
schwer zu Boden. Reglos blieb er liegen.

Mit eiskalter Hand griff das Entsetzen nach Albian. Solange er Abt

war, hatte es im Kloster zum Schwarzen Stein niemals einen
Menschen gegeben, der eines gewaltsamen Todes gestorben war.
Nun aber lag der junge Novize entseelt vor ihm. Sekundenlang war
Albian wie gelähmt.

Der zweite gräfliche Getreue hatte es jetzt geschafft, sich ganz auf

die Fensterbrüstung zu ziehen. Mit einem Satz sprang er in die
Wachkammer hinein. Im nächsten Augenblick hatte er sein Schwert
gezückt und hielt es dem Abt drohend entgegen.

»Leistet keinen Widerstand, sonst...«
Albian antwortete nicht. Sein Blick ruhte noch immer entsetzt auf

dem Toten, der in verkrümmter Haltung auf dem Fußboden lag.

Der Eindringling erkannte, daß ihm von Seiten des Abts keine

Gefahr drohte.

»Betet für seine Seele«, sagte er mit unverhohlenem Hohn in der

Stimme. Dann wandte er sich von Albian ab, eilte mit schnellen
Schritten durch die Kammer und erreichte die Treppe, die zum
Erdgeschoß des Wachhäuschens führte. Schon stürmte er sie
hinunter.

Albian gelang es jetzt, die Lähmung abzuschütteln, die seine

Glieder erfaßt hatte. Er wußte, daß der eingedrungene Gräfliche in
wenigen Augenblicken unten auf dem Klosterhof die Pforte öffnen
würde, um auch den Grafen und die anderen Männer einzulassen.
Und dann konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Eindringlinge
die Kapelle stürmten und den Schwarzen Stein in ihren Besitz
brachten. Das jedoch durfte nicht geschehen!

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Es war höchste Eile geboten. Auch Albian verließ jetzt die

Wachkammer und hastete nach unten. Auf dem Hof traf er es so an,
wie er es erwartet hatte. Der gräfliche Ritter machte sich bereits an
der Pforte zu schaffen. Mit wuchtigen Schwertstreichen hieb er auf
die von den Mönchen zur Sicherung angebrachten Ketten ein. Lange
würden diese der Brachialgewalt nicht trotzen können. Und gewiß
wußte der Getreue Kasimirs auch, wie er das Schloß der Pforte
sprengen konnte.

Händeringend standen die Brüder auf dem Hof und beobachteten

das schändliche Tun des Mannes im Kettenhemd. Noch machte
keiner von ihnen Anstalten, ihm in den Arm zu fallen. Aber der Abt
erkannte, daß einige von ihnen diesen Gedanken allen Ernstes
erwogen. Insbesondere der Novize Wenzel konnte kaum noch an
sich halten.

»Tu es nicht, Wenzel!« sagte Albian warnend. »Ein Toter ist mehr

als genug.«

Mit einer wilden Gebärde wandte sich der junge Mann ihm zu.

»Ehrwürdiger Abt, sollen wir wirklich kampflos zulassen, daß diese
Söhne des Bösen unser Heiligtum ...«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit, den Schwarzen Stein zu

schützen«, sagte Albian so leise, daß der Getreue Kasimirs es nicht
hören konnte. »Komm mit mir, Wenzel.« Er winkte noch einem
zweiten Mönch. »Und du auch, Berthold!«

Er verlor keine weitere Zeit, überquerte statt dessen den Klosterhof

und eilte auf die Kapelle zu. Wenzel und Berthold folgten ihm auf
dem Fuße. Bevor er die Kapelle betrat, warf er noch einen Blick über
die Schulter zurück. Der Ritter Kasimirs war ein geschickter Mann.
Schon hatte er die Ketten zerschlagen. Jetzt machte er sich bereits
daran, die Spitze seines Schwertes ins Schlüsselloch zu stecken, um
das Schloß zu erbrechen.

»Kommt, Brüder!«
Albian hastete in die Kapelle und lenkte seine Schritte geradewegs

zu dem kleinen goldenen Schrein, der rechts vom heiligen Altar auf
einem Podest stand. In dem Schrein ruhte auf einem

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scharlachfarbenen Samtkissen das weithin berühmte Heiligtum des
Klosters, dem dieses auch seinen Namen zu verdanken hatte.

Der Schwarze Stein!
Auf den ersten Blick wirkte der Stein beinahe alltäglich - kaum

größer als ein Kinderkopf, mit ungeschliffenen Ecken und Kanten.
Aber schon ein zweiter Blick offenbarte, daß die Reliquie mehr war,
als sie schien. Der Stein war von einer Schwärze, wie sie selbst die
finsterste Nacht nicht hervorzubringen vermochte. Und doch konnte
man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ginge ein geheimnisvol-
les Leuchten von seiner zernarbten Oberfläche aus. Die
wundertätigen Kräfte, die in ihm schlummerten, ließen sich
allerdings nur erahnen.

»Schließt den Schrein und nehmt ihn hoch«, wies der Abt seine

beiden Begleiter an.

Wenzel und Berthold taten, was er verlangte.
»Schnell, folgt mir«, sagte Albian drängend. Er rechnete jeden

Augenblick damit, daß der Graf und seine Getreuen im
Eingangsportal der Kapelle auftauchten.

Er führte seine beiden Helfer hinter den Altar und stellte sich mit

beiden Beinen auf eine ganz bestimmte Steinplatte des Fußbodens.
Mit einem leisen Knarren schwang die Rückwand des Altars zurück
und gab den Blick auf einen dunklen, fast mannshohen Gang frei.

Wenzel stieß einen überraschten Laut aus. »Bei allen Heiligen, ich

wußte gar nicht...«

»Ein Novize muß nicht alles wissen«, sagte Albian mit einem

feinen Lächeln. »Nun wollen wir nur hoffen, daß auch der Graf
nichts von der Existenz dieses Ganges ahnt.«

Allzu große Hoffnungen machte er sich in dieser Hinsicht

allerdings nicht. Er mußte davon ausgehen, daß Kasimir seinen
Handstreich von langer Hand vorbereitet und alle möglichen
Erkundigungen eingezogen hatte. Und ein gar so großes Geheimnis
war das Vorhandensein des Ganges nun auch wieder nicht.

Es blieb keine Zeit, noch eine Fackel herbeizuschaffen. Aber das

machte nicht viel aus. Der Abt fand sich auch in der Dunkelheit in

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dem Geheimgang zurecht.

»Bleibt immer dicht hinter mir«, sagte er zu seinen beiden Helfern.
Einen Augenblick noch blieb er lauschend stehen. Aber bis jetzt

war von den Getreuen des Grafen nichts zu hören. Die Aussichten,
unbemerkt fliehen zu können, standen also nicht einmal schlecht.

Entschlossenen Schrittes trat Albian in den Gang hinein. Er war ein

hochgewachsener Mann und mußte den Kopf einziehen, um nicht
gegen die niedrige Decke zu stoßen. Wenzel und Berthold hatten
damit weniger Schwierigkeiten als er. Das Gewicht des Schwarzen
Steins zwang sie ohnehin, sich tief nach unten zu beugen.

Als sich alle drei Mönche in dem Gang befanden, schloß sich die

Geheimtür in ihrem Rücken ganz von selbst wieder. Tiefe
Dunkelheit umfing sie. Der Geruch von feuchter Erde und Moder lag
in der Luft. Dies kam nicht von ungefähr, denn der Gang führte
mitten durch den Hügel, an dessen Fuß das Kloster lag.

Albian schritt voran, nicht allzu schnell, weil seine beiden

Begleiter ihm nur langsam folgen konnten. Das Gewicht von Schrein
und Stein machte ihnen schwer zu schaffen. Sehr bald schon kam ihr
Atem keuchend und rasselnd. Mehrmals wurde es unterwegs
erforderlich, eine kurze Rastpause einzulegen.

Und noch immer war von den Getreuen Kasimirs nichts zu sehen

und nichts zu hören. Albians Hoffnungen, das Heiligtum in
Sicherheit bringen zu können, stiegen mit jedem Schritt, den sie
zurücklegten.

»Wie ... weit... ist es ... noch?« fragte Wenzel, der kaum noch Luft

zu bekommen schien.

»Nicht mehr weit«, beruhigte ihn der Abt. »Der Gang führt bis

zum Fluß an der Ostseite des Hügels. »Wir werden es sehr bald
geschafft haben.«

Und schließlich war das Ende des Weges durch den Berg

tatsächlich erreicht. Albians ausgestreckte Hand stieß gegen die Tür,
die den Ausgang versperrte. Er tastete an der linken Wand entlang
und fand den vorspringenden Felsbrocken, den die Erbauer des
Geheimgangs in Brusthöhe angebracht hatten. Mit seiner ganzen

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Kraft drückte er gegen den Fels. Und wieder öffnete sich knarrend
die Tür.

Helles Sonnenlicht fiel in den Gang. Vogelgezwitscher drang an

die Ohren der drei Mönche. Und ein Geräusch, das Albian fast wie
Musik empfand: das Rauschen des Flusses.

Er trat nach draußen, gefolgt von Wenzel und Berthold.
»Hier am Ufer liegt ein kleiner Kahn versteckt«, sagte er. »Wir

werden den Schrein hineinladen und ...«

»Diese Mühe könnt Ihr Euch sparen, ehrwürdiger Abt!«
Aus dem Schatten eines unweiten Gesträuchs traten vier Männer

hervor. Einer von ihnen war Graf Kasimir. Triumph leuchtete in
seinen dunklen Augen.

Albian war ein frommer Mann, dem niemals unheilige Worte über

die Lippen kamen. Diesmal jedoch mußte er sich eisern beherrschen,
um nicht einen gar gotteslästerlichen Fluch auszustoßen.

*

Einen halben Mond später ...

Ritter Roland und seine Begleiter ritten in zügigem Schritt auf das

Kloster zum Schwarzen Stein zu. Eine wochenlange Wallfahrt voller
Strapazen und Gefahren lag hinter den sieben Männern und zwei
Frauen. Nun endlich waren sie am Ziel.

Bis auf Roland und seine beiden Knappen Louis und Pierre, die im

Auftrag von König Artus lediglich zum Schutz mitgeritten waren,
litten alle Pilger an schweren, anscheinend unheilbaren Krankheiten
und Gebrechen. Graf Eduard von Arlinghaus hatte sich im Kampf
eine Armverletzung zugezogen, in der seit langen Monden der Brand
tobte. Der Wandermönch Gotthilf wurde von schrecklichen
Gliederschmerzen geplagt, während der fette Kaufmann Mehlsack so
schlecht Luft bekam, daß er ständig fürchtete, ersticken zu müssen.
Richard, der junge Ritter, wurde von einer schleichenden, inneren
Krankheit verzehrt, die seinen Lebensfaden wahrscheinlich in Kürze
abschneiden würde. Allein was das Leiden der schönen Jungfer

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Eloise anging, die von ihrer drallen Zofe Marie begleitet wurde,
tappte Roland im dunkeln. Sie hatte nie darüber gesprochen, hatte
ihm lediglich anvertraut, daß sie durch ein Gelübde gebunden war. In
jedem Fall aber suchte sie wie die anderen im Kloster Erlösung und
Hilfe. Der Schwarze Stein, jene geheimnisvolle Reliquie
unbekannten Ursprungs, deren bloße Berührung alle Gebrechen und
Krankheiten heilen sollte, war die große Hoffnung, um derentwillen
sie alle die mühselige Reise ins Riesengebirge unternommen hatten.

Es dauerte nicht mehr lange, dann standen die Wallfahrer vor der

eisernen Klosterpforte. Im Licht der untergehenden Sonne machten
die Gebäude mit der kleinen Kapelle in der Mitte den Eindruck tiefen
Friedens. Sie strahlten eine Atmosphäre der Ruhe und der
Geborgenheit aus, die warme Gefühle in den Herzen der Ankömm-
linge hervorrief. Unwillkürlich war ihnen so, als seien sie nach einem
endlos langen Aufenthalt in der Fremde endlich nach Hause
zurückgekehrt. Daß in Wirklichkeit keiner von ihnen das Kloster
zum Schwarzen Stein jemals gesehen hatte, war dabei ohne Belang.

Neben der Pforte befand sich eine Glocke. Roland beugte sich im

Sattel vor und brachte den Klöppel zum Schwingen. Das helle
Läuten war Musik in den Ohren der Wallfahrer.

Nur wenige Augenblicke vergingen, bis sich an einem Fenster des

kleinen Hauses neben der Pforte das Gesicht eines jungen Mannes in
Mönchstracht zeigte.

»Grüß Gott«, sagte Roland und blickte lächelnd zu dem

Ordensbruder empor.

Der Mönch erwiderte den Gruß, gab aber das Lächeln des Ritters

mit dem Löwenherzen nicht zurück. »Ihr seid gekommen, um Eure
Gebrechen durch die wundertätige Kraft unseres Heiligtums heilen
zu lassen?« fragte er.

»Ja, so ist es.«
Jetzt lächelte der Mönch. Aber es war ein Lächeln, das voller

Schmerz und Trauer war. »Ich fürchte, Ihr habt Eure Wallfahrt
vergebens gemacht.«

»Was?« Roland glaubte nicht richtig zu hören. Ganz steif saß er im

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Sattel. Und auch die anderen Angehörigen seiner Pilgergruppe waren
wie versteinert.

»Ich verstehe Eure Bestürzung«, fuhr der junge Mönch fort.

»Dennoch kann ich Euch nichts Tröstlichers sagen. Wärt Ihr einen
halben Mond früher gekommen ... Aber ich glaube, Ihr solltet alles
weitere aus berufenerem Mund erfahren. Geduldet Euch noch einen
Augenblick, dann wird die Pforte geöffnet.«

Er zog sich vom Fenster“zurück und überließ die Wallfahrer ihrer

Bestürzung.

»Sollten wir wirklich umsonst gekommen sein?« Graf Eduard,

seinen verletzten Arm in einer Schlinge, schüttelte den Kopf. »Das
verstehe ich nicht. Heißt es doch, daß die Brüder vom Schwarzen
Stein noch nie einen Pilger abgewiesen haben.«

»Welch schreckliches Unglück«, jammerte Mehlsack, der fette

Kaufmann. »Dann bin ich dem Tode geweiht.«

Auch Bruder Gotthilf und dem Ritter Richard stand die bodenlose

Enttäuschung im Gesicht geschrieben. Allein die Jungfer Eloise ließ
sich nichts anmerken. Aber das wollte wenig besagen, denn ihr
schönes, ebenmäßiges Gesicht wurde ohnehin ständig von stummer
Traurigkeit geprägt.

Wie der Mönch versprochen hatte, wurde die Pforte wenig später

geöffnet. Sie war breit genug, um die Pilger gleich auf den
Klosterhof reiten zu lassen.

Dort hatten sich mehrere Mönche versammelt. Sie grüßten die

Ankömmlinge freundlich. Aber auch ihr Lächeln war schmerzlich
und ... mitleidsvoll.

Wenig später wußten Roland und seine Gefährten, was geschehen

war: Ein räuberischer Graf hatte den wundertätigen Schwarzen Stein
gewaltsam in seinen Besitz gebracht. Die Niedergeschlagenheit der
kranken Wallfahrer kannte keine Grenzen. Die ganze lange Reise
voller Mühsal und Gefahr ... umsonst.

Nur eine ließ sich nicht von der tiefen Niedergeschlagenheit in den

Bann schlagen: die schöne Eloise. Ein kurzes Gespräch mit einem
der Mönche brachte in ihr ein wahres Wunder zuwege. Zum ersten

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Mal seit Roland sie kannte, lachte sie, lachte sie aus vollem Herzen.
Ihre Traurigkeit war verflogen wie eine Feder im Wind. Statt dessen
strahlte sie vor Freude und Glück. Verblüfft blickten ihr Roland und
die anderen nach, als sie schnell wie ein junges Reh über den Hof lief
und in einem der Klostergebäude verschwand.

Aber Roland hatte jetzt nicht die Zeit, dem erstaunlichen

Stimmungswandel der jungen Frau auf den Grund zu gehen. Der
Verbleib des Schwarzen Steins hatte Vorrang ...

*

Rasselnd wurde die Zugbrücke der Schwarzenburg nach unten
gelassen, bis sie den mit Wasser gefüllten Graben in seiner ganzen
Breite überspannte. Die Personen, die geduldig auf der anderen Seite
gewartet hatten, setzten sich mit langsamen Schritten in Bewegung.
Sie brauchten eine ganze Weile, um das Ende der Brücke zu
erreichen. Ein jüngerer Mann, der sich mit zwei Krücken behelfen
mußte, humpelte mühsam hinüber. Ein anderer Mann, alt schon und
vom Tode gezeichnet, wurde auf einer Trage von zwei Helfern
transportiert. Und auch die vornehm gekleidete Frau, die den Schluß
der kleinen Gruppe bildete, konnte sich nicht allein
vorwärtsbewegen. Sie wurde von einer Dienerin gestützt.

Vier Burgwächter nahmen die Ankömmlinge in Empfang. Sie

hatten harte, kalte Gesichter, und in ihren Augen lag ein lauernder
Ausdruck.

Der jüngere Mann mit den Krücken räusperte sich. »Wir sind

hergekommen, um ...«

»Wir wissen, warum ihr gekommen seid«, fiel ihm einer der

Wächter ins Wort. »Man braucht euch ja nur anzusehen, dann ist dies
ganz offensichtlich.«

»Dann dürfen wir nähertreten?«
Die vier Wächter machten keine Anstalten, den Weg freizugeben.

Das Gegenteil war der Fall. Sie standen da wie eine unüberwindliche
Mauer aus Fleisch und Blut.

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»Langsam, langsam«, sagte der Sprecher. »Wir wollen nichts über-

stürzen.« Er deutete auf die Krücken des jüngeren Mannes. »Ein
lahmes Bein?«

»Von Geburt an.«
»Das Schicksal hat es also von Anfang an nicht gut mit dir

gemeint. Dem läßt sich jedoch abhelfen. Erst gestern war ein
Krüppel hier. Als er uns wieder verließ, konnte er hüpfen und
springen wie ein junges Fohlen. Warum sollte es dir nicht ebenso
ergehen?«

Ein hoffnungsvolles Lächeln huschte über das Gesicht des

jüngeren Mannes. »Es wäre mein sehnlichster Wunsch. Deshalb bin
ich von weither gekommen.«

»Nicht mit leeren Händen, hoffe ich«, erwiderte der Burgwächter.
»Nein«, sagte der jüngere Mann eifrig. »Ich habe gehört, daß es

Sitte ist, eine kleine Gabe ... Hier!« Er griff in eine Tasche seines
Wamses und holte drei Goldstücke hervor, die er den Burgwächtern
hinhielt.

Der Sprecher nahm die Goldstücke entgegen. »Ist das alles?«
»Mehr besitze ich nicht.«
Ein belustigtes Lächeln kräuselte die Lippen des Wächters. »Seine

gesunden Glieder scheinen ihm nicht viel wert zu sein«, sagte er zu
seinen Kumpanen.

Die anderen drei lachten rauh. Der jüngere Mann zuckte

zusammen, blickte irritiert von einem zum anderen.

»Pack dich«, sagte der Sprecher der Burgwächter zu ihm. Er

beachtete ihn nicht länger und wandte sich der vornehm gekleideten
Frau zu, die sich schwer auf ihre Zofe stützte. Bevor er jedoch etwas
zu ihr sagen konnte, machte der jüngere Mann einen Schritt nach
vorne.

»Wartet«, sagte er hastig. »Ich ...«
Ruckartig wandte sich der Burgwächter zu ihm um. »Du bist ja

immer noch da! Habe ich dir nicht gesagt, daß du verschwinden
sollst?«

»Aber...«

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»Kein >Aber<! Deine drei lächerlichen Goldstücke kommen einer

Beleidigung gleich. Und darum sage ich es noch einmal: Hinweg mit
dir!«

Der jüngere Mann fuchelte erregt mit einer seiner Krücken in der

Luft herum. »Ich flehe Euch an, habt Mitleid ...«

»Ah«, fuhr ihm der Burgwächter über den Mund, »du bedrohst

mich mit dem Stock. Das soll dir übel bekommen, Bube!« Seine
rechte Hand schoß nach vorne, packte den Krückstock und riß ihn
seinem Besitzer aus der Hand. Dann hob er die Krücke und drosch
sie dem Lahmen über den Kopf. »Nimm das als Lehre,
unverschämter Krüppel!« Noch einmal schlug er hart zu, dann warf
er den Krückstock von der Zugbrücke in den Graben.

Der junge Mann hatte eine Hand hochgerissen, um sich vor den

Schlägen zu schützen. Als er sie jetzt wieder sinken ließ, klebte Blut
daran, das aus einer klaffenden Wunde an der Schläfe floß. Tränen
schössen ihm aus den Augen. Er stieß einen Laut aus, der an ein
waidwundes Tier erinnerte, und wandte sich dann ab. Sich mühevoll
auf die eine Krücke stützend, die ihm noch verblieben war, humpelte
er den Weg zurück, den er gekommen war.

»Nun, werte Dame?« wandte sich der Sprecher der Burgwächter

wieder der vornehm gekleideten Frau zu.

Angst nistete in den Augen der Kranken, die schreckliche Angst,

ebenfalls abgewiesen zu werden. Sie wollte etwas sagen, brachte
aber keinen Ton über die zitternden Lippen.

»Meine Herrin leidet an einem Geschwulst«, sagte die Zofe an

ihrer Stelle. »An einem Geschwulst, das wächst und wächst und ...«

Die Frau, blaß wie der Tod selbst, streckte mit einer schwachen

Geste eine Hand aus. Darin ruhte ein praller Beutel aus hellem
Ziegenleder, der mit einer Goldschnur zugebunden war. »Bitte,
nehmt... das«, sagte sie mit matter Stimme.

Das ließ sich der Burgwächter nicht zweimal sagen. Schon hatte er

den Beutel an sich gerafft und geöffnet. Kostbare Steine und
goldenes Geschmeide blinkten ihm entgegen. Er stieß einen
anerkennenden Pfiff aus und lächelte befriedigt.

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»Ihr erweist unserem Heiligtum die Ehre, die ihm gebührt«, lobte

er. »Allerdings ...«

»Allerdings?« wiederholte die Frau mit einer Stimme, die ihr vor

lauter Furcht kaum aus der Kehle wollte.

Der Wächter zeigte auf das Haar der Frau, das durch eine große

Spange aus purem Gold zusammengehalten wurde. »Dieses
Schmuckstück könnte einen wesentlichen Beitrag zum angestrebten
Heilungserfolg leisten«, sagte er unmißverständlich.

Hastig griff die Frau in ihr Haar und nestelte die Spange aus den

schwarzen Locken.

»Und der Ring, den Ihr da am Finger tragt, ebenfalls«, fügte der

Wächter hinzu.

Auch der Ring wechselte sogleich den Besitzer. Mit traurigen

Augen sah die Frau zu, wie das Schmuckstück zu den übrigen in den
Lederbeutel wanderte und unter dem Waffenrock des Burgwächters
verschwand.

»Ihr dürft passieren«, sagte der Mann. »Und möge Euch das Glück

lächeln, das Ihr hier zu finden hofft.«

Die anderen drei Wächter traten zur Seite und gaben den beiden

Frauen den Weg zum Burghof frei.

Die ganze Zeit über hatten die beiden kräftigen Männer an der

Trage im Hintergrund gestanden. Nun waren sie an der Reihe. Mit
verkniffenem Gesicht ließ der Anführer der Burgwächter seine
Blicke über die abgetragene, einfache Kleidung der beiden schwei-
fen. Bei ihnen gab es nicht viel zu holen, das erkannte er sofort. Sie
waren arm wie die Kirchenmäuse. Aber das mußte noch nichts
besagen. Es ging um den alten Mann auf der Trage. Viel war von
ihm nicht zu erkennen. Sein Körper wurde von einer Decke verhüllt,
die bis zum Hals hochgezogen war. Das Gesicht, hohlwangig,
abgemagert und mit Augen, die tief in den Höhlen lagen, war vom
Tode gezeichnet. Sein umflorter Blick schien auf Gefilde gerichtet zu
sein, die schon nicht mehr in der diesseitigen Welt angesiedelt
waren.

»Was fehlt ihm?« fragte der Wächter, »Er stirbt«, antwortete einer

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der Träger.

»Wir müssen alle sterben«, sagte der Wächter und zuckte die

Achseln. »Obgleich es natürlich Wunder gibt, die den Tod auf
unbestimmte Zeit vertreiben können. Er ist euer Herr?«

»Unser Vater.«
»Euer Vater, so, so.« Der Burgwächter begriff, daß der Alte

genauso ein armer Schlucker war wie die beiden Burschen. Er würde
kaum in der Lage sein, den geforderten Mindesttribut zu zahlen.

Die Bestätigung für diese Annahme ließ nicht lange auf sich

warten.

»Wir haben kein Gold und kein Geschmeide«, sagte der eine Sohn.

»Wir haben nur unsere Hände, mit denen wir kräftig zupacken
können. Diese unsere Hände stellen wir zur Verfügung.«

»Ihr wollt eure Schuld... abarbeiten?«
»Ja. Für das Leben unseres Vaters sind wir bereit, uns zu plagen

und zu schinden, bis uns die Haut von den Knochen fällt.«

Der Burgwächter lachte. »Wir verfügen über genügend Leibeigene,

die ihren Frondienst leisten, ohne dreiste Forderungen zu stellen.
Wenn ihr sonst nichts anzubieten habt... Macht gefälligst, daß ihr uns
aus den Augen kommt!«

»Ihr seht kalten Herzens zu, wie unser Vater stirbt?«
»Was kümmert uns der Alte? Auch ihr solltet froh sein, wenn er

endlich unter der Erde ist. Ein nutzloser Esser weniger!«

In den Augen des jungen Burschen blitzte es auf. »Ihr seid keine

Menschen. Ihr seid elende ...«

Weiter kam er nicht. Der Burgwächter machte einen Schritt nach

vorne und verabreichte ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht.
Der Schlag war so wuchtig, daß der Bursche zurücktaumelte. Er war
nicht länger in der Lage, die Trage zu halten. Sie glitt ihm aus den
Händen und schlug mit dem einen Ende auf dem Holz der Brücke
auf. Der alte Mann rutschte hinunter, und bevor der andere Sohn ihn
packen konnte, lag er bereits schwer auf dem Boden.

»Vater!«
Die Stimme des Burschen war ein Aufschrei des Schmerzes und

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des wild lodernden Zornes. Er ließ die leere Trage fallen und stürzte
sich blind vor Wut auf den Burgwächter.

Der war auf diesen Angriff nicht vorbereitet. Er konnte nicht

verhindern, daß ihn der Bursche an der Kehle packte und mit sich zu
Boden riß.

»Du gnadenloser, mörderischer Schurke! Ich ... bringe dich um!«
Wie die Backen eines Schraubstockes schlossen sich die Hände des

Burschen um den Hals des Wächters und drückten zu.

»Helft... mir«, röchelte dieser, während ihm bereits die Augen aus

den Höhlen traten.

In die drei anderen Wächter kam jetzt Bewegung. Wie ein Mann

rückten sie gegen den Rasenden vor.

Aber da war auch noch der andere Bursche. Er hatte den

Faustschlag ins Gesicht inzwischen überwunden, war bereit, seinem
Bruder zu Hilfe zu eilen. Aus Mund und Nase blutend, stellte er sich
den drei Männern entgegen, mit geballten Fäusten und
vorgeschobenem Kopf.

Die Wächter zögerten, verhielten ihren Schritt. Die wilde

Kampfentschlossenheit des Burschen gab ihnen zu denken. Aber ihr
Zögern währte nicht lange. Der eine von ihnen riß sein Schwert aus
dem Gehenk. Schon hob er die Klinge zum tödlichen Streich.

»Weg da, sonst...«
Der junge Bursche wagte das Unmögliche. Er machte einen

mächtigen Satz, versuchte dem Gegner in den Arm zu fallen. Es
gelang ihm nicht. Der Wächter wich dem stürmischen Angriff durch
eine geschickte Körperdrehung aus. Dann wirbelte seine blitzende
Klinge durch die Luft. Röchelnd brach der Bursche zusammen. Noch
einmal bäumte er sich auf, fiel dann jedoch todesmatt zurück und
rührte sich nicht mehr.

Sein Bruder erkannte, daß es ihm nun an den Kragen ging. Er ließ

den Wächter, den er am Hals gepackt hatte, los und sprang hoch. Zu
einer weiteren Aktion kam er nicht. Abermals zuckte die
Schwertklinge nach vorne und bohrte sich tief in seine Brust. Als der
Wächter sein Schwert zurückzog, war er bereits tot.

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Schweratmend kam der Anführer wieder auf die Füße. Er hielt sich

seinen malträtierten Hals.

»Elendes Gesindel«, stieß er krächzend hervor und versetzte dem

Toten einen erbitterten Fußtritt.

Der Wächter mit dem Schwert steckte seine Waffe in die Scheide

zurück. »Mut hatten sie, das muß man ihnen lassen«, sagte er. »Was
machen wir jetzt mit ihnen?«

»Wir ziehen die Zugbrücke hoch, dann erledigt sich das Problem

von selbst!«

Als sich die Brücke nach vorne neigte, stürzten die beiden Toten in

den Graben. Und ihr hilfloser Vater ebenfalls.

*

»... und so entrissen mir die Getreuen des Grafen den Schrein mit
dem Schwarzen Stein und schleppten ihn davon«, kam der Abt
Albian zum Abschluß seiner Schilderung.

Roland, Graf Eduard und der Ritter Richard saßen dem Oberhaupt

des Klosters in dessen Zelle gegenüber. Es sprach für die
Bescheidenheit des nicht mehr jungen, grauhaarigen Mannes, daß er
seine herausragende Stellung als Abt des Klosters in keiner Weise zu
seinem Vorteil nutzte. Seine Zelle war genauso karg und spartanisch
eingerichtet wie die des niedrigsten Novizen. Der Grundsatz, daß vor
dem Herrn alle Brüder gleich waren, wurde von ihm nicht nur als
Lippenbekenntnis betrachtet. Er lebte auch danach.

Graf Eduard war über all das, was er gehört hatte, besonders

empört. Über die erste Enttäuschung, daß die Wunde an seinem Arm
nun noch weiter schwären und ihn mit bösartigen Schmerzen plagen
würde, war er mittlerweile halbwegs hinweg. Nicht verwunden hatte
er jedoch, daß sich ausgerechnet ein Angehöriger seines eigenen
hohen Standes für das Geschehene verantwortlich zeichnete.

»Dieser Graf Kasimir«, fragte er wütend. »Was ist das für ein ...

Kerl?«

»Es steht mir nicht zu, über die weltlichen Herren zu richten«,

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erwiderte Albian. »Aber was Graf Kasimir betrifft... Nun, es gibt
wenig Grund, seiner Herrschaft Respekt zu zollen. Er ist und bleibt
das, was er immer war: ein Raubritter, der es mit List und Tücke
geschafft hat, vom Herzog mit einer Grafschaft belehnt zu werden.«

»Der Kerl ist eine Schande für den gesamten Fürstenstand«,

schnaubte Eduard.

»Warum hat Kasimir Euer Heiligtum in seinen Besitz gebracht?«

erkundigte sich Roland.

»Diese Frage ist sehr einfach zu beantworten«, erwiderte der

grauköpfige Abt. »Der Schwarze Stein ist für den Grafen eine
Goldquelle, die niemals versiegt. Zu uns ins Kloster konnte
jedermann kommen, der von Gebrechen und Krankheit geplagt
wurde. Ein reines Herz und eine kleine Gabe zu Ehren des Herrn,
mehr verlangten wir nicht. Wer reich war, gab mehr, wer arm war,
gab weniger. Und derjenige, der gar keine irdischen Güter sein eigen
nannte, konnte der Wundertätigkeit des Steins auch dann teilhaftig
werden, wenn er gänzlich mit leeren Händen kam. Damit hat es nun
jedoch ein Ende. Kasimir wird die Hilfesuchenden schröpfen, wie es
tausend Blutegel nicht zuwege brächten.«

»Der Schwarze Stein ist also auch weiterhin frei zugänglich?«
»Für diejenigen, die dafür bezahlen können, ja. Kasimirs Burg ist

der neue Wallfahrtsort.«

»Habt Ihr nicht beim Herzog Klage gegen den dreisten Räuber

geführt, ehrwürdiger Abt?« erkundigte sich Roland.

»Gewiß. Einer unserer Brüder hat sich gleich nach dem Überfall

auf den Weg zum herzoglichen Schloß gemacht. Aber ob er jemals
dort angekommen ist? Ich halte es durchaus für möglich, daß die
Schergen Kasimirs unseren Sendboten abgefangen haben. Und selbst
wenn das nicht der Fall ist, was soll der Herzog schon tun? Kasimirs
Burg kann einer herzoglichen Belagerung für lange, lange Zeit
trotzen.«

Trotz dieser bösen Nachrichten hatte sich die finstere Miene

Herzog Eduards etwas aufgehellt. Und auch der Ritter Richard
blickte wieder etwas hoffnungsvoller drein. Roland verstand die

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beiden Männer, die natürlich in erster Linie an die Aussichten für die
Heilung ihrer Leiden dachten. Und wie es aussah, waren diese
Aussichten noch nicht gänzlich dahin.

»Ihr meint, wir sollten unsere Wallfahrt bis zur Burg Kasimirs

fortsetzen?« fragte Roland den Grafen, dessen Schutz ihm König
Artus anbefohlen hatte.

Eduard nickte langsam. »Auch wenn wir das Verbrechen des

Kasimir dadurch unterstützen, bleibt uns wohl keine andere
Möglichkeit. Oder seht Ihr eine solche, Roland?«

»In der Tat sehe ich eine solche Möglichkeit«, erwiderte der Ritter

mit dem Löwenherzen.

Die anderen drei Männer sahen ihn voller Spannung und

Erwartung an.

»Sprecht, Roland!«
»Graf Kasimir hat den Schwarzen Stein geraubt. Sein Besitz des

Heiligtums ist also ein schreiendes Unrecht.«

»Das bedarf keiner Frage«, bestätigte der Abt. »Kasimir ist nicht

nur ein Räuber, sondern auch ein Mörder. Einer unserer Brüder
wurde von seinen Getreuen kaltblütig gemeuchelt.«

»Dann wäre es nicht mehr als recht und billig, wenn man Gleiches

mit Gleichem vergilt«, sagte Roland.

»Ihr wollt...«
»... dem Übeltäter den Schwarzen Stein wieder abjagen«,

vervollständigte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Und sei es mit
Gewalt und nötigenfalls auch Blutvergießen!«

Albian, der Abt, seufzte. »Laßt diese Absicht fallen, Ritter. Die

Getreuen Kasimirs verstehen sich auf ihr kriegerisches Handwerk.
Niemals wird es Euch gelingen, wider ihren Willen in des Grafen
Burg einzudringen und ihm die Reliquie zu entreißen. Ein Versuch
wäre Euer sicherer Tod.«

Roland lächelte. »Ich bin anderer Ansicht. In der Tat wäre es

töricht, Kasimirs Burg zu stürmen. Aber wenn ich als Pilger komme,
der angeblich krank ist und die Hilfe des Steins in Anspruch nehmen
will, wird man mich gewiß einlassen. Und wenn ich mich erst einmal

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innerhalb der Burgmauern befinde und weiß, wo ich den Stein zu
suchen habe ...«

Der Abt war vom Gelingen des Planes keineswegs überzeugt. »Ihr

unterschätzt den Grafen, Ritter. Gesetzt den Fall, Ihr schafft es
tatsächlich, den Stein in Eure Hand zu bekommen ... Glaubt Ihr
wirklich, Kasimir würde zulassen, daß Ihr damit entflieht? Niemals
könntet Ihr die Burg wieder verlassen!«

»Das laßt nur meine Sorge sein. Auch ich verstehe mich ein wenig

auf das Kriegshandwerk.«

»Ein wenig?« wiederholte Graf Eduard. »Ihr seid der formidabelste

Kämpfer, der mir jemals begegnete. Ja, wenn es einem gelingen
kann, den Schwarzen Stein zurückzubringen, dann Euch! Was meint
Ihr, Ritter Richard?«

Es war keine ritterliche Freundschaft, die Roland und Richard

miteinander verband. Auf der langen Reise zum Kloster waren sie
mehrmals heftig aneinandergeraten. Aber auch Richard wußte um die
unvergleichliche Stärke und Kampfkraft seines Standesbruders.

»Ja«, sagte er, »wenn es einem gelingen kann, dann Roland!« Er

blickte den Ritter mit dem Löwenherzen an. »Sehe ich es recht, daß
Ihr allein zu reiten gedenkt?«

»Nur meine beiden Knappen werden mich begleiten, ja.«
»Und wann wollt Ihr aufbrechen?«
»Gleich morgen.«
»Hm«, machte Richard und setzte eine nachdenkliche Miene auf.

»Es kann Tage dauern, bis Ihr mit dem Stein zurück seid, nicht
wahr?«

Roland zuckte die Achseln. »Ich hoffe natürlich, mein Vorhaben so

schnell wie möglich zu verwirklichen. Blinder Eifer aber schadet nur.
Ich muß die günstigste Gelegenheit abpassen, um den Stein in
meinen Besitz zu bringen. Und das kann in der Tat Tage dauern.«

»So lange kann ich nicht warten«, sagte Richard. Er legte die

rechte Hand auf sein Herz und verzog peinvoll das Gesicht. »Meine
Schmerzen werden jetzt immer stärker. Ich muß damit rechnen, daß
es stündlich mit mir zu Ende geht.«

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Graf Eduard zog die Augenbrauen hoch. »Ihr habt uns nie gesagt,

daß es so schlimm um Euch steht, Richard.«

»Es ist nicht meine Art, zu jammern und zu klagen«, gab der junge

Ritter zurück.

»Was wollt Ihr denn jetzt tun?«
»Ich werde unverzüglich zur Burg dieses Grafen Kasimir reiten.

Vielleicht kann mich der Schwarze Stein noch retten.«

»Unverzüglich?«
»Noch heute abend!«
Der Abt beugte sich vor. »Seid Ihr darauf vorbereitet, einen hohen

Tribut zu zahlen, Ritter?«

Richard nickte. »Ich bin kein armer Mann. Auch Euer Kloster hätte

ich mit einem großzügigen Dankesgeschenk bedacht, ehrwürdiger
Abt. Würdet Ihr mir den Weg zur Burg des Grafen beschreiben?«

Schon eine Stunde später verließ der junge Ritter das Kloster zum

Schwarzen Stein.

Roland und Graf Eduard setzten die übrigen Wallfahrer in

Kenntnis. Die tiefe Niedergeschlagenheit Bruder Gotthilfs und des
Kaufmanns Mehlsack legte sich etwas. Sie hatten Roland als einen
Mann kennengelernt, der seine Ziele mit Beharrlichkeit verfolgte und
erreichte. Sie hofften nun darauf, daß es ihm gelingen würde, den
wundertätigen Stein wieder herbeizuschaffen. So lange würden sie
im Kloster bleiben und auf seine Rückkehr von der Schwarzenburg
warten.

Natürlich wollte Roland auch der schönen Eloise Bescheid sagen.

Aber er fand die Jungfer nicht.

»Was ist nur los mit ihr?« wunderte er sich. »Erst vorhin dieser

unerklärliche Freudenausbruch, und nun scheint sie der Erdboden
verschluckt zu haben!«

Dem war aber doch nicht so. Der Mönch im Wachhäuschen wußte

zu berichten, daß Eloise vor kurzer Zeit das Kloster verlassen hatte,
um draußen einen Spaziergang zu machen.

Kopfschüttelnd nahm es Roland zur Kenntnis. »Aber das ist doch

viel zu gefährlich!« Er warf einen Blick zum Himmel, an dem die

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Sonne längst untergegangen war. Es herrschte dämmriges Zwielicht,
das sehr schnell der abendlichen Dunkelheit Platz machen würde.
Obwohl die Wallfahrer inzwischen am Ziel ihrer langen Reise
angekommen waren, und Roland seine Aufgabe damit eigentlich
erfüllt hatte, fühlte er sich doch noch immer für das Wohl aller
verantwortlich. Deshalb faßte er den Entschluß, das Mädchen zu
suchen.

Seine beiden treuen Knappen Pierre und Louis wollten ihn

begleiten, aber das hielt Roland nicht für erforderlich. »Ruht euch
aus und legt euch alsbald zum Schlafen nieder«, wies er sie an.
»Morgen in aller Herrgottsfrühe brechen wir zur Burg Graf Kasimirs
auf.«

Während der Wallfahrt war es ihm nicht erlaubt gewesen, eine

Waffe zu tragen, weil Friedfertigkeit als erstes Gebot gegolten hatte.
Nun aber war er der Verpflichtung zur Waffenlosigkeit wieder
entbunden. Die Klosterbrüder pflegten zwar nicht zu kämpfen,
besaßen aber in ihren Lagerräumen doch einige Waffen. Dabei war
auch ein Schwert, das sich Roland umgürten konnte. Als er die
Waffe an seiner Hüfte spürte, fühlte er sich seit Wochen zum ersten
Mal wieder wie ein richtiger Ritter.

Kurz darauf ließ er sich die Klosterpforte öffnen und trat hinaus in

die Dämmerung. Von dem Mönch im Wachhäuschen wußte er, daß
sich Eloise nach rechts gewandt hatte. Auch er schlug diesen Weg
ein. Kräftig schritt er aus.

In einiger Entfernung sah er die schattenhaften Konturen eines

kleinen Waldstücks. Sein Gefühl sagte ihm, daß er das gesuchte
Mädchen dort finden würde. Er ließ den kleinen Berg, an dessen Fuß
das Kloster lag, rechts liegen und wandte sich den Bäumen zu.

Er war noch gar nicht weit gekommen, als ihm klar wurde, daß er

sich geirrt hatte. Hinter sich hörte er eine Stimme.

Eine Frauenstimme!
Ruckartig blieb Roland stehen und fuhr herum. Mit fast

zusammengekniffenen Augen versuchte er, das immer stärker
werdende Dunkel zu durchdringen. Und er konnte jetzt auch etwas

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erkennen. Ein Stück den Hügel hinauf, nahm er eine Bewegung
wahr. Zwei Gestalten schienen es zu sein, zwei Gestalten, die ganz
offenbar einen Kampf miteinander ausfochten.

Roland zögerte keine Sekunde länger. Er setzte sich in Bewegung

und lief, so schnell er nur konnte, den Abhang hinauf. Dabei griff er
nach dem Schwert und zog es aus der Scheide. Innerhalb weniger
Augenblicke war er heran.

Ja, er hatte richtig gesehen. Da waren zwei Menschen in einer

kleinen, mit Gras bewachsenen Mulde, ein Mann und eine Frau. Die
Frau lag auf dem Rücken, und der Mann hockte über ihr. Und trotz
der schlechten Sichtverhältnisse blieb Roland nicht verborgen, daß
die Frau halb nackt war. Die Frage, was der Mann mit ihr vorhatte,
beantwortete sich damit von selbst.

Es war zu dunkel, um die Gesichter erkennen zu können. Aber

Roland zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß es sich bei der Frau
um die schöne Eloise handelte. Ihr kleiner Spaziergang war zu einem
schrecklichen Erlebnis geworden. Aber wie es schien, war er gerade
noch rechtzeitg gekommen, um das Schlimmste zu verhindern.

Die beiden hatten seine Annäherung anscheinend noch gar nicht

bemerkt. Aber das sollte sich jetzt schnell ändern. Roland hätte den
Wüstling sofort mit dem Schwert erledigen können. Es war jedoch
nicht seine Art, jemanden von hinten mit der Waffe in der Hand
anzugreifen. Deshalb versetzte er dem Mann nur einen derben Stoß,
der diesen seitlich ins Gras stürzen ließ.

Die Frau schrie auf, laut und durchdringend. Ja, es war Eloise.

Roland erkannte ihre Stimme. Er wollte auf sie zutreten, kam aber
gar nicht dazu. Der Wüstling war überraschend schnell wieder auf
den Füßen. Er knurrte etwas Unverständliches und machte eine
schnelle Handbewegung. Dann blinkte auch in seiner Hand ein
Schwert auf.

Roland war leicht überrascht. Anscheinend hatte er es mit einem

Ritter zu tun. Dadurch wurde sein Zorn aber nicht geringer, ja, er
steigerte sich sogar noch. Ein Kerl, der unschuldige Frauen überfiel
und ihnen Gewalt antun wollte, verdiente die Ritterwürde nicht.

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Da griff der schurkische Ritter an, wild und ungestüm. Mit einem

mächtigen Hieb wollte er Roland den Garaus machen. Aber der
Ritter mit dem Löwenherzen ließ sich nicht überraschen. Rechtzeitig
riß er sein eigenes Schwert hoch und parierte die Attacke seines
Widersachers. Er konnte jedoch nicht verhindern, daß er zwei, drei
Schritte zurücktaumelte.

Teufel auch, das Schwert, das man ihm im Kloster gegeben hatte,

war viel leichter, als er es gewohnt war! Daran mußte er sich erst
einmal gewöhnen.

Sein Gegner sah sich offenbar bereits auf der Siegerstraße. Er

lachte triumphierend und setzte sofort nach. Wieder mußte sich
Roland seiner wuchtigen Hiebe erwehren.

Er hatte Mühe dabei, denn das viel zu leichte Schwert lag ihm

nicht richtig in der Hand. Und er konnte auch nicht leugnen, daß der
fremde Ritter eine vorzügliche Klinge schlug. Ganz wieder Willen
wurde er immer weiter den Abhang hinuntergetrieben.

»Ich ... spalte dir den Schädel, du Spitzbube!« stieß sein

Widersacher keuchend hervor.

Aber dazu wollte es Roland ganz gewiß nicht kommen lassen.

Langsam bekam er ein gewisses Gefühl für das ungewohnte Schwert.
Und sofort sah er besser aus. Er brauchte sich nicht mehr nur auf die
Verteidigung zu beschränken, konnte seinerseits ein paar
Angriffschläge austeilen. Der andere Ritter verstand sich jedoch auch
auf die Verteidigung. Rolands erste Attacken führten zu nichts,
wurden samt und sonders abgewehrt.

Weiter und weiter ging der Kampf. Die Funken stoben, als Stahl

gegen Stahl geschmettert wurde. Grasbüschel wurden in die Luft
gewirbelt, als die Füße der Männer vor- und zurückstampften.

Langsam, aber sicher gewann Roland die Oberhand. Er wich jetzt

nicht weiter zurück, sondern schaffte es, den verlorenen Boden
wieder gut zu machen. Schlagend und stechend trieb er seinen
Gegner den Hügel wieder hinauf.

Verbissen wehrte sich der andere Ritter. Aber es war ihm deutlich

anzumerken, daß nun er große Mühe hatte, den Kampf halbwegs

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offen zu gestalten. Sein Keuchen wurde lauter und heftiger. Und von
seinem anfänglichen triumphierenden Lachen war nichts mehr zu
hören.

Jetzt waren die beiden Männer fast wieder bei der Mulde

angelangt. Roland hatte gedacht, daß die schöne Eloise inzwischen
davongelaufen wäre, um Zuflucht im Kloster zu suchen. Aber das
war nicht so. Die junge Frau hatte sich erhoben und ihre Blößen
bedeckt, harrte jedoch an Ort und Stelle aus. Ihr Anblick spornte
Roland an, den Kampf nun endlich siegreich zu beenden, der
ohnehin für seinen Geschmack schon viel zu lange dauerte.

Er holte tief Luft und deckte seinen Gegner dann mit einem

solchen Schlaghagel ein, daß diesem Hören und Sehen verging. Für
den fremden Ritter gab es jetzt nur noch eine Losung: zurück,
zurück, zurück ...

Und dann gab es kein weiteres Zurück mehr. Rolands Gegner

geriet ins Stolpern, torkelte, ruderte mit den Armen in der Luft. Aber
er schaffte es nicht, sich auf den Beinen zu halten. Rücklings stürzte
er in die Mulde - genau vor die Füße der schönen Eloise.
Erschrocken schrie das Mädchen auf.

Mit erhobenem Schwert trat Roland an den Rand der Mulde.

»Habe ich dich, Wüstling«, sagte er grimmig.

Der Besiegte lag flach auf dem Rücken und atmete schwer. Er

wußte, daß er geschlagen war und machte keine Anstalten,
aufzuspringen.

Eloise schlug die Hand vor den Mund. »Ritter Roland, seid ... ihr

das? Erst jetzt erkenne ich Euch!«

»Ja, mein Fräulein«, erwiderte Roland und richtet die Spitze seines

Schwerts auf die Brust des Niedergestreckten.

»Nein!« gellte die Stimme des Mädchens in seinen Ohren. »Um

des Himmels Willen, tötet ihn nicht!«

Das hatte Roland ohnehin nicht vorgehabt. Niemals wäre es ihm

eingefallen, einem Wehrlosen kaltblütig die Klinge ins Herz zu
stoßen. Dennoch überraschte ihn die Aufregung des Mädchens.

»Ihr habt Mitleid mit diesem Wüstling, der Euch aufgelauert hat,

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um Euch Eure Ehre zu rauben?« wunderte er sich.

»Er hat mir nicht aufgelauert und wollte mich auch keineswegs

vergewaltigen, wie Ihr zu denken scheint«, erwiderte das Mädchen.
»Ich habe mich hier mit ihm getroffen und wollte mich ihm durchaus
freiwillig hingeben.«

»Ihr wolltet...« Roland versagte die Sprache.
»Der Mann, den Ihr beinahe getötet hättet, ist mein Bräutigam«,

sagte die schöne Eloise.

Vor Erstaunen wäre Roland beinahe das Schwert aus der Hand

gefallen.

*

Richard gönnte seinem Pferd keine Ruhepause. Er ritt die ganze
Nacht hindurch, und als der Morgen graute, konnte er seiner
Schätzung nach dem Ziel nicht mehr allzu fern sein.

Ein Bauer auf dem Felde bestätigte ihm die Richtigkeit seiner

Annahme. Zwar war er in der Dunkelheit ein Stück vom Wege
abgekommen. Aber das ließ sich leicht verkraften. Mehr als zwei
Stunden hatte er kaum verloren. Sein Vorsprung vor Roland war
noch immer so groß, daß er bestimmt keine Schwierigkeiten haben
würde, seinen Plan rechtzeitig zu verwirklichen.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch lange nicht erreicht, als

er die Schwarzenburg vor sich liegen sah. Ein Mann wie er, der das
prächtige Camelot kannte, war von dem Besitz des Grafen Kasimir
nicht sonderlich beeindruckt. Die Schwarzenburg bestand aus einem
großen Donjon, der von zwei Wachtürmen flankiert wurde.
Umgeben wurde die ganze Anlage von einer hohen Mauer aus
dunklem Felsgestein. Rundum lief ein sehr breiter Graben, der mit
schmutzigem, schlammigen Wasser angefüllt war. Große Ehre
konnte der Graf mit seiner Burg nicht einlegen. Aber das mochte sich
bald ändern. Die Reichtümer, die ihm der Schwarze Stein
höchstwahrscheinlich einbrachte, würden seine Ansprüche gewiß
steigen lassen.

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Richard lenkte sein Pferd den kleinen, künstlich angelegten Hügel

hinauf, der dem Burgtor mit der Zugbrücke gegenüberlag, und
machte halt.

Natürlich waren die Burgwächter längst auf ihn aufmerksam

geworden. Richard grüßte hinüber und bat, eingelassen zu werden.

Zunächst wurde seiner Bitte ein abschlägiger Bescheid beschieden.
»Geduldet Euch noch so lange, bis sich andere einfinden«, wurde

ihm zugerufen. »Wir lassen nicht für jeden einzelnen Bittsteller die
Brücke herunter.«

Richard begriff. Die Burgwächter hielten ihn für einen Leidenden,

der gekommen war, um die Hilfe des Schwarzen Steins zu erflehen.
Mit einer gewissen Belustigung fragte er sich, ob er wirklich so
schlecht aussah, daß man ihn für einen Kranken hielt. Wenn dem so
war, dann brauchte er sich nicht zu wundern, daß Roland und die
anderen Wallfahrer seiner Gruppe bisher keinen Argwohn geschöpft
hatten und ihm seine vorgespielte Todesnähe nach wie vor
abnahmen.

»Ich bin kein Bittsteller«, rief er zur Burg hinüber.
»Nicht? Was wollt Ihr denn?«
»Ich muß mit Graf Kasimir sprechen!«
»Über was?«
»Das sage ich ihm lieber selbst«, antwortete Richard. »Nur so viel:

es geht um den Schwarzen Stein!«

Die Burgwächter berieten sich miteinander. Wie es aussah, hatten

Richards Worte Eindruck auf sie gemacht. Es dauerte nicht lange,
dann wurde die Zugbrücke tatsächlich heruntergelassen.

Richard lächelte befriedigt und ritt zur Schwarzenburg hinüber.

Die Wächter wollten jetzt Näheres von ihm erfahren. Aber er
weigerte sich standhaft, ihnen Auskunft zu geben. Und als sie ihm
daraufhin nicht zum Burgherren vorlassen wollten, sah er sich
gezwungen, einen außerordentlich scharfen Ton anzuschlagen.

»Euer Herr würde es Euch nie verzeihen, wenn Ihr mich nicht mit

ihm reden laßt, Ihr Narren. Es geht nicht nur um den Schwarzen
Stein, es geht auch um sein Leben!«

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Das genügte. Wenig später wurde Richard von zwei gräflichen

Getreuen zu Kasimir gebracht.

Der Burgherr war gerade dabei, sich einem kühlen Trunk zu

widmen. Eine junge Frau mit prallem Busen, der fast ganz aus ihrem
tief ausgeschnittenen Kleid gerutscht war, leistete ihm dabei
Gesellschaft. Augenscheinlich war sie nicht die Gemahlin des
Grafen, sondern ein wohlfeile Gespielin, die sich die derben
Liebkosungen ihres Herrn kichernd gefallen ließ.

Auch als Richard schon im Raum stand und die beiden Getreuen

wieder gegangen waren, hörte Kasimir nicht auf, an der Frau
herumzutätscheln. Richard dachte sich bei diesem unziemlichen
Verhalten sein Teil. Dieser Kasimir mochte es zum Grafen gebracht
haben, aber er war gewiß nicht von noblem Geblüt. Er konnte seine
Vergangenheit als Strauchritter nicht verbergen.

Der Burgherr deutete auf einen Schemel und ließ Richard darauf

Platz nehmen.

»Ihr wolltet dringend mit mir sprechen, Ritter... Wie lautete doch

gleich Euer Name?«

»Richard.«
»Gut, Richard, so sprecht!«
Richard bedachte die dralle Maid mit einem unwilligen Blick. »Es

wäre mir lieber, wenn ich unter vier Augen mit Euch sprechen
könnte, Herr Graf.«

»So?« Kasimir nahm die Hand von der Brust des Mädchens. »Geh,

Jolanka!«

Die junge Frau machte ein enttäuschtes Gesicht. Sicher hatte sie

gehofft, Zeuge des anscheinend so bedeutsamen Gesprächs werden
zu können. Aber das Wort ihres Gebieters war ihr Befehl. Sie trollte
sich, dabei hastig das Kleid vor dem Busen schließend.

»Nun, Ritter Richard, seid Ihr jetzt zufrieden?« fragte der Graf,

während er den Weinkrug an den Mund setzte. Er machte keine
Anstalten, seinem Gast ebenfalls einen Trunk anzubieten. Auch das
sprach dafür, daß sein fürstliches Benehmen manches zu wünschen
übrig ließ.

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»Ich komme geradewegs aus dem Kloster zum Schwarzen Stein«,

eröffnete Richard das Gespräch.

»Und wenn?«
»Die Mönche sind nicht gewillt, den Raub ihres Heiligtums ...«
»Raub?« fuhr der Graf dazwischen. »Wie könnt Ihr Euch

erdreisten ...«

Richard lächelte. »Ihr braucht mir nichts vorzumachen, Herr Graf.

Aber ich bin gewiß nicht gekommen, um Euch anzuklagen. Vielmehr
möchte ich Euch warnen!«

Diese Worte beantwortete der Burgherr mit einem lauten Lachen.

»Warnen wollt Ihr mich? Doch nicht etwa vor dem heiligen Zorn des
Abts und seiner lächerlichen Betbrüder?«

»Nicht die Mönche habt Ihr zu fürchten, Herr Graf. Wohl aber

einen anderen Mann!«

»Ich fürchte niemanden. Nicht einmal den Herzog!«
»Habt Ihr jemals von einem Mann namens Roland gehört?«

erkundigte sich Richard.

»Roland, Roland ...«
»Ritter Roland!«
»Doch nicht jener, der den Drachen Fasolt erschlug und die blutige

Gräfin zähmte?«

»Nämlicher.«
Graf Kasimir nickte langsam. »Von diesem Roland habe ich

gehört. Er soll der mächtigste und mutigste Kämpfer sein, den man
sich vorstellen kann.«

»Ja«, bestätigte Richard. »Und eben dieser Roland wird im Auftrag

der Mönche des Klosters zum Schwarzen Stein hierher kommen, um
das Heiligtum zurückzuholen. Und um Euch zur Rechenschaft zu
ziehen, Graf Kasimir!«

Erneut setzte der Burgherr den Weinkrug an und trank hastig. Auf

einmal war es um seine Ruhe und Gelassenheit geschehen. Er blickte
hoch. »Warum habt Ihr mich gewarnt, Ritter Richard? Erhofft Ihr
Euch eine Belohnung dafür?«

»Ich erwarte mir nur eine Belohnung«, erwiderte der junge Ritter.

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»Den Tod Rolands!«

»So sehr haßt Ihr ihn? Warum?«
»Haß?»echote Richard. »Nein, ich hasse ihn nicht. Aber ich habe

andere Gründe, seinen Tod zu wünschen.«

Richard nannte die Gründe nicht. Es ging diesen Raubgrafen nichts

an, daß er von dem so edlen, würdigen Wilhelmus, seines Zeichens
Ritter der Tafelrunde, den Auftrag bekommen hatte, Roland zu töten.
Und noch viel weniger ging ihn an, daß er, Richard, die Wallfahrt ins
Riesengebirge nur mitgemacht hatte, um eine günstige Gelegenheit
zur Ermordung Rolands abzupassen. Alle Versuche jedoch, die er in
dieser Richtung unternommen hatte, waren gescheitert. Nun jedoch,
da die Wallfahrt praktisch schon zu Ende war, sah er doch noch eine
Möglichkeit, den Ritter mit dem Löwenherzen aus dem Weg zu
räumen. Und Graf Kasimir sollte dabei sein Werkzeug sein.

Er erzählte dem Grafen, daß sich Roland als angeblich Todkranker

in die Schwarzenburg einschleusen wollte.

»Ihr werdet keine Schwierigkeiten haben, ihn zu überwältigen,

Herr Graf«, sagte er anschließend. »Roland ahnt nichts davon, daß
ich ihn verraten habe. Und es wäre mir sehr lieb, daß Ihr es ihm auch
nicht sagt, wenn er sich in Eurer Gewalt befindet.«

Kasimir lächelte. »Ihr fürchtet den Roland, nicht wahr?«
Richard gab dies unumwunden zu. »Wenn er über mich Bescheid

wüßte, würde er mir, ohne zu zögern den Schädel spalten!«

»Keine Bange, Ritter Richard«, sagte der Burgherr immer noch

lächelnd. »Dazu wird er keine Gelegenheit mehr bekommen!«

Im Anschluß an dieses Versprechen bot der Graf seinem Besucher

doch einen Becher Wein an.

*

Während des Ritts zur Schwarzenburg, der so ereignislos verlief wie
ein langer, traumloser Schlaf, hatte Roland ausgiebig Gelegenheit,
über die Doppelbödigkeit des weiblichen Wesens nachzudenken.
Eloise, die schöne junge Frau, die er schon von Anfang der Wallfahrt

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an leidenschaftlich begehrt hatte, war für ihn und die anderen Pilger
auch eine große Überraschung. Das schwere Leiden, von dem sie
angeblich verzehrt wurde, war kein Gebrechen und keine Krankheit.
Es war nichts anderes als - Liebeskummer.

Nicht sie war krank gewesen, sondern ihr Bräutigam Ganelon, der

Sohn eines provenzalischen Barons. Dieser Ganelon hatte auf den
Tod danieder gelegen und sich schließlich entschlossen, zum Kloster
zum Schwarzen Stein zu pilgern. Eloise war zu Hause geblieben, um
auf seine Rückkehr zu warten. Und sie hatte ein heiliges Gelübde
abgelegt, daß sie niemals einem anderen Mann angehören wollte,
wenn Ganelon wieder gesund werden würde. Lange Monde waren
vergangen, ohne daß sie eine Nachricht vom weiteren Schicksal ihres
Bräutigams bekommen hatte. Dann war die Sehnsucht nach ihm in
Eloise übermächtig geworden, und sie hatte sich Graf Eduards
Wallfahrt angeschlossen, um selbst nach seinem Verbleib zu
forschen. Wie groß war nun ihre Freude gewesen, als sie ihn im
Kloster angetroffen hatte - fast gesundet.

Es erfüllte Roland mit Bedauern, daß sie dadurch für ihn vollends

unerreichbar geworden war. Andererseits jedoch besaß er ein großes
Herz und freute sich mit ihr darüber, daß sie nun doch ihr Glück
gefunden zu haben schien. Trotzdem, zu gerne hätte er mit Eloise die
Minne gepflegt.

»So nachdenklich, Ritter Roland?« riß ihn der Knappe Louis aus

seinen Gedanken. »Denkt Ihr schon darüber nach, wie wir den
Grafen Kasimir am besten überlisten können?«

»Äh, ja, daran dachte ich«, antwortete der Ritter mit dem

Löwenherzen. Louis, der glutäugige ehemalige Räuberhauptmann,
war ein treuer Bursche, vor dem er normalerweise keine
Geheimnisse hatte. Aber seine geheimsten Wünsche brauchte der
Knappe auch nicht unbedingt zu erfahren.

Aber Louis hatte recht. Es wurde in der Tat langsam Zeit, sich über

das Vorgehen auf der Schwarzenburg ernsthafte Gedanken zu
machen. Lange konnte es jetzt nicht mehr dauern, bis er, Louis und
Pierre den Sitz des räuberischen Grafen erreicht haben würden. Früh

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am Morgen waren sie vom Kloster aufgebrochen. Und nun, da sich
der Tag langsam dem Ende zuneigte, waren sie ihrem Ziel nicht
mehr fern.

Über eins war sich Roland im klaren: Es würde nicht leicht

werden, Kasimir den Schwarzen Stein abzujagen. Weder er noch
seine beiden Knappen trugen Waffen bei sich, denn dies war Pilgern,
die sich Hilfe von der Reliquie erwarteten, nicht gestattet. Die
Kranken mußten sich dem Stein vollkommen reinen Herzens nähern,
womit sich Waffenbesitz unter gar keinen Umständen vertrug. Louis
hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, als er fragte, welche List
Roland anzuwenden gedachte. List war der Schlüssel zum Erfolg,
nicht Gewalt.

In einem Rasthaus am Wegesrande machten die drei Gefährten ein

letztes Mal halt. Vom Schankwirt erfuhren sie, daß sie bis zur
Schwarzenburg nicht einmal mehr fünf Meilen zurückzulegen hatten.
Noch vor Anbruch der Dämmerung also würden sie da sein.

Inzwischen hatte Roland einige Überlegungen angestellt. Das

Rasthaus war der geeignete Ort, die nötigen Vorbereitungen zu
treffen. Roland ließ sich von dem Wirt eine Blase mit frischem
Ochsenblut und ein paar Leinentücher geben. Dann durchtränkte er
eins der Tücher mit dem Blut und schlang es sich um den Kopf.

Louis ahnte, auf was er hinaus wollte. »Ihr wollt Graf Kasimir

erzählen, daß Ihr eine schwere Kopfverletzung erlitten habt?«

»Eine Verletzung ganz besonderer Art«, nickte Roland. »Der

Blutfluß ist nicht zu stillen, verstehst du? Die Wunde schließt sich
nicht, und das Blut fließt und fließt... Ein gar schreckliches Leiden,
das mich schon des öfteren ganz nah an den Rand des Todes geführt
hat.«

»Ich kenne diese Krankheit«, warf der dickliche Pierre ein. »Auf

Camelot gab es einen Mann, der daran litt. Wenn er sich in den
Finger schnitt, blutete die lächerliche kleine Wunde drei Tage lang.
Eines Tages fiel er vom Pferd und riß sich dabei das ganze Bein auf.
Er ist daran gestorben. Verblutet!«

»Auch ich habe schon davongehört«, sagte Louis. »Man nennt es

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Bluterkrankheit, nicht wahr?«

»Egal, wie man es nennt«, erwiderte Roland. »In jedem Fall leide

ich daran. Und wenn mir der Schwarze Stein nicht hilft, bin ich dem
Tode geweiht.«

Die drei Gefährten setzten ihren Ritt fort. Der Wirt hatte sich sogar

noch verschätzt. Bis zur Burg Graf Kasimirs waren gerade noch
knapp drei Meilen zurückzulegen. Als Roland und die beiden
Knappen sie bewältigt hatten, sahen sie die auf einem Hügel
gelegenen Trutzgebäude vor sich.

Sofort als sie ins Blickfeld der Burg kamen, setzte Roland eine

leidende Miene auf. Er ließ sich im Sattel zusammensinken und
schwankte hin und her, ganz so, als könne er sich kaum noch auf
dem Rücken seines Pferdes halten.

»Wirke ich überzeugend?« fragte er.
»Wenn Ihr meine Meinung hören wollt, Ritter Roland«, antwortete

Louis. »Ich glaube kaum, daß Ihr die heutige Nacht überleben
werdet!«

»Gut so!«
Die drei Männer ritten der Schwarzenburg entgegen.

*

»Warum, zum Teufel, lassen sie nicht endlich die Zugbrücke
herunter?« schimpfte Louis. »Unser Herr stirbt!«

Der alte, unendlich müde aussehende Mann, der zusammen mit

den Gefährten auf der künstlichen Anhöhe gegenüber dem Burgturm
wartete, verzog das Gesicht.

»Was ist ein Sterbender für Graf Kasimir?« sagte er. »Ein Nichts!

Und wenn wir hier alle tot umfallen, würde er uns das Tor keinen
Augenblick früher öffnen lassen, als es ihm beliebt.«

Außer dem alten Mann warteten noch ein paar andere Personen auf

das Herunterlassen der Brücke. Ein Aussätziger, der sich ganz abseits
hielt, ein Mann vom Stande in Begleitung seines Dieners und ein
junges, ärmlich gekleidetes Pärchen, das einen Säugling bei sich

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hatte.

Endlich hatten die Gräflichen ein Einsehen. Die Zugbrücke senkte

sich nach unten.

Der Adlige und sein Diener ritten zuerst hinüber, dann Roland mit

seinen Knappen. Es folgten der alte Mann und das Pärchen, während
der Aussätzige den Abschluß bildete.

Vier Burgwächter erwarteten die Ankömmlinge am Ende der

Zugbrücke. Scharf musterten sie jeden einzelnen von ihnen. An
Roland blieben ihre Blicke besonders lange haften. Der Ritter mit
dem Löwenherzen tat so, als nähme er davon kaum Notiz. Wie ein
Häufchen Unglück hockte er im Sattel. Louis ging geschickt auf das
Spiel ein, indem er ihn mit einer Hand stützte.

Dann ging es zu wie auf einem Viktualienmarkt. Wer in die Burg

eingelassen werden wollte, um zu dem Schwarzen Stein zu gelangen,
mußte eine Tributzahlung leisten. Der Adlige war zuerst nicht bereit,
sich den dreisten Forderungen der Gräflichen zu beugen. Ein
schäbiges Feilschen und Handeln hob an, das schließlich mit einem
zähneknirschenden Nachgeben des Bittstellers endete. Er und sein
Diener durften auf den Burghof reiten.

Danach waren Roland und seine Knappen an der Reihe. Die

Gräflichen wollten wissen, an welchem Gebrechen der Ritter litt.
Roland, ganz leidender Mann, überließ es seinen Knappen, die Frage
zu beantworten.

»Blutfluß, so, so«, sagte der Anführer der Wächter, nachdem ihn

Louis ins Bild gesetzt hatte. »Eine seltene Krankheit. Und eine sehr
schwer zu heilende Krankheit. Was ist deinem Herrn denn die
Gesundung wert?«

Louis feilschte nicht lange. Graf Eduard und die Klosterbrüder

hatten Roland reichlich mit Geld und Gold ausgestattet. Niemand
wollte riskieren, daß der Ritter mit dem Löwenherzen abgewiesen
wurde. Die Summe, die Louis den Männern Graf Kasimirs zahlte,
war zwar unverschämt, ebnete den Gefährten aber den Weg.

Nicht so glücklich war das junge Paar mit dem Säugling. Als

Roland und seine Knappen die Rampe zum Burghof hinunterritten,

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hörten sie in ihrem Rücken das laute Schimpfen der Wächter und das
herzerreißende Schluchzen der jungen Frau. Kein Zweifel, die Gaben
des Paares hatten nicht ausgereicht, die gestrengen Gräflichen gnädig
zu stimmen. Ihr krankes Kind würde nicht die Möglichkeit
bekommen, die wundertätige Kraft des Schwarzen Steins auf sich
einwirken zu lassen. Roland biß sich auf die Unterlippe. Diese
Willkür, diese ausbeuterische Menschenverachtung mußte aufhören!

Auf dem Burghof standen weitere Getreue des Grafen bereit, um

die Ankömmlinge in Empfang zu nehmen. Louis war Roland
behilflich, aus dem Sattel zu klettern, und dann nahmen sich zwei
Pferdeknechte der Reittiere an.

»Wollt Ihr Euch zunächst noch etwas ausruhen, bevor Ihr zu

unserem wundertätigen Stein geht?« wurde Roland gefragt.

»Es wäre mir lieber, wenn ich mich anschließend ausruhen

könnte«, antwortete der Ritter mit dem Löwenherzen. Leid und Pein
standen ihm dabei im Gesicht geschrieben.

»Ganz wie es Euch beliebt, Ritter ... Mit wem haben wir die

Ehre?«

»Mein Name ist... äh ... Hugo«, sagte Roland.
»Gut denn, Ritter Hugo. Wenn Ihr uns bitte folgen würdet...« Mit

einer einladenden Handbewegung deutete der Sprecher der
Gräflichen auf den Turm neben dem Hauptgebäude.

Als sich Roland in Bewegung setzte, wollte Louis an seiner Seite

bleiben, um ihn zu stützen. Das jedoch trachteten die Getreuen
Kasimirs zu vereiteln.

»Mit Verlaub, Ritter Hugo, Eure Knappen können Euch nun nicht

weiter begleiten. Nur der Kranke selbst darf sich dem Schwarzen
Stein nähern.«

»Mein Herr ist schwach«, begehrte Louis auf. »Seht Ihr nicht, daß

er sich kaum auf den Beinen halten kann? Er bedarf meiner Hilfe!«

»Macht Euch dieserhalb keine Sorgen, Knappe. Wir bemühen uns

schon um ihn.«

Und das taten sie dann auch. Zwei der Männer des Grafen nahmen

Roland in die Mitte und stützten ihn unter den Achseln. Louis und

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Pierre blieb nichts anderes übrig, als ihren Herrn sich selbst zu
überlassen. Das war gewiß auch das Klügste, denn letzten Endes
wollten sie ja keinen Argwohn aufkommen lassen. Sie blieben
zurück.

Als Roland mit seiner Eskorte neben den beiden, die ihn stützten,

folgten noch vier weitere Gräfliche am Hauptturm der Burg
vorbeikam, sah er dort einen schlanken Mann mit auffällig spitzem
Kinn und zernarbtem Gesicht stehen. Nach den Beschreibungen, die
er im Kloster bekommen hatte, mußte es sich um Kasimir handeln.
Der Graf blickte zu ihm hinüber, wobei ein dünnes Lächeln seine
schmalen Lippen umspielte.

»Möge Euch der Segen des Schwarzen Steines gnädig sein,

Ritter«, rief er Roland zu.

Irrte sich Roland, oder hatte da wirklich ein spöttischer Unterton in

seiner Stimme mitgeschwungen?

Aber nein, machte sich der Ritter mit dem Löwenherzen klar.

Kasimir hatte keinerlei Anlaß zum Spott. Er konnte nicht wissen, daß
der Ritter »Hugo« keinesweges so krank und leidend war, wie er den
Anschein erweckte.

Oder?
Roland konnte nicht verhindern, daß ihn plötzlich ein ganz

eigenartiges Gefühl beschlich. Unwillkürlich verlangsamte er seinen
ohnehin schon schleppenden Schritt noch etwas mehr.

Die beiden Männer, die ihn beim Gehen behilflich waren, deuteten

sein Verhalten falsch.

»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Ritter Hugo?« erkundigte sich der eine

beinahe teilnahmsvoll.

»Es ... geht schon«, preßte Roland hervor. Dann schritt er, wieder

etwas zügiger, weiter.

Wenig später war der seitliche Turm erreicht. Ein paar Stufen

führten zum Eingangsportal hinauf. Roland täuschte Kraftlosigkeit
vor und ließ sich die kleine Treppe regelrecht hochziehen.

»Gleich sind wir am Ziel Eurer Wünsche, Ritter Hugo«, wurde ihm

versichert.

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Das stimmte jedoch nicht so ganz. Durch die Vorhalle des Turms

brachten ihn die Getreuen des Grafen zu einem Treppenabgang, der
zu einem unterirdisch gelegenen Geschoß hinabührte. Der Abgang
war düster, wurde nur durch eine blakende Fackel beleuchtet, die
man mit Hilfe eines eisernen Rings an der Wand angebracht hatte.
Die Wandsteine waren roh behauen und schimmerten feucht.

Roland runzelte die Stirn. Er wunderte sich darüber, daß man den

Schwarzen Stein ausgerechnet dort unten aufgestellt hatte. Der Weg
über die recht beschwerliche Wendeltreppe mußte für alle Kranken
und Gebrechlichen doch eine wahre Qual sein.

Die Getreuen Kasimirs schienen seine Gedankengänge erraten zu

haben.

»Ihr fragt Euch, warum wir das Heiligtum nicht an einem leichter

zugänglichen Ort aufbewahren, Ritter Hugo?«

»In der Tat!«
»Nun«, sagte der Mann zu seiner Rechten, »Ihr seid fremd in

unserem Land. Es gibt hier viele Räuber, Diebe und sonstiges
Gelichter. Wir müssen sehr vorsichtig sein und dürfen keine
Schutzmaßnahmen außer acht lassen.«

»Natürlich«, murmelte Roland, »natürlich.«
Die Treppe war zu schmal, um drei Männer nebeneinander gehen

zu lassen. Der eine von Rolands Helfern ging deshalb vor, während
ihn der andere nach wie vor stützte. Die restliche Eskorte folgte.

Ziemlich tief ging es hinunter. Ein leicht modriger Geruch stieg

Roland in die Nase, der ihm gar nicht gefallen wollte. Abermals
fragte er sich, ob das hier unten der richtige Platz war, um eine
wundertätige Reliquie aufzubewahren.

Dann war das Ende der Wendeltreppe erreicht. Links und rechts

bog ein Gang ab, der sich irgendwo im Dunkel verlor. Auch hier
unten gab es nur eine Fackel, die flackernde Lichtmuster auf die
nackten Wände warf.

»Hier entlang, Ritter Hugo!«
Mit einem ausgesprochen unguten Gefühl in der Magengegend ließ

sich Roland den nach rechts führenden Gang entlang geleiten. Vor

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einer schweren Bohlentür machte seine Eskorte halt.

»Nun seid Ihr am Ziel all Eurer Hoffnungen, Ritter Hugo!«
Einer der Getreuen Kasimirs öffnete die Tür, die dabei ein

quietschendes Geräusch von sich gab. Vor Roland lag ein in
Dunkelheit getauchter Raum, in den kein Lichtstrahl einfiel. Der
Geruch von Moder und Fäulnis schlug ihm entgegen.

Das ungute Gefühl, das Roland die ganze Zeit über gehabt hatte,

wurde übermächtig.

Eine Falle! durchzuckte es ihn.
Im gleichen Augenblick, in dem er das dachte, bekam er einen

wuchtigen Stoß in den Rücken, der ihn geradezu in den dunklen
Raum hineinkatapultierte. Höhnisches Gelächter schlug über ihm
zusammen.

»Ein großer Held mögt Ihr sein, Ritter Roland, aber auch ein

großer Dummkopf!«

Ritter Roland!
Die Getreuen des Grafen wußten also, wer er tatsächlich war. Sie

hatten ihn durchschaut - von Anfang an. Und natürlich befand sich
hier unten nicht der Aufbewahrungsort des Schwarzen Steins,
sondern ein finsteres Verlies, in das man ihn einsperren wollte.

Blitzartig gingen Roland diese Überlegungen durch den Kopf. Der

Schock der Erkenntnis saß tief, aber Roland schaffte es, ihn
innerhalb einer Zeitspanne von wenigen Herzschlägen zu
überwinden. Mit Mühe und Not brachte er es fertig, nicht zu Boden
zu stürzen. Er fing sich, wirbelte herum.

Und sah, wie die Verliestür gerade im Begriff war, sich zu

schließen.

Mit einem mächtigen Satz, der jeder Wildkatze zur Ehre gereicht

hätte, sprang er nach vorne. Er erreichte die Tür, als diese gerade
noch einen Spalt breit offen stand. Wohl wissend, daß er verloren
war, wenn sie ganz zuschlug, stemmte er sich dagegen.

Ein böser Fluch wurde auf der anderen Seite laut. Aber auch ein

kehliges Lachen.

»Gebt Euch keine Mühe, großer Held! Unseren gemeinsamen

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Kräften habt Ihr nichts entgegenzusetzen!«

Und schon stemmten sich auch die Gräflichen gegen die klobigen

Bohlen der Tür. Sechs gegen einen - die Frage, wo sich die größeren
Kräfte freisetzen ließen, stellte sich eigentlich gar nicht.

Aber dieser eine war Roland, den man den Ritter mit dem

Löwenherzen nannte. Und Roland hatte nicht nur das Herz eines
Löwen, er verfügte auch über die urwüchsige Kraft des Königs der
Wüste. Mit aller Macht kämpfte er gegen das drohende Verhängnis
an. Breitbeinig stand er da, die Füße fest auf den Boden gepreßt, die
Arme von sich gestreckt. So versuchte er, dem vereinbarten Druck,
den die Gräflichen ausübten, standzuhalten.

Die Adern schwollen ihm auf der Stirn, und die Muskeln seiner

Arme gerieten in Gefahr, zu zerreißen wie Seile, die zu sehr
beansprucht wurden. In Strömen floß ihm der Schweiß die Stirn
hinunter. Er hielt den Atem an, bis seine Lungen fast zerplatzten.

Und noch gelang es ihm, die Tür offen zu halten. Nicht um ein

einziges Zoll hatte sich der Spalt verkleinert.

Erstaunen und Verwunderung wurden auf der anderen Seite laut.

So etwas hatten die Gräflichen noch nicht erlebt. Sechs gegen einen,
und diese sechs mußten sich gewaltig anstrengen, um nicht ins
Hintertreffen zu geraten. Es war einfach unglaublich. Langsam
erkannten die Männer, daß die Wunderdinge, die man sich von
Roland erzählte, nicht den wild wuchernden Fantasien der fahrenden
Sänger entsprangen.

Die Gräflichen keuchten, versuchten, sich durch ermunternde

Zurufe gegenseitig anzuspornen. Aber es half ihnen nichts. Roland
ließ sich nicht unterkriegen, leistete so vehement Widerstand, daß
seine Gegner an sich selbst zu zweifeln begannen.

Und diese Zweifel hatten ihre Auswirkungen. Die Getreuen

Kasimirs setzten ihre Kräfte nicht konzentriert ein und behinderten
sich auch gegenseitig. Sie wurden unsicher.

Roland spürte ihre Unsicherheit, spürte ihren nachlassenden Druck.

Er mobilisierte die letzten Kräfte, die in ihm steckten, und stemmte
sich mit dem ganzen Körper gegen die Tür.

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Und das schier Unmögliche geschah. Die Tür flog zurück, wurde

gegen die Gräflichen geschleudert und ließ diese rückwärts taumeln.
Roland, durch den eigenen Schwung nach vorne gerissen, stürzte aus
dem Verlies hinaus und wäre dabei fast zu Boden gegangen. Mit
einiger Mühe gelang es ihm, das Gleichgewicht zu bewahren und
sich auf den Füßen zu halten.

Im nächsten Augenblick hatten sich auch seine Gegner wieder

gefaßt. Wutschreie brachen sich Bahn. Und drei der Männer gingen
sofort auf Roland los.

Aber der Ritter mit dem Löwenherzen war nicht bereit, seine

wiedergewonnene Bewegungsfreiheit so schnell wieder
preiszugeben. Er riß die Fäuste hoch, stellte sich in Positur.

Da war der erste Gräfliche bereits heran, wollte mit beiden Händen

nach Roland greifen.

Der Versuch war zum Scheitern verurteilt. Rolands rechte Faust

schoß nach vorne, traf den Mann mit der Gewalt eines Rammbocks
mitten im Gesicht. So mächtig war der Hieb, daß der Kopf des
Getroffenen in den Nacken gerissen wurde. Roland setzte sofort
nach, schlug nach der rechten nun auch mit der linken Faust zu.
Diesmal traf der Schlug die Herzgrube seines Widersachers. Und
obwohl dieser eine Brünne trug, die seinen Körper schützte,
entfaltete der Hieb doch seine ganze Kraft. Dem Gräflichen blieb die
Luft weg, und er stürzte schwer zu Boden. Er würde in absehbarer
Zeit nicht mehr in den Kampf eingreifen können.

Nun aber waren die anderen beiden ganz nahe herangerückt.

Gleichzeitig sprangen sie den Ritter mit dem Löwenherzen an,
wütend knurrend wie zwei Raubtiere. Sie klammerten sich an seine
Arme, versuchten, ihm diese auf den Rücken zu drehen oder doch
wenigstens festzuhalten.

Sie waren stark, diese beiden Männer. Aber nicht stark genug für

einen Recken wie Roland. Er schüttelte sie ab wie lästige Insekten,
die den Honig umschwirrten. Dann griff er seinerseits zu. Er packte
die Köpfe der beiden und schlug sie gegeneinander. Es gab ein
dumpfes Geräusch. Der eine wurde gleich schlaff in seiner Hand,

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hatte offenbar das Bewußtsein verloren. Der andere gab einen
stöhnenden Laut von sich, fand jedoch nicht die Kraft, sich
loszureißen.

Aber da waren immer noch die drei übrigen Getreuen Kasimirs.

Sie hatten bisher nicht in das Handgemenge eingegriffen, weil der
Gang zu eng war und sie nicht alle gleichzeitig an Roland
herankommen konnten. Jetzt gab es mehr Raum, und den nutzten die
Männer. Aber sie gingen nicht mit bloßen Fäusten auf den Ritter mit
dem Löwenherzen los. Sie hatten erkannt, daß sie auf diese Weise
nicht viel ausrichten konnten. Da Roland jedoch unbewaffnet war,
und sie ihre Schwerter bei sich trugen ... Schon blitzten die Klingen
in ihren Fäusten.

»Ergebt Euch, Ritter Roland«, forderte ihn der eine auf. »Oder

wollt Ihr, daß wir Euch in Stücke hauen?«

Roland hielt sich nicht damit auf, darauf eine Antwort zu geben. Er

schleuderte die beiden, die er noch immer gepackt hatte, gegen die
anderen drei. Ein wildes Durcheinander von ineinander
verschlungenen Armen, Beinen und Leibern entstand. Die Gräflichen
mußten aufpassen, daß sie sich nicht gegenseitig mit ihren
Schwertern verletzten.

Für ein paar Augenblicke hatte Roland Luft. Und er nutzte diese

Augenblicke. Schnell beugte er sich zu dem Mann hinunter, den er
zu Beginn des Kampfes zu Boden geschlagen hatte. Dem Mann war
es bisher noch nicht gelungen, sich von den Fausthieben zu erholen.
Er konnte Roland keinen Widerstand entgegensetzen, mußte zulas-
sen, daß ihm der Ritter mit dem Löwenherzen das Schwert aus dem
Gehenk zog. Wenige Herzschläge später stand Roland wieder
aufgerichtet da, nun ebenfalls eine scharfe Klinge in der Hand.

Grimmig lachte er auf. »Kommt nur, ihr Haderlumpen! Dann

werden wir sehen, wer wen in Stücke haut!«

»Ja, das wollen wir sehen!«
Zu dritt fühlten sie sich stark, fühlten sie sich überlegen. Und dies

nicht von ungefähr. Es war eine Sache, drei Männer mit den bloßen
Händen zu besiegen. Gegen drei Gegner mit Schwertern

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anzukommen aber, war eine andere.

Und sie gingen sehr geschickt vor. Zwei von ihnen griffen an, der

dritte beschränkte sich allein auf die Verteidigung. Roland mußte
sehr auf der Hut sein, um nicht gleich entscheidend ins Hintertreffen
zu gelangen. Die ersten Schwertstreiche konnte er parieren.

Aber als er dann selbst die Gelegenheit zu einem Angriff nutzte,

war gleich die Klinge des dritten Mannes da, der die seine blockierte.

Noch ungestümer drangen die Getreuen Kasimirs jetzt auf ihn ein,

der eine von links, der andere von rechts. Rolands Schwertarm
wirbelte wie der Flügel einer Windmühle, um die Hiebe und Stiche
abwehren zu können. Und als dann auch der dritte Mann noch eine
Attacke wagte, konnte er der gegnerischen Klinge nur durch einen
schnellen Sprung rückwärts gerade noch so entgehen.

Alsbald wurde ihm klar, daß er auf Dauer den kürzeren ziehen

würde, zumal jetzt auch noch einer der bereits ausgeschalteten
Gräflichen wieder so weit hergestellt war, daß er wieder in die
Auseinandersetzung eingreifen konnte.

Aber der Ritter mit dem Löwenherzen wußte sich zu helfen. Er

machte einen blitzartigen Ausfall und schlug mit dem Schwert nach
der blakenden Fackel, die an der Wand hing. Diese löste sich aus
ihrer Verankerung und fiel auf den Boden. Schlagartig veränderten
sich die Lichtverhältnisse, obwohl die Fackel auf den Steinplatten
des Bodens weiterbrannte.

Für einen Augenblick waren die Gräflichen verwirrt. Roland nutzte

diesen Umstand, um mit beiden Füßen auf die Fackel zu springen
und sie auszulöschen.

Dunkelheit breitete sich in dem Verliesgang aus. Das Licht der

Fackel am Treppenabgang reichte nicht bis hierher. Es war so finster
geworden, daß man die Hand nicht mehr vor den Augen erkennen
konnte.

Und dieser Umstand gereichte Roland zum Vorteil. Er war allein

und brauchte nicht aufzupassen, wohin er mit dem Schwert schlug.
Seine Gegner jedoch liefen große Gefahr, sich gegenseitig zu treffen
und schwer zu verletzten.

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Sogleich ging der Ritter mit dem Löwenherzen zum Angriff über.

Er sah keinen seiner Widersacher, aber er hörte ihre Atemzüge.
Wieder verwandelte sich sein Schwert in einen Windmühlenflügel,
als es sausend durch die Luft wirbelte.

Und die Klinge traf. Ein gellender Schrei wurde laut, im nächsten

Augenblick noch einer. Gegen das Schwert, das aus der Dunkelheit
kam, hatten die Gräflichen kaum eine Abwehrmöglichkeit.

Wieder ließ Roland seine Klinge kreisen. Er hatte kein bestimmtes

Ziel, drosch einfach in die Dunkelheit hinein. Diesmal traf er
niemanden. Seine Widersacher hatten sich anscheinend fest an die
Wände gepreßt oder auf den Boden geworfen, um sich vor seinen
mörderischen Streichen in Sicherheit zu bringen. Roland war das nur
recht. Der Gang, der zur Treppe führte, wurde dadurch frei.

Seine Rechnung ging voll und ganz auf. Als er sich in Bewegung

setzte und losrannte, stieß er auf keinen menschlichen Gegner. Er
hatte sich nur in der Richtung etwas verschätzt und wäre beinahe voll
gegen eine der Wände gelaufen. Im letzten Augenblick konnte er den
Zusammenprall mit dem harten Mauergestein vermeiden. Dann aber
war er auf dem richtigen Weg und hetzte mit langen, federnden
Schritten den finsteren Gang entlang.

Flüche erschallten hinter ihm. Die Gräflichen merkten jetzt, was er

vorhatte. Diejenigen von ihnen, die noch dazu fähig waren, setzten
ihm nach, um seine Flucht zu verhindern.

Kurz darauf hatte Roland die Treppe erreicht. Ohne sich nach

seinen Verfolgern umzusehen, stürmte er sie hinauf, immer zwei,
drei Stufen auf einmal nehmend. Aber als er schon fast glaubte, es
geschafft zu haben, mußte er alle seine Hoffnungen jäh aufgeben.

Oben am Treppenabgang hatte ein weiteres halbes Dutzend

Männer Stellung bezogen. Jeder einzelne von ihnen hielt eine Waffe
in der Hand, und in ihren Augen stand die eiserne Entschlossenheit,
ihn nicht vorbeizulassen.

Auch Graf Kasimir selbst befand sich unter ihnen. Der Burgherr

lächelte dünn.

»Fürwahr, Ritter Roland, ihr seid wirklich ein Held«, sagte er

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anerkennend. »Aber auch Helden können sterben!«

Roland warf sein Schwert weg und senkte das Haupt.

*

Von einem erhöht liegenden Fenster des Hauptturms aus hatte der
Ritter Richard das Kommen Rolands und seiner Knappen beobachtet.
Ohne selbst bemerkt zu werden, hatte er gesehen, wie der Ritter mit
dem Löwenherzen ahnungslos in die Falle ging und kurz darauf auch
Louis und Pierre von den Getreuen Kasimirs überwältigt und
gefangengenommen wurden. Als er dann gehört hatte, daß es Roland
beinahe gelungen wäre, die sorgsam vorbereitete Falle zu sprengen,
war ihm der Schrecken mit Macht in die Glieder gefahren. Zum
Glück hatte sich dann doch noch alles zum Guten gewendet, als der
Burgherr höchstpersönlich die Dinge in die Hand nahm. Jetzt
jedenfalls saßen Roland und seine Knappen in einem finsteren
Verlies und warteten auf ihren Tod.

Das dachte Richard jedenfalls. Aber schon kurz nach der

Gefangennahme des Ritters mit dem Löwenherzen wurde er eines
Besseren belehrt. Kasimir schickte nach ihm, und Richard beeilte
sich, dem Ruf des Grafen unverzüglich Folge zu leisten.

Der Burgherr war wieder einmal bei seiner

Lieblingsbeschäftigung. Er soff den Wein wie Wasser und ließ sich
dabei von ein paar Hetzen sowie einigen seiner Getreuen
Gesellschaft leisten. Als Richard den Rittersaal betrat, war das
Gelage schon im vollen Gange. Er nahm an, daß ihn Kasimir gerufen
hatte, um ihn daran teilhaben zu lassen. Schließlich war es ja nur ihm
zu verdanken, daß Roland keine Gelegenheit bekommen hatte, den
Schwarzen Stein zu stehlen.

Der Graf ließ ihn auch an seiner Seite Platz nehmen und ihm einen

Becher bringen. Aber schon sehr schnell rückte er damit heraus, was
er tatsächlich wollte.

»Wie war das doch, Ritter Richard?« begann er. »Sagtet Ihr nicht,

daß dieser Roland am Hofe von König Artus hoch angesehen ist?«

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»Das sagte ich«, bestätigte Richard, während er sich einen Schluck

Wein zu Gemüte führte.

»Nicht nur die Ritter der Tafelrunde schätzen ihn, sondern auch der

König selbst, richtig?«

»Man sagt, daß Artus den Roland fast wie seinen eigenen Sohn

ansieht«, gab Richard Auskunft.

»Sehr schön, sehr schön!« Kasimir grinste und rieb sich dabei

befriedigt die Hände. »Was meint Ihr, Richard«, fuhr er dann fort.
»Wieviel wäre Artus das Leben des Roland wert?«

»Nun, ich könnte mir vorstellen ...« Richard unterbrach sich, als

ihm die Zielrichtung der Frage richtig aufging. »Was habt Ihr vor,
Graf Kasimir?«

»Beantwortet zunächst meine Frage!«
»Rolands Leben wäre ihm gewiß sehr viel wert, aber ...«
»Ein paar pralle Beutel Gold vielleicht? Oder gar noch mehr?

Wenn er ihn als seinen eigenen Sohn ansieht ...«

»Darf ich nun erfahren, was Ihr plant, Graf Kasimir?« fragte

Richard mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.

»Ist das so schwer zu erraten? Ich möchte Artus ein kleines

Lösegeld abpressen, was sonst?«

»Ein ... Lösegeld?«
»Und zwar ein saftiges, ja!« Kasimir leerte seinen Becher und

rülpste rüpelhaft.

Richard holte tief Luft. »Ihr wollt den Roland also nicht töten,

sondern ihn gegen Zahlung eines Lösegelds freilassen?«

»Gewiß. Es wäre doch töricht, einen leibhaftigen Goldesel zu

schlachten, statt ihn Milch geben zu lassen, nicht wahr?«

Die Getreuen des Grafen lachten, als sie das gelungene Gleichnis

ihres Herrn hörten. Richard hingegen sah zum Lachen wahrlich nicht
den geringsten Anlaß.

»Ihr habt mir versprochen, ihn zu töten, Graf Kasimir«, erinnerte er

den Burgherrn.

»So, habe ich das?«
»Ja!« Zur Bekräftigung schlug Richard mit der Faust auf den

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Tisch, so daß die Weinbecher tanzten.

»Nun«, sagte der Graf, »dann habe ich meine Meinung eben

geändert.«

»Das könnt Ihr nicht! Der Ritter Roland muß sterben!«
Mit Grauen dachte Richard daran, was passieren würde, wenn

Roland freikam und erfuhr, wer ihn in die Falle gelockt hatte. Sein
Leben war dann nicht mehr wert als der Dreck unter den
Fingernägeln. Außerdem mußte Roland auch sterben, weil der Ritter
Wilhelmus seinen Tod verlangte. Und Wilhelmus hatte ihn und seine
Familie in der Hand und war in der Lage, seine ganze Sippe ins
Verderben zu stürzen. Nein, der Tod des Roland war beschlossene
Sache, und dabei mußte es auch bleiben - unter allen Umständen!«

»Ich verlange, daß Ihr Roland töten laßt, Graf Kasimir!« sagte er

ganz entschieden.

»Ihr... verlangt es, Ritter Richard?«
»Ja!«
Der Burgherr lachte. »Ihr spuckt sehr dicke Töne, Ritter!

Anscheinend wißt Ihr nicht, wo Ihr Euch befindet und mit wem Ihr
sprecht. Hier geschieht das, was ich sage, sonst gar nichts. Schreibt
Euch das hinter die Ohren!«

Beifälliges Gemurmel wurde unter den Getreuen des Grafen laut.

Unfreundliche Blicke gingen zu Richard hinüber.

Geldgieriges Gesindel, dachte der junge Ritter. Statt sich damit zu

begnügen, das Volk mit Hilfe des Schwarzen Steins auszusaugen,
gehen sie nun auch noch hin und erpressen Lösegelder. Aber er hatte
es ja schon immer gewußt: einmal Raubritter, immer Raubritter.

Dennoch wollte er sich noch nicht geschlagen geben. »Ihr habt mir

Euer Wort gegeben, Graf Kasimir«, sagte er. »Bedeutet dies nicht
mehr als Fliegengesumm?«

Unmutsfalten entstanden auf der Stirn des Burgherrn. »Eure

Dreistigkeiten beginnen, mich zu erzürnen, Ritter. Eigentlich hättet
Ihr es längst verdient, in den Kerker geworfen zu werden.«

Richard verkniff die Lippen, sagte aber nichts. Diesem

schurkischen Grafen war alles Üble zuzutrauen. Er brachte es

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wirklich fertig, ihn ins Verlies zu stecken.

»Aber ich will großzügig darüber hinwegsehen, wenn Ihr Euch mir

gefällig erweist«, fuhr Kasimir fort.

»Welchen Gefallen soll ich Euch erweisen?«
»Ihr sollt nach Camelot reiten und König Artus meine

Lösegeldforderung unterbreiten.«

Es hielt Richard nicht länger auf seinem Schemel. Mit einer

heftigen Bewegung sprang er auf.

»Niemals!«
Der Graf schob sein spitzes Kinn vor. »Ihr verweigert Euch?«
»Ja! Ein solches Schurkenstück mache ich nicht mit!«
»Es ist kein Schurkenstück, den Tod eines Nebenbuhlers zu

verlangen, Ritter?«

»Das ist... etwas anderes.« Richard hatte nicht die geringste

Neigung, den Grafen wissen zu lassen, aus welchem Grund er
Rolands Tod erstrebte. Aber ihm war jetzt klar geworden, daß sich
Kasimir nicht davon abbringen lassen würde, König Artus eine
Lösegeldforderung zu übermitteln, gleichgültig ob er nun die Rolle
des Sendboten übernahm oder irgendein anderer.

Er schritt zur Tür.
»Wartet!« donnerte der Burgherr in seinem Rücken.
Richard blieb stehen, wandte den Kopf.
»Wo wollt Ihr hin?«
»Ich gehe«, sagte Richard. »Nichts hält mich mehr an einem Ort,

an dem man nicht zu seinem Worte steht!«

Er schritt weiter, das ärgerliche Gemurmel der gräflichen Getreuen

im Ohr. Aber er erreichte die Tür nicht.

»Packt ihn!« schrie Kasimir. »Der Kerl soll nicht denken, er könne

uns wie tumbes Bauernpack behandeln.«

Schemel wurden gerückt, polterten zu Boden. Richard wußte, daß

er nicht entfliehen konnte. Dennoch begann er unwillkürlich zu
laufen. Aber da waren sie schon bei ihm. Rohe Fäuste griffen nach
ihm, zerrten ihn von der Tür weg. Richard versuchte sich zu wehren,
versuchte, sich loszureißen. Es war vergebene Liebesmüh. Zwar

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gelang es ihm, einem der Gräflichen seinen Ellenbogen in den
Magen zu stoßen. Aber das war auch schon alles. Er bekam einen
Schlag ins Gesicht, der ihm das Blut aus der Nase schießen ließ. Die
Arme wurden ihm auf den Rücken gedreht, so daß er sich kaum noch
bewegen konnte. Dann schleiften ihn die Getreuen des Grafen zu
ihrem Gebieter zurück.

Der Burgherr grinste übers ganze Gesicht. Er hob seinen

Weinbecher und prostete Richard höhnisch zu.

»Auf Euer Wohl, Ritter!«
Er leerte den Becher und stellte ihn auf die Tischplatte zurück. Als

er Richard wieder anblickte, lag ein lauernder Ausdruck in seinen
Augen.

»Seid Ihr eigentlich reich, Ritter?« Richard antwortete nicht, starrte

nur verbissen vor sich hin.

»Antwortet gefälligst«, sagte einer der Männer, die ihn festhielten.

Er unterstützte seine Aufforderung, indem er Richards rechten Arm
noch ein bißchen mehr verdrehte.

Richard stöhnte vor Schmerz auf. »Ich ... ich bin nicht reich«,

preßte er hervor.

»Schade«, sagte Kasimir bedauernd. »Aber vielleicht ist König

Artus bereit, auch für Euch ein kleines Lösegeld zu zahlen.« Er
machte eine brüske Handbewegung. »Werft ihn in den Kerker!« Und
mit einem tückischen Lächeln fügte er noch hinzu: »Sperrt ihn
zusammen mit Roland und seinen Knappen. Ich könnte mir
vorstellen, daß sich die Herren Ritter einiges zu erzählen haben!«

Während sich der Graf noch vor Lachen ausschüttelte, wurde

Richard aus dem Saal geschleppt.

*

Eloise wollte den Arm um ihren Bräutigam legen, aber Ganelon wies
sie zurück.

»Nicht hier«, sagte er beinahe unwirsch. »Wir befinden uns in

einem Kloster, und die Mönche würden es als höchst unziemlich

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ansehen, wenn wir uns innerhalb ihrer Mauern der Minne hingeben.«

Die junge Frau war nahe daran, in Tränen auszubrechen. »Warum

bist du so garstig zu mir, Ganelon? Ich kenne dich gar nicht wieder!
Seit wir uns vor Monden trennten, bist du ... ein anderer geworden.
Warum denn nur?«

»Das fragst du? Glaubst du, es geht spurlos an einem Menschen

vorüber, wenn er den Tod ständig vor sich sieht?«

»Aber das stimmt doch nicht«, widersprach ihm Eloise heftig. »Du

bist so gesund wie eh und je! Der Schwarze Stein hat dich geheilt
und den Keim des Todes in dir vernichtet.«

»Woher willst du das wissen?«
Eloise saß neben ihrem Bräutigam auf der schmalen Pritsche, die

neben einem kleinen Tisch, einem rohen Schemel und einem
schmucklosen Schrank das einzige Möbelstück der kleinen
Mönchszelle war, in der Ganelon während seines Aufenthalts im
Kloster wohnte. Sie blickte ihn von der Seite an.

»Du siehst aus wie das blühende Leben«, stellte sie fest. »Als du

von zu Hause fortgingst war das ganz anders. Du hattest ein
totenbleiches Gesicht, fiebrige Augen, die tief in den Höhlen lagen,
eingefallene Wangen. Und du warst am ganzen Körper so
abgemagert, daß dich selbst ein Hungerleider bedauert hätte. Und
nun? Nichts mehr von alledem!«

Ganelon lächelte bitter. »Der äußere Schein trügt. Gewiß, ich habe

mich erholt. Aber schon jetzt spüre ich, daß der Keim, des Todes
erneut in mir Fuß gefaßt hat. Und wenn ich nicht bald wieder die
wundertätige Kraft des Steins auf mich einwirken lassen kann, dann
geht es unwiderruflich mit mir zu Ende. Ich brauche den ständigen
Kontakt mit der Reliquie, verstehst du? Wenn ich nicht alle paar
Tage in der Lage bin, ihn zu berühren ...« Tief seufzte er auf.

»Ist das der Grund, aus dem du nun schon seit längerer Zeit hier im

Kloster weilst und nicht zu mir zurückgekommen bist?« erkundigte
sich das Mädchen.

»So ist es. Ich habe sogar schon mit dem Gedanken gespielt, als

Novize in das Kloster einzutreten. Dann könnte ich dem Schwarzen

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Stein immer ganz nahe sein.«

Eloise machte ein betroffenes Gesicht. »Und ich? Denkst du gar

nicht an mich? Was soll aus mir werden, wenn du ... ein Mönch bist?
Liebst du mich denn nicht mehr?«

»Natürlich liebe ich dich, nur ...«
»Nur?«
»Herrgott, ist das so schwer zu begreifen? Jeder Mensch hat nur

ein Leben!«

Traurig nickte Eloise. »Ich verstehe schon. In erster Linie denkst

du an dich selbst. Erst dann komme ich.«

Sie erhob sich von der Pritsche und fing an, gedankenverloren in

der engen Zelle umherzuwandern. In ihren Träumen hatte sie sich
das Wiedersehen mit Ganelon ganz anders vorgestellt. Sie hatte
geglaubt, daß ihr Bräutigam außer sich vor Glück sein würde, sie
endlich wieder in die Arme schließen zu können. Aber davon konnte
leider keine Rede sein. Fast hatte sie das Gefühl, als sei ihm ihr
Kommen geradezu ... lästig.

Während sie so düsterer Stimmung durch die Zelle schritt, fiel ihr

Blick zufällig unter die Pritsche. Und dort sah sie etwas ganz
Eigenartiges: einen unregelmäßig geformten, schwarzen
Felsbrocken.

»Was ist das, Ganelon?« fragte sie.
»Was?«
»Das hier.« Eloise bückte sich und zog den unter der Pritsche

versteckten Stein hervor.

Ihr Bräutigam fuhr hoch und beförderte den Gesteinsbrocken mit

einem Fußtritt wieder ganz unter die Pritsche.

»Geh!« sagte er. »Geh sofort hinaus!«
Sein Gesicht war zu einer Grimasse geworden, zu einer Grimasse,

vor der Eloise geradezu Furcht bekam. Fast fluchtartig verließ sie die
Zelle.

*

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Wie vom Huf eines durchgehenden Pferdes getroffen, kam der
Gefangene durch die Türöffnung geflogen und schlug schwer zu
Boden. Krachend schloß sich die Tür wieder.

Abgrundtiefe Dunkelheit herrschte in dem Verlies. Roland, der auf

einem stinkenden Strohballen saß und sich mit dem Rücken gegen
die feuchte Wand lehnte, konnte seinen neuen Leidensgenossen nicht
sehen. Aber sein Gefühl sagte ihm, daß es dem Mann nicht gutging.

»Kümmert euch um ihn«, wies er seine beiden Knappen an, die mit

ihm das finstere Mauergeviert teilten.

Louis und Pierre gingen zu dem neuen Gefangenen hinüber und

beugten sich hilfsbereit über ihn.

»Seid Ihr verletzt?« erkundigte sich Pierre.
»Nur ein paar oberflächliche Hautabschürfungen«, antwortete der

Leidensgenosse. »Und eine blutende Nase.«

Roland spitzte die Ohren. Diese Stimme ...
»Seid Ihr das, Richard?«
»Ja, Roland, ich bin es. Daß wir uns hier wiedertreffen, hätte ich

auch nicht gedacht.«

»Warum hat man Euch eingesperrt?« wollte der Ritter mit dem

Löwenherzen wissen.

Bitter lachte Richard auf. »Weil ich versucht habe, mich für Euch

einzusetzen! Ich sah, wie man Eure Knappen packte, und hörte, daß
es Euch selbst nicht besser ergangen war. Als ich lautstark dagegen
aufbegehrte und den Grafen einen üblen Leuteschinder nannte - nun,
Kasimir ist ein hartherziger, rachsüchtiger Mann.«

Einige Augenblicke lang schwieg Roland. Dann sagte er: »Wißt

Ihr, daß ich Euch im Verdacht hatte, uns verraten zu haben?«

Richard atmete schwer. »Wie kommt Ihr auf diesen

ungeheuerlichen Gedanken?«

»Die Gräflichen wußten von Anfang an, wer ich bin. Sie kannten

sogar meinen Namen. Woher, frage ich Euch? Jemand muß es Ihnen
gesagt haben. Und da niemand außer Euch wußte, daß ich mit
meinen Knappen hierherkommen wollte ...«

»Ihr stellt Euer Licht unter den Scheffel Roland! Ihr seid ein Mann,

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dessen Namen man in allen Landen rühmt!«

Es war etwas Wahres an dem, was Richard sagte. Rolands

Ruhmestaten waren inzwischen weit verbreitet. Dafür hatte schon
sein Freund, der gefeierte Minnesänger Volker vom Hohentwiel,
gesorgt, dessen Balladen überall nachgesungen wurden.

»Mag sein, daß mein Name selbst hier im fernen Riesengebirge

nicht gänzlich unbekannt ist«, gestand Roland ihm zu. »Aber ich bin
niemals hier gewesen. Wie sollte also jemand wissen, wie ich
aussehe?«

»Diese Frage kann ich Euch auch nicht beantworten. Aber daß Ihr

ausgerechnet mich verdächtigt... Warum sollte ich Euch denn
verraten haben? »Ihr mögt mich nicht besonders, Richard! Oder
wollt Ihr dies bestreiten?«

»Gewiß«, gab der junge Ritter zu. »Wir hatten während der

Wallfahrt unsere Meinungsverschiedenheiten. Aber daß ich
deswegen zum Verräter an Euch werden sollte? Ihr beleidigt mich,
Roland! Und sagt selbst, wenn ich Euch bei Kasimir angeschwärzt
hätte, wäre ich dann hier im Verlies?«

»Da habt Ihr auch wieder recht«, sagte Roland langsam. »Nun, wie

dem auch sei, Ihr wißt, was dieser schurkische Graf mit uns vorhat?
Warum setzt er uns hier fest und schlägt uns nicht die Köpfe ab, wie
es bei Männern seines Schlages üblich ist?«

»Ja, ich weiß, was er plant.«
»So sprecht«, forderte Roland ungeduldig.
Wenig später wußte er über Kasimirs Lösegeldabsichten Bescheid.

Die Nachricht stimmte ihn nicht gerade glücklich. Aber sie hatte
doch etwas Tröstliches an sich. Wie es aussah, war ihr aller Leben
nicht in unmittelbarer Gefahr. Und wer lebte, der konnte immer noch
hoffen, daß sich die Dinge zum Besseren wendeten.

*

Eine Woche war vergangen, seit der Ritter Roland mit seinen
Knappen das Kloster verlassen hatte, um Graf Kasimir den

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Schwarzen Stein wieder zu entreißen. Aber wie es schien, war ihm
der angestrebte Erfolg versagt geblieben. Jedenfalls hatte er sich
nicht wieder blicken lassen und auch keine Nachricht übermittelt.

Für Ganelon stand fest, was geschehen war. Die Getreuen des

Grafen hatten den Ritter überwältigt und wahrscheinlich längst einen
Kopf kürzer gemacht. Das wundertätige Heiligtum befand sich nach
wie vor im Besitz des Burgherrn und würde dort auch bleiben. Noch
länger im Kloster zu warten, war reine Zeitverschwendung. Und er,
Ganelon, hatte keine Zeit zu verschenken. Schon spürte er, wie die
Schmerzen in seinem Unterleib wieder stärker wurden. Der Keim des
Todes, den er bereits gebannt zu haben glaubte, wuchs und gedieh.
Es gab für ihn nur eine Möglichkeit: Er mußte zur Schwarzenburg.
Und zwar sofort. Jeder weitere Tag, den er verlor, konnte sein letzter
sein.

Aber Ganelon gab sich keinen Illusionen hin. Nur zu gut wußte er,

daß er nicht mit leeren Händen vor den Grafen Kasimir hintreten
konnte. Er mußte dem habgierigen Schurken etwas bieten, sonst
würde ihn der nicht an den Schwarzen Stein heranlassen. Die große
Frage war nur, woher nehmen und nicht stehlen? Ganelon war trotz
seiner noblen Herkunft nicht mit irdischen Gütern gesegnet. Er besaß
nichts, was Gnade vor Kasimirs Augen finden würde.

Zwei Tage lang noch überlegte Ganelon hin und her. Dann stand

sein Entschluß fest. Er würde tatsächlich stehlen müssen. Und er
wußte auch schon, was und wo.

Er wartete des Nachts, bis alle Bewohner des Klosters, Mönche

und Gäste gleichermaßen, eingeschlafen waren. Dann schlüpfte er
lautlos aus seiner Zelle und schlich auf den Klosterhof. Drüben im
Wachhäuschen, das wußte er, hielt einer der Klosterbrüder die
Nachtwache. Aber er durfte davon ausgehen, daß die
Aufmerksamkeit des Mönchs nach draußen gerichtet war. Nicht im
Traum würde er daran denken, daß es auch im Inneren des Klosters
etwas gab, was es zu bewachen galt.

Geduckt huschte Ganelon über den Hof, verschmolz dabei

weitgehend mit der Dunkelheit, die durch das schwache Mondlicht

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kaum aufgehellt wurde, Schnell erreichte er sein Ziel: die Kapelle.

Mit angehaltenem Atem blieb er für ein paar Augenblicke im

Eingang stehen und blickte zum Wachhäuschen hinüber. Hatte der
wachhabende Mönch etwas bemerkt?

Nein, es sah nicht danach aus. In dem kleinen Anbau neben der

Pforte blieb alles ruhig. Wahrscheinlich döste der Klosterbruder
ohnehin vor sich hin und erging sich in frommen Gedanken an das
Leben nach dem Tode. Ganelon hatte für solche Gedanken nicht viel
übrig. Er wollte im Diesseits leben. Was später im Jenseits geschah,
kümmerte ihn gegenwärtig keinen Deut.

Er trat in die Kapelle, huschte am Altar vorbei und schlüpfte dann

in die Sakristei. Trotz der Dunkelheit fand er sich einigermaßen
zurecht, denn er war nicht zum ersten Mal hier. Der Abt, dieser alte
Narr, war stolz darauf gewesen, Dankesgeschenke zeigen zu kennen,
die Pilger dem Kloster zur Verfügung gestellt hatten. Ein Teil dieser
Gaben wurde hier in der Sakristei aufbewahrt.

Ganelon brauchte nicht lange, um fündig zu werden. Zwar konnte

er die einzelnen Gegenstände nicht erkennen. Aber was er da
ertastete, fand durchaus sein Wohlgefallen. Mochte auch einiger
wertloser Tand darunter sein, er war fest davon überzeugt, daß er
auch Utensilien von echtem Wert in die Hände bekommen hatte.
Hastig stopfte er die Beute in den mitgebrachten Sack. Dann verließ
er die Sakristei wieder und eilte zurück zum Klosterhof.

Und dort verließ ihn das Glück dann. Als er die Kapelle gerade

verlassen wollte, löste sich aus dem Schatten des Nebengebäudes
eine dunkle Gestalt und vertrat ihm den Weg.

»Wer...«
Weiter kam der Mann nicht. Ganelon handelte, ohne lange

nachzudenken. Er riß den rechten Arm zurück und ließ ihn dann
wieder nach vorne schnellen. Der Mann, der ihm entgegengetreten
war, wurde voll von dem Sack am Kopf getroffen.

Der Mann - Ganelon konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, wer

es war - stöhnte schmerzerfüllt auf. Bevor er laut loszuschreien
vermochte, drosch Ganelon erneut zu. Es gab ein häßliches,

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schepperndes Geräusch, als die Gegenstände in dem Sack
gegeneinander schlugen. Ansonsten aber konnte er mit seiner Aktion
voll und ganz zufrieden sein. Sein Widersacher war so schwer
getroffen worden, daß er, ohne einen weiteren Ton von sich zu
geben, zusammenbrach und reglos auf den Steinen des Klosterhofs
liegen blieb.

Ganelon kniete nieder, blickte dem Bewußtlosen aus allernächster

Nähe ins Gesicht. Es war Bruder Leopold, der Mönch, der in dieser
Nacht den Dienst im Wachhäuschen zu versehen hatte. Ganelon stieß
einen unterdrückten Fluch aus. Sein Eindringen in die Kapelle war
also doch nicht so unbemerkt vonstatten gegangen, wie er das
gedacht hatte.

Hastig sah er sich nach allen Seiten um. Erleichtert nahm er zur

Kenntnis, daß nach wie vor überall tiefe Ruhe herrschte. Nirgendwo
flackerte ein Licht auf, niemand ließ sich blicken. Wie es schien, war
der Zwischenfall mit Bruder Lepold noch keinem aufgefallen.

Bisher...
Ganelon stellte seinen Beutesack ab, griff statt dessen nach dem

Bewußtlosen. Er packte ihn unter den Achseln und zerrte ihn in die
Kapelle hinein. Dabei hatte er Schwerstarbeit zu leisten, denn der
Mönch verfügte über eine mächtige Körperfülle. Den Klosterbrüdern
geht es zu gut, dachte Ganelon flüchtig, sie fressen zu viel!

Dennoch schaffte er es ziemlich schnell, den Niedergeschlagenen

in den Altarraum zu befördern. Ganz kurz überlegte er, ob es nicht
besser war, ihn in die Sakristei zu bringen. Aber er kam zu der
Überzeugung, daß er sich diese Mühe sparen konnte. Eigentlich war
es seine Absicht gewesen, erst am nächsten Morgen in aller Frühe
aufzubrechen. An diesem Plan konnte er jedoch jetzt kaum noch
festhalten. Er würde das Kloster gleich verlassen müssen. Und dann
spielte es auch keine Rolle, ob man Bruder Leopold nun etwas früher
oder später fand.

Diesen Überlegungen folgend, ließ er den Mönch einfach hinter

der Tür liegen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß es noch
eine ganz Weile dauern würde, bis der fette Bruder wieder zu sich

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kam, trat er wieder auf den Klosterhof hinaus.

Und noch immer war alles ruhig. Das Kloster war ein Hort des

Friedens und ... der Schlafmützigkeit.

Jetzt, da im Wachhäuschen niemand mehr war, dessen

Wachsamkeit er zu fürchten hatte, stieß er auf keine weiteren
Schwierigkeiten. Er eilte noch einmal zu seiner Zelle hinüber und
packte alles zusammen, was er mitnehmen mußte. Anschließend
öffnete er lautlos die Klosterpforte. Als letztes ging er in den Stall
und holte sein Pferd.

Als er vom Klosterhof ritt, dachte er mit einem gewissen Bedauern

an Eloise. Es war eigentlich nicht seine Absicht gewesen, sich so
grußlos von ihr zu verabschieden. Aber nach Lage der Dinge gab es
keine andere Möglichkeit. Sie liebte ihn, gewiß. Dennoch würde sie
für seine Handlungsweise kaum Verständnis aufbringen.

Achselzuckend ließ er seine Gedanken in andere Richtungen

wandern. Es gab Wichtigeres im Leben eines Mannes als Frauen.
Zügig ritt er der Schwarzenburg entgegen.

*

»Todeskeim im Unterleib?« Der Burgwächter machte ein
bedenkliches Gesicht. »Hm, das ist gewiß ein schwerer
Schicksalsschlag, Junker. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß Ihr
alles geben würdet, um wieder gesund zu werden!« Lauernd blickte
er den noblen Bittsteller an.

Ganelon griff in den Sack, in dem er die gestohlenen

Klosterschätze aufbewahrte, und holte einen silbrig glänzenden
Becher hervor. Er reichte ihn dem Gräflichen hin.

Der nahm ihn entgegen und musterte ihn eingehend. Seine Prüfung

war sehr genau. So verzichtete er auch nicht darauf, mit dem
Fingernagel über die Oberfläche zu kratzen und sogar mit den
Zähnen in den Becherrand hineinzubeißen. Unwillig verzog er das
Gesicht. »Dieses Ding ist nichts wert«, stellte er fest. »Wenn Ihr
nichts Besseres anzubieten habt, Junker ...«

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Der Mann war nicht dumm. Er hatte erkannt, daß die Silberschicht

des Bechers nur ganz dünn aufgetragen war. Schnell griff Ganelon
erneut in seinen Sack.

»Hieran dürftet Ihr kaum etwas auszusetzen haben«, sagte er und

übergab dem Burgwächter ein goldenes Kreuz, das mit mehreren
prächtigen Edelsteinen verziert war.

»Schon besser«, lobte der Getreue Kasimirs. »Habt Ihr noch

mehr?«

»Ist das nicht schon genug?« fragte Ganelon unwirsch.
Die nackte Gier stand in den Augen des Burgwächters geschrieben.

»Ich fürchte, es ist nicht genug«, sagte er. »Wißt Ihr was? Am besten
dürfte es sein, Ihr gebt mir alles, was Ihr bei Euch habt.«

Und ehe es sich Ganelon versah, hatte er bereits zugelangt und den

ganzen Sack in seinen Besitz gebracht.

»Das ist doch ...« Ganelon war so empört, daß er den Mann am

liebsten in den Burggraben gestoßen hätte. Nur mit großer Mühe
gelang es ihm, seinen Zorn zu zügeln.

Der Gräfliche grinste. »Es steht Euch natürlich frei, Eure

Besitztümer zurückzuverlangen. Ohne jeden Zweifel würden wir
Eurer Bitte sofort entsprechen. Schließlich sind wir keine Räuber.
Nur müßtet Ihr dann leider darauf verzichten, den Schwarzen
Stein...«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach Ganelon sein scheinheiliges

Gerede. »Behaltet Eure Beute. Kann ich nun ...«

»Aber gewiß doch, Herr Junker.« Der Burgwächter trat einen

Schritt zur Seite und deutete eine ergebene Verbeugung an, bei der es
sich vermutlich um puren Hohn handelte. »Männer wie Ihr seid uns
jederzeit herzlich willkommen.«

Unten auf dem Burghof standen andere Gräfliche bereit. Zwei

Pferdeknechte nahmen sich seines Pferdes an. Drei Männer des
Ritterstandes erkundigten sich, ob er gleich zu der wundertätigen
Reliquie gebracht werden wollte.

Und ob Ganelon das wollte! Sein ganzes Sinnen und Trachten war

auf nichts anderes gerichtet.

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»Dann folgt uns, Junker!«
Die Männer führten ihn zum Donjon, dem großen Hauptturm der

Schwarzenburg. Durch die Eingangshalle ging es einen breiten
Korridor entlang, der schließlich vor einer eisernen Tür endete. Dort
standen weitere Getreue des Grafen Wache. Sie waren schwer
bewaffnet, trugen nicht nur ihre Schwerter, sondern hatten gleich-
zeitig auch noch Streitäxte in ihren Waffengürteln hängen. Selbst
einem Ahnungslosen wäre nicht verborgen geblieben, daß hinter der
Tür ein Schatz ruhen mußte, der all diese Sicherheitsvorkehrungen
verdiente.

Die Tür wurde geöffnet.
Ein recht kleiner Raum lag vor Ganelon, ein Raum, der nicht

möbliert war. Er enthielt nur eins: den goldenen Schrein aus dem
Kloster und den Schwarzen Stein.

Genalons Augen begannen zu glänzen, als er der einzigartigen

Reliquie ansichtig wurde. Mehrere Wochen waren es nun her, seit er
den Stein zuletzt berührt hatte. Eine lange Zeitspanne, eine viel zu
lange Zeitspanne.

Es gab jetzt kein Halten mehr für den provenzalischen Junker.

Ohne sich weiter um seine gräflichen Begleiter zu kümmern, eilte er
auf den Stein zu. Die Männer hinderten ihn nicht daran, blieben
jedoch an der Tür stehen, wachsam und jederzeit bereit, einzugreifen,
wenn er etwas Unerlaubtes tat.

Vor dem goldenen Schrein lag ein Kissen auf dem Boden. Ganelon

kniete darauf nieder. Dann streckte er wie ein Ertrinkender, der den
letzten Strohhalm vor sich sah, seine Arme aus. Seine Hände
zitterten wie Espenlaub, als sie den Schwarzen Stein von beiden
Seiten umfaßten.

Der Schwarze Stein!
Seine Herkunft lag im Dunkel einer Ungewissen Vergangenheit.

Die einen sagten, daß er eines Tages vom Himmel gefallen war.
Andere widerum meinten, daß ihn ein Heiliger aus den Gefilden der
Seligen auf die Erde gebracht hatte, um jenen Menschen zu helfen,
die reinen Herzens waren. Ganelon wußte nicht, was richtig war,

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wenn er auch an die Geschichte von dem gütigen Heiligen nicht so
recht zu glauben vermochte. Im Grunde genommen war ihm dies
aber auch alles herzlich gleichgültig. Für ihn zählte nur eins. Im
Kloster hatte der Stein seine Schuldigkeit getan und ihm tatsächlich
geholfen. Und nun hoffte er natürlich darauf, daß dies auch jetzt
wieder der Fall sein würde.

Er schloß die Augen und bemühte sich, seinen Kopf freizumachen

von allen überflüssigen Gedanken. Gedanken, die aus der Reinheit
des Herzens kamen, waren jetzt bedeutsam. Ganelon dachte an den
aussätzigen Bettler auf dem Marktplatz von Goujon, dem er einen
ganzen Silberdenar geschenkt hatte. Er dachte an das kleine
Mädchen, das er vor dem Ertrinken gerettet hatte, als es in den
Mühlbach gefallen war. Und er dachte an den alten, räudigen Hund,
dem er das Gnadenbrot gegeben hatte. All dies waren Taten, auf die
er stolz sein konnte. Taten, die ein Beweis für die Reinheit seines
Herzens waren.

Er konzentrierte sich auf den Schwarzen Stein. Bei seinen

Kontakten im Kloster hatte er stets das Gefühl gehabt, als würde die
Reliquie eine Art Wärme ausstrahlen, eine Wärme, die seinen ganzen
Körper durchrieselte. Jetzt jedoch spürte er davon nichts. Der Stein
war kühl, beinahe kalt.

Alarmgefühle stiegen in Ganelon auf. Hatte der Stein seine Kraft

verloren? Nein, das durfte einfach nicht wahr sein! Ohne seine
wundertätige Wirkung war er verloren. Der Keim des Todes würde
ungehindert weiter in ihm wuchern und ...

Ganelon verdrängte diesen entsetzlichen Gedanken. Fast

gewaltsam preßte er seine Hände gegen die unregelmäßigen Seiten
des Steins. Mit aller Kraft wünschte er sich die wohlige Wärme
herbei, die er gewohnt war. Aber sie stellte sich nicht ein. Der Stein
blieb kalt, kalt, kalt...

Und die Stiche in seinem Unterleib ließen nicht nach. Ja, er glaubte

fast, daß sie sich noch verstärkten!

Der Graf war schuld!
Ja, so mußte es sein. Kasimir hatte den Stein geraubt, hatte dabei

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sogar einen Menschen getötet. Dadurch hatte er gegen das Gebot der
Friedfertigkeit verstoßen. Kein Wunder, daß der Schwarze Stein nun
seine Wundertätigkeit nicht mehr offenbarte!

Eine ganze Weile noch harrte er vor dem Schrein kniend aus. So

lange, bis die Gräflichen an der Tür langsam ungeduldig wurden.

»Kommt zum Ende, Junker«, rief der eine, »gewiß seid Ihr längst

geheilt!«

Ganelon kam der unmißverständlichen Aufforderung nicht sofort

nach. Schließlich aber mußte er einsehen, daß längeres Ausharren
keinen Sinn hatte. Der Stein entfaltete seine Kraft nicht. Und der
Keim des Todes wütete weiterhin in seinem Leib. Müde, unendlich
müde erhob er sich und kehrte zu den Getreuen des Grafen zurück.

Diese blickten ihm etwas erstaunt entgegen. »Ihr seht nicht sehr

glücklich aus«, stellte einer von ihnen fest. »Aber warum nicht?
Spürt Ihr denn nicht, wie sich die gesundende Kraft des Heiligtums
in Eurem Innersten ausbreitet?«

»Nichts spüre ich! Ich bin so krank wie zuvor!«
»Das ist äußerst verwunderlich. Wenige nur kehren dem Stein den

Rücken, ohne daß ihnen das Glück in den Augen geschrieben steht.
Ihr müßt ein arger Sünder sein!«

»Ich muß ...« Ganelon verschlug es die Sprache.
»Gewiß«, sprach der Gräfliche weiter. »Wußtet Ihr denn nicht, daß

nur denen Hilfe zuteil wird, deren Herz ohne Makel ist?«

»Nicht an mir haftet der Makel«, sagte Ganelon empört. »Ihr seid

schuld. Hättet Ihr den Stein nicht mit Gewalt in Euren Besitz
gebracht...« Er unterbrach sich, wohl wissend, daß es nicht gut war,
die Männer Kasimirs zu erzürnen. Er hatte mit eigenen Augen
gesehen, wie skruppellos die Kerle vorgingen.

Aber die Gräflichen waren überraschenderweise nicht verärgert.

Sie lachten nur.

»Geht in Euch, Junker, und tut Gutes«, sagte der Mann, der ihn

schon als argen Sünder bezeichnet hatte. »Und dann kommt zurück
und versucht Euer Glück erneut. Wie ich hörte, wart Ihr mit Euren
Geschenken recht großzügig. Ihr habt eine zweite Gelegenheit

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verdient.«

Niedergeschlagen verließ Ganelon den Reliquienraum.
Und die Stiche in seinem Leib wurden stärker und stärker.

*

Man hatte Ganelon einen Raum ganz oben im Donjon zugewiesen.
Es war ein schäbiger, schmutziger Raum, den der provenzalische
Junker normalerweise entrüstet von sich gewiesen hätte. Aber hier
auf der Schwarzenburg durfte er nicht wählerisch sein. Er konnte
sich schon glücklich schätzen, daß man ihn nicht unverzüglich wie-
der weggeschickt hatte.

Er hatte nachgedacht, lange und ausgiebig. Mehr denn je war er

davon überzeugt, daß der gewaltsame Raub für die erloschene Kraft
des Schwarzen Steins verantwortlich gemacht werden mußte. Und er
zweifelte eigentlich nicht daran, daß sich diese Kraft wieder
offenbaren würde, wenn die Reliquie nur aus der Verfügungsgewalt
des schurkischen Grafen entfernt wurde.

Er war sich im klaren darüber, daß er allein nicht in der Lage sein

würde, den Gräflichen den Stein zu entreißen. Dazu wurde er viel zu
gut bewacht. Wenn es ihm jedoch gelang, schlagkräftige
Bundesgenossen zu gewinnen, dann sah die Sache schon etwas
anders aus.

Und er wußte auch, wo er diese Bundesgenossen gewinnen konnte.

Während der Stunden, die er nun schon in der Schwarzenburg weilte,
war er nicht untätig gewesen. Er hatte sich umgehört, und es war ihm
zu Ohren gekommen, daß in den Verliesen der Burg ein Mann
gefangengehalten wurde, der zu allem möglichen fähig war.

Der Ritter Roland!
Zwar hatte er dem Roland keineswegs vergessen, daß er ihn vor

den Augen Eloises im Schwertkampf besiegt hatte. Aber er war jetzt
bereit, seine Rachegefühle in den Hintergrund treten zu lassen.
Roland war der Mann, der ihm helfen konnte, den Schwarzen Stein
in Sicherheit zu bringen. Schließlich war der Ritter mit dem

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Löwenherzen ja auch aus eben diesem Grunde zur Schwarzenburg
gekommen. Und daß er und seine Knappen jetzt noch im Verlies
schmachteten ... Nun, Ganelon sah eine Möglichkeit, die Gefangenen
zu befreien. Sein Plan war gewagt und auch etwas verrückt. Dennoch
kam er nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluß, ihn in die Tat
umzusetzen. Was hatte er schon zu verlieren? Wenn ihm die Männer
Kasimirs auf die Schliche kamen, würde er höchstwahrscheinlich mit
seinem Leben dafür büßen müssen. Aber sein Leben war auch
verwirkt, wenn der Schwarze Stein in der Obhut des Grafen blieb.

Genalon traf seine Vorbereitungen in den Abendstunden. Und als

sich die Burgbewohner langsam anschickten, sich zur Nachtruhe zu
begeben, schritt er zu Tat.

Er verließ seinen Raum, die Waffe, die er zum Gelingen seines

Planes benötigte, in der Hand. Bei dieser Waffe handelte es sich um
kein Schwert, kein Messer, keine Axt, sondern um einen ... gefüllten
Weinkrug. Aber Ganelon hoffte zuversichtlich, damit mehr
ausrichten zu können als mit der schärfsten Klinge.

Während er zum Hof hinunterschritt, begegneten ihm mehrere

Burgbewohner. Niemand hielt ihn auf. Und auch dem Krug schenkte
niemand sonderliche Beachtung. Offenbar fand man es hier nicht so
verwunderlich, daß jemand Wein durch die Gegend trug.

Unten auf dem Hof schritt Ganelon zielbewußt zu dem Turm

hinüber, in dem die Verliese untergebracht waren. Und noch immer
stellte sich ihm niemand in den Weg. Die Burgbewohner wußten,
daß er Gast in der Schwarzenburg war und sich frei bewegen durfte.
Am Eingang zu dem Nebenturm sah das jedoch anders aus. Hier
stand ein Bewaffneter. Der Mann, das wußte Ganelon, war eigentlich
nicht zur Bewachung der Gefangenen da. In dem Turm lagerten
jedoch auch Proviant und sonstige Vorräte, die es vor zudringlichen
Händen zu schützen galt. Trotzdem hielt ihm der Bewaffnete den
Arm entgegen, als er wie selbstverständlich den Turm betreten
wollte.

»Halt, Junker. Wo wollt Ihr hin?«
»Zu den Gefangenen.«

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»Zu welchem Behufe?«
»Ich möchte ihnen das hier zum Geschenk machen«, sagte

Ganelon und hielt dem Wächter den Krug hin.

Mit gerunzelter Stirn beugte sich der Mann nieder und roch daran.

»Wein«, stellte er fest.

»So ist es«, nickte Ganelon. Verständnislos schüttelte der Posten

den Kopf. »Ich verstehe nicht...«

»Ihr wißt, daß ich ein todkranker Mann bin, den der Schwarze

Stein nicht heilen konnte?« fragte Ganelon.

»Ich habe davon gehört. Ihr sollt ein sündiger Mensch sein, der der

wundertätigen Kraft des Heiligtums nicht für würdig erachtet
wurde.«

»Ja«, sagte Ganelon und tat ganz zerknirscht, »mein Herz ist nicht

frei von manchem Makel. Und deshalb will ich gute Werke
verrichten, um den Makel von mir zu nehmen.«

»Ich verstehe immer noch nicht...«
»Ist es kein gutes Werk, einen schmachtenden Gefangenen mit

einem Krug Wein zu beglücken?«

Der Posten lachte. »Wenn es so einfach wäre, sich seiner Sünden

zu entledigen, dann brauchte ich mir um die ewige Seligkeit keine
Gedanken zu machen. Aber ob sich der Schwarze Stein so leicht
hinters Licht führen läßt »Spottet nicht«, sagte Ganelon entrüstet.
»Meine Absichten entspringen einem reinen Herzen. Darf ich nun
passieren?«

Einen Augenblick zögerte der Gräfliche. Dann lachte er wieder

und sagte: »Meinetwegen, die Gefangenen unterstehen nicht meiner
Obhut. Aber ob die Verlieswächter Eure gute Tat billigen werden,
wage ich zu bezweifeln.«

So gelang Ganelon der Zutritt zum Turm. Dort stieg er die

Wendeltreppe hinab, die zu den Verliesen führte. Mit dem Weinkrug
in der ausgestreckten Hand ereichte er das unterirdische Geschoß.
Und sogleich sah er sich den Verlieswächtern gegenüber, die bei
seiner Annäherung aus ihrer Wachkammer herauskamen. Drei
Bewaffnete waren es, die ihn ausgesprochen finster und unfreundlich

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musterten und zum Stehenbleiben aufforderten.

Ganelon widerholte die Geschichte von der guten Tat, die er

bereits oben zum besten gegeben hatte. Hatte der Wächter am
Toreingang aber noch gelacht, so bleiben diese drei todernst.

»Mir scheint, Ihr wollt uns veralbern, Junker«, sagte der eine von

ihnen grimmig. »Gefangene mit edlem Wein zu beköstigen - hat man
jemals einen solchen Unsinn gehört?«

»Ihr schlagt mir meine Bitte ab?« stellte Ganelon fest, während

Trübsal seine Miene überschattete. »Ich flehe Euch an, habt
Erbarmen mit meinem Seelenheil!«

»Was kümmert uns Euer Seelenheil? Hebt Euch von hinnen!«
Ganelon schämte sich nicht, fast in gar unmännliche Tränen

auszubrechen. »Schickt mich nicht fort! Sagt mir lieber statt dessen,
welche andere Möglichkeit es in der Schwarzenburg für mich gibt,
die Reinheit meines Herzens zu bekunden.«

Die Männer tauschten Blicke, brachen dann doch in Lachen aus.

Gar zu jämmerlich war der Anblick, den Ganelon mit seinem Kruge
bot. Seine Hand zitterte so stark, daß der Wein überschwappte und
auf den steinernen Boden tropfte.

»Ich wüßte schon eine gute Tat, die Ihr verrichten könnt«, sagte ein

anderer der drei. »Gebt uns Euren Wein, und wir legen im Himmel
ein gutes Wort für Euch ein.« Der Mann lachte noch immer und
schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel.

Ein Gefühl des Triumphes durchrieselte Ganelon. Genau auf

diesen Vorschlag hatte er gewartet! Allerdings hatte er nicht zu
hoffen gewagt, daß ihn die Wächter so schnell machen würden. Er
ließ sich seine Gedanken jedoch nicht anmerken, tat vielmehr so, als
müsse er sich das Verlangen des Wächters erst einmal durch den
Kopf gehen lassen.

»Glaubt Ihr wirklich, daß es ein Zeichen meines guten Herzens

wäre, wenn ich Euch den Wein gebe?« fragte er mit gespieltem
Zweifel.

»Aber gewiß doch«, bekam er grinsend zur Antwort. »Schließlich

könntet Ihr den Wein auch selbst trinken. Wenn Ihr ihn jedoch uns

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überlaßt, spricht dies für Eure Selbstlosigkeit. Heißt es denn nicht
schon in der Schrift, daß Geben seliger denn Nehmen ist?«

»Vielleicht habt Ihr recht«, sagte Ganelon langsam. »So nehmt den

Wein denn!«

Wenig später ließen die drei Männer den Krug kreisen. Sie luden

Ganelon ein, selbst einen kräftigen Schluck mitzutrinken. Das jedoch
lehnte der Junker ab.

Seine Gründe dafür waren jedoch andere, als die Gräflichen wohl

vermuteten ...

*

Roland hatte sich bereits auf sein fauliges Stohlager gelegt, um die
Nacht wie gewohnt in einem unruhigen, von bösen Träumen
geplagtem Schlaf zu verbringen. Die wievielte Nacht das sein würde,
wußte er nicht so genau. In der ständigen Dunkelheit des Verlieses
verlor man das Gefühl für die Zeit. Wenn es nicht die in halbwegs
regelmäßigen Abständen verabreichten Mahlzeiten gegeben hätte,
wäre es nicht einmal möglich gewesen, zwischen Tag und Nacht zu
unterscheiden.

Die Stimme seines Knappen Louis riß ihn aus dem

Dämmerzustand wieder hoch.

»Ritter Roland!«
»Was ... ist los?«
»Da draußen auf dem Gang ... Hört Ihr es?«
Roland richtete sich in eine sitzende Stellung auf und hielt den

Kopf schief.

Und er hörte etwas.
Schmerzensschreie und ... Kampfgeräusche.
Auch der Ritter Richard und Pierre waren jetzt hellwach geworden.
»Was, glaubt Ihr, geht da vor, Roland?« In Richards Stimme

schwang gespannte Erregung mit. »Ob dort Männer gekommen sind,
um uns zu befreien?«

»Wer sollte das sein? Wir sind Fremde im Riesengebirge. Ich

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wüßte niemanden, der sich um unseretwillen mit Graf Kasimir
anlegen würde.«

»Die Mönche ...«
»... sind Männer des Friedens. Ihr Glaube verbietet es Ihnen, eine

Waffe in die Hand zu nehmen.«

»Wahrscheinlich haben die Verlieswächter beim Würfelspiel Streit

miteinander bekommen«, vermutete Pierre. »Selbst wenn sie sich
dabei die Schädel einschlagen, haben wir keinen Vorteil davon.«

Aber der dickliche Knappe irrte sich. Schritte wurden jetzt draußen

auf dem Gang hörbar, die genau vor der Verliestür endeten.

»Ritter Roland, seid Ihr hier drinnen?« ertönte eine halblaute

Männerstimme.

Roland war längst von seinem Strohlager hochgesprungen und zur

Tür geeilt.

»Wer seid Ihr?«
Der Mann dort draußen hatte die Ruhe eines Bären. Sein

Auflachen bestätigte es.

»Ihr erkennt mich nicht, Roland?«
Der Ritter mit dem Löwenherzen strengte seine Ohren an, aber die

Stimme blieb ihm fremd.

»Dabei haben wir doch erst unlängst die Klingen gekreuzt«, sprach

der Mann vor der Tür weiter.

Jetzt begriff Roland. »Ganelon!«
»Ja«, sagte der provenzalische Junker, »ich bin es. Wartet, ich hole

Euch heraus.«

Roland konnte es noch gar nicht richtig fassen. Daß ausgerechnet

Ganelon, ein Mann, in dessen Augen er den Haß leuchten gesehen
hatte, zu seiner Befreiung gekommen war, verblüffte ihn über alle
Maßen. Aber er konnte wohl davon ausgehen, daß der Junker seine
Gründe noch darlegen würde.

Er hörte, wie sich Ganelon am Schloß zu schaffen machte, nicht

mit Gewalt, sondern mit Hilfe eines Schlüssels, den er
wahrscheinlich den Wächtern abgenommen hatte. Offenbar fand er
nicht auf Anhieb den richtigen, denn er benutzte mehrere.

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Dann jedoch hatte er die rechte Wahl getroffen. Der Schlüssel

drehte sich im Schloß, traf auf keinen Widerstand mehr.

Die Tür öffnete sich.
Und da stand Ganelon, eine brennende Fackel in der linken Hand,

ein Lächeln auf den Lippen.

»Seid mir gegrüßt!«
Roland trat aus dem Verlies hinaus und blickte gleich nach rechts

den Gang hinunter, wo er die Wachkammer wußte.

Ganelon erahnte seine Gedanken. »Macht Euch wegen der

Wächter keine Sorgen«, sagte er. »Sie brauchen wir gewiß nicht
mehr zu fürchten.«

»Habt Ihr sie ...«
»Ja.«
Auch Richard und die beiden Knappen kamen jetzt eilig aus dem

Verlies heraus. Im flackernden Lichtschein der Fackel sahen sie aus
wie die heruntergekommensten Strauchdiebe, die man sich denken
konnte. Abgerissen, schmutzig und mit wild wucherndem
Bartwuchs, dem seit einer schieren Ewigkeit keine Klinge mehr
Einhalt geboten hatte. Roland war sich im klaren darüber, daß sich
sein eigener Anblick um keinen Deut von dem ihren unterschied.
Aber das spielte jetzt wahrlich keine Rolle. Nur eins zählte jetzt: Sie
konnten sich wieder bewegen, ohne von den Wänden ihres Verlieses
behindert zu werden. Wie lange sie ihre wiedergewonnene
Bewegungsfreiheit allerdings behaupten konnten, mußte sich noch
erweisen. Die Verlieswächter hatte Ganelon außer Gefecht gesetzt.
Aber damit war natürlich nur der Anfang gemacht. Der Weg zur
vollkommenen Freiheit mußte noch erkämpft werden.

*

Die drei Verlies Wächter lagen in verkrümmter Haltung auf dem
Boden.

Ihre Gesichter waren verzerrt, die Glieder verkrampft, ganz so, als

ob sie vor ihrem Tod noch schreckliche Schmerzen erlitten hatten.

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Überall an ihnen war Blut.

Fragend blickte Roland den provenzalischen Junker an. »Wie habt

Ihr es geschafft, mit Ihnen fertig zu werden? Drei gegen einen, das
war gewiß kein Kinderspiel.«

Der hochgewachsene Mann mit den etwas düsteren Gesichtszügen

schob eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn. »Ich hatte mir einen
Helfer mitgebracht«, sagte er und deutete auf die Scherben eines
tönernen Krugs, die neben einem der Gräflichen auf den Steinplatten
lagen.

Erst jetzt wurde sich Roland des durchdringenden Geruchs bewußt,

der in der Luft lag. Es roch intensiv nach Wein. »Ihr habt sie
betrunken gemacht und dann ...«

»Das allein hätte wohl nicht ausgereicht«, gab Ganelon zurück.

»Ich habe ein bißchen nachgeholfen - mit Teufelswurz!«

Teufelswurz ...
Roland kannte dieses unscheinbare Kraut, das im Schatten feuchter

Mauern wuchs und angeblich nur blühte, wenn der Mond am
Himmel stand. Sein Genuß führte zu furchtbarem Bauchgrimmen
und konnte sogar den Tod hervorrufen. Ganz offensichtlich hatte
Ganelon die Wächter überwältigt, als sie sich vor Schmerzen wanden
und kaum zur Gegenwehr fähig waren.

Er warf einen besorgten Blick zu der Treppe hinüber, die nach

oben führte. »Hat denn niemand etwas gehört?«

Ganelon zuckte die Achseln. »Die Mauern hier unten sind dick.

Aber der Turmwächter weiß, daß ich Euch einen Besuch abstatten
wollte. Über kurz oder lang dürfte er nachsehen kommen, wo ich
denn bleibe.«

»Er soll nur kommen!« stieß Louis grimmig hervor. Er hatte einem

der Getreuen Kasimirs das Schwert abgenommen und hielt es mit
einer entschlossenen Gebärde in die Luft.

Auch Roland bewaffnete sich. »Uns steht noch harte Arbeit bevor.

Um aus der Trutzenburg herauszukommen, müssen wir die
Torwächter überwältigen und ...«

»Nicht nur die«, warf Ganelon ein. »Auch die Gräflichen, die den

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Schwarzen Stein bewachen!«

Roland sah ihn an. »Habt Ihr uns aus diesem Grund aus dem

Verlies befreit?«

Der Provenzale lächelte dünn. »Wenn Ihr es genau wissen wollt,

ja! Meine ritterliche Bruderliebe zu Euch hält sich in Grenzen.«

Roland nickte langsam. Das waren offene Worte, die Ganelon da

gesprochen hatte. Sie waren nicht gerade freundlich gewesen, dafür
aber ehrlich. Und das ehrte den Junker. Ebenso ehrte es ihn, daß er
sich für den Schwarzen Stein einsetzte. Es wäre bestimmt einfacher
für ihn gewesen, dem gierigen Grafen seinen Tribut zu entrichten
und die wundertätige Reliquie an Ort und Stelle aufzusuchen.

»Gut«, sagte Roland, »wir werden ...«
Er hielt ein, als eine fremde Stimme hörbar wurde.
»Andreas? Gotho?«
Die Stimme kam von oben, und wem sie gehörte, war nicht

sonderlich schwer zu erraten.

»Der Turmwächter«, flüsterte Ganelon.
Louis packte sein Schwert fester und setzte eine noch

entschlossenere Miene auf. »Ich werde den Kerl...«

»Halt!« zischte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Willst du, daß

der Mann Alarm schlägt?«

»Andreas? Warum bei allen Heiligen, meldet ihr euch nicht?«
Unentschlossen blickten sich die Männer an. Da war es der Knappe

Pierre, der die Situation rettete. Gänzlich unvermutet hob er an zu
singen:

Drei tapfere, wackere Ritter waren wir,
Wir labten uns an Wein, Met und Bier,
Und wenn wir genug getrunken hatten,
Legten wir uns und schliefen wie die Ratten.
Laut, grölend und mißtönend war sein Gesang, gar schrecklich

anzuhören. Aber er erfüllte seinen Zweck.

»Besoffene Kerle!« entrüstete sich der Turmwächter. »Wenn das

der Graf erfährt...«

Pierre grinste über das ganze dickliche Gesicht und ließ die nächste

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Strophe erschallen:

Drei tapfere, wackere Ritter waren wir,
Wir galten als des noblen Standes große Zier,
Denn wenn uns der feige Feind erkannte,
Er sofort voll Furcht von dannen rannte.
Der Turmwächter stieß eine Verwünschung aus. Im nächsten

Augenblick waren seinen schweren Schritte auf der Treppe zu hören.

Drei tapfere, wackere Ritter waren wir,
Wir jagten stets das wildeste Getier,
Und wenn wir mal das Wild nicht trafen,
Dann legten wir uns einfach wieder schlafen.
Jetzt hatte der Turmwächter den Fuß der Treppe erreicht. Im

nächsten Augenblick bog er um die Ecke des Ganges.

Roland stand bereits bereit, um ihn gebührend in Empfang zu

nehmen. Der Gräfliche prallte zurück, als er des Ritters mit dem
Löwenherzen ansichtig wurde. Seine Rechte fuhr zum Waffengürtel,
der Mund öffnete sich zum Schrei. Aber da schlug Roland schon mit
der Breitseite des Schwertes zu. Der Getreue Kasimirs wurde am
Kopf getroffen, schwankte wie ein wahrhaft Betrunkener. Rolands
zweiter Hieb streckte ihn endgültig zu Boden.

»Gut gemacht, Roland«, lobte der Ritter Richard. »Niemand hat

eine so sichere Hand wie Ihr!«

Ganelon zog ob dieser Worte die Lippen schief. Auch Roland

selbst ließ sich durch die Schmeichelei nicht beeindrucken. Er ließ
das Schwert sinken und blickte den Junker an.

»Wird man den Wächter oben nicht vermissen?« fragte er äußerst

nachdenklich.

»Das steht zu befürchten. Hier unten wird kaum jemand

erscheinen, um nach dem Rechten zu schauen. Aber oben vor dem
Vorratsturm ...«

Roland betrachtete den Niedergeschlagenen, maß dann mit den

Blicken Richards Gestalt.

»Euer Äußeres gleicht dem seinen, Richard«, sagte er zu seinem

Standesbruder. »Tauscht die Kleidung mit ihm!«

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Der junge Ritter bekam große Augen. »Ich soll...«
»Wenn Ihr das gräfliche Wappen auf der Brust tragt und an seiner

Stelle Posten steht, schöpft vielleicht niemand Verdacht. Macht
schon, Richard. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Richard erhob keinen Widerspruch, fing sofort damit, seine

Oberkleidung abzulegen. Wenig später hatte er sich in einen
Getreuen Kasimirs verwandelt, der an Glaubhaftigkeit kaum etwas
zu wünschen übrig ließ.

»Prächtig seht Ihr aus«, stellte Roland fest. »Vielleicht solltet Ihr

den Grafen fragen, ob Ihr in seine Dienste treten dürft.«

Mit säuerlichem Gesichtsausdruck nahm Richard die spöttische

Bemerkung entgegen, entgegnete aber nichts.

Vier Gräfliche waren jetzt überwältigt worden. Somit standen auch

vier Schwerter zur Verfügung. Nach Louis und Roland bewaffneten
sich auch Ganelon und Richard. Allein für Pierre blieb keine Klinge
übrig. Der dickliche Knappe behalf sich, indem er eine handgroße
Scherbe des zerbrochenen Krugs aufklaubte. In der Hand eines
geschickten Mannes konnte auch dieser Notbehelf zu einer tödlichen
Waffe werden. Und wenn Pierre auch etwas behäbig war, als
ungeschickt konnte man ihn ganz gewiß nicht bezeichnen.

Richard schritt als erster die Treppe hinauf, die anderen folgten ein

paar Schritte hinter ihm. Der junge Ritter öffnete die schwere Tür,
die auf den Burghof führte, und blickte zunächst vorsichtig nach
draußen. Dann schlüpfte er hindurch.

»Wartet noch«, raunte er. »Ich will erst sehen, ob die Luft wirklich

rein ist.«

Nach kurzer Zeit meldete er sich wieder. »Inzwischen scheinen

sich alle Burgbewohner zur Ruhe begeben zu haben. Ich sehe
niemanden!«

»Wir wollen trotzdem kein Risiko eingehen«, flüsterte Roland.

»Ganelon, Ihr könnt Euch doch frei bewegen, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe die große Ehre, die Gastfreundschaft Graf Kasimirs

zu genießen.«

»Dann geht als erster zum Donjon hinüber. Gebt Richard ein

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Zeichen, wenn wir nachfolgen können.«

»Gemacht!«
Der provenzalische Junker trat nun ebenfalls nach draußen. Ganz

offen schritt er über den Burghof auf den Hauptturm zu. Keiner
begegnete ihm, keiner hielt ihn auf. Am Portal des Donjon
angekommen, wartete er noch ein Weilchen. Dann ahmte er
täuschend echt den Ruf eines Käuzchens nach.

»Ihr könnt kommen«, sagte Richard leise.
Auch Roland und seine beiden Knappen kamen nun aus dem

Verliesturm heraus. Die Dunkelheit der Nacht nahm sie in Empfang.
Nirgendwo konnten sie Fackellicht entdecken. Allein auf der
Burgmauer war ein schwacher, rötlicher Schein auszumachen. Das
Feuer selbst blieb jedoch unsichtbar, weil es durch die Brustwehr des
Wehrgangs verborgen wurde. Eine tiefe Stille, die an die ewige Ruhe
eines Gottesackers gemahnte, lag über der gesamten Schwarzenburg.

»Los«, raunte der Ritter mit dem Löwenherzen seinen beiden

Getreuen zu.

Er setzte sich in Bewegung. Es wäre zweifelsohne zu riskant

gewesen, Ganelons Beispiel zu folgen und quer über den Burghof zu
gehen. Deshalb hielt er sich dicht an die Gebäudemauern, mit denen
er in der Dunkelheit geradezu verschmolz. Pierre und Louis folgten
ihm auf dem Fuße. Unbeschadet erreichten die drei Männer das
Portal des Donjons, wo der Provenzale ihrer harrte. Nach ein paar
schnellen, prüfenden Blicken über den Hof schlüpften sie alle ins
Innere des Wohnturms und gelangten in die Eingangshalle.

Vor ihnen lag zwielichtiges Halbdunkel. Zwei an den Wänden

angebrachte Fackeln warfen ihren flackernden Lichtschein ins weite
Rund, der sich jedoch in der ausgedehnten Halle weitgehend verlor.
Ferne Stimmen drangen an die Ohren der Männer, aber es war kaum
festzustellen, wo diese ihren Ursprung hatten.

»Wo wird der Stein aufbewahrt?« fragte der Ritter mit dem

Löwenherzen im Flüsterton.

»Hier entlang«, antwortete Ganelon ebenso tonlos.
Auf leisen Sohlen ging er an der breiten, zu den oberen

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Stockwerken führenden Treppe vorbei und betrat einen dunklen
Korridor, dessen Ende nicht zu erkennen war. Roland und seine
beiden Knappen blieben dicht hinter ihm. Nach einem guten Dutzend
Schritte machte der Gang einen Bogen nach links. Ganelon blieb
stehen, so abrupt, daß Roland beinahe gegen ihn gelaufen wäre. Der
Ritter mit dem Löwenherzen zerbiß eine Verwünschung zwischen
den Lippen.

Aber das plötzliche Stehenbleiben des Provenzalen war durchaus

angebracht gewesen. Matter Lichtschein fiel den vier Männern
entgegen. Und die Stimmen, die sie schon zuvor gehört hatten, waren
lauter geworden.

»Wir sind gleich da«, raunte Ganelon.
Louis hob sein Schwert. »Sturmangriff?«
Roland legte die Stirn in Falten, dachte angestrengt nach. Aber der

provenzalische Junker hatte einen besseren Gedanken.

»Mich kennen die Wächter«, flüsterte er. »Ich gehe ganz offen hin

und verlange, zum Schwarzen Stein gelassen zu werden. Und wenn
sie dadurch abgelenkt sind ...«

»... greifen wir an!« vervollständigte Roland.
Ganelon betrachtete sinnend sein Schwert, gab es dann an den

Knappen Pierre weiter.

»Jemand, der den Segen der Reliquie erflehen will, darf keine

Waffe bei sich tragen« , sagte er. Nach diesen Worten marschierte er
los, ohne sich dabei Mühe zu geben, seine Annäherung zu verbergen.

*

»Seid Ihr toll, Junker? Schert Euch weg und kommt gefälligst
morgen wieder!«

Der Getreue Kasimirs machte ein ausgesprochen wütendes

Gesicht. Und auch die anderen beiden Wächter blickten Ganelon
nicht gerade freundlich an. Wie ernst die drei Männer ihren
Wachdienst nahmen, war schon daran zu erkennen, daß sie sich nicht
mit einem Würfelspiel beschäftigten, sondern ihre ganze

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Aufmerksamkeit der Tür widmeten, hinter der das Heiligtum aus
dem Kloster ruhte.

Ganelon ließ sich durch die schroffe Ablehnung

nicht

beeindrucken. Er preßte eine Hand gegen den Unterleib und gab ein
Stöhnen von sich. »Ich ... leide Höllenqualen«, sagte er, wobei er
nicht einmal die Unwahrheit sprach. »Laßt mich hinein, ich flehe
Euch an!«

»Nicht mitten in der Nacht, morgen! Und nun ...«
»Elender Leuteschinder!« schimpfte Ganelon. Und dann ging er

mit ausgestreckten Händen auf den Sprecher der Wachposten los und
packte ihn am Hals.

Der Mann war von dieser Attacke vollkommen überrascht, kam

gar nicht dazu, sich zur Wehr zu setzen. Er mußte es hinnehmen, daß
ihn Ganelon gar kräftig würgte.

»Öffnet die Tür, sonst drehe ich Euch den Hals herum!«
Da griffen die beiden anderen Gräflichen ein. Sie langten nach

Ganelon, wollten ihn wegzerren. Aber der Junker ließ das nicht so
einfach mit sich machen, lockerte seinen Würgegriff nicht. Die
Geräusche des Handgemenges und das laute Keuchen der Männer
erfüllte den Korridor.

Darauf hatten Roland und seine beiden Knappen gewartet. Es

wurde Zeit für sie ...

»Kommt!« zischte der Ritter »mit dem Löwenherzen. Und dann

lief er bereits los, das Schwert in der erhobenen Faust. Louis und
Pierre eilten hinter ihm her. Nur wenige Augenblicke brauchten die
drei Gefährten, um den Schauplatz des Handgemenges zu erreichen.
Es sah nicht gut aus für Ganelon. Die drei Gräflichen waren dabei,
ihm gehörig die Fideltöne beizubringen. Aber sie taten das nur mit
den Fäusten, nicht mit der blanken Waffe. Und sie waren so in ihre
Beschäftigung vertieft, daß sie Roland und die Knappen erst
bemerkten, als diese unmittelbar vor ihnen standen. »Ritter ... Ro...«
stieß der eine entgeistert hervor.

Weiter kam er nicht. Roland hätte ihm das Schwert mitten in den

Leib jagen können. Aber das tat er nicht, weil es ihm wie das

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Abschlachten eines Stück Viehs vorgekommen wäre. Statt dessen
setzte er wieder die Breitseite des Schwertes ein. Der Schlag riß dem
Mann den Kopf in den Nacken. Er bekam sofort glasige Augen und
kippte um wie ein übervoller Hafersack.

Gleichzeitig wollte sich Louis den zweiten Wächter vornehmen.

Aber dieser Gräfliche ließ sich nicht so einfach überrumpeln. Er
wußte sich zu helfen. Er hielt Ganelon von hinten umklammert. Als
der glutäugige Knappe mit dem Schwert auf ihn eindrang, gab er
dem Junker einen Stoß. Mit Vehemenz wurde Ganelon gegen Louis
geschleudert. Und dem wäre um ein Haar das arge Mißgeschick
unterlaufen, den eigenen Kampfgenossen mit der Klinge zu
entleiben.

Auch Pierre sah sich Schwierigkeiten gegenüber. Der dritte Mann

hatte Ganelon unverzüglich losgelassen und sein Schwert
hervorgerissen. Als der dickliche Knappe den ersten Streich führte,
parierte der Gräfliche den Hieb. Und schon ging er seinerseits zum
Angriff über.

Aber mittlerweile hatte Roland die Hand wieder frei. Er stoppte die

Gegenattacke des Gräflichen und gab Pierre dadurch Gelegenheit,
den zweiten Streich zu führen. Und diesmal bewies der Knappe, daß
er sehr wohl mit dem Schwert umzugehen verstand. Mit einem
gurgelnden Aufschrei brach der Getreue Kasimirs zusammen.

Damit stand nur noch ein Wächter auf den Beinen. Und auch seine

Zeit war gezählt. Ganelon sprang zur Seite, um Louis nicht weiter zu
behindern. Und der nutzte seine Bewegungsfreiheit. Der Gräfliche
unternahm den verzweifelten Versuch, noch rechtzeitig nach seiner
Streitaxt zu greifen, aber er schaffte es nicht mehr. Louis' Klinge war
schneller. Roland brauchte nicht mehr einzugreifen.

Befriedigt blickten sich die Kampfgefährten an. Die

Auseinandersetzung mit den Wächtern hatte nur wenige Augenblicke
gedauert, und keiner von ihnen hatte eine Blessur davongetragen.
Nun konnten sie nur noch hoffen, daß niemand im Turm etwas
gehört hatte.

Ganelon machte sich gleich daran, einen der am Boden Liegenden

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abzutasten. Fast auf Anhieb wurde er fündig.

»Wußte ich doch, daß dieser Kerl ihn hatte!« Triumphierend hielt

er einen Schlüssel hoch in die Luft.

Ein paar Herzschläge später hatte er den Schlüssel ins Schloß

gesteckt und herumgedreht. Dann stieß er die schwere Eisentür auf.

Dunkelheit lag vor den vier Männern. Aber dem ließ sich leicht

abhelfen. Roland nahm die an der Außenwand befestigte Fackel aus
ihrer Halterung und ging dann als erster in den Reliquienraum.

Er sah den Schwarzen Stein sofort.
Und war bitter enttäuscht.
Er wußte nicht genau, was er eigentlich erwartet hatte. Dieser

schwärzliche, unregelmäßig geformte Gesteinsbrocken, der da in
einem goldenen Schrein lag, sah so alltäglich, so gewöhnlich aus,
daß er ihm unter normalen Umständen keinen zweiten Blick
geschenkt hätte.

Ganelon hingegen sah das ganz anders. Im Licht der Fackel

erkannte Roland, wie ein Leuchten in seine Augen trat. Geradezu
hastig drängte sich der Provenzale an ihm vorbei und eilte mit
schnellen Schritten auf den Schrein zu. Schon hatte er
hineingegriffen und den Stein in seinen Besitz gebracht. Etwas
überrascht nahm Roland zur Kenntnis, daß er dabei leicht schwankte.
Er schien schwächlicher zu sein, als es bisher geschienen hatte.

Während Louis draußen vor der Tür stehengeblieben war, hatte

auch Pierre den Raum betreten. Blicke, aus denen die pure Neugier
sprach, gingen zu Ganelon hinüber.

»Und?« fragte er gespannt. »Spürt Ihr schon, wie alle Leiden von

Euch abfallen?«

»Nein, mein Freund«, antwortete der Junker. »Ich fürchte, daß

meine Gedanken gegenwärtig nicht von der Milch der frommen
Denkungsart genährt werden. Man muß reinen Herzens sein, um ...«

»Hört auf, mit dem überflüssigen Gerede«, fuhr Roland

dazwischen. »Wir haben jetzt wahrlich Besseres zu tun!«

»Recht habt Ihr«, stimmte ihm Ganelon zu. »Für uns ist jetzt nur

eins wichtig: die Schwarzenburg so schnell wie möglich zu

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verlassen!«

»Dann kommt!«
Wenig später standen die Gefährten wieder am Portal des Donjon.

Noch immer war im Wohnturm alles ruhig. Und auch auf dem
Burghof ließ sich niemand blicken. Alles sprach dafür, daß die
Burgbewohner nach wie vor nicht die geringste Ahnung davon hat-
ten, was in der Zwischenzeit geschehen war.

Angestrengt blickte Roland zur Burgmauer hinüber. Er konnte die

Torwächter nicht sehen, aber er wußte, daß sie da waren. Keine
Frage, das schwerste Stück Arbeit lag noch vor ihnen.

»Wißt Ihr, wo die Stallungen liegen?« fragte er den Provenzalen.

Als er die Burg betreten hatte, war alles so schnell gegangen, daß er
sich gar nicht dafür interessiert hatte.

»Ja. Sie sind in dem flachen Anbau neben dem dritten Turm

untergebracht.«

»Gibt es Wächter?«
»Ich weiß nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, daß es einen oder

auch mehrere Stallknechte gibt.«

»Mit denen sollten wir ohne viel Federlesens fertig werden.«

Roland wandte sich an seine Knappen. »Louis, Pierre, schleicht euch
zum Stall hinüber und besorgt fünf Pferde. Und wenn ihr seht, daß
die Zugbrücke heruntergelassen ist, dann kommt damit zum Tor.«

»Ja, Ritter Roland.«
Louis und Pierre wollten schon in der Dunkelheit verschwinden, da

hielt Roland sie noch einmal zurück.

»Nehmt den Schwarzen Stein mit«, sagte er. »Junker Ganelon

braucht seine Hände für die Torwächter.«

Der Provenzale preßte die Reliquie an sich wie eine treue sorgende

Mutter ihren Säugling.

»Nein!«
Roland zog die Augenbrauen hoch. »Wie meint Ihr?«
»Um nichts in der Welt trenne ich mich von dem Stein! Euer

Knappe Louis soll mit Euch zur Brücke gehen. Er versteht sich drauf,
mit dem Schwert zu kämpfen. Ich und Pierre holen die Pferde!«

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»Gut, wenn Ihr meint...« Roland fand es müßig, jetzt einen Streit

vom Zaume zu brechen. Außerdem war ihm Louis als Kampfgenosse
im Grund genommen auch lieber als der Junker.

Pierre und Ganelon huschten, eng an die Turmwand gedrückt, mit

dem Stein davon.

Einen hätte Roland beinahe vergessen: den Ritter Richard, der vor

dem Verliesturm die Rolle eines gräflichen Wächters übernommen
hatte. Diese Rolle konnte er jetzt ablegen, denn er wurde an der
Brücke nötiger gebraucht.

Er ließ den Klageruf des Käuzchens erschallen.

*

Roland, Louis und Richard standen geduckt am Fuß der schiefen
Ebene, die zu dem erhöht liegenden Burgtor hinaufführte. Den Hof
unbemerkt zu überqueren, war ihnen gelungen. Aber ob ihnen das
Glück auch weiterhin treu bleiben würde, mußte sich noch
herausstellen. Die Wächter saßen irgendwo auf der Mauer, die links
und rechts vom Tor in die Höhe wuchs. Und wenn sie ihre
Aufmerksamkeit nicht nur der Nacht jenseits des Grabens
widmeten...

Aber es half nichts. Nur der Weg über die Rampe führte letzten

Endes in die Freiheit.

»Wohlan denn!«
Immer noch in geduckter Haltung betraten die drei Männer die

Rampe und hasteten nach oben.

Und da geschah es schon ...
»Halt!« kam eine scharfe Stimme von oben.
Unwillkürlich verhielten Roland und seine beiden Gefährten den

Schritt. Sie konnten den Anrufer nicht sehen, weil er durch die
Mauerbrüstung verdeckt wurde. Aber sie waren sich ziemlich sicher,
daß er rechts vom Tor steckte.

»Was wollt Ihr? Und wer ... «
»Der Ritter Roland!« ertönte eine zweite Stimme.

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Damit waren die Würfel gefallen. Jetzt halfen keine

Spiegelfechtereien mehr, keine Vorwände. Jetzt half nur noch die Tat
an sich.

»Weiter!« zischte Roland und begann wieder zu laufen.
Mit langen Schritten hetzte er die schiefe Ebene empor, stand ein

paar Augenblicke später vor dem Tor, das durch die hochgezogene
Zugbrücke versperrt wurde. Aber er hatte keine Ahnung, wo sich die
Winde befand, mit der die Brücke heruntergelassen werden konnte.
Wahrscheinlich oben auf der Mauer.

Was kommen mußte, trat ein. Die Wächter erhoben ein lautes

Geschrei. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ganze Burg aus
dem Schlaf erwacht war.

Wild blickte sich Roland um. Ein paar Schritte weiter rechts nahm

er die schattenhaften Umrisse einer schmalen Steintreppe wahr, die
zur Mauerkrone hochführten. Das war der Weg, den er nehmen
mußte. Schon stürmte er weiter, die steinernen Stufen hinauf.

Eine dunkle Gestalt tauchte am oberen Ende der Treppe auf. Ein

surrendes Geräusch wurde hörbar.

Aus dem Lauf heraus ließ sich der Ritter mit dem Löwenherzen

nach vorne fallen, machte dabei unliebsame Bekanntschaft mit dem
kantigen, harten Stein. Aber dies war gewiß nur das kleinere Übel.
Der Pfeil, den der Torwächter auf ihn abgeschossen hatte, pfiff so
dicht über seinen Haarschopf hinweg, daß er den Luftzug spürte.

Bevor der Gräfliche einen zweiten Pfeil auf die Sehne legen

konnte, stand Roland schon wieder auf den Füßen und hetzte weiter
nach oben. Er hatte keine Zeit, sich nach Louis und Richard
umzusehen. Aber er hörte an den Fußtritten der beiden, daß sie dicht
hinter ihm waren.

Zwei weitere Burgwächter erschienen jetzt neben dem

Bogenschützen. Matt glänzten die Klingen ihrer Schwerter im
schwachen Mondlicht.

Roland ließ sich dadurch nicht beirren. Er hielt sein eigenes

Schwert längst in der Hand und war zum Kampfe bereit. Noch drei,
vier Stufen ...

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Gleichzeitig hieben die beiden Gräflichen mit dem Schwert auf ihn

ein. Damit hatte Roland jedoch gerechnet.

Er riß seine Klinge rechtzeitig hoch und parierte die

Doppelattacke. Aber die Wucht der Schläge brachte ihn dennoch in
Verlegenheit. Auf der schmalen Treppe mußte man sorgsam darauf
achten, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und das war jetzt bei
Roland gestört. Beinahe wäre er nach rechts getorkelt, was seinen
Absturz bedeutet hätte, weil es kein Geländer gab. Mit Mühe und
Not schaffte er es, sein Körpergewicht auf den anderen Fuß zu
verlagern und dadurch den Fall zu vermeiden.

Erneut zuckten die Schwerter der Torwächter auf ihn zu. Diesmal

hielt der Ritter mit dem Löwenherzen nicht mit der Waffe dagegen,
sondern duckte die Schläge ab, indem er blitzschnell in die Knie
ging. Dann sprang er, aus der Hocke wieder hockommend, nach
vorne. Mit Kopf und Schultern prallte er gegen die Beine der
Gräflichen.

Auf diese Aktion waren die beiden Schwertschwinger nicht gefaßt.

Jetzt hatten sie Schwierigkeiten, sich auf den Füßen zu halten. Aber
da war auch noch der Mann mit dem Bogen. Er hatte seine Waffe
inzwischen wieder gespannt, legte auf Roland an.

Rolands Schwert zuckte von unten nach oben und traf den Bogen.

Der Pfeil löste sich von der Sehne, stieg aber harmlos zum dunklen
Nachthimmel empor.

Im nächsten Augenblick hatten auch Richard und Louis die Treppe

bewältigt. Sofort warfen sie sich den beiden anderen Wächtern
entgegen. Ihre Schwerter fuhren durch die Luft wie die Schwingen
eines Beute schlagenden Raubvogels.

Roland konnte seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit jetzt dem

Bogenschützen widmen. Und der war kein Gegner für ihn. Der Mann
hatte seinen nutzlosen Bogen weggeworfen und griff nun nach
seinem Schwert. Roland streckte ihn nieder, bevor er es auch nur
halb aus dem Gehenk gezogen hatte.

Schnell blickte sich der Ritter mit dem Löwenherzen nach allen

Seiten um. Drüben im Hauptturm flackerte an verschiedenen Stellen

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Lichtschein auf. Laute Stimmen drangen herüber. Die Alarmrufe der
Torwächter hatten ihren Zweck erfüllt. Die Schwarzenburg
erwachte...

Gehetzt hielt Roland Ausschau nach der Brückenwinde. Irgendwo

hier oben mußte die Vorrichtung angebracht sein.

Und dann sah er sie - unterhalb der Mauerbrüstung, nur wenige

Schritte von der Treppe entfernt.

Richard und Louis kämpften unterdessen wie die Löwen, kämpften

mit dem Mut der Verzweiflung. Und dieser Kampfeswille trug seine
Früchte. Sie gewannen die Oberhand. Louis hatte seinen Gegner an
den Treppendurchgang gedrängt. Eine Finte, auf die der Gräfliche
hineinfiel, dann der Stoß. Mit einem gellenden Schrei stürzte der
Burgwächter rücklings die Stufen hinunter. Auch Richard wurde
seines Widersachers Herr. Der Gräfliche blutete aus einer
Handwunde, konnte sein Schwert kaum noch halten. Es konnte nur
noch wenige Augenblicke dauern, bis er den Attacken des jungen
Ritters endgültig erlag.

Der unmittelbaren Sorge um seine Kampfgenossen ledig,

kümmerte sich Roland um die Brückenwinde. Bei den herrschenden
Lichtverhältnissen war es schwierig, sich auf Anhieb mit dem
Mechanismus vertraut zu machen. Es gab mehrere Möglichkeiten,
eine Zugbrücke zu bedienen. Welche hier zum Tragen kam, mußte er
erst noch herausfinden.

»Vorsicht, Ritter Roland!« riß ihn Louis' Alarmschrei aus seinen

Überlegungen.

Roland dachte nicht lange über Sinn und Zweck des Rufes nach.

Sicherheitshalber ließ er sich, wo er gerade stand, zu Boden fallen.

Das war sein Glück ... und Richards Unglück.
Wieder kam ein Pfeil herangeflogen, der ganz dicht über Roland

hinwegsurrte. Richard hingegen konnte nicht mehr ausweichen. Das
gefiederte Geschoß traf ihn in den Rücken, gerade als er seinem
gräflichen Gegner den letzten Streich verabreichen wollte.

Roland fuhr wieder hoch und erkannte, daß der Pfeil auf der Mauer

abgeschossen war. Drüben auf der anderen Seite, durch die

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hochgezogene Brücke von ihnen getrennt, sah er die dunkle Gestalt
des Schützen, der sich gerade anschickte, nach einem zweiten Pfeil
zu greifen. Die Entfernung betrug nur wenige Klafter, war gering
genug, einen gut gezielten Schuß anzubringen.

Aber dazu wollte es der Ritter mit dem Löwenherzen nicht

kommen lassen. Der Gräfliche fühlte sich sicher, weil er wußte, daß
Roland und seine Gefährten über keine Bogen verfügten. Zu sicher
fühlte er sich, so daß er gar nicht daran dachte, sich um Deckung zu
bemühen. Das wurde ihm zum Verhängnis. Roland packte sein
Schwert wie eine Lanze. Und dann schleuderte er die Waffe mit aller
Kraft zur anderen Seite der Burgmauer hinüber. Mit einem erstickten
Aufschrei verschwand der Getreue des Grafen aus seinem Blickfeld.

Louis hatte unterdessen den Mann, mit dem Richard im Kampf

gewesen war, übernommen. Schnell war er auf der Siegerstraße,
denn der am Arm Verletzte hatte dem wütenden Ungestüm des
Knappen nicht mehr viel entgegenzusetzen.

»Ro ... land!«
Richards Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Der junge Ritter

lag seitlich auf dem Boden, den Kopf weit im Nacken, die Arme
kraftlos neben sich. Roland beugte sich über ihn.

»Richard! Wie steht es um Euch?«
»Es ... ist aus mit mir.«
Roland wußte, daß es unsinnig gewesen wäre, jetzt begütigende

Worte von sich zu geben. Er hatte einen Sterbenden vor sich, das war
ganz offensichtlich. Und auch Richard selbst gab sich keinen
trügerischen Hoffnungen hin.

»Hört... zu, Roland«, preßte er hervor. »Ich ... ich muß Euch noch

etwas ... sagen.«

»Sprecht, Richard.« Roland war sich im klaren darüber, daß ihm

die Zeit davonrannte. Und wenn er auch mit dem jungen Ritter nicht
auf bestem Fuß gestanden hatte, so war er es ihm doch schuldig, ihn
in seinen letzten Augenblicken nicht im Stich zu lassen.

»Ich ... ich habe an der Wallfahrt nicht teilgenommen, weil ich ein

todkranker Mann war. Der Grund war vielmehr der, daß ... daß ich

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Euch töten wollte.«

Roland glaubte nicht recht zu hören. »Ihr wolltet mich

umbringen?«

»Ja.«
»Aber warum, um des Himmels willen?«
»Man hat mich dazu ... gezwungen. Ihr habt einen Feind, Roland.

Einen unversöhnlichen ...« Die Stimme des Sterbenden war so leise
geworden, daß Roland kaum noch ein Wort verstehen konnte. Er
beugte sich noch tiefer zu Richard hinunter.

»Wer ist dieser Feind, Richard? Sagt es mir!«
»Es ist ...«
Richard konnte nichts mehr sagen. Seine gebrochenen Augen

starrten zum Nachthimmel empor.

Zwei, drei Sekunden blieb Roland unbeweglich neben ihm hocken.

Er mußte die letzten Worte des jungen Ritters erst einmal richtig
verdauen. Aber dazu blieb ihm jetzt keine Zeit. Es war laut geworden
in der Schwarzenburg. Unten auf dem Burghof schwirrten Stimmen
hin und her. Hastende Schrittgeräusche drangen zur Mauer empor.
Fackelschein geisterte durch die Nacht.

»Ritter Roland!«
Louis drängende Stimme ließ Roland hochfahren. Der Knappe

hatte seinen Gegner inzwischen niedergestreckt und war an die
Winde herangetreten. Roland trat an seine Seite, nicht ohne vorher
Richards Schwert an sich zu nehmen.

»Eine Wippbaumvorrichtung«, stellte Louis sachverständig fest.

»Wenn wir die Kette abrollen lassen ...«

»Dazu fehlt uns die Zeit«, erwiderte der Ritter mit dem

Löwenherzen. »Tritt zur Seite!«

Der Knappe tat wie geheißen. Roland hob sein Schwert und ließ es

mit aller Macht auf das obere Ende der Kette krachen. Es war nicht
seine Absicht, die Glieder zu durchtrennen, was ihm auch kaum
gelungen wäre. Vielmehr wollte er die Kette aus ihrer Verankerung
lösen, wodurch derselbe Effekt eintreten würde. Wieder und wieder
schlug er zu. Die Funken stoben, als Metall auf Metall traf, und

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Roland fürchtete schon, daß das Schwert jeden Augenblick durch-
brach. Aber die Klinge hielt, und ein knirschendes Geräusch verriet
ihm, daß sich die Kette langsam löste. Noch zwei weitere wuchtige
Schläge, und dann ...

Die Winde drehte sich mit wahnsinniger Geschwindigkeit, als das

ganze Gewicht der Zugbrücke an der gelösten Kette riß. Im nächsten
Augenblick war es so, als würde sich ein ganzes Gewitter in einem
einzigen gewaltigen Donnerschlag entladen. Die Brücke krachte
nach unten. »Komm, Louis!«

Roland hastete zu der schmalen Treppe, die zum nun geöffneten

Tor führte. Er flog die Stufen förmlich hinunter, und sein Knappe tat
es ihm gleich. Ein paar Herzschläge später lag die Freiheit lockend
vor den beiden Männern. Aber noch konnten sie den Weg über den
Burggraben nicht beschreiten.

»Wo, beim Beelzebub, bleiben Pierre und dieser Ganelon?« stieß

Louis hervor.

Nichts war zu sehen von den beiden Kampfgenossen. Aber es

kamen andere. Das Herunterkrachen der Zugbrücke hätte auch dem
einfältigsten Toren klargemacht, was gespielt wurde. Und die
Getreuen Graf Kasimirs waren keine Toren. Schon stürmten die
ersten von ihnen die schiefe Ebene hoch.

Roland und Louis stellten sich in Positur. Nur zu gut wußten sie,

daß sie der Übermacht der Gräflichen nicht lange standhalten
konnten. Eine Flucht über die Brücke jedoch wäre ihnen wie ein
schnöder Verrat an Pierre und Ganelon vorgekommen.

Nur noch wenige Klafter, dann würden die Getreuen Kasimirs

heran sein. Sechs, sieben Männer waren es. Und jeder einzelne von
ihnen trug eine Waffe in der Hand.

Dann jedoch wandelte sich das Bild ...
Hufschläge wurden laut, jagende Hufschläge. Und schon preschten

sie heran, zwei Reiter und fünf Pferde. Sie erreichten die Rampe,
galoppierten sie hinauf.

Die Gräflichen blieben stehen, fuhren herum. Aber sie konnten die

wilde Jagd nicht aufhalten. Ganelon und Pierre hetzten die Pferde

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geradewegs auf sie los. Zwei, drei konnten im letzten Augenblick zur
Seite springen, die anderen waren nicht in der Lage, dem Verhängnis
zu entgehen. Sie wurden regelrecht über den Haufen geritten, bevor
sie ihre Waffen heben konnten.

Vor der Brücke ließen es Ganelon und Pierre langsamer angehen,

um den beiden wartenden Männern Gelegenheit zu geben,
aufzuspringen. Dann donnerten die Hufe der Pferde über die Brücke.

Das Wutgeheul der Getreuen Kasimirs begleitete die Flüchtenden

in die lang ersehnte Freiheit.

*

Eine ganze Zeit lang ließen Roland und seine Gefährten die Pferde
galoppieren. Erst als sie sich ganz sicher waren, daß sie nicht verfolgt
wurden, gingen sie zum Schrittempo über. Schließlich wollten sie
ihre Reittiere nicht überfordern. Der Weg zum Kloster war noch
weit.

Die Dunkelheit lag wie ein schwarzer Mantel über der nächtlichen

Landschaft. Es war weitgehend hügeliges Gelände, das die Männer
durchzogen. Baumgruppen und zusammenhängende kleinere
Waldstücke säumten den Weg, der auch bei den herrschenden
Lichtverhältnissen recht gut begehbar war. Roland, der zum ersten
Mal in dieser Gegend war, hätte sich das Riesengebirge wilder und
unzugänglicher vorgestellt.

»Reiten wir die ganze Nacht hindurch, Ritter Roland?« erkundigte

sich Pierre.

»Ja. Wir müssen davon ausgehen, daß Graf Kasimir sich spätestens

bei Anbruch der Morgendämmerung an die Hufe unserer Pferde
heften wird. Bis dahin sollten wir zusehen, daß wir das Kloster
erreicht haben.«

»Ihr glaubt, Kasimir kommt ebenfalls zum Kloster?«
»Gewiß. Er wird sich leicht ausrechnen können, daß wir den

Schwarzen Stein nur im Auftrag der Mönche zurückgeholt haben.«

»Aber dann ist der Stein im Kloster doch nicht sicher!«

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»Du hast recht, Pierre. Abt Albian und seine Klosterbrüder werden

sich etwas einfallen lassen müssen, um ihr Heiligtum dauerhaft zu
schützen. Was meint Ihr, Ganelon?« Roland wandte sich im Sattel
um, aber er sah den Provenzalen nicht. »Ganelon?«

Es kam keine Antwort.
Roland runzelte die Stirn und zügelte seinen Samum. »Wo, bei

allen Heiligen, ist er geblieben? Er war doch soeben noch dicht
hinter uns!«

Auch Pierre und Louis hielten an. Letzterer legte den Kopf schief

und lauschte angestrengt.

»Ich höre seinen Hufschlag«, sagte er. »Aber er kommt nicht

näher, sondern ... entfernt sich von uns!«

Auch Roland hörte den fernen Hufschlag, wenn auch sicher nicht

so deutlich wie sein Knappe. Louis hatte die Ohren eines Luchses.
Scherzhaft hatte er schon mal gesagt, daß er in der Lage sei, selbst
das Gras wachsen zu hören.

»Bist du ganz sicher, daß sich Ganelon von uns entfernt, Louis?«
»Ganz sicher«, bestätigte der Knappe. »Er ist... dort!« Mit

ausgestreckter Hand deutete er nach Nordosten, während die
Gefährten genau aus östlicher Richtung gekommen waren.

»Warum tut er es?« sinnierte Pierre. »Ob er vielleicht vom Weg

abgekommen ist?«

»Das kann ich mir kaum vorstellen«, erwiderte Roland. »Er war

unmittelbar hinter uns, konnte sich also gar nicht verirren. Aber wir
werden es bald genau wissen. Wartet hier auf mich!«

Er wendete seinen Hengst auf der Hinterhand und sprengte den

Weg zurück, den er gekommen war. Zunächst war ihm das Abbiegen
nach Nordosten nicht möglich, weil eine mit Fichten bewachsene
Felswand als Hindernis im Wege stand. Am Ende der Felsen jedoch
konnte er sich nach links orientieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach
hatte sich auch Ganelon an dieser Stelle abgesondert.

Das Gelände, über das er jetzt ritt, war uneben und mit Geröll

übersät. Dennoch hatte Samum kaum Schwierigkeiten. Leichtfüßig
huschten die Hufe des edlen Tieres über den Untergrund hinweg.

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Viel leichtfüßiger als das Pferd des provenzalischen Junkers, dessen
Hufschlag Roland jetzt schon recht deutlich hörte.

»Ganelon, wartet doch!«
Entweder hatte der Junker seinen Ruf nicht gehört, oder er wollte

ihn nicht hören. Er gab jedenfalls keine Antwort, ritt ungerührt
weiter. Allzu weit konnte er jedoch nicht mehr entfernt sein, auch
wenn er mit den Augen noch nicht auszumachen war.

Roland schnalzte mit der Zunge. Samum verstand sofort, ließ seine

kräftigen Beine noch weiter ausgreifen. Fraglos konnte es nicht mehr
lange dauern, bis Ganelon in Sichtweite kommen mußte.

Dann allerdings verklangen die Hufschläge vor Roland plötzlich.

War der Junker doch stehengeblieben?

»Ganelon?«
Wieder kam keine Antwort. Achselzuckend setzte der Ritter mit

dem Löwenherzen seinen Ritt fort.

Wenig später wußte er, warum er Ganelon nicht mehr hören

konnte. Der steinige Untergrund hörte auf, wich weichem Boden, der
mit Fichtennadeln übersät war, so daß er einem Teppich ähnelte.
Trotzdem lief Roland kaum Gefahr, den Anschluß zu verlieren. Es
war eine Art Hohlweg, durch den er jetzt ritt. Die Felsen links und
rechts erschienen ihm nicht passierbar.

Der neue Boden behagte Samum sehr. Wie ein Pfeil flog der

Hengst jetzt dahin.

Und dann sah Roland vor sich schattenhafte Bewegung. Ein

Kiefernast, der vom Nachtwind geschüttelt wurde? Nein, es handelte
sich unzweifelhaft um ein Pferd mit Reiter.

»Ganelon!«
Obwohl ihn der Junker diesmal unbedingt gehört haben mußte,

setzte er seinen Ritt auch jetzt noch fort.

»Warte, Bube«, sagte Roland zu sich selbst. Abermals schnalzte er

mit der Zunge, und sein Hengst wurde noch schneller. Länge um
Länge holte er auf. Sehr bald schon war er so nahe heran, daß er
Ganelon eindeutig erkennen konnte.

Er ersparte es sich, den Provenzalen nochmals anzurufen. Statt

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dessen beugte er sich ganz dicht über den Hals seines Reittiers und
feuerte es mit weiteren Schnalzlauten an.

Augenblicke später war Ganelon zum Greifen nahe. Noch ein

paarmal griff Samum kräftig aus, dann waren die beiden Reiter auf
einer Höhe.

»Ganelon, seid Ihr ...«
Weiter kam Roland nicht. Der Provenzale machte unvermutet eine

ruckartige Bewegung im Sattel und riß den rechten Arm hoch. Eine
Schwertklinge blinkte. Und schon schnitt die Waffe durch die Luft.

Im letzten Augenblick sah Roland sie kommen. Blitzschnell warf

er seinen Körper nach links. Ganelons Klinge pfiff so dicht über
seinen Kopf, daß einige Haarspitzen glatt abgetrennt wurden.

Sein Ausweichmanöver war äußerst heftig gewesen. Beinahe wäre

er aus dem Sattel gestürzt. Mit Mühe und Not gelang es ihm, sich am
Zaumzeug festzuklammern und sich auf dem Rücken Samums zu
halten.

Im Handumdrehen hatte Ganelon wieder einen Vorsprung von

mehreren Pferdelängen.

Aber das half ihm nicht viel. Roland richtete sich wieder im Sattel

auf.

»Heimtückischer Schurke!« rief er wütend. »Aber das büßt Ihr

mir!«

Mit grimmigem Gesichtsausdruck zog er sein eigenes Schwert aus

dem Gehenk. Dann setzte er dem Provenzalen nach.

Schnell hatte er den Abstand wieder verkürzt. Noch zwei Längen,

eine Länge ... Er hob das Schwert.

Da tat Ganelon etwas Überraschendes. Er riß vehement an den

Zügeln, so daß sein Pferd aus dem Galopp beinahe zum Stillstand
kam. Auf dieses Manöver war Roland nicht vorbereitet, er jagte an
seinem Widersacher vorbei.

Und wandte ihm für einen Augenblick den Rücken zu.
Diesen Augenblick nutzte Ganelon. Sein Schwertarm fuhr heraus,

und die mörderische Klinge zuckte auf Roland hernieder.

Es war sein Pferd, das ihn rettete. Als ob das brave Tier geahnt

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hätte, daß sein Herr in tödlicher Gefahr war, bockte es plötzlich.
Dadurch wurde Rolands Körper in die Höhe gerissen. Ganelons
tückischer Schlag ging fehl.

Höllischer Zorn durchfuhr den Ritter mit dem Löwenherzen.

Zweimal hatte ihn der Provenzale mit hinterlistigen Attacken
überrascht. Ein drittes Mal würde es nicht geben.

Er riß Samum herum, so daß sich die beiden Pferde

gegenüberstanden. Ein Schenkeldruck und sein Hengst jagte auf
Ganelon zu. Oft schon hatte Roland so im Turnierring gekämpft.
Jetzt jedoch ging es nicht um den Sieg im ritterlichen Wettstreit, jetzt
ging es um Leben und Tod. Auch Ganelon wußte das. Aufgerichtet
saß er im Sattel, das Schwert zum Kampf bereit.

Roland war heran. Sein Schwert wirbelte durch die Luft und

krachte dann auf den Provenzalen herunter. Ganelon schaffte es, den
mächtigen Hieb, der seinen Körper zweifellos in zwei Hälften
gespalten hätte, zu parieren. Aber es saß eine solche Wucht hinter
dem Schlag, daß er aus dem Sattel geschleudert wurde. Er fiel so
unglücklich auf sein Schwert, daß er sich selbst die Kehle
durchschnitt. Als sich Roland über ihn beugte, war er bereits tot.

*

Im Kloster zum Schwarzen Stein wurden Roland und seine beiden
Knappen wie Helden empfangen. Der Abt Albian und seine Brüder
waren außer sich vor Freude, daß sie ihr Heiligtum wieder Innerhalb
ihrer Klostermauern wußten. Und Graf Eduard, der dicke Kaufmann
Mehlsack und Bruder Gotthilf waren nicht weniger froh. Mit Macht
drängte es sie danach, die wundertätigen Kräfte des Schwarzen
Steins unverzüglich in Anspruch zu nehmen.

Überall herrschte eitel Freude und Sonnenschein. Nur in ein Herz,

das fürchtete Roland, würde die Trauer einziehen - in das Herz der
schönen Eloise.

Er fand das Mädchen in der kleinen Mönchszelle, die ihr während

des Aufenthalts im Kloster als Wohnstatt diente. Sie saß auf der

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schmalen Pritsche und blickte ihm mit einem nur schwer deutbaren
Gesichtsausdruck entgegen. Nie war sie dem Ritter mit dem
Löwenherzen schöner erschienen als jetzt.

»Ich wußte, daß Ihr zu mir kommen würdet, Roland«, sagte sie.

»Deshalb habe ich mich auch nicht an der allgemeinen Begrüßung
draußen auf dem Hof beteiligt.«

Roland trat näher und blieb etwas unschlüssig vor der Pritsche

stehen. Er wußte nicht so recht, wie er mit dem, was er sagen mußte,
beginnen sollte. »Setzt Euch doch, Roland.« Roland nahm neben ihr
auf der Pritsche Platz. Ihre Nähe erregte ihn, obwohl er sehr wohl
wußte, daß dies wahrlich nicht der rechte Augenblick war, um
Gedanken der Sinneslust zu hegen.

»Ich ... muß Euch etwas mitteilen, Jungfer Eloise«, sagte er

schleppend. »Über Euren ... Bräutigam...«

»Ich habe keinen Bräutigam«, antwortete Eloise zu seiner nicht

gelinden Überraschung.

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ganelon ...«
»... war mein Bräutigam«, fuhr das Mädchen fort. »Ich liebte ihn

von ganzem Herzen und wäre mit Freuden für ihn gestorben - bis ich
mir bewußt wurde, daß er meine Liebe nicht verdiente. Bis ich
merkte, daß er nur an sich selbst dachte und ein Herz aus Stein hat.
Bis ich hörte, daß er ein Dieb und Mörder ist.«

Bis jetzt war Roland nicht bekannt gewesen, daß Ganelon die

Klosterkapelle ausgeraubt und dabei einen Mönch so schwer verletzt
hatte, daß er am nächsten Morgen gestorben war.

Und noch etwas erfuhr er jetzt. Eloise stand auf, trat an den kleinen

Wandschrank und holte etwas hervor.

Den Schwarzen Stein!
Aber nein, wurde sich Roland sofort klar. Er hatte die Reliquie in

die Obhut des Abts gegeben. Der Stein, den das Mädchen da jetzt in
den Händen hielt, mußte also eine Nachahmung sein.

Eloise bestätigte seine Vermutung. »Ganelon hatte diesen Stein

hier unter seiner Pritsche versteckt. Es ist ein normaler Felsbrocken,
mit Pech geschwärzt. Ganz offensichtlich war es Ganelons

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betrügerische Absicht gewesen, den falschen gegen den echten Stein
auszutauschen und letzteren in seinen Alleinbesitz zu bringen.
Allerdings war ihm Graf Kasimir zuvorgekommen!«

Das Mädchen legte den Stein wieder in den Schrank und kehrte zur

Pritsche zurück.

»Wie ich schon sagte«, fuhr sie fort. »Ganelon dachte nur an sich.

Er wollte das Heiligtum mit niemandem teilen, wollte ihn für sich
ganz allein haben.«

Roland nickte langsam. »Deshalb hat er auch den Versuch

unternommen, mit dem Stein zu fliehen. Und diese Selbstsucht
wurde ihm dann auch zum Verhängnis.«

Eloise sah ihn an. »Er ist... tot?«
»Ja. Er hat sich sozusagen selbst gerichtet. Seid Ihr nun... traurig,

Jungfer Eloise?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ganelon war bereits für mich

gestorben, als er nach dem Kapellenraub das Kloster verlassen hatte.
Sein tatsächlicher Tod kann also in meinem Innersten nichts mehr
ändern.«

Roland blickte ihr in die Augen, die so tief waren, daß man sich

darin verlieren könne. »Und Euer Gelübde?« fragte er leise.

»Mein Gelübde, daß ich keinem anderen Mann mehr angehören

werde?«

»Das meine ich, ja.«
Eloise lächelte. »Dieses Gelübde ist erloschen, Roland!«
In ihrem Lächeln lag mehr, als Worte auszudrücken vermochten.

Es war ein lockendes Versprechen, drückte geheime Wünsche aus.

Roland wagte es, sanft den Arm um ihre Schultern zu legen. »Wißt

Ihr, daß ich Euch von dem Tag an, an dem ich Euch zum ersten Mal
sah, von ganzem Herzen begehre, Eloise?« fragte er leise.

Das Mädchen wich seinem Arm nicht aus. »So, tut Ihr dies?«

hauchte sie, während ein leichter Schauder durch ihren Körper lief,
bei dem es sich ganz gewiß nicht um einen Schauder des Entsetzens
handelte.

Roland zog sie näher an sich, was sie sich anschmiegsam gefallen

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ließ. Er streichelte ihren Arm, wurde dann mutiger und ließ seine
Hand zu ihrem Busen hinüberwandern, dessen köstliche Rundungen
sein Blut heiß werden ließen.

Und noch immer leistete Eloise keinen Widerstand. Das Gegenteil

war der Fall. Auch ihre Hand löste sich aus dem Schoß, streckte sich
nach ihm aus. Sie fuhr über seine schwellenden Armmuskeln, seine
breite, starke Männerbrust und glitt tiefer und tiefer.

Wohlig stöhnte Roland auf und gab sich ganz dem kunstvollen

Spiel ihrer weichen Hand hin. Dabei geriet sein Blut so in Wallung,
daß er glaubte, es kaum noch ertragen zu können.

»Komm«, flüstere er heiser.
Sein Atem ging schneller und schneller, als er ihr Kleid und

Unterkleid öffnete und vom Körper streifte. Was darunter an
prächtiger, nackter Weiblichkeit zum Vorschein kam, überstieg seine
kühnsten Erwartungen.

»Oh, Eloise, endlich«, stieß er schweratmend hervor.
Wenige Augenblicke später hatte auch er sich seiner Kleidung

entledigt. Wie von selbst fanden sich die beiden auf der Pritsche.
Und Roland konnte feststellen, daß es zu schade gewesen wäre,
wenn sich Eloise auch weiterhin an ihr Gelübde gebunden gefühlt
hätte.

*

Das was geschehen mußte, geschah. Graf Kasimir kam ...

Es war eigentlich von vornherein klar gewesen, daß der Raubgraf

den Verlust seines wertvollsten Beuteguts nicht tatenlos hinnehmen
würde. Und wie wertvoll der Schwarze Stein war, hatte er an diesem
Tage bereits bewiesen. Graf Eduard, Mehlsack und Bruder Gotthilf
befanden sich schon auf dem Weg der Besserung. Ihre Aussichten,
bald ganz gesundet zu sein, waren gut. Besonders die Genesung
Eduards erfüllte Roland mit großer Befriedigung. Nun konnte er mit
Fug und Recht sagen, daß er den Auftrag König Artus ausgeführt
hatte. Aber das bedeutete natürlich nicht, daß er jetzt die Hände in

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den Schoß legte. Daß die Reliquie auch in Zukunft ihren Segen
entfalten konnte, war ihm ein echtes Herzensbedürfnis. Deshalb
mußte der Stein vor den gierigen Händen des schurkischen Grafen
geschützt werden.

Vom Wachhäuschen des Klosters aus, in das Roland und der Abt

Albian sofort nach dem Alarmruf des Wachbruders geeilt waren,
konnte man weit in die Ferne blicken. Im Licht der goldenen
Nachmittagssonne waren die nahenden Reiter bereits auszumachen,
als sie noch eine runde Meile zurückzulegen hatten.

»Vielleicht sind es ganz normale Pilger«, sagte der Klosterherr

hoffnungsvoll., Roland schüttelte den Kopf. »Gebt Euch keinen
trügerischen Hoffnungen hin, ehrwürdiger Abt. Es ist Kasimir!«

Näher und näher kam die Reiterschar. Genau war es noch nicht zu

erkennen, aber Roland schätzte, daß es sich um mindestens fünfzig
Männer handelte. Der Graf ging kein Risiko ein. Wenn er wollte,
konnte er das Kloster schleifen und jeden, der sich darin aufhielt,
niedermachen. Selbst der heldenhafteste Kampf Rolands und seiner
Gefährten würden daran nichts ändern können. Aber es war nicht
beabsichtigt, es zu diesem sinnlosen Kampf kommen zu lassen.

»Es wird Zeit«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Kommt,

ehrwürdiger Abt.«

Die beiden Männer verließen das Wachhäuschen und eilten zur

Kapelle hinüber. Unverzüglich begaben sie sich zum Altar, hinter
den Altar, genauer gesagt. Albian öffnete die Geheimtür, die in den
Klosterberg hineinführte.

»Ich wünsche Euch viel Glück, Ritter Roland«, sagte er. »Möge

Gott Euch beschützen. Und wenn Euch etwas zustoßen sollte ... Nie
werden wir vergessen, was Ihr für uns getan habt!«

Darauf gab es nichts mehr zu sagen. Roland bückte sich, nahm den

Schwarzen Stein auf, der dort bereit lag, und tauchte in die
Dunkelheit des Geheimgangs ein.

Trotz der völligen Finsternis fand er sich zurecht, denn er hatte

bereits vor Stunden einen Probegang hinter sich gebracht. Den Stein
gegen die Brust gepreßt, bewegte er sich vorwärts. Und es dauerte

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auch nicht lange, bis er das Ende des unterirdischen Wegs erreicht
hatte. Der versteckte Öffnungsmechanismus war ihm bekannt. Er
hatte keine Schwierigkeiten, ihn zu bedienen. Mit einem
knirschenden Laut öffnete sich die Tür.

Roland schlüpfte nach draußen. Jeden Augenblick mußten Kasimir

und seine Männer jetzt vor der Klosterpforte ankommen. Und da sie
über den Geheimgang im Bilde waren, konnte man mit ziemlicher
Sicherheit davon ausgehen, daß sie sich auch hier blicken lassen
würden.

Und dann kamen sie auch schon. Roland hörte sie, bevor er sie sah.

Es wurde Zeit für ihn, seine Wartestellung aufzugeben.

Er lief los, ohne sich dabei auch nur im geringsten Mühe zu geben,

lautlos zu wirken. Wie ein Bär stampfte er durch das Gesträuch, das
bis zum Fluß hinunterreichte. Äste und Zweige zerbrachen mit
lautem Knacken, Steine rollten polternd den Abhang hinunter. Selbst
einem Tauben wäre seine Gegenwart nicht verborgen geblieben.

Und die Männer Graf Kasimirs waren nicht taub. Sie wurden sofort

auf ihn aufmerksam.

»Da ist einer!« gellte eine Stimme auf.
Roland warf einen schnellen Blick in die Richtung, aus der die

Stimmen gekommen war. Er sah die Gräflichen, ein halbes Dutzend
mindestens, wenn nicht gar mehr.

Er lief, lief weiter zum Flußufer hinunter.
»Packt ihn!« brüllte es hinter ihm. »Laßt ihn nicht entkommen!«
Aber Roland hatte seine Flucht zeitlich gut geplant. Er erreichte

den Uferstreifen mit einem beruhigenden Vorsprung vor den
Getreuen Kasimirs. Ja, fast war sein Vorsprung schon zu groß.

Da war das Boot, vertäut an einem Baumstumpf. Roland löste die

Leine, wobei er es ausgesprochen langsam angehen ließ. Er wollte
die Gräflichen ruhig noch näher herankommen lassen.

Und dann waren sie fast heran. Im Sturmschritt kamen sie den

Uferabhang heruntergestürmt.

»Bleib, wo du bist, Kerl!«
Roland beeilte sich jetzt, schob das Boot ins Wasser - mit einer

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Hand. In der anderen hielt er den Schwarzen Stein, deutlich sichtbar
für die Gräflichen.

Die Männer sahen den Stein. Ihr Geschrei wurde lauter, wurde

hektischer.

»Bleib, Kerl, sonst...«
Roland sprang in das Boot, wandte den Getreuen Kasimirs dabei

sein Gesicht zu.

»Der Ritter Roland ist es!«
Roland lachte laut. »Ihr kommt zu spät, Haderlumpen!«
Dann ließ er den Stein ins Boot fallen, griff nach dem Ruder und

stieß sich vom Ufer ab. Zwei der Gräflichen stürmten noch ins
seichte Wasser hinein, erreichten das Boot jedoch nicht mehr. Von
Rolands kräftigen Ruderschlägen gepeitscht trieb das hölzerne
Gefährt der Flußmitte entgegen, wo es von der Strömung erfaßt und
flußabwärts gezerrt wurde.

Die Getreuen Kasimirs liefen am Ufer neben dem Boot her,

begleiteten Roland mit Flüchen, wüsten Beschimpfungen und
Drohungen.

»Kommt zurück, Roland, sonst machen wir euch den Garaus!«
Die Drohung war ernst zu nehmen. Zwei der Männer hatten Pfeil

und Bogen bei sich.

Dennoch beherzigte der Ritter mit dem Löwenherzen die Warnung

nicht. Er tauchte das Ruder ins Wasser und tat so, als versuche er,
das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Dabei behielt er die
Gräflichen jedoch scharf im Auge.

Und so sah er, wie die beiden Schützen Pfeile auf ihre Bogensehne

legten und die Geschosse auf ihn richteten.

»Zum letzten Mal, Roland, kommt zurück ...«
»Der Teufel hole euch, Grafenpack!«
Da surrten die Pfeile durch die Luft, jagten wie Todesboten auf

Roland zu.

Der Ritter mit dem Löwenherzen machte eine schnelle

Ausweichbewegung. Eine sehr heftige Bewegung, die ihn das
Gleichgewicht verlieren und ... über Bord stürzen ließ.

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Das Boot kenterte.
Bevor die Wellen über Roland zusammenschlugen, hörte er die

Entsetzensschreie der Gräflichen.

»Der Stein! Der Stein ist ins Wasser gefallen!«
Roland tauchte unter, ließ sich ein paar Körperlängen von der

Strömung mitziehen, tauchte dann wieder auf. Er machte ein
angstverzerrtes Gesicht und ruderte wie wild mit einem Arm in der
Luft herum.

»Hilfe!« brüllte er. »Ich kann nicht schwimmen! Ich ...«
Er ging wieder nach unten, kam noch einmal hoch. »Zu Hilfe!

Hil...«

Und wieder tauchte er. Und diesmal ließ er sich nicht mehr an der

Oberfläche blicken. Statt dessen schwamm er mit kräftigen Stößen
unter Wasser zum anderen Ufer hinüber. Er tauchte erst wieder auf,
als er sich im Uferröhricht vor den Blicken der Getreuen Kasimirs
sicher wußte.

*

Noch vor Anbruch der Dunkelheit zogen Graf Kasimir und seine
Männer wieder ab. Sie gingen davon aus, daß Roland ertrunken und
der Schwarze Stein für immer im Fluß begraben war. Nicht im
mindesten ahnten sie, daß nur der von Ganelon gefälschte Stein auf
dem Grund des Flusses ruhte, der echte Stein jedoch nach wie vor im
Kloster vorhanden war.

Und in diesem Glauben sollten sie auch bleiben ...

ENDE

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Räuberhauptmann Wittich, der Schrecken vom Hotzenwald, will
einen sagenhaften Schatz heben, der auf dem Grunde eines
tiefen Bergsees liegen soll. - Herzog von Eberstein und seine
Mannen hatten den Schatz bei einem Kreuzzug erbeutet. Auf
dem Heimweg kamen sie bei einem Unwetter in den Fluten um,
und durch einen Erdrutsch bildete sich ein See. Um den Schatz zu
bergen, entführt Wittich Männer, die ihm einen Staudamm bauen
müssen. - Der See wird von einem Wasserfall und einem Bach
gespeist, und die Wasserzufuhr soll abgeschnitten werden, damit
der See durch seinen natürlichen Abfluß ausläuft und der Schatz
aus dem Schlamm geborgen werden kann.
Ritter Roland und seine Knappen haben den Auftrag, das
Verschwinden der vielen Menschen und Frachttransporte
aufzuklären. Das wird kein Zuckerschlecken, denn

Wittich - der

Schrecken vom

Hotzenwald

ist ein mit allen Wassern gewaschener Räuber, der seinem
Namen alle Ehre macht.

Liebe Leser, holen Sie sich in 14 Tagen den Ritter-Roland-
Band 21, einen Roman aus einer Zeit, in der Männer
noch Männer waren!
DM 1,60


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