Bauernaufstand
von Günther Herbst
scanned by : horseman
kleser: Larentia
Version 1.0
Mit unfroher Miene blickte Volker vom Hohentwiel zum
Himmel empor. Dunkle Regenwolken waren aufgezogen
und kündigten das Nahen des Abends an. Schon fielen die
ersten Tropfen. Ein scharfer Wind, gegen den die steilen
Felswände des Hohlwegs kaum Schutz boten, ließ Roß
und Reiter frösteln. »Es wird Zeit, daß wir ein Dach über
dem Kopf finden«, sagte der Ritter besorgt.
»In der Tat«, stimmte ihm Roland zu. »Nicht nur die
Unbillen des Wetters lassen eine Nacht im Freien höchst
mißvergnüglich erscheinen. In diesem Land soll es von
Wegelagerern und anderem lichtscheuen Gesindel nur so
wimmeln.« Als seien seine Worte ein Signal gewesen,
tauchte plötzlich am Ende des Hohlwegs eine ganze Reihe
von dunklen Gestalten auf. Ein gutes Dutzend Männer
mochten es sein, wahrscheinlich sogar mehr. Und jeder
einzelne von ihnen war bis an die Zähne bewaffnet...
»Wenn man vom Teufel spricht, streckt er einem schon seinen
Pferdefuß entgegen«, murmelte der Ritter mit dem Löwenherzen.
Der dickliche Knappe Pierre, dessen Hasenfüßigkeit sprichwörtlich
war, stieß einen Laut des Entsetzens hervor.
»Wir sollten umkehren«, sagte er gehetzt. »Wenn wir den Weg,
den wir gekommen sind, zurückreiten ...«
»Nein«, fuhr Roland dazwischen, »wir sind Ritter, keine
Frauenzimmer, die vor Angst davonlaufen, wenn es irgendwo im
Gesträuch raschelt!«
»Außerdem können wir auch gar nicht zurück«, warf der
scharfäugige Knappe Louis ein.
Er deutete mit der rechten Hand zu den Felsen empor, wo sich
links und rechts jetzt ebenfalls einige Männer zeigten. Sie hielten
straff gespannte Bögen in der Hand und zielten mit ihren Pfeilen
unmißverständlich auf die beiden Ritter und ihre Begleiter.
»Sieht so aus, als ob man uns hier eine hübsche, kleine Falle
gestellt hat«, stellte Volker fest. Ein grimmiges Lächeln huschte über
sein olivfarbenes Gesicht. »Wohlan denn, hören wir, was die Kerle
von uns wollen!«
Das Ende des Hohlwegs war jetzt nur noch wenige Pferdelängen
entfernt. Die vier Männer ritten weiter, bis ihnen die lauernde Horde
den Weg versperrte.
»Halt!«
Ein großer, ungemein kräftiger Bursche mit flammendrotem Haar
trat vor. Er trug ein verschlissenes Wams aus Hirschleder und hielt
mit der rechten Faust ein mächtiges Schwert umklammert. Die Art,
wie er die Waffe hielt, verriet auf Anhieb, daß er kein geborener
Ritter war. Er schien es eher gewohnt zu sein, mit Dreschflegel und
Mistgabel umzugehen.
Und was für diesen Mann galt, der ganz offensichtlich der
Anführer der Horde war, das galt auch für die anderen. Kein einziger
von ihnen gehörte dem edlen Stand der Ritter an. Ja, es schien sich
nicht einmal um gewöhnliche Straßenräuber zu handeln. Die
Gesichter der meisten waren nicht so gemein und roh, wie man es
von diesem Abschaum normalerweise erwarten durfte. Roland war
sich ziemlich sicher, daß er eine Horde von Bauernlümmeln vor sich
hatte, die offenbar nicht gut bei Troste waren.
Wenige Ellen vor dem Rothaarigen zügelte er sein Pferd. Auch
Volker und die beiden Knappen machten halt.
»Ihr wagt es, uns aufzuhalten?« fragte der Ritter mit dem
Löwenherzen. »Aus dem Weg!«
Der rothaarige Hüne lachte polternd und hob sein Schwert.
»Ihr spuckt große Töne, Ritter«, sagte er laut. »Aber ich glaube
nicht, daß Ihr damit gut beraten seid. Seht Euch doch mal um. Wenn
meine Freunde und ich wollen, zerreißen wir Euch in der Luft!«
Seine mit Sensen, Messern, Flegeln und auch einigen Schwertern
bewaffneten Kumpane nickten beifällig. Sie sahen zerlumpt und
armselig aus. Jeder einzelne von ihnen wäre für Roland und seine
Freunde kein ernsthafter Gegner gewesen. Aber ihre große Zahl
machte sie doch zu einem Bollwerk, das die beiden Ritter und ihre
Knappen kaum überwinden konnten.
»Runter von den Pferden!« kommandierte der Anführer der Horde.
Roland ließ sich in keiner Weise beeindrucken. Er dachte gar nicht
daran, der barschen Aufforderung nachzukommen.
»Ein Ritter läßt sich von Bauernlümmeln nichts befehlen«, sagte er
unerschrocken.
Böses Gemurmel wurde unter den Wegelagerern laut. Der
Rothaarige verzog wütend das Gesicht. Er trat einen Schritt nach
vorne und fuchtelte mit dem Schwert in der Luft herum.
»Noch eine solche Beleidigung, und Ihr seid des Todes!«
verkündete er drohend.
Die Drohung prallte von Roland ab wie ein Pfeil von der
Brustwehr.
»Wer hier wen beleidigt, steht wohl außer Frage«, antwortete er
ganz ruhig. »Allein euer Anblick ist eine Beleidigung für unsere
Augen!«
Roland wußte, daß es nicht unbedingt klug war, die Wegelagerer
mit solchen starken Worten zu reizen. Aber der Zorn, der jetzt auch
in ihm aufwallte, ließ Überlegungen dieser Art im Augenblick in den
Hintergrund treten.
Volker vom Hohentwiel war aus anderem Holz geschnitzt als sein
Freund. Was Tapferkeit und Mut anging, stand er dem Ritter mit dem
Löwenherzen kaum nach. Aber er war auch ein Mann, der es vorzog,
lieber den Kopf als die Faust sprechen zu lassen, wenn es nur eben
ging.
Er drängte sein Pferd an Rolands Seite und blickte auf den
Rothaarigen hinunter.
»Was wollt ihr von uns?«
Der Anführer der Wegelagerer erwiderte seinen Blick, ohne
Roland dabei ganz aus den Augen zu verlieren.
»Was wir von Euch wollen?« wiederholte er. »Das ist schnell
gesagt. »Gebt uns Eure Pferde, Eure Waffen und Euer Geld!«
»Und dann?«
»Dann könnt Ihr unbehelligt weiterziehen. Es liegt uns nichts
daran, Euer Leben zu nehmen, obwohl Männer Eurer Sorte den Tod
vieltausendfach verdient hätten!«
Roland und Volker tauschten einen schnellen Blick. Ihnen beiden
war nicht entgangen, daß die Stimme des Rothaarigen
unversöhnlichen Haß zum Ausdruck brachte. Sie fragten sich, womit
sie sich diesen Haß zugezogen hatten, fanden darauf aber keine
Antwort, denn sie waren erst an diesem Tage im Land des Grafen
von Trutzen angekommen, hatten also wahrlich keine Gelegenheit
gehabt, dem Mann und seinen Kumpanen irgend etwas Böses
anzutun.
Im Grunde genommen jedoch waren Gedanken in dieser Richtung
ziemlich nebensächlich. Jetzt ging es darum, mit der Situation selbst
fertig zu werden.
Der Knappe Pierre sah nur eine Möglichkeit, aus den
Schwierigkeiten wieder herauszukommen. Seufzend machte er
Anstalten, aus dem Sattel zu klettern.
Das aber war gar nicht im Sinne seines Standesbruders.
»Bleib sitzen«, zischte Louis wütend. »Sonst spalte ich dir den
Schädel!«
Louis war, bevor er in Rolands Dienste trat, selbst einmal ein
Räuber gewesen. Verständlich, daß es ihm furchtbar gegen den
Strich ging, nun seinerseits ein Opfer von Wegelagerern zu werden.
Pierre zog das Bein, das er bereits über den Nacken seines Pferdes
geschwungen hatte, wieder zurück.
Dem Rothaarigen war das nicht entgangen.
»Ihr weigert Euch also, meinem Befehl Folge zu leisten?« fragte er
drohend.
Volker vom Hohentwiel wollte etwas sagen, aber Roland kam ihm
schnell zuvor.
»Aber nein«, sagte er. »Wie könnten wir angesichts eurer
Übermacht daran denken, Widerstand zu leisten?«
Verblüffung spiegelte sich in den Zügen des Anführers wider. Er
hatte wohl nicht damit gerechnet, daß ausgerechnet Roland klein
beigeben würde. Auch Volker und die beiden Knappen bedachten
ihn mit erstaunten Blicken.
»Eure Einsicht lob ich mir«, sagte der Rothaarige. »So steigt vom
Pferd und überreicht mir Euer Schwert, Ritter!«
Langsam und mit dem Gesichtsausdruck eines geschlagenen
Mannes kletterte der Ritter mit dem Löwenherzen aus dem Sattel.
Mit einer müden Handbewegung griff er nach seinem Schwert und
zog es aus der Scheide.
Dann aber wurde er plötzlich ungemein schnell. Er sprang auf den
Rothaarigen zu, das Schwert zum tödlichen Schlag erhoben.
Der Anführer der Wegelagerer war darauf nicht vorbereitet. Aber
er bewies, daß er ein Mann war, der über eine rasche Hand und einen
raschen Fuß verfügte. Er trat zwei Schritte zurück und riß dabei sein
Schwert zur Abwehr hoch.
Rolands Attacke war dennoch von Erfolg gekrönt. Sein
Schwerthieb, der dem Kopf des Gegners zu gelten schien, war nur
eine Finte. Tatsächlich hatte er ein ganz anderes Ziel: Den rechten
Arm des Rothaarigen.
Und er traf sein Ziel - nicht mit der scharfen Klinge, sondern mit
der stumpfen Breitseite des Schwerts.
Ein mörderischer Schmerz durchzuckte den Anführer der
Wegelagerer, als der harte Stahl den Knochen unmittelbar über der
Handwurzel traf. Sein Unterarm war wie gelähmt. Die Hand
gehorchte ihm nicht mehr, und er war nicht mehr in der Lage, sein
Schwert festzuhalten. Die Waffe entglitt seinen kraftlosen Fingern
und polterte auf den felsigen Untergrund.
Seine Kumpane stießen ein einstimmiges Wutgeschrei aus.
Mehrere von ihnen drängten nach vorne, um sich auf Roland zu
stürzen.
Aber dazu ließ es der Ritter mit dem Löwenherzen nicht kommen.
Mit einem Satz war er bei dem Rothaarigen und umklammerte mit
dem linken Arm dessen Hals. Gleichzeitig setzte er dem Mann die
Spitze seines Schwerts an die Kehle.
»Zurück mit euch, räuberisches Gesindel«, herrschte er die
Wegelagerer an. »Noch einen Schritt weiter und ihr könnt euch einen
anderen Anführer suchen!«
Die Männer, die auf ihn eindringen wollten, zögerten, verhielten
ihren Schritt. Sie unternahmen auch nichts, als Volker und Louis
ebenfalls von ihren Pferden sprangen und mit gezückter Waffe hinter
Roland Position bezogen.
Der Anführer war ein ungemein kräftiger, starker Mann. Dennoch
hatte er keine Chance, Rolands Würgegriff zu lockern. Nach ein paar
fruchtlosen Versuchen, den Ritter mit dem Löwenherzen
abzuschütteln, sah er das ein und verhielt sich ganz ruhig. Der blanke
Stahl an seinem Kehlkopf tat ein übriges.
Roland lächelte grimmig. »Sag deinen Halsabschneidern, daß sie
verschwinden sollen, sonst...«
»Sonst?« würgte der Rothaarige hervor.
»Bist du ein toter Mann!«
Der Rothaarige überlegte eine Weile, kam dann zu einem mutigen
Entschluß.
»Nein«, sagte er, »ich werde meinen Freunden nicht befehlen, sich
zurückzuziehen.«
»Dann ist dein Leben keinen Schilling mehr wert!«
»Töte mich nur. Meine Freunde werden grausame Rache an Euch
nehmen!«
Der Rothaarige räusperte sich laut, wandte sich dann an seine
Kumpane. »Nehmt keine Rücksichten auf mich! Greift den Ritter
und seine Freunde an und macht das hochgeborene Volk nieder!«
Er war in der Tat ein mutiger Mann, der sein eigenes Leben nicht
schonte. Zum Glück waren seine Kumpane nicht aus dem gleichen
harten Holz geschnitzt wie er. Die Bedrängnis ihres Anführers
verunsicherte die Wegelagerer. Ganz offensichtlich gebrach es ihnen
an dem Mut, etwas auf eigene Faust zu unternehmen.
Innerlich atmete Roland auf. Seine Rechnung schien aufzugehen.
Der alte Lehrsatz, daß das tapferste Heer von Mutlosigkeit erfüllt
wurde, wenn der Feldherr nicht mehr an der Spitze kämpfte,
bewahrheitete sich auch bei diesem zusammengewürfelten Haufen.
Dennoch war die Situation nach wie vor äußerst gespannt. Die
Wegelagerer machten zwar keine Anstalten, einen Angriff zu wagen.
Aber sie dachten auch nicht daran, sich zurückzuziehen. Mit
wütenden Gesichtern standen sie da, ihre Waffen in den schwieligen
Fäusten. Und die Männer zwischen den Felsen, die die Ritter mit
ihren Pfeilen bedrohten, rührten sich eben ebenfalls nicht vom Fleck.
Dann aber geschah etwas Unerwartetes.
Hufgetrappel wurde in einiger Entfernung laut.
Roland biß sich auf die Lippen. Beim runden Tisch der Tafelrunde,
wenn die Räuber jetzt auch noch Verstärkung bekamen ...
Im nächsten Augenblick jedoch merkte er, daß der Rothaarige und
seine Kumpane dem fernen Hufgetrappel genauso argwöhnisch
lauschten wie er selbst. Anscheinend rechneten sie doch nicht damit,
daß weitere Männer zu ihrer Horde stießen.
Roland kniff die Augen zusammen, um das Dämmerlicht besser
durchdringen zu können.
Und dann sah er die Ankömmlinge in einiger Entfernung
auftauchen. Es mochten etwa zehn, zwölf oder auch fünfzehn Reiter
sein - so genau war das bei den herrschenden Lichtverhältnissen
nicht zu erkennen.
»Ritter des Grafen!« rief einer der Wegelagerer.
Diese Worte schlugen wie Blitze zwischen den Männern ein.
Ausrufe des Erschreckens wurden laut. Hektik machte sich bei jedem
einzelnen bemerkbar. Die Furcht hatte die Kerle angesprungen wie
ein wildes Tier.
»Weg hier!« rief einer. »Nichts wie weg!«
Das war das Kommando. Die Wegelagerer stoben davon, als sei
der Böse hinter ihnen her. Innerhalb weniger Sekunden waren sie
samt und sonders zwischen den Felsen verschwunden. Bald waren
nur noch hastende Schrittgeräusche zu vernehmen, die darauf
hindeuteten, daß sie sich weiter und immer weiter entfernten.
Auch dem Rothaarigen war die Flucht gelungen. Abgelenkt durch
das plötzliche Durcheinander hatte Roland seinen Griff ein bißchen
gelockert. Das war die Chance für den Anführer der Räuber
gewesen. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung hatte er sich
losgerissen und war ebenfalls davongerannt.
Roland dachte nicht daran, den Mann zu verfolgen. Warum sollte
er auch? Ihm und seinen Freunden war nichts geschehen. Mochten
die Wegelagerer also bleiben, wo die Disteln wuchsen.
Wenig später waren die Ritter heran.
*
»Vater, Vater, komm schnell!«
Der kleine Ludger war vor Aufregung ganz rot im Gesicht, als er in
die Wohnstube der Kate gestürzt kam.
Bertram Lamm, der nach eines langen Tages Mühe die Beine vor
dem Kamin ausgestreckt hatte und ein bißchen eingedöst war, fuhr
ruckartig hoch.
»Was ... ist los?«
»Der Zinseintreiber!« stieß der Dreizehnjährige hervor. »Der
Zinseintreiber und drei gräfliche Ritter. Sie kommen zu unserem
Haus herüber.«
Auch Rotraud Lamm und ihre Mutter, die am Spinnrad saßen,
zuckten jetzt zusammen.
Der Zinseintreiber!
Der unbarmherzige Erhardt, wie er genannt wurde, war der
gefürchtetste und am meisten gehaßte Mann in der ganzen
Gemeinde. Wo er erschien, kehrten Heulen und Zähneknirschen in
die Häuser ein. Und wenn er wieder ging, blieben meist nur Tränen
zurück.
Bertram Lamm erhob sich von seinem Stuhl und fuhr mit der Hand
über sein ausgemergeltes Gesicht.
»Was will der Kerl schon wieder von uns?« murmelte er. »War er
nicht erst vor wenigen Wochen hier, um uns alles zu nehmen, was
wir besaßen?«
»Ein Irrtum vielleicht«, sagte Bertha Lamm hoffnungsvoll.
»Vielleicht will er doch nicht zu uns, sondern ...«
Ein lautes Geräusch an der Haustür ließ sie verstummen. Der
unbarmherzige Erhardt und seine Begleiter waren bereits im Haus.
Es verstand sich von selbst, daß sie nicht im Traum daran gedacht
hatten, vorher anzuklopfen. Sie hatten die Haustür aufgestoßen und
standen Augenblicke später bereits in der Wohnstube.
Die Lamms starrten die Eindringlinge an. Keiner von ihnen sagte
ein Wort.
Der Zinseintreiber selbst war es, der das sekundenlange Schweigen
als erster brach.
»Ah«, sagte er mit einem breiten Grinsen, »die Faulpelze geben
sich der Muße hin. Kein Wunder, daß sie nicht imstande sind, ihren
Verpflichtungen nachzukommen!«
Der unbarmherzige Erhardt war kein sonderlich hochgewachsener
Mann. Dennoch wirkte er auf Grund seiner beträchtlichen
Leibesfülle ungemein massig und stark. Man hätte schon unter
seinen weitgeschnittenen Mantel blicken müssen, um zu erkennen,
daß sein Körper vor Fettwülsten nur so strotzte. Sein Gesicht war
breitflächig und meistens mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt.
Unter den dichten, vorgewölbten Brauen lugten zwei Schweinsaugen
hervor, in denen mit großen Buchstaben die Tücke geschrieben
stand.
Bertram Lamm stellte sich so aufrecht hin, wie es ihm mit seinem
von der Feldarbeit gebeugten Rücken möglich war.
»Wir sind unseren Verpflichtungen nachgekommen, Meister
Erhardt«, stellte er fest. »Ihr habt also keinerlei Recht, uns Faulpelze
zu nennen, mit Verlaub gesagt!«
»Ah«, machte der Zinseintreiber wieder, »der Faulpelz wird frech
und aufsässig. Er weiß wohl nicht so recht, mit wem er spricht!«
Er machte zwei, drei Schritte auf Bertram Lamm zu, blieb vor ihm
stehen und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.
»Das soll dich lehren, Bauerntölpel!«
Der Schlag war so kräftig, daß Bertram Lamm zurücktaumelte und
um ein Haar zu Boden gestürzt wäre. Er brauchte mehrere Sekunden,
um seinen festen Stand wiederzugewinnen. Dann sah es einen
Augenblick lang so aus, als ob er sich auf den feisten
Steuereintreiber stürzen wolle.
Aber sofort war einer der Ritter an seiner Seite, die rechte Hand
auf den Knauf seines Schwerts gelegt.
»Wage es, die Hand gegen Meister Erhardt zu heben, und ich
trenne dir den Schädel vom Rumpf!«
Bertha Lamm eilte auf ihren Mann zu und griff nach seinem Arm.
»Beruhige dich, Mann. Mach dich und uns nicht unglücklich!«
»Kluge Frau«, griente der unbarmherzige Erhardt.
Rotraud Lamm zitterte vor Zorn. Sie konnte es kaum mit ansehen,
wie ihre braven Eltern von diesen Schurken geschlagen und verhöhnt
wurden. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte dem fetten
Zinseintreiber die Augen ausgekratzt. Aber sie beherrschte sich. Nur
zu gut wußte sie, daß es sich nicht auszahlte, wenn man sich gegen
die Obrigkeit auflehnte. Das Beispiel ihres Bruders Rudolf stand ihr
allzu deutlich vor Augen. Besser war es da schon, auf die Zähne zu
beißen und sich in das Unvermeidliche zu fügen.
Auch Bertram Lamm war inzwischen zu dieser Erkenntnis
gekommen. Ohne aufzubegehren, ließ er sich von seiner Frau ein
Stück von Meister Erhardt wegziehen.
»Wieso haben wir unsere Verpflichtungen nicht erfüllt, bitte?«
erkundigte er sich mit beherrschter Stimme. »Unsere letzten
Abgaben vor wenigen Wochen ...«
»... waren zu gering«, fuhr der unbarmherzige Erhardt fort. »Eure
Kopfzinszahlung stimmte nicht. Für fünf Personen sind
fünfundzwanzig Schillinge fällig.«
»Fünf Personen?« wiederholte Bertram. »Wir sind nur zu viert!
Meine Frau, meine Tochter Rotraud und mein Sohn Ludger.«
Der Zinseintreiber zeigte ein fettes Grinsen.
»Du hast deinen zweiten Sohn Rudolf vergessen«, sagte er und
verschränkte die Arme vor der Brust.
»Rudolf? Ihr wißt sehr wohl, daß er nicht mehr auf unserem Hofe
arbeitet!«
»So, tut er das nicht?« höhnte der unbarmherzige Erhardt. »Wer
hat ihm denn gestattet, den Hof zu verlassen?«
Bertram Lamm preßte die Lippen zusammen und schwieg. Was
sollte er auch sagen?
»Antworte, Kerl!« donnerte der Zinseintreiber.
»Ich ... ich ...»Mit unglücklichem Gesicht stand Bertram Lamm da
und rang die Hände. Obwohl sie wußte, daß es höchst unklug war,
hielt sich Rotraud Lamm jetzt nicht länger zurück. Sie konnte es jetzt
nicht mehr mit ansehen, wie dieser Fettsack ihren Vater quälte.
»Warum laßt Ihr meinen Vater nicht in Frieden?« fuhr sie den
Zinseintreiber mit funkelnden Augen an. »Jedermann im Lande
weiß, daß mein Bruder flüchten mußte - vor Euch!«
»Weil er ein Verbrecher ist.«
»Mein Bruder ist kein Verbrecher!«
Meister Erhardt und auch die drei gräflichen Ritter machten
finstere Gesichter.
»Dein Bruder, der berüchtigte Lämmerschling, ist der
abgefeimteste und hinterlistigste Schurke, der jemals seinen Fuß auf
Gottes Erdboden setzte! Er ist ein Räuber, ein Mörder, ein
Aufwiegler ...«
»Ihr selbst habt ihn dazu gemacht«, unterbrach Rotraud den
Zinseintreiber.
»Wir?« entrüstete sich der unbarmherzige Erhardt.
»Ja, Ihr! Ein gräflicher Ritter war es, der unseren einzigen Ochsen
schlachtete, nur um sich seinen Bauch zu füllen!«
»Kein Grund für deinen Bruder, mit der Mistgabel auf ihn
loszugehen und ihn umzubringen!«
»Es war Notwehr! Es war ...»»Schluß jetzt mit den
aufwieglerischen Reden«, fuhr einer der Ritter dazwischen. »Mir
scheint, die Schwester ist nicht besser als der Bruder.« Er blickte
Bertram Lamm an. »Schöne Kinder hast du da großgezogen,
Knecht!«
Der Angesprochene blickte vor sich auf die rohen Dielen des
Fußbodens. Die rechte Hand seiner Frau krampfte sich um den
Oberarm ihres Mannes. Beide schwiegen.
Der Ritter wandte sich wieder der Tochter zu. »Du da, steh auf,
wenn ich mit dir rede!«
Bleib sitzen! raunte eine innere Stimme dem Mädchen zu. Aber
Rotraud wagte nicht, auf diese Stimme zu hören. Zögernd erhob sie
sich von ihrem Schemel.
»Ich könnte mir vorstellen, daß Graf Eberhard deine frechen Reden
gerne persönlich hören würde«, sagte der Ritter. »Deshalb werden
wir dich mit zur Trutzenburg nehmen.«
»Nein!« stieß Rotraud entsetzt hervor.
»Doch«, bekräftigte der Ritter. Mit langsamen Schritten kam er auf
das Mädchen zu.
Für einen Augenblick war Rotraud vor Angst wie gelähmt. Die
Trutzenburg war für sie der Inbegriff des Schreckens. Wer sich
einmal innerhalb der Burgmauern befand, konnte mit seinem Leben
abschließen - das wußte jeder.
Schnell aber hatte sie sich wieder gefaßt. Gehetzt blickte sie sich
nach einem Fluchtweg um. Die Tür war ihr versperrt, denn dort
standen die anderen beiden Ritter, massiv und unüberwindlich wie
zwei steinerne Wachtürme. Blieb nur der Weg durch das Fenster der
Wohnstube.
Schon streckte der Gräfliche die Hand nach ihr aus.
Rotraud tauchte unter dem Arm hinweg und sprang zum Fenster.
Die Holzladen wären bereits geschlossen, aber noch nicht verriegelt.
Ohne Mühe konnte Rotraud sie aufstoßen.
Der Ritter, der sie packen wollte, gab eine Verwünschung von sich.
Unverzüglich setzte er dem Mädchen nach.
Aber Rotraud war jung und behende. Im Handumdrehen hatte sie
ihr langes Kleid gerafft und das rechte Bein hochgeschwungen.
Noch einen Schritt war der Gräfliche entfernt.
Rotraud zog das andere Bein nach und ließ sich dann einfach nach
draußen fallen. Erneut ging der zupackende Griff des Ritters ins
Leere. Sein böser Fluch hätte selbst einen Heiden beschämt.
Rotrauds Bemühungen, den Häschern zu entkommen, waren nicht
vom Glück begünstigt. Zwar befanden sich vor dem Fenster keine
Pflastersteine, sondern nur festgetretenes Erdreich. Aber sie schlug
unglücklich mit dem Kopf auf und war für einen Moment
benommen. Noch nicht wieder ganz Herr ihrer Sinne, rappelte sie
sich auf. Die Beine wollten ihr nicht so recht gehorchen.
Da kam auch schon der Ritter durch das Fenster. Rotraud
versuchte, davonzulaufen. Ein paar Schritte schaffte sie auch, dann
aber hatte ihre Flucht ein jähes Ende.
Eine harte Hand krallte sich in ihre Schulter und hielt sie
unerbittlich fest.
So hart und rücksichtslos war der Griff, daß Rotraud wider willen
tief aufstöhnte.
Der Ritter riß sie herum und blickte ihr mit Augen, aus denen der
Zorn sprühte, ins Gesicht.
»Hast gedacht, du könntest es deinem Bruder gleichtun und in die
Wälder flüchten, was?« zischte der Mann. »Aber daraus wird nichts,
mein Täubchen!«
Aus der Wohnstube hörte Rotraud die helle, aufgeregte Stimme
ihres Bruders. Ein häßliches Klatschen ließ sie verstummen. Dann
wurde das Weinen ihrer Mutter laut.
Rotraud ergab sich in ihr Schicksal.
*
»Seid uns gegrüßt, Ritter! Hat Euch das gottverfluchte Gesindel
etwas angetan?«
Der Sprecher der gräflichen Ritter, ein schlanker, großer Mann mit
scharf geschnittenen Gesichtszügen, hatte seinen Rappen vor Roland
und seinen Freunden gezügelt. Sein Blick war durchdringend,
beinahe stechend, aber nicht unfreundlich.
»Wir danken Euch für die wohlmeinende Nachfrage«, erwiderte
Roland. »Es ist alles in bester Ordnung. Euer Erscheinen hat die
Wegelagerer in die Flucht gejagt.«
»Wißt Ihr, wer der Anführer des Gesindels war? Könnt ihr ihn
beschreiben?«
»Das bereitet keine Schwierigkeiten. Der Anführer war ein großer,
kräftiger Bursche mit flammendrotem Haar.«
»Ah«, sagte der gräfliche Ritter, »dann wissen wir, wer der
Hundsfott war. Niemand anders als der Lämmerschling!«
Er drehte sich im Sattel um und wandte sich an seine Männer, die
hinter ihm angehalten hatten.
»Habt ihr es gehört? Der Lämmerschling! Jagt ihn, versucht ihn
einzufangen! Ihr wißt, wie versessen der Graf darauf ist, ihn endlich
aufs Rad flechten zu können!«
Die Ritter kamen der Anordnung unverzüglich nach. Sie gaben
ihren Reittieren die Zügel frei und sprengten davon. Daß sie mit ihrer
Suche nach dem Anführer der Wegelagerer und seinen Leuten
allerdings Erfolg haben würden, wagte Roland stark zu bezweifeln.
In dem felsigen Gelände waren Männer, die sich auf Schusters
Rappen vorwärtsbewegten, eindeutig im Vorteil. Außerdem war es
inzwischen so dunkel geworden, daß die Sichtweite kaum mehr als
hundert Ellen betrug.
Die Person des Rothaarigen interessierte Roland. Das ganze
Auftreten des Mannes, sein Mut und nicht zuletzt auch seine
außerordentliche Kraft hatten ihm gefallen, Räuber hin, Räuber her.
Außerdem war ihm der Rothaarige nicht wie ein gewöhnlicher
Verbrecher vorgekommen.
»Wer ist dieser Lämmerschling, Ritter ...«
»Haldemar«, sagte der Gräfliche. »Und wer seid Ihr?«
Roland stellte sich und seine Leute vor und kam dann auf den
Rothaarigen zurück.
»Ein ganz übler Schurke, dieser Lämmerschling«, gab Haldemar
Auskunft. »Einst arbeitete er als halbfreier Bauer. Aber er war
nachlässig und faul wie die Sünde und warf die Arbeit einfach hin.
Seitdem wiegelt er die braven, pflichtgetreuen Bauern auf und macht
mit seiner wilden Horde von Halsabschneidern das Land unsicher.
Ihr hattet Glück, daß wir zufällig des Weges kamen, Ritter Roland.
Sonst wäre es gewiß um Euch geschehen gewesen.«
Davon war der Ritter mit dem Löwenherzen zwar nicht unbedingt
überzeugt, aber er nickte dennoch zustimmend. Warum sollte er
Haldemar die Genugtuung nehmen, sich als Lebensretter zu fühlen?
»Wohin führt Euch Euer Weg, mit Verlaub gefragt?« erkundigte
sich der gräfliche Ritter.
»Wir sind auf der Durchreise«, antwortete Roland ausweichend.
Er wollte Haldemar nicht auf die Nase binden, daß er von König
Artus den Auftrag erhalten hatte, den in der Grafschaft Trutzen
verschwundenen Minnesänger Jacques d'Artagnac zu suchen.
»Darf ich mir erlauben, Euch auf die Burg des Grafen Eberhard
von Trutzen einzuladen?« sagte Haldemar freundlich. »Ich könnte
mir vorstellen, daß Euch nach diesem niederträchtigen Überfall ein
wenig Erholung guttut.«
Roland brauchte nicht lange zu überlegen. Auf der Burg des
Landesherrn würde er am ehesten etwas über den Verbleib des
verschwundenen Minnesängers erfahren können.
»Mit größtem Vergnügen nehmen wir Eure Einladung an«,
stimmte er deshalb zu. »Nicht wahr, Volker?«
»Es ist mir eine hohe Ehre«, pflichtete ihm Volker vom
Hohentwiel kopfnickend bei.
Am meisten freute sich Pierre über die Entwicklung der Dinge. Der
dickliche Knappe war von seiner Natur her ein gemütlicher Mensch,
dem das süße Nichtstun mehr lag als alles andere. Die Aussicht, Gast
auf einer wohlgeschützten Burg sein zu dürfen, war demnach ganz
nach seinem Geschmack.
Es dauerte noch eine Weile, bis die Männer aufbrechen konnten.
Die gräflichen Ritter, die sich an die Fersen der flüchtenden
Wegelagerer geheftet hatten, kehrten erst nach und nach zurück. Ihre
Erfolge waren recht bescheiden. Es war ihnen lediglich gelungen,
einen einzigen Wegelagerer dingfest zu machen. Und das wohl auch
nur, weil sich der Mann einen Fuß verletzt hatte und nicht schnell
genug davonlaufen konnte.
Diesen Fuß brauchte der gefangengenommene Räuber jetzt
allerdings nicht. Er wurde wie eine Garbe Hafer zusammengeschnürt
und auf dem Rücken eines Pferdes festgebunden. Es verstand sich
dabei von selbst, daß mit derben Puffen nicht gespart wurde.
Dann stand dem Aufbruch zur Burg Graf Eberhards von Trutzen
nichts mehr im Wege.
*
Der Ritter hatte Rotraud Lamm vor sich auf sein Pferd gesetzt. Er ritt
voran, während die beiden anderen Gräflichen und der
unbarmherzige Erhardt folgten.
Die vier Männer scheuten sich nicht, ihre Reittiere mitten durch
das Dorf zu lenken. Sie hatten nichts zu fürchten. Zwar stand eine
ganze Reihe der Dorfbewohner am Rand der staubigen Straße. Aber
kein einziger von ihnen unternahm etwas gegen die Ritter. Nicht
einmal ein Schimpfwort wurde laut. Die Dorfbewohner begnügten
sich damit, die Fäuste zu ballen und die Vorbeireitenden mit
ohnmächtigem Zorn anzustarren.
Bald blieb das Dorf zurück. Die Dunkelheit des offenen Landes
nahm die Gräflichen und das gefangengenommene Mädchen auf.
Rotraud fühlte sich unglücklich, so unglücklich wie noch nie in
ihrem Leben. Aber so ganz hatte sie die Hoffnung, vielleicht doch
noch fliehen zu können, nicht aufgegeben. Der Ritter hatte es
versäumt, ihre Hände zusammenzubinden. Wenn es ihr gelang, vom
Pferd zu springen und in der Nacht unterzutauchen ...
Gegenwärtig jedoch war das nicht möglich. Der Mann hatte einen
Arm um ihre Hüften geschlungen und hielt sie fest.
»Ihr braucht mich nicht zu stützen, Ritter«, sagte sie. »Ich falle
schon nicht vom Pferd.«
Der Gräfliche lachte leise auf. »Meine Berührung ist dir doch
hoffentlich nicht unangenehm?«
Rotraud hätte am liebsten geantwortet, daß der enge körperliche
Kontakt mit ihm Widerwillen, ja Ekel in ihr hervorrief. Aber sie
schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, hinunter. Es lag ihr
wenig daran, den Ritter noch weiter zu erzürnen. Dadurch würde sich
ihre Lage bestimmt nicht verbessern. Deshalb machte sie keine
Anstalten, seinen Arm abzuschütteln, und sagte gar nichts.
Offenbar verstand der Ritter ihr Schweigen falsch.
»Du hast es gerne, wenn dich ein starker Mann in seinen Armen
hält, nicht wahr?« flüsterte er ganz nahe an ihrem Ohr.
Wieder sagte Rotraud nichts.
»Du brauchst dich deiner Empfindungen nicht zu schämen, mein
Kind«, fuhr der Ritter leise fort. »Ein Mädchen wie du, in dessen
Adern das Blut heiß und leidenschaftlich pulst...«
Der Mann lockerte den Griff um ihre Hüften und ließ seine Hand
nach oben wandern. Im nächsten Augenblick spürte Rotraud die
Hand auf ihrer Brust. Sie zuckte zusammen, als der Widerwillen
durch ihren ganzen Körper rieselte.
Und wieder deutete der Gräfliche ihre Regungen anders, als sie
tatsächlich waren.
»Ah«, sagte er, »ich wußte, daß ich recht hatte. Die Erregung hat
dich gepackt und läßt dich vor Wonne erschauern.«
Seine Hand setzte sich wieder in Bewegung, wanderte von einer
Brust zur anderen und streichelte sie. Emsig suchten seine Finger
nach Knöpfen, um das Kleid zu öffnen, fanden sie jedoch nicht, denn
das Kleid wurde auf dem Rücken zugeknöpft. Rotraud war glücklich
darüber. Sie hätte es nicht ertragen können, seine Hand auf ihrer
nackten Haut zu spüren.
Ein Laut leichten Unmuts entrang sich der Kehle des Ritters, als er
erkannte, daß er sein von der Begierde angestrebtes Ziel nicht
erreichen konnte.
Rotraut kam ein Gedanke. Ein Mann, der nach dem Körper einer
Frau gierte, ließ in seiner Wachsamkeit nach, weil er nur noch ein
Sklave seiner Lenden war.
Es fiel ihr nicht leicht, sich zu verstellen und ihre wahren Gefühle
zu unterdrücken, aber es gelang ihr dennoch. Den Kopf leicht
zurückneigend, zwang sie ein schwaches Lächeln auf ihre Züge.
»Glaubt Ihr, daß der Rücken eines Pferdes der rechte Platz ist, um
die Freuden der Minne zu genießen?«
»In der Tat könnte auch ich mir einen passenderen Ort vorstellen«,
erwiderte der Ritter heiser.
»Ein dunkles Verlies in der Trutzenburg vielleicht?«
»Nein, natürlich nicht. Obgleich ...«
»Obgleich?«
»Du hast recht, mein Kind. Auf der Trutzenburg erwartet dich
tatsächlich ein finsteres Verlies!«
Rotraud erschauerte. »Aber warum? Nur weil ich Worte zur
Verteidigung meines Bruders von mir gab?«
Der Ritter grunzte. »Du bist ein schönes Mädchen, Rotraud Lamm.
Aber du bist auch ein dummes Mädchen. Hast du noch immer nicht
gemerkt, daß wir nur nach einem Vorwand suchten, um dich mit uns
nehmen zu können?«
Für ein Augenblick hielt Rotraud die Luft an.
»Es ging Euch also gar nicht um den Kopfzins für Rodulf, sondern
nur um ... mich?« fragte sie dann.
»So ist es, mein Kind!«
»Ich ... verstehe nicht.«
»Wie ich schon sagte - du bist schön, aber etwas einfältig. Strenge
deinen Kopf ein bißchen an. Du bist die Schwester des
Lämmerschlings, hinter dem Graf Eberhard mehr hinter her ist als
hinter der Königskrone!«
»Und?«
»Und?« Der Ritter lachte auf. »Gewiß weiß die Schwester des
Lämmerschlings, wo sich ihr Bruder verborgen hält.«
»Nein«, sagte Rotraud sofort, »ich weiß nichts davon!«
Wieder lachte der Gräfliche. »Verständlich, daß du es ableugnest.
Aber ob du noch immer schweigst, wenn glühende Zangen nach
deinen Brüsten greifen und heißes Pech auf deine Lenden tropft.. .«
Rotraud stöhnte tief auf. »Ihr wollt mich ... foltern?«
»Wenn du das Versteck deines Bruders nicht preisgibst, kannst du
diesem Schicksal nicht entgehen!«
Sekundenlang war Rotraud unfähig, auch nur ein einziges Wort zu
sagen. Dann fand sie die Sprache wieder.
»Rettet mich, Ritter!« flüsterte sie bebend. »Ihr seid stark und
mutig und habt die Macht dazu.«
»Du verlangst, daß ich meinen Herrn hintergehe, nur um dein
Leben zu retten?«
»Ich verlange nichts, ich bitte Euch nur flehentlich darum!«
»Hm«, machte der Ritter, während links und rechts die dunklen
Bilder der Nacht vorbeihuschten.
Trotz der scheinbaren Unschlüssigkeit, die dieser Ausdruck
andeutete, glaubte Rotraud nicht eine Sekunde daran, daß der Mann
wirklich etwas für sie tun würde. Sie kannte die gräflichen Getreuen
und wußte, daß sie ihrem Herrn treu ergeben waren. Aber sie gab
nicht zu erkennen, was sie dachte. Solange der Ritter noch von ihren
weiblichen Reizen angetan war, mußte sie versuchen, ihre Chance zu
nutzen.
Sie ließ ihren Körper ganz weich und nachgiebig werden und
preßte sich ganz eng an ihn. Die Hand, die noch immer ihre Brüste
streichelte, fand süßes Entgegenkommen.
»Ich dachte, ihr mögt mich ein bißchen, Herr Ritter«, hauchte sie
mit kaum hörbarer Stimme.
Der Gräfliche räusperte sich. »Natürlich mag ich dich, mein Kind«,
antwortete er heiser. »Ich mag dich sogar sehr.«
Seine Hand wurde noch drängender, noch fordernder. Sein heißer
Atem streifte den Nacken des Mädchens.
»Helft mir, und ich vergelte es Euch mit all der Liebe, die ich
geben kann«, sagte Rotraud lockend. »Wenn Ihr wollt, noch in dieser
Nacht!«
Sie tastete nach ihm und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel
unterhalb des Kettenhemds.
»Ah«, machte der Ritter, »du verstehst es, einen Mann alles
vergessen zu lassen - selbst den Treueeid, den er seinem Herrn
schwor. So sei es denn! Wir reiten noch ein Weilchen und legen dann
eine Rast ein. Dabei werde ich dir Gelegenheit zur Flucht geben.
Nachdem du mir ... deine Dankbarkeit erwiesen hast!«
»Ich danke Euch, Herr Ritter«, flüsterte Rotraud. »Und ich
versichere Euch, daß Euch Euer großherziger Entschluß nicht dauern
soll!«
Oh, du Narr, dachte sie bei sich, für wie einfältig mußt du mich
doch halten!
Sie war vollkommen davon überzeugt, daß der Ritter nicht im
Traum daran dachte, sie entfliehen zu lassen. Er wollte mit ihr der
Minne frönen und sie dann schallend auslachen, weil sie so dumm
gewesen war, ihm zu glauben. Aber er sollte sich noch wundern!
Der Ritter wartete nicht mehr lange, bis er daranging, seine
Absichten zu verwirklichen. Er lenkte sein Pferd an die Seite der
beiden anderen Gräflichen. Dann beugte er sich zur Seite und sprach
leise zu ihnen.
Rotraud verstand nur weniges von dem, was er sagte, denn der
Wind riß ihm die Worte von den Lippen. Aber sie bekam doch genug
mit, um zu verstehen, auf was er hinaus wollte. Er hatte seinen
beiden Waffenbrüdern klargemacht, daß er in aller Ruhe mit ihr
reden wolle, um sie dazu zu bewegen, das Versteck ihres Bruders zu
verraten.
Die beiden nickten ihr Einverständnis.
»Eine Rast wird uns guttun«, sagte der Ritter. »Dieser kleine Hain
hier eignet sich vorzüglich, sind wir doch vor dem Wind geschützt.«
Auch der Zinseintreiber und die beiden anderen Ritter hielten ihre
Reittiere an.
Der Mann, der um Rotrauds Liebesgunst buhlte, war jetzt so
ritterhaft zu ihr, wie er es sonst wohl nur seinem Herrn oder einem
schönen Burgfräulein gegenüber war.
»Komm, mein Kind«, sagte er galant, »ich helfe dir, vom Pferd zu
steigen.«
Er sprang selbst auf den Erdboden und streckte Rotraud dann seine
Hand entgegen. Als sie neben ihm stand, ließ er ihre Hand jedoch
nicht los. Trotz ihrer lockenden Versprechungen traute er ihr wohl
doch noch nicht so ganz.
Rotraud machte das nichts aus. Der rechte Augenblick war noch
nicht gekommen. Aber sie war sich jetzt ganz sicher, daß er bald da
sein würde.
»Komm, mein Kind, dort drüben unter den Bäumen sind wir
gänzlich unter uns«, sagte der Ritter leise. »Niemand wird sehen
können, daß du deine Freiheit mit meinem Einverständnis
zurückerhältst. Und niemand wird uns beobachten können, wenn
wir... Na ja, du weißt schon, was ich meine!«
Die anderen stellten keine Fragen, als Rotrauds vermeintlicher
Retter das Mädchen vom Wegesrand wegführte und ein Stück mit ihr
in den Wald hineinging. Sehr schnell sorgte die Dunkelheit dafür,
daß von den Männern nichts mehr zu sehen war. Nur noch ihr hartes
Lachen drang an Rotrauds Ohr. Das Lachen veranlaßte sie, sich auf
die Lippen zu beißen. Es gab kaum eine Frage, daß die Kerle ganz
genau wußten, was ihr Waffenbruder tatsächlich beabsichtigte.
Nun gut, dachte sie bei sich, wir werden sehen, ob ihr nachher
immer noch lacht!
Nach etwa hundert Ellen machte der Ritter halt.
»Hier ist ein lauschiges Plätzchen«, stellte er fest. »Wie geschaffen
für die Minne.«
Dieser Ansicht war Rotraud nicht. Zwar schimmerte der Mond,
von dem man sagte, daß er nur für die Verliebten am Himmel stand,
träumerisch zwischen den Baumzweigen hindurch. Aber der feuchte
Waldboden und die Kühle des Windes waren doch dazu angetan, die
Früchte der Liebe säuerlich werden zu lassen.
Den Ritter focht das nicht an. Er ließ Rotraud los und löste
geschwind den Mantel von seinen Schultern. Schon hatte er ihn auf
dem Boden ausgebreitet.
Jetzt! schoß es Rotraud durch den Kopf. Aber bevor sie die Flucht
ergreifen konnte, hatte der Ritter schon wieder nach ihr gegriffen.
Mit starker Hand zog er sie zu sich auf den ausgebreiteten Mantel
hinunter. Gierig wanderten seine Hände über ihren Körper.
»Zieh endlich dieses Kleid aus!« zischte er heiser.
Schon zerrten seine Finger an den Knöpfen und ließen sie
nacheinander aufspringen. Augenblicke später streifte er ihr das
Kleid über die Schultern.
Aber Rotraud war unterdessen nicht untätig gewesen. Der
Waldboden ringsum war mit Tannennadeln übersät, die sie eifrig
aufgeklaubt hatte. Als der Ritter jetzt seine Arme um sie schlingen
wollte, schnellte ihre Hand nach vorne und stieß ihm die spitzen
Nadeln in die Augen.
Schmerzgepeinigt brüllte der Ritter laut auf. Wohl oder übel mußte
er das Mädchen loslassen.
Rotraud sprang hoch und rannte wie von einer Hundemeute gehetzt
davon.
*
Die Trutzenburg lag auf dem Gipfel eines Berges. Von drei Seiten
stieg der Hügel so steil und schroff an, daß nur ein sehr geübter
Kletterer mit allergrößter Mühe nach oben konnte. Und das auch nur,
wenn er dabei ein solides Seil zu Hilfe nahm. Lediglich die
Vorderfront der Burg war über einen gewundenen Serpentinenweg
zu erreichen.
Der Mond stand hoch am Himmel, als Roland und seine Freunde
zusammen mit den gräflichen Rittern vor dem Burgtor ankamen. Erst
nachdem Haldemar den Burgwächtern das Losungswort genannt
hatte, wurde das Tor geöffnet.
Bis auf die Wächter schienen alle Bewohner in tiefem Schlaf zu
liegen. Das war nicht weiter verwunderlich, denn die
mitternächtliche Stunde hatte bereits geschlagen. Schwierigkeiten
mit der Unterbringung gab es trotzdem nicht. Haldemar sorgte für
alles. Pierre und Louis bekamen einen Schlafplatz im Gesindehaus
zugewiesen, während für Roland und Volker zwei Gästezimmer zur
Verfügung standen. Die Burg war so groß und so geräumig, daß noch
genügend Platz für eine ganze Reihe weiterer Besucher gewesen
wäre.
Haldemar sorgte auch noch dafür, daß die Besucher etwas zu
Beißen bekamen. Dann zogen sich alle Ankömmlinge zur Nachtruhe
zurück.
Roland schlief fest und traumlos. Der erste Hahn hatte längst
gekräht, als es an der Tür seiner Schlafkammer klopfte. Er fuhr hoch
und blinzelte in das Sonnenlicht, das schräg durch das Turmfenster
einfiel.
»Komme ja schon«, grunzte er.
Dann schwang er sich von seinem Lager und ging zur Tür.
Eine dralle Magd begrüßte ihn mit einem ehrerbietigen Knicks.
»Der Herr Graf erwartet Euch zur Brotzeit, Ritter!«
Das Mädchen brachte ihm dann noch einen Bottich Wasser und
entfernte sich wieder.
Die Trutzenburg gefiel Roland immer besser. Ein bequemes
Nachtlager, Wasser zum Waschen und die Aussicht auf ein sicherlich
reichlich bemessenes Morgenmahl - was wollte er mehr? Wenn er
anschließend noch die nähere Bekanntschaft eines schönen
Burgfräuleins machen konnte ...
Als Roland wenig später den Eßsaal betrat, traf er dort tatsächlich
auf ein schönes Burgfräulein. Das Mädchen war hochgewachsen und
schlank. Langes, rabenschwarzes Haar fiel ihr bis auf die Schultern
und den wohlgerundeten Busen. Ihr Gesicht war ebenmäßig und
stolz. Roland, der Minne stets zugetan, brannte sofort lichterloh. Es
kostete ihn echte Mühe, seinen verlangenden Blick von der jungen
Frau abzuwenden. Aber er wußte natürlich, daß es höchst unziemlich
war, sie so unverhohlen anzustarren. Außerdem befanden sich außer
ihr noch mehrere andere Personen im Raum, die bereits am Tisch
Platz genommen hatten.
Volker vom Hohentwiel war bereits da, der Ritter Haldemar und
ein Mann, den Roland bisher noch nicht kennengelernt hatte. Bei
dem Mann handelte es sich ganz offenbar um den Vater der
Schwarzhaarigen. Die Ähnlichkeit der Gesichtszüge war
unverkennbar, nur daß sich die Linien des Stolzes beim Vater noch
stärker bemerkbar machten als bei der Tochter. Auch er hatte dichtes
schwarzes Haar und eine hochgewachsene Gestalt, die jedoch
männliche Kraft und Stärke nicht vermissen ließ. Keine Frage, dieser
Mann konnte niemand anders sein als Graf Eberhard von Trutzen.
So war es. Der Graf hieß den Ritter mit dem Löwenherzen
willkommen und bat ihn zu Tisch.
Roland ließ sich nicht lange bitten.
Er nahm Platz und langte alsbald kräftig zu. Der Burgherr war ein
vorzüglicher Gastgeber. Die Bediensteten trugen alles auf, was
Magen und Gaumen ergötzte. Lange schon hatten Roland und Volker
nicht mehr so gut gegessen und getrunken - und das schon am
Vormittag.
»Ihr seid auf der Durchreise, berichtete mir mein Getreuer
Haldemar?« eröffnete der Graf das Tischgespräch.
»So ist es«, bestätigte Volker vom Hohentwiel. »Wir sind fahrende
Ritter und ziehen durch die Lande. Wo es uns gefällt und man uns
Gastfreundschaft bietet, bleiben wir ein Weilchen. Wenn es beliebt,
pflege ich mich mit etwas Gesang zu revanchieren?«
»Ihr seid ... Sänger?« fragte die schwarzhaarige Schöne, von der
Roland inzwischen wußte, daß sie auf den Namen Balthild hörte.
Volker lächelte. »Mein Name sagt Euch nichts, mein Fräulein?«
Das Mädchen runzelte leicht die Stirn. »Volker vom... Ihr seid
doch nicht etwa der Volker vom Hohentwiel? Jener Minnesänger,
dessen Verskunst und Stimme weithin gerühmt werden?«
Volker deutete eine artige Verbeugung an. »Ich kann nicht
leugnen, daß ich jener Volker bin!«
Ein Stachel der Eifersucht bohrte sich in Rolands Herz, als er sah,
mit welch leuchtenden Augen Balthild seinen Freund ansah. Sie
himmelte ihn förmlich an.
»Ich liebe Sänger«, gestand sie und bedachte Volker mit einem
koketten Augenaufschlag. »Wenn ich mich dereinst mit einem Mann
vermähle, dann muß es ein Sänger sein. Irgendein Ritter oder
Adliger, und sei er noch so hochgeboren, kommt für mich nicht in
Frage!«
Wieder neigte Volker artig den Kopf. »Eure freundlichen Worte
schmeicheln mir, mein Fräulein.«
Mein Fräulein!
Rolands Unmut wuchs. Es war nicht zu verkennen, daß Volker
dem Mädchen den Hof machte. Auch er war schönen Frauen niemals
abgeneigt und hatte fraglos ebenfalls Absichten auf die
Grafentochter. Und wie es aussah, konnte er sich weitaus mehr
Hoffnungen machen als Roland, für den Balthild überhaupt keinen
Blick mehr hatte.
Der Ritter mit dem Löwenherzen nahm einen kräftigen Schluck
Wein und räusperte sich.
»Da wir gerade von Minnesängern sprachen«, sagte er. »Kennt Ihr
einen Mann namens Jacques d'Artagnac?«
»d'Artagnac?« wiederholte Graf Eberhard. »Kein Mann aus
deutschen Landen.«
»Ein Provencale.«
Eberhard schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht ...«
»Aber natürlich«, unterbrach ihn seine Tochter. »Ihr müßt Euch
doch erinnern, lieber Vater! Jacques d'Artagnac war hier, hier auf der
Trutzenburg. Der Sänger mit den frechen Spottliedern ...«
»Oh, diesen meinst du?« sagte der Graf jetzt kopfnickend. »Ich
konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern.«
»Er war also hier?« fragte Roland.
»Ja, er genoß für ein paar Tage unsere Gastfreundschaft.«
»Und wo ist er geblieben? Ich meine, wißt Ihr, wohin er sich
gewandt hat?«
Der Graf zuckte mit den Schultern. »Er verließ die Trutzenburg
und ging seiner Wege. Wohin? Ich habe nicht die geringste Ahnung.
Aber warum fragt Ihr?«
»Jacques d'Artagnac ist ein alter Freund von mir«, warf Volker ein.
»Einst wetteiferte ich mit ihm beim Sängerkrieg von Bamberg.
Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Aber ich hörte unterwegs,
daß er hier im Lande sein soll.«
»Tut mir leid«, sagte Eberhard von Trutzen. »Er war hier, aber wo
er abgeblieben ist ...« Wieder zuckte er die Achseln.
»Nun gut«, meinte Roland. »Ist ja auch nicht so wichtig.«
Er wollte jetzt nicht weiter über den verschwundenen Sänger
sprechen, denn er hatte klar erkannt, daß dieses Thema dem
Burgherrn irgendwie höchst unangenehm war. Warum? Hatte Graf
Eberhard etwas zu verbergen und wußte er mehr über Jacques, als er
zugeben wollte? Roland wurde den Eindruck nicht los, daß es sich
genauso verhielt. Aber es war wohl klüger, Näheres bei der schönen
Balthild in Erfahrung zu bringen. Und zwar dann, wenn ihr Vater
nicht dabei war. Wenn sie so versessen auf Sänger war, hatte sie mit
einiger Wahrscheinlichkeit eine engere Verbindung zu Jacques
d'Artagnac gehabt.
»Tut mir den Gefallen und singt uns ein paar Verse, Ritter
Volker«, bat die Grafentochter.
Volker vom Hohentwiel legte den Hühner schenke! aus der Hand,
den er gerade abgenagt hatte.
»Auf vollen Magen ist nicht gut Singen«, erklärte er. »Ich hätte
einen anderen Vorschlag zu machen, mein Fräulein.«
»Ja, Ritter Volker?« Mit großen, tiefblauen Augen sah die schöne
Balthild den Minnesänger an.
»Wenn die Abendsonne sinkt und sich der Himmel mit einem
romantischen rosa Schimmer schmückt, dann bringe ich Euch ein
Ständchen dar. Nur für Euch allein, mein Fräulein!«
Die Grafentochter klatschte in die Hände. »Ihr seid ein Mann nach
meinem Herzen, Ritter Volker. Ich kann es schon gar nicht mehr
erwarten, daß sich der Tag dem Ende zuneigt!«
Die beiden lächelten sich an, als wäre der kommende Abend der
Beginn einer nimmer endenden Hochzeitsnacht.
Roland spülte seinen Ärger mit einem Becher Wein hinunter, den
er mit einem einzigen Schluck bis zur Neige leerte.
*
»Halt!«
Die barsche Stimme, die aus der Dunkelheit auf sie eindrang,
veranlaßte Rotraud Lamm zum Stehenbleiben.
Die Landschaft ringsum konnte sie nur in schattenhaften Umrissen
erkennen - Hügelland, Bäume, ein schmaler Einschnitt zwischen steil
aufragenden Felswänden. Aber es hätte der barschen Stimme nicht
bedurft, um sie wissen zu lassen, daß sie auf dem richtigen Weg war.
Sie kannte sich aus in den Drachenbergen.
»Wer bist du?« ertönte die Stimme wieder. »Und vor allem - was
willst du hier?«
Rotraud zitterte. Ohne ihr Kleid war sie der Kühle der Nacht
schutzlos ausgesetzt. Vermutlich hatte sie vom Kopf bis zu den
Fußspitzen eine Gänsehaut.
»Ich bin Rotraud Lamm«, rief sie. »Und was ich hier will, kannst
du dir wohl denken!«
Mehrere Sekunden vergingen. Dann standen auf einmal zwei
dunkle Gestalten vor ihr. Eine Fackel loderte auf, in deren Schein
Rotraud erkennen konnte, daß die beiden Männer keine
Vorsichtsmaßnahme außer acht ließen. Der eine hielt einen
blinkenden Hirschfänger in der Hand, und der andere richtete einen
Pfeil auf sie.
Der Mann mit dem Bogen, ein junger Bursche noch, ließ seine
Blicke über, ihren halbnackten Körper huschen.
»Ei der Daus, Mädchen«, grinste er, »so wie du aussiehst, bist du
uns wohl willkommen! Auf meinem Lager ist bestimmt noch Platz
für dich!«
»Mein Bruder würde dir den Schädel spalten«, zischte Rotraud.
Die Kälte, die sie einhüllte wie ein Mantel aus Eis, machte sie
wütend und böse. Außerdem war sie auch völlig erschöpft, denn das
stundenlange Laufen hatte sie ihre ganze Kraft gekostet.
»Bist du allein?« fragte der zweite Mann und blickte sich
mißtrauisch nach allen Seiten um.
»Nein«, antwortete Rotraud. »Ich habe eine ganze Horde von
Gräflichen mitgebracht. Oder was dachtest du?«
Der junge Bursche lachte. »Du scheinst in der Tat Rodulfs
Schwester zu sein. Keine andere würde eine solche Lippe riskieren!«
»Komm«, sagte der ältere Mann.
Wenig später hatte Rotraud endlich Gelegenheit, ihren großen
Bruder in die Arme zu schließen.
*
Roland war kein Freund von Räubern und Wegelagerern. Männer,
die friedfertige Reisende überfielen und sie ob ihrer Besitztümer
niedermachten, mußten verfolgt und zur Rechenschaft gezogen
werden, da gab es für ihn kaum eine Frage.
Dennoch war er innerlich aufgewühlt, ja geradezu entsetzt, als er
den Räuber wiedersah, der am vergangenen Abend in die Hände der
Ritter gefallen war. Man konnte den Mann kaum noch erkennen. Er
war nur noch ein blutiges, lebloses Bündel, das zwei Dienstboten
über den Burghof schleppten, um es irgendwo in einer Grube zu
verscharren.
»Warum habt Ihr das getan?« fragte er den Ritter, dem er gerade
ein paar neue Fechthiebe beigebracht hatte.
Kuno - das war der Name des gräflichen Getreuen - zuckte mit
ausdruckslosem Gesicht die Achseln.
»Ich weiß nicht«, sagte er ausweichend.
Mit dieser Antwort gab sich Roland nicht zufrieden.
»Tut nicht so, als wüßtet Ihr nicht, was innerhalb dieser Mauern
geschieht, Ritter Kuno«, sagte er. »Also sprecht!«
»Nun ja«, antwortete Kuno jetzt, wobei er eine gewisse
Verlegenheit nicht verbergen konnte. »Ich kann mir vorstellen, daß
der Räuber nach dem Versteck seiner Spießgesellen gefragt wurde.
Und als er nicht antworten wollte ...«
»... habt Ihr ihn zu Tode gefoltert!«
»Ich nicht«, erwiderte Kuno abwehrend. »Mein Handwerk ist die
Kriegskunst. Niemals würde ich mich dazu hergeben, den
Folterknecht zu spielen.«
»Das ehrt Euch«, murmelte Roland.
»Aber was kümmert es Euch und mich?« fuhr Kuno fort. »Kommt,
kämpfen wir weiter. Diese Attacke mit der Doppelfinte und dem
anschließenden Hieb zum Kopf ...«
»Tut mir leid«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Aber mir
ist die Lust zum Fechten vergangen. Wo gibt es hier etwas zu
trinken? Ich muß den Anblick dieses Unglücklichen mit einem
kräftigen Schluck hinunterspülen!«
Er steckte sein Schwert in die Scheide zurück und machte damit
unmißverständlich klar, daß der Übungskampf für ihn zu Ende war.
Wohl oder übel mußte Kuno seinem Beispiel folgen. Er tat es nur
höchst ungerne, denn er wußte, daß er nur selten wieder Gelegenheit
haben würde, die Klinge mit einem solchen Meister des Schwerts zu
kreuzen.
»Wie ihr wollt, Ritter Roland«, sagte er mißvergnügt. »Wenn Ihr
so zart besaitet seid, daß Euch der Anblick eines toten Wegelagerers
der Übelkeit anheimfallen läßt... Folgt mir!«
Streng genommen waren diese Worte eine Beleidigung. Aber
Roland sah großzügig darüber hinweg. Kuno war noch jung, kaum
dem Knappenalter entwachsen. Und außerdem war er Gast auf der
Trutzenburg, so daß sich ein ernsthafter Händel auf Grund der guten
Sitten von selbst verbot.
Er folgte Kuno ins Ritterhaus, wo bereits andere Getreue des
Grafen beim Trunk zusammensaßen. Nicht ohne ein gewisses
Mißfallen stellte Roland fest, daß sich Volker vom Hohentwiel nicht
unter den Anwesenden befand. Sicher scharwenzelte sein Freund um
die schöne Balthild herum und machte ihr nach allen Regeln der
Minnekunst den Hof.
Ein gut gefüllter Humpen Met, dem bald darauf ein zweiter und ein
dritter folgten, tröstete ihn über seine schlechte Stimmung hinweg.
Die gräflichen Ritter waren ausgezeichnete Saufkumpane. Ihr
Versuch, ihn unter den Tisch zu trinken, mißlang allerdings kläglich.
Wenn Roland wütend war, konnte er mehr Met und Wein trinken, als
ein Ochse Wasser saufen konnte, ohne dabei vom Schemel zu fallen.
Alle anderen waren schon ziemlich angeschlagen und wußten nicht
mehr so recht, was sie redeten. Roland hingegen hatte seine sieben
Sinne noch alle zusammen. Wie von ungefähr brachte er das
Gespräch auf den verschwundenen Minnesänger Jacques d'Artagnac.
»Der Sänger. Ja ... Jacques?« lallte der Ritter Bogomil. »Klar
kannte ich den! War ... war nicht viel los mit dem Mann. Schon nach
dem zweiten Hum ... Humpen sog er sich auf sein Lager zurück.«
Auf seines oder auf das der schönen Balthild? fragte sich Roland
zweifelnd. Aber das war im Augenblick nebensächlich. Er wollte
wissen, was aus dem Provencalen geworden war und fragte den
Ritter danach.
»Wo ... wo er geblieben ist?« wiederholte Bogomil. »Und ob ich
das weiß.«
»Ihr wißt es?« Roland beugte sich vor.
»Na klar!«
»Dann sagt es mir, Ritter!«
Bogomil blinzelte. Sein verschwommener Blick wurde auf einmal
fast klar.
»Wa... warum wollt Ihr das wissen?«
»Jacques d'Artagnac ist ein Freund von mir!«
»Ein Freund, so, so!« Bogomil lachte auf. »Wenn er ein Freund
von Euch ist, warum besucht Ihr ihn dann nicht?«
»Besuchen? Wo denn?«
»Unten im ... im Verlies.«
»Hier in der Trutzenburg?«
»Na klar!«
Bogomils Augen hatten sich mittlerweile längst wieder mit einem
Schleier überzogen. Wahrscheinlich war er sich gar nicht so richtig
im klaren darüber, was er gerade zum besten gegeben hatte. Ein
anderer gräflicher Ritter jedoch, der neben Bogomil saß, hatte seinen
kühlen Kopf noch nicht verloren.
»He, Bogomil, was erzählst du denn da für Hirngespinste?« sagte
er und stieß Bogomil grob in die Seite. So grob, daß Rolands
Gesprächspartner beinahe vom Schemel gekippt wäre. »Glaubt ihm
kein Wort, Ritter Roland. Bogomil ist sinnlos betrunken!«
»Sicher«, nickte Roland. »Nachdem fünften Humpen erzähle ich
auch, daß ich tatsächlich König Artus bin und mich unerkannt unters
Volk gemischt habe.«
»Ja, ja«, lachte der Ritter, »was Betrunkene so von sich geben, soll
man nicht ernst nehmen. Natürlich ist dieser Jacques d'Artagnac
längst nicht mehr in der Trutzenburg. Ich selbst habe ihn durchs Tor
geleitet und ihn davongehen sehen.«
Wieder nickte Roland und griff nach seinem Humpen. »Trinken
wir darauf, daß mir mein Freund Jacques irgendwo mal wieder über
den Weg läuft!«
Der andere Ritter hob lächelnd seinen Humpen. »Trinken wir
darauf! Es ist immer schön, einen alten Freund wiederzusehen. Wärt
Ihr einige Zeit früher gekommen, hättet Ihr ihn hier auf der Burg
getroffen. So jedoch habt Ihr Pech.«
Roland trank dem anderen zu. Er ließ sich nicht anmerken, daß er
ihn für einen Lügner hielt. Ganz fest war er davon überzeugt, daß
Jacques d'Artagnac tatsächlich in einem Verlies der Trutzenburg
schmachtete, der Graf und seine Getreuen dies jedoch nicht zugeben
wollten. Allein der betrunkene Bogomil hatte die Wahrheit
gesprochen.
Um den noch halbwegs nüchternen Ritter nicht argwöhnisch zu
machen, verfolgte Roland das Thema Jacques d'Artagnac nicht
weiter. Aber er war sich seiner Sache ganz sicher. Hier auf der
Trutzenburg war er genau am richtigen Platz, um den Auftrag
ausführen zu können, den ihm König Artus übertragen hatte. Jetzt
mußte er nur noch den geeigneten Zeitpunkt abpassen. Im
Augenblick allerdings war dieser sicherlich nicht gegeben.
Roland wollte sich von einer Schankmagd gerade den leer
gewordenen Humpen erneut füllen lassen, als er sah, wie Volker vom
Hohentwiel den Rittersaal betrat. Suchend blickte sich der Freund
um, aber Roland tat so, als würde er ihn nicht bemerken, und
widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Met.
Volker sah ihn trotzdem. Von hinten trat er an den Ritter mit dem
Löwenherzen heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Komm mit, Roland, ich muß mit dir reden!«
Roland warf einen schiefen Blick über die Schultern zurück. »Ich
habe aber keine Lust, mit dir zu reden.«
Der Freund lächelte. »Du bist ja betrunken, Roland!«
»Betrunken?« echote Roland. »Ich soll betrunken sein? Da lachen
ja die Raben!«
»Nun, wenn du völlig Herr deiner Sinne bist, dann komm. Was ich
dir zu sagen habe, ist wirklich wichtig!«
In der Tat hörte sich Volkers Stimme ernst und bedeutungsvoll an.
Und wenn Roland im Augenblick auch nicht sonderlich gut auf
seinen Freund zu sprechen war, so hielt er es doch für angebracht,
der Aufforderung Folge zu leisten.
Er stemmte sich von seinem Schemel hoch und stellte mit einiger
Verwunderung fest, daß er leicht schwankte.
Volker machte Anstalten, ihn zu stützen, aber davon wollte Roland
nichts wissen.
»Ich kann allein gehen«, erklärte er entschieden.
Und das gelang ihm durchaus. Gemeinsam mit dem Freund verließ
er auf halbwegs geraden Beinen den Rittersaal.
Die plötzlich auf ihn eindringende frische Luft versetzte ihm einen
gelinden Schlag. Aber auch diesen überwand er. Gerade und aufrecht
stand er neben Volker auf dem Burghof.
»Was wolltest du mir sagen?«
»Ich war bei der schönen Balthild«, sagte Volker.
»Was du nicht sagst!«
»Ich habe mich eingehend mit ihr unterhalten.«
»Unterhalten?« äffte Roland den Freund nach. »Bist du sicher, daß
du dich nur mit ihr unterhalten und ihr nicht ganz nebenbei die
Unschuld geraubt hast?«
Volker vom Hohentwiel lachte. »Ich glaube kaum, daß Balthild
noch eine Unschuld besaß, die sie verlieren konnte. Aber sag mal,
mein Freund, du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
»Ich? Aber nein! Wie kommst du denn auf eine solche Narretei?«
»Ich dachte ja nur. Aber du kannst in jedem Fall beruhigt sein. Die
schöne Balthild gehört nicht zu den Blumen, die ich gerne pflücken
möchte. Wenn du sie haben willst, meinen Segen hast du!«
»Nachdem du sie abgelegt hast?« entrüstete sich Roland. »Bin ich
ein Knappe, der das nimmt, was ihm sein Ritter übrig läßt?«
Volker schüttelte den Kopf. »Auch wenn du es mir nicht glaubst -
ich habe sie wirklich nicht angerührt.«
»Das willst du mir einreden? Ich bin doch nicht blind! Deutlich
erinnere ich mich, wie du sie angehimmelt hast, wie du ...«
»Das leugne ich nicht«, gab der Freund zu. »Aber ich tat es nur,
um mich an sie heranmachen zu können. Nicht um mit ihr der Minne
zu huldigen, sondern nur um sie in aller Ruhe ausfragen zu können.«
»Ausfragen? Über was denn, mit Verlaub gefragt?«
»Über Jacques d'Artagnac natürlich. Mir war von vornherein klar,
daß Balthild über den verschwundenen Sänger ganz genau Bescheid
wußte.«
Triumphierend blickte Volker vom Hohentwiel Roland an. »Und
ich hatte recht!«
»Ach ja?« sagte Roland. »Dann hast du wahrscheinlich
herausgebracht, daß Jacques in einem Verlies der Trutzenburg
schmachtet.«
Volker machte große Augen.
»Das... weißt du? Woher, bei allen Heerscharen des Himmels?«
Jetzt lächelte Roland. »Jeder hat so seine Methoden. Der eine lupft
einen Weiberrock, während der andere seine durstige Kehle für sich
arbeiten läßt.«
»Deine Saufkumpane im Rittersaal haben es dir verraten?«
»Einer von ihnen«, nickte Roland. »Aber ich bin doch froh, daß du
die Worte des Betrunkenen bestätigst. Es steht also zweifelsfrei fest:
Jacques ist hier!«
»Und was tun wir, um ihn zu befreien?«
»Das wird sich noch finden«, antwortete Roland. »Zunächst
aber...« Er trat ganz nahe an den Freund heran. »Du hast wirklich
nicht mit Balthild der Liebe gefrönt?«
Volker legte eine Hand auf sein Herz. »Ich schwöre es! Warst du
deshalb so unfreundlich zu mir?«
Roland machte ein leicht verlegenes Gesicht. »Es dauert mich
zutiefst, Volker«, sagte er treuherzig. »Kannst du mir verzeihen?«
»Da gibt es nichts zu verzeihen, denn ich trag' dir nichts nach.
Wenn dein Herz in Liebe zu der schönen Balthild entflammt ist...
Wie ich schon sagte, mich brauchst du als Nebenbuhler nicht zu
zählen.«
»Das freut mich zu hören«, entgegnete Roland. »Aber ich weiß
trotzdem nicht, ob sie mich erhören würde.«
»Warum sollte sie nicht?« wunderte sich Volker. »Du bist ein
gestandenes Mannsbild und ...«
»Sie liebt nur Sänger, das hat sie selbst gesagt. Und wenn ich den
Mund öffne, um einen Vers zu schmettern, dann hört es sich an, als
würde ein Hund getreten.«
»Das ist wahr«, sagte Volker ehrlich. »Deine Stimme ist wahrlich
kein Ohrenschmaus. Aber ...«
»Aber?«
»Mir kommt da ein gar trefflicher Gedanke«, sagte Volker
langsam. »Warum sollte ich dir nicht einen Freudesdienst erweisen?«
»Ich verstehe nicht... «
»Ich werde für dich singen! Und ich bin ganz sicher, daß Balthild
nichts von der Täuschung bemerkt. Wenn wir die Dunkelheit zu
unserem Verbündeten machen ...«
Beide Männer lachten, als hätten sie soeben den Stein der Weisen
entdeckt.
*
Rodulf Lamm, von seinen Feinden »Lämmerschling« genannt, ballte
die Fäuste, nachdem ihm seine Schwester erzählt hatte, was ihr
widerfahren war.
»Diese Schurken!« schimpfte er. »Jeder einzelne von ihnen ist
genauso übel und verbrecherisch wie ihr Herr. Oh, könnten wir sie
doch samt und sonders in den tiefsten Schlund der Hölle stürzen,
denn genau dort gehören sie hin!«
Diesen Worten konnte Rotraud nur beipflichten. Sie haßte die
Gräflichen, haßte sie aus tiefster Seele. Inzwischen fühlte sie sich
wieder halbwegs wohl. In der geräumigen Höhle, die Rodulf und
seine Kampfesgenossen als Versteck diente, war es angenehm warm.
Ein heißer Beerenblättertee und eine knusprige Hasenkeule hatten
ihre müden Lebensgeister wieder auf Trab gebracht. Nur das Gefühl,
verfolgt und gehetzt zu werden, wollte und wollte nicht von ihr
weichen.
»Mach dir deshalb keine Sorgen«, beruhigte sie ihr Bruder. »Hier
bist du sicherer als in jeder Kirche.«
»Wirklich?« sagte Rotraud zweifelnd.
»Es gibt viele, die euer Versteck hier in den Drachenbergen
kennen. Ich kannte es und ...«
»Nur einige wenige, denen wir von ganzem Herzen vertrauen
können, wissen von unserem Hort.«
»Und wenn der Graf sie foltern läßt, wie es mir beinahe ergangen
wäre?«
»Hättest du gesprochen?«
»Niemals«, antwortete Rotraud entschieden. »Lieber wäre ich
eines schrecklichen Todes gestorben!«
»Siehst du? Auf diejenigen, denen wir vertrauen, können wir uns
verlassen. Nimm den Waldenser Karl. Gestern fiel er in die Hände
der Gräflichen. Aber ich bin ganz sicher, daß er schweigen wird bis
ins Grab.« Rodulf blickte düster vor sich hin. »Wahrscheinlich ist der
arme Kerl jetzt bereits tot.«
Rotraud seufzte. »Wie lange wird das alles noch weitergehen,
Rodulf? Wie lange werden wir uns noch von Graf Eberhard knechten
und quälen lassen müssen?«
»Ich weiß nicht, Schwesterherz«, antwortet Rodulf. »Ich weiß nur,
daß etwas geschehen muß. Und es wird etwas geschehen!«
*
Es war eine Nacht, die für die Liebe wie geschaffen schien. Voll und
glänzend stand der Mond am Himmel. Ein lauer Wind wehte, und die
Luft war lind und von köstlicher Frische.
Roland tat sein Bestes, um der Nacht den gebührenden Rahmen zu
verleihen. Er stand unter dem Fenster des Schlafgemachs der
schönen Balthild, die Fidel schmeichlerisch mit dem Bogen
bearbeitend und aus vollem Halse singend.
Scheinbar...
Tatsächlich tat er nur so, als würde er mit dem Bogen über die
Saiten fahren. Und aus seinem Munde, den er gekonnt öffnete und
schloß, kam kein einziger Laut.
Der Mann, der in Wirklichkeit das wohltönende Liebeslied zum
besten gab, war Volker vom Hohentwiel. Der Freund hockte gut
verborgen hinter der hüfthohen Mauer des Hofbrunnens. Und trotz
seiner unbequemen Haltung, die die Brust mehr einschnürte, als sie
sangesgerecht zu weiten, bewies er wieder einmal, daß man ihn nicht
von ungefähr zu den berühmtesten Minnesängern Europas zählte.
Glasklar wie das stille Wasser eines Bergsees und dabei doch so
sanft wie ein grünes Mooskissen erklang seine prächtige Stimme:
Heiß brennt in meinem Busen
Verzweifeltes Verlangen
Oh, du Schönste aller Schönen
Siehst du nicht mein Sehnen
Während Volker sang, blickte Roland zum Erker seiner
Angebeteten empor. Jetzt mußte sie das Lied längst gehört haben.
Sie kam!
Roland sah, wie sie die Erkertür öffnete und auf den Balkon ihres
Gemachs hinaustrat.
Unterdessen stimmte Volker den zweiten Vers an:
Laß ein mich um der Liebe willen
Großherzige Geliebte
Erhöre mein Lied in Ehren
Leuchte mir mit deinem Licht
Balthild war an die Balkonbrüstung herangetreten und blickte auf
den Burghof hinunter. In der Hand hielt sie eine Harzfackel, in deren
Schein ihr vielversprechendes Lächeln deutlich zu erkennen war.
Und weiterhin erschallte Volkers Stimme:
Schenken will ich dir mit Schmerzen
Der Liebe Lohn
Walten soll der Wonne Süße
Oh, warum läßt du mich warten
Roland hatte bereits den Mund geöffnet, weil er annahm, daß
Volker mit dem Singen fortfahren würde. Aber darin sah er sich
getäuscht. Es kam keine weitere Strophe mehr. Schnell schloß
Roland die Lippen wieder, um seine Täuschung nicht offenkundig
werden zu lassen.
Hoffentlich hat Balthild nichts gemerkt! fuhr es ihm durch den
Kopf.
Danach sah es jedoch nicht aus. Das Mädchen lachte und klatschte
begeistert in die Hände.
»Niemals hätte ich gedacht, daß auch Ihr ein so großartiger Sänger
seid, Ritter Roland!« rief sie zu ihm hinunter.
Sie war nicht die einzige, die das meinte. Eine ganze Reihe anderer
Burgbewohner hatte den Gesang ebenfalls mitbekommen und schrieb
ihn natürlich Roland zu. Aus mehreren Fenstern kamen Beifall und
lobhudelnde Zurufe.
Trotz all dem fühlte sich Roland gar nicht so wohl in seiner Haut.
Der Gedanke, Volker an seiner Stelle singen zu lassen, hatte ihm in
seiner Metlaune sehr gefallen. Jetzt jedoch, wo er längst wieder
völlig nüchtern war, kamen ihm Zweifel. Normalerweise war er kein
Mensch, der sich mit fremden Federn schmückte. Das, was er und
Volker hier vollführten, kam ihm wie ein echtes Unrecht vor.
Aber es war nun zu spät zu solchen Überlegungen. Die Täuschung
jetzt zu offenbaren, hätte bedeutet, sich der Lächerlichkeit
preiszugeben. Und außerdem war da ja immer noch ... die schöne
Balthild.
Das Mädchen beugte sich mit einem aufreizenden Lächeln über die
Balkonbrüstung und warf etwas hinunter in den Burghof. Ein leises
Klatschen ertönte, als der Gegenstand wenige Ellen von Roland
entfernt auf den Steinen aufschlug.
Roland trat näher und sah einen weißen Handschuh zu seinen
Füßen liegen.
Ein Handschuh!
Seine Bedeutung war ihm auf Anhieb klar. Wenn ein Ritter einem
anderen einen Handschuh entgegenschleuderte, dann war dies die
Herausforderung zu einem Duell. Tat eine Frau dasselbe, verhielt es
sich hingegen genau umgekehrt. Der Handschuh eines Fräuleins
bedeutete eine ernst gemeinte Einladung.
Roland zögerte keine Sekunde, die Einladung anzunehmen. Er hob
den Handschuh auf, machte eine galante Verbeugung vor Balthilds
Erker und betrat dann das Haus. Mit schnellen Schritten eilte er zum
Gemach der Grafentochter hinauf.
Balthild erwartete ihn bereits. Sie bot einen reizenden Anblick, der
Rolands Puls sofort schneller schlagen ließ. Ihr nachtschwarzes Haar
war zu einer Krone hochgesteckt, und der Fackelschein ließ ihre
ebenmäßigen Gesichtszüge wie aus Marmor gemeißelt aussehen. Sie
trug ein wallendes Gewand, das vor der Brust weit ausgeschnitten
war und den Ansatz ihres vollen Apfelbusens unverhüllt zeigte.
Roland mußte an sich halten, um sie nicht unverzüglich stürmisch in
seine Arme zu reißen. Das wäre jedoch nicht schicklich gewesen.
Er hielt Volkers Ersatzfidel noch in der Hand, wollte sie jetzt auf
einem kleinen Tisch ablegen. Damit aber war die schöne Balthild gar
nicht einverstanden.
»O nein, Ritter Roland«, widersprach sie, »ihr wollt doch nicht so
grausam sein und mich um einen weiteren Kunstgenuß bringen?
Spielt und singt mir noch eine Eurer zu Herzen gehenden Weisen!«
Der Ritter mit dem Löwenherzen glaubte, nicht recht zu hören.
Statt sich nun mit ihm der Minne hinzugeben, verlangte sie von ihm
eine neuerliche Probe jener Künste, die er tatsächlich in keiner Weise
beherrschte.
Balthild erkannte seinen unfrohen Gesichtsausdruck, konnte ihn
jedoch verständlicherweise nicht richtig deuten.
»Warum blickt Ihr so finster drein, Ritter Roland? Ich dachte
immer, Spiel und Gesang seien für Euch Minnesänger ein steter
Wunsch des Herzens.«
Das mochte wohl so sein. Nur war Roland leider kein echter
Minnesänger. Wieder begann er zu bedauern, daß er sich auf dieses
Täuschungsmanöver eingelassen hatte.
»Ich ...« Er sprach nicht weiter, denn eigentlich wußte er gar nicht,
was er sagen sollte.
»Tut mir die Liebe«, sagte die Grafentochter bittend und kullerte
mit den Augen.
»Eigentlich dachte ich, daß Eure Einladung einem anderen Zwecke
diente«, sagte Roland geradeheraus.
Er fühlte sich immer unwohler und fing an, langsam
unterschwellig zu bedauern, daß er sich nicht um die Gunst der
drallen Schankmagd aus dem Ritterhaus bemüht hatte.
Balthild lächelte verheißungsvoll. »Der Lohn für eine weitere
Weise ist Euch gewiß!«
Sie saß auf der Kante ihres weichen Lagers und ließ sich
aufreizend langsam in eine halb liegende Stellung zurücksinken. Wie
von ungefähr öffnete sich ihr Gewand dabei noch etwas mehr.
Roland glaubte, mitten ins Paradies hineinzublicken.
So nahe an der Pforte stehend, stellte der Ritter mit dem
Löwenherzen alle Bedenken hintenan. Teufel auch, so schlimm war
seine Stimme eigentlich gar nicht! Wenn er es vermied, in den
höchsten Tönen zu jubilieren und sich auf eine mittlere Stimmlage
beschränkte ... Und was die Fidel anging, sah er die Schwierigkeiten
noch geringer an. Wer ein Schwert zu schwingen verstand, war auch
in der Lage, den Fidelbogen zu streichen. Ein paar hübsche Töne
würde er dem Instrument schon entlocken können, auch wenn er es
bisher noch niemals versucht hatte.
»So sei es denn, teure Balthild«, sagte er und setzte flugs den
Bogen an.
Ein schriller Ton, der sicherlich jedwede Maus aus dem Zimmer
trieb, klang auf.
Die Grafentochter verzog schmerzerfüllt das Gesicht.
»Ich ... bitte um Vergebung«, sagte Roland. »Der Ansatz scheint
mir etwas mißlungen zu sein.«
»Das schien mir auch so«, sagte Balthild und lächelte jetzt wieder
erwartungsvoll.
Roland versuchte es zum zweiten Mal.
Aber es wurde nicht besser. Eher war das Gegenteil der Fall.
Fraglos hatte keine der anwesenden Stubenfliegen das gräßliche
Geräusch überlebt.
»Was ist los, Ritter Roland?« fragte die Grafentochter mit
gerunzelter Stirn. »Habt Ihr auf dem Weg zu mir das Spielen
verlernt?«
»Natürlich nicht«, antwortete Roland entschieden. »Aber es sieht
so aus, als sei die Fidel verstimmt. Aber was ficht es uns an? So
bringe ich Euch halt ein Lied ohne Fidelbegleitung dar!«
Er legte das Instrument aus der Hand und fragte sich dabei, wie es
Volker fertigbrachte, mit diesem Teufelsding wohlklingende Musik
zu machen. Beim besten Willen verstand er dies nicht.
Was für ein Lied sollte er singen? Zarte Liebesweisen, wie sie
seinem Freund wie von selbst von den Lippen flossen, kannte er
nicht. Allenfalls beherrschte er ein paar Sauf- und Rauflieder, die
man üblicherweise nur am Schanktisch grölte. Er entschloß sich, die
Verse vom kopflosen Ritter Eiteljörg, der mit dem Bauch sprechen
konnte, zu bringen.
Er räusperte sich, stemmte beide Arme in die Hüften und begann:
Einst ritt der Ritter Eiteljörg.
Mitten ins Schankhaus rein.
Er zügelte seine Mähre.
Und ...
Roland unterbrach seinen Vortrag, als er hörte, wie Balthild
gequält aufstöhnte.
»Ist Euch nicht gut, mein Fräulein?« fragte er teilnahmsvoll und
machte zwei Schritte auf das Lager des Mädchens zu.
Balthild fuhr hoch wie ein aufgeschreckter Vogel.
»Bleibt, wo Ihr seid«, schrie sie ihn an. »Wagt ja nicht, mir zu nahe
zu treten!«
»Warum... warum seid Ihr auf einmal so garstig zu mir?«
»Das fragt Ihr?« funkelte die Grafentochter ihn an. »Haltet ihr
mich für eine Bauernmagd, die zu tumb ist, um die Wahrheit zu
erkennen? Ganz genau weiß ich jetzt, wie Ihr mich getäuscht habt.
Nicht Ihr, sondern Euer sauberer Freund hat unten im Hof gesungen
und gespielt! Ich frage mich nur, woher Ihr die Stirn nehmt, mir wie
ein Troubadour entgegenzutreten. Mit einer Stimme wie der Euren
könntet ihr die Raben vom Feld verscheuchen, aber ...«
»Beleidigt mich nicht, mein Fräulein«, fiel ihr Roland ins Wort.
»Was ich tat, tat ich nur, um Eure Liebe zu gewinnen.«
»Oh, die habt Ihr gewonnen. Gestattet mir, sie Euch gebührend zu
bezeugen!«
Balthild sprang von ihrem Lager hoch. Und ehe es sich Roland
versah, hatte sie eine tönerne Waschschüssel gepackt und ihm über
den Kopf geschmettert. Der Schlag war so kräftig, daß die Schüssel
in tausend Scherben zersprang und den Ritter in kaltem Wasser
badete.
Wie ein begossener Jagdhund stand Roland da, völlig sprachlos
vor Verblüffung.
»Und nun raus mit Euch!« schrie Balthild. »Oder wollt Ihr, daß ich
meinen Vater rufe?«
Darauf legte Roland keinen Wert. Zwar fürchtete er den Grafen in
keiner Weise. Aber er wußte, daß er im Unrecht war. Deshalb zog er
es vor, der unmißverständlichen Aufforderung nachzukommen.
»Großes ist Euch entgangen, mein Fräulein«, sagte er mit all der
Würde, die ihm noch verblieben war. »Ich mag zwar nicht der
gewaltigste Sänger auf Erden sein, aber was die Minne angeht ...«
»Raus!«
Roland ging.
*
Erleichtert atmete Rodulf Lamm auf, als er vor sich die Häuser
Zweikirchens auftauchen sah. Binnen kürzester Zeit würde die
Morgendämmerung anbrechen, und es war nicht gut für einen Mann
wie ihn, im Tageslicht gesehen zu werden.
Wenig später hatte er das Dorf, das zu den größten in der ganzen
Grafschaft gehörte, erreicht. Außerhalb der Häuser ließ sich noch
niemand blicken. Aber durch die Ritzen der geschlossenen
Fensterläden drang hier und dort bereits der Lichtschein von Fackeln
und Herdfeuern hervor. Zweikirchen erwachte, um sich auf einen
langen und harten Arbeitstag vorzubereiten.
Rodulf huschte durch das Dorf, bis er vor einem ganz bestimmten
Haus angelangt war. Dieses Haus, größer und massiver gebaut als die
meisten in der Nachbarschaft, gehörte Rolfmar Diederich, dem
Schultheiß Steinkirchens. Diederich war der Mann, wegen dem
Rodulf den beschwerlichen und anstrengenden Weg aus den Bergen
unternommen hatte.
Auf leisen Sohlen umrundete Rodulf das Haus und klopfte dann
gegen ein rückwärtiges Fenster, hinter dem es hell flackerte.
Mehrere Augenblicke lang tat sich im Inneren des Hauses nichts.
Dann wurde eine tiefe Männerstimme laut.
»Wer ist da?«
»Mach auf, Diederich«, antwortete Rodulf halblaut.
Der Fensterladen wurde geöffnet, der Tuchvorhang
hochgeschlagen. Ein älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht und
gichtgebeugten Schultern zeigte sich
- der Schultheiß. Im
Hintergrund erkannte Rodulf eine dickliche Frau, die mit dem
Schürhaken in der Hand neben dem brennenden Kamin stand.
Diederich beugte sich vor und blickte mit alterstrüben Augen nach
draußen.
»Wer bist du?« fragte er wieder. »Ich kenne dich nicht.«
»Wirklich nicht? Sieh genau hin, Diederich!« Rodulf trat ganz
nahe ans Fenster heran.
Jetzt zuckte der Schultheiß leicht zusammen.
»Der ... Lämmerschling!« stieß er hervor.
Rodulf verzog das Gesicht. »Nur diejenigen, die meinen Tod
wünschen, belegen mich mit diesem Namen! Muß ich dich zu ihnen
zählen, Diederich?«
»Nein, ich ... Was willst du von mir, Rodulf Lamm?«
»Müssen wir das hier am Fenster besprechen? Es gibt vielleicht
manche in Zweikirchen, die mich nicht unbedingt sehen müssen.«
Der Schultheiß zögerte kurz, machte dann eine winkende
Bewegung mit der Hand.
»Komm herein!«
Das ließ sich Rodulf nicht zweimal sagen. Im Nu war er durch das
Fenster in die Stube geklettert. Hastig legte Diederich den Holzladen
wieder vor und schloß den Vorhang.
Mit großen Augen sah ihn die Frau des Schultheiß an. Sie sagte
kein einziges Wort, aber in ihren Augen nistete die Angst.
»Ihr habt nichts von mir zu befürchten«, sagte Rodulf und lächelte.
»Ich bin gewiß nicht gekommen, um euch zu berauben.«
»Es ist gut, Agnes«, sagte Rolfmar Diederich und nickte seiner
Frau zu. »Geh, und laß uns allein.«
Immer noch wortlos verließ die Frau die Stube.
Diederich deutete auf eine Holzbank neben dem Kamin. »Nimm
Platz, Rodulf Lamm. Willst du etwas trinken - einen Gerstenbrand
vielleicht?«
»Da würde ich nicht nein sagen!« Rodulf ging zur Bank hinüber
und setzte sich. Die Wärme, die dem Kamin entströmte, empfand er
als ungemein angenehm. Er rieb sich die kalten Hände über den
Flammen.
Wenig später hatte er auch die Gelegenheit, sich von innen
aufzuwärmen. Der Gerstenbrand, den ihm der Schultheiß reichte, war
nicht besonders gut, aber stark.
Rolfmar Diederich zog sich einen Schemel heran und nahm ihm
gegenüber Platz.
»Kommen wir zur Sache, Rodulf Lamm. Sag mir, warum du zu
mir gekommen bist.«
»Ich möchte dich für einen Plan gewinnen, Rolfmar Diederich«,
sagte Rodulf. »Für einen großen und kühnen Plan!«
»Mich?« Der Schultheiß schüttelte den Kopf. »Ich bin ein alter und
kranker Mann geworden. Da macht man keine großen Pläne mehr
und führt sie noch viel weniger aus.«
»Du bist nicht nur alt und krank, Diederich! Du bist klug und
genießt die Achtung aller, die dich kennen. Und es sind nicht wenige,
die dich kennen. Dein Wort gilt etwas in unserem Land - bei Freien
und bei Unfreien. Man hört auf dich!«
»So, tut man das?« Der alte Mann lächelte bitter. »Die Gicht hat
mich so in ihren Klauen, daß ich kaum noch in der Lage bin, das
Haus zu verlassen. Ich bin zu nichts mehr nutze, du aber willst große
Pläne mit mir erörtern. Dennoch, laß mich hören, was du zu sagen
hast. Neugierig bin ich noch immer.«
Rodulf holte tief Luft. »Was ich will, ist kurz gesagt. Ich will Graf
Eberhard von Trutzen, unseren allseits verhaßten Landesherrn, von
seinem Thron stürzen und seiner Schreckensherrschaft ein
gewaltsames Ende bereiten!«
Der alte Mann lachte meckernd. »Mehr nicht, Rodulf Lamm? Mehr
hast du dir nicht vorgenommen?«
Ärgerlich schob Rodulf das Kinn vor. »Lachst du mich aus,
Rolfmar Diederich?«
»Ich lache dich nicht aus, ich lache nur über deinen sogenannten
Plan. Er ist... verrückt, das wirst du selbst zugeben müssen. Wie
willst du den Grafen stürzen? Mit dem Häuflein von Ausgestoßenen,
die du um dich geschart hast? Wie viele sind es - zwanzig, dreißig?«
»Unsere Streitmacht besteht gegenwärtig aus dreiundvierzig
Männern und fünf Frauen. Nein, sechs Frauen sind es inzwischen,
wenn ich meine Schwester mitzähle. Zugegeben, unsere Zahl ist
klein, aber wir sind zu allem entschlossen!«
»Das mag schon sein. Aber was wollt ihr mit so wenigen gegen die
schwerbewaffneten und kampferprobten Ritter des Grafen
ausrichten? Mach dir selbst nichts vor, Rodulf Lamm, sondern ...«
»Ich weiß selbst, daß ich allein mit meinen Leuten die Trutzenburg
nicht stürmen kann«, fiel ihm Rudolf ins Wort. »Darum bin ich zu
dir gekommen.«
Der Schultheiß legte die Stirn in Falten. »Ich verstehe nicht so
recht, was ich ...«
»Mach deinen Einfluß geltend, Diederich. Rede mit anderen
Schultheißen, sprich zu den Bauern und Handwerkern! Sage ihnen,
daß sie sich alle gegen den Grafen erheben sollen, daß sie sich uns
anschließen sollen! Wir, die Geknechteten, Unterdrückten,
Ausgebeuteten, sind viele Tausende. Die Gräflichen sind
hoffnungslos in der Minderzahl. Wenn wir zusammenhalten, wenn
wir wie ein Mann beieinander stehen, können wir den Tyrannen und
seine Kreaturen hinwegfegen und die Trutzenburg dem Boden
gleichmachen!«
Rolfmar Diederich fuhr sich mit der Hand über die faltige Stirn.
Ein fast entrückter Ausdruck trat in seine Augen.
»Es wäre zu schön, wenn es gelänge«, sagte er leise. »Aber es ist
nur ein Traum, Rodulf Lamm. Mit Flegeln und Mistgabeln gegen
Schwerter und Lanzen? Es ist... unmöglich.«
»Es ist nicht unmöglich«, widersprach Rodulf. »Gegen fünf
Dreschflegen ist ein Schwert machtlos! Und sei eine Lanze auch
noch so gut geworfen, zehn Mistgabeln wehren sie mit Leichtigkeit
ab! Wir können es schaffen, Diederich. Wir können es wirklich
schaffen!«
Wieder schüttelte der alte Mann den Kopf. »Du siehst die
Menschen nicht so, wie sie wirklich sind, Rodulf Lamm. Die Bauern
und Handwerker sind kleinmütig und voller Furcht. Und die meisten
denken nur an sich selbst und ihre nahen Blutsverwandten. Solange
sie in der Lage sind, ihr kärgliches Leben halbwegs zu fristen ...«
»Sind sie dazu in der Lage?« warf Rodulf ein. »Sind sie wirklich in
der Lage, ihr kärgliches Leben zu fristen? Die jüngsten
Abgabenerhöhungen, die der Graf dem Volk aufgezwungen hat, sind
unmenschlich. Niemand wird sich mehr richtig satt essen können,
niemand wird seine Arbeit während eines normalen Tages verrichten
können!«
»Wem sagst du das?« erwiderte der Schultheiß seufzend. »Auch
Zweikirchen leidet schwer unter den neuen Abgaben.«
»Aber ihr unternehmt nichts dagegen. Ihr nehmt alles hin wie
Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden!«
»Nicht jeder ist so mutig, einen Gräflichen mit der Mistgabel
anzugreifen«, sagte Diederich. »Zugegeben, wenn alle so wären wie
du, Rodulf Lamm... Aber du irrst, wenn du denkst, daß wir gar nichts
tun. Die Bauern unseres Nachbardorfs Eichenau haben beschlossen,
eine Abordnung zur Trutzenburg zu schicken, um den Grafen um
Rücknahme der Abgabenerhöhung zu bitten. Auch einige
Zweikirchner werden mitgehen, darunter auch mein Sohn
Karlemann.«
»Und du glaubst wirklich, der Graf wird die Männer auch nur
anhören?«
»Wir können nur hoffen, mehr nicht«, erwiderte der Schultheiß
leise.
*
Die Brotzeit am nächsten Morgen verlief keineswegs mehr so
angenehm wie am Tag zuvor. Zwar hatte es sich der Graf nicht
nehmen lassen, seine Gäste auch diesmal an seinem Tisch zu
bewirten. Aber die Atmosphäre war geradezu frostig. Balthild
würdigte die beiden Ritter keines Blickes, und auch der Graf selbst
machte ein Gesicht, als habe es seit sieben Tagen geregnet.
Ob ihm zu Ohren gekommen ist, daß wir über Jacques d'Artagnac
Bescheid wissen? fragte sich Roland. Vielleicht hatte sich aber auch
seine Tochter bei ihm beschwert.
»Wann gedenkt Ihr, weiterzuziehen?« fragte Eberhard nach einer
Weile unumwunden. Er machte keinen Hehl daraus, daß er als
Antwort am liebsten das Wort »sofort« gehört hätte.
Diesen Gefallen jedoch konnten und wollten ihm die beiden
Freunde nicht tun. Solange sich Jacques d'Artagnac noch in
Gefangenschaft befand, würden sie das Feld nicht freiwillig räumen.
»Wir beabsichtigten eigentlich, noch ein paar Tage zu bleiben«,
antwortete Volker vom Hohentwiel deshalb. »Es gefällt uns auf der
Trutzenburg nämlich ausnehmend gut.«
»So, so«, sagte der Graf und kaute mißvergnügt auf einer
Hammelkeule herum.
Seine Tochter bedachte die beiden Ritter mit einem bösen Blick
und murmelte irgend etwas Unverständliches vor sich hin. Eine
Freundlichkeit war es gewiß nicht.
»Oder ist es Euer Wille, uns das Tor zu weisen?« wollte Roland
Nägel mit Köpfen machen.
Der Graf wurde einer Antwort enthoben, denn in diesem
Augenblick erschien einer seiner Getreuen im Türrahmen.
»Entschuldigt die Störung, aber ...«
»Was ist denn?« grollte Eberhard.
»Da ist eine Abordnung von Männern gekommen, die mit Euch
sprechen will, Herr.«
»Was für Männer?«
»Bauern!«
Eberhard hieb mit der Faust auf den Tisch, daß Schüssel und
Becher tanzten.
»Wegen ein paar lumpiger Bauernlümmel wagst du es, mich zu
belästigen, Kerl?« entrüstete er sich.
Die Art und Weise, in der Graf Eberhard über die Bauern sprach,
wollte Roland ganz und gar nicht gefallen. Auch Bauern waren
Menschen. Und außerdem vergaß der Burgherr wohl, daß er von der
Arbeit der Bauern prächtig lebte.
Der Getreue im Türrahmen trat unbehaglich von einem Fuß auf
den anderen.
»Sie sagen, daß es ... sehr wichtig sei«, erklärte er stockend.
»Wichtig, aha!« Ruckartig stand der Graf auf. »Wo sind denn die
Kerle?«
»Unten auf dem Burghof, Herr.«
»Wohlan, ich komme!«
Mit steifen Schritten ging Graf Eberhard zur Tür und verließ ohne
ein weiteres Wort den Raum.
Roland und Volker tauschten einen Blick. Dann erhoben sie sich
ebenfalls und folgten dem Burgherren.
Wenig später standen sie unten auf dem Hof.
Ja, da waren die Bauern. Ihre Abordnung bestand aus fünf
Männern, abgerissenen, ärmlichen Gestalten, denen man schon von
weitem ansah, daß Schmalhans bei ihnen Küchenmeister war. Mit
niedergeschlagenen Augen und hängenden Schultern standen sie da,
umringt von einer ganzen Schar gräflicher Getreuer.
»Was wollt ihr?« herrschte der Graf sie an.
Einer von ihnen, ein schon älterer Mann mit grauen Haaren und
zerfurchtem Gesicht, trat einen Schritt vor. Man merkte ihm an, daß
er sich regelrecht dazu zwingen mußte, seinem Landesherrn in die
strengen Augen zu sehen.
»Herr, wir ...« Die offenkundige Furcht vor dem Grafen machte es
dem Mann schwer, die richtigen Worte zu finden.
»Sprich schon«, donnerte Eberhard. »Ich habe Besseres zu tun, als
mir stundenlang dein elendes Gestammel anzuhören!«
Der alte Mann schluckte, gab sich dann einen Ruck. Als er wieder
zu reden begann, kamen ihm die Worte auf einmal überraschend
flüssig über die Lippen.
»Vergebung, all ergnädigster Herr, aber wir möchten untertänigst
darum bitten, die jüngste Abgaben- und Dienstleistungserhöhung
zurücknehmen. Es ist uns nicht zumutbar ...«
»Es ist euch nicht... zumutbar?« fuhr der Graf mit scharfer Stimme
dazwischen.
»Wir ... äh ... schaffen es nicht, die geforderten Leistungen zu
erbringen«, milderte der Alte seine Worte. »Selbst wenn der Herrgott
uns hilft, schaffen wir es nicht!«
Das Gesicht des Grafen verzerrte sich vor Wut und lief rot an.
»Du hast die ungeheuerliche Frechheit, den Namen Gott als
Entschuldigung für eure stinkende Faulheit zu mißbrauchen, Kerl?«
tobte er schier außer sich. »Für diese beispiellose Lästerung gibt es
nur eine einzige Antwort!«
Er trat auf einen seiner Getreuen zu, riß dem Ritter das Schwert aus
der Scheide. Mit drei schnellen Schritten stand er vor dem alten
Mann. Das Schwert zuckte durch die Luft, und im nächsten
Augenblick lag der Bauer entseelt vor den Füßen des Grafen.
»So geht es jedem, der sich gegen mich und Gott auflehnt!«
verkündete der Burgherr mit knarrender Stimme.
Tiefes Schweigen folgte der erbarmungslosen Tat. Die Bauern
waren vor Entsetzen förmlich gelähmt. Roland und Volker waren
ebenfalls geschockt. Sie hatten den Tod schon in vielfältiger Form
gesehen. Eine solche Gnadenlosigkeit war jedoch auch für sie alles
andere als alltäglich. Und selbst die Getreuen des Burgherrn machten
betretene Gesichter - ein Teil von ihnen jedenfalls.
Graf Eberhard blieb völlig unbeeindruckt. Drohend hob er das
blutige Schwert und wandte sich an die Bauern.
»Macht, daß ihr an die Arbeit kommt, faules Pack, sonst.. .«
Die Bauern waren noch zu verstört, um den Befehl unverzüglich zu
befolgen. Nur ganz langsam kam Bewegung in sie.
Zu langsam für den Geschmack des Grafen...
»Bodo, die Hunde!« brüllte er. »Wir wollen doch sehen, ob dieses
Gesindel nicht doch noch das Gehorchen lernt!«
Einer seiner Getreuen entfernte sich, kehrte aber bereits nach
wenigen Augenblicken zurück. An einer mehrstrangigen Leine führte
er vier zähnefletschende, wie wahnsinnig bellende Hunde. Die Tiere
waren fast so groß wie Kälber. In ihren Augen stand die blanke
Mordlust geschrieben.
Die Bauern, die gerade dabei waren, den Leichnam ihres
erschlagenen Kameraden zu bergen, fuhren furchtsam zusammen.
»Laß die Hunde los, Bodo!« befahl Graf Eberhard mit
schneidender Stimme.
Der Hundeführer tat, wie ihm geheißen wurde. Er beugte sich
nieder und löste die Leine.
»Faß!« , Wie ein ausgehungertes Wolfsrudel jagten die Hunde los.
Kläffend, knurrend und greifend stürzten sie sich auf die Bauern.
Entsetzt schrien die unglücklichen Männer auf. Sie hatten jetzt
keine Zeit mehr, sich um den Toten zu kümmern.
So schnell wie ihre Füße sie tragen konnten, rannten sie dem noch
offenstehenden Burgtor entgegen, verfolgt von den Hunden, die nach
ihnen schnappten wie nach einem besonders fetten Köder.
Die Flucht der Bauern ging nicht ohne zerfetzte Kleidung und
häßliche Bißwunden ab. Sie schafften es alle, sich nach draußen zu
retten, wo die gut abgerichteten Hunde von ihnen abließen.
Alle bis auf einen ...
Dieser eine, ein junger Bursche noch, der kaum dem Kindesalter
entwachsen war, geriet ins Stolpern. Verzweifelt versuchte er, sich
auf den Beinen zu halten. Es gelang ihm nicht. Er verlor den Boden
unter den Füßen und schlug lang hin.
Sofort waren zwei der Hunde über ihm. Es sah ganz danach aus,
als ob sie ihn lebendigen Leibes zerfleischen würden.
Das war zuviel für Roland. Er konnte dem bösen Geschehen nicht
länger tatenlos zusehen.
Er rannte quer über den Burghof und warf sich in das Getümmel
zwischen Mensch und Tier. Ein mächtiger Fußtritt traf den einen
Hund und schleuderte ihn mehrere Ellen weit weg. Zwar kam das
Tier schnell wieder auf die Beine, aber seine Kampfeswut war
gebrochen. Es jaulte jämmerlich und zog den Schwanz ein.
Der zweite Hund jedoch hatte von Rolands Eingreifen bisher noch
keine Notiz genommen. Er hatte sich im Oberschenkel des jungen
Burschen festgebissen und schien nicht gewillt zu sein, jemals
wieder loszulassen.
Roland stieß ein Knurren aus, das dem der Bestie nicht unähnlich
war. Dann beugte er sich nieder und griff mit beiden Fäusten zu. Er
packte den Ober- und den Unterkiefer des Hundes und riß die
messerspitzen Zahnreihen auseinander.
Sofort kam der junge Bauernbursche frei.
»Lauf, Junge«, rief ihm Roland zu. »Lauf so schnell, wie du
kannst!«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht mühte sich der Bauernbursche
hoch. Sein magerer Körper war mit Biß- und Kratzwunden übersät.
Sein Oberschenkel war eine einzige Blutlache. Aber in seinen Augen
loderte ein helles Feuer.
»Danke, Ritter«, keuchte er. »Ihr seid der einzige Mensch unter
lauter Bestien!«
Dann eilte er davon, humpelnd und das verletzte rechte Bein
nachziehend.
Roland hatte keine Zeit, weiterhin auf ihn zu achten. Der Hund
beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Es war dem Tier
inzwischen gelungen, Rolands Hände abzuschütteln. Sein Fang mit
den mörderischen Reißzähnen schnappte wild zu. Der Ritter mit dem
Löwenherzen schaffte es gerade noch so, seine Hand wegzuziehen.
Das Krachen der zuklappenden Kiefer ließ erahnen, daß der Hund
Roland glatt das Gelenk durchgebissen hätte.
Im Grunde seines Herzens war Roland ein Freund der Tiere. Dieser
Hund jedoch war von seinem Herrn mit Bedacht zu einer reißenden
Bestie gemacht worden. Schonung war nicht am Platz, denn Roland
erkannte sehr wohl, daß das Tier zu einer tödlichen Gefahr werden
konnte, wenn er nicht sehr gut aufpaßte.
Er ballte die Faust und schlug mit aller Kraft zu. Und er traf den
Hund gut - mitten zwischen den blutgierig blitzenden Augen.
Dieser eine Schlag genügte. Der Hund klappte zusammen und
streckte alle viere von sich.
Erleichtert atmete Roland auf und massierte seine schmerzenden
Knöchel. Der Kampf war gewonnen.
Der Kampf gegen die Tiere, nicht aber der gegen die Menschen ...
Graf Eberhard trat mit wütendem Gesicht auf ihn zu.
»Was fällt Euch ein, hier ohne meine Erlaubnis einzugreifen?«
»Ich brauche Eure Erlaubnis nicht, um ein Menschenleben zu
retten«, antwortete Roland kalt.
»Menschenleben«, echote der Burgherr verächtlich.
»Stumpfsinniges Bauernpack, das im Dreck der Erde herumwühlt.
Man muß dem Pack zeigen, wo es hingehört!«
»Ihr seid ein elender Menschenschinder. Graf Eberhard«, sagte
Roland zähneknirschend.
Ihm war klar, daß es höchst unklug war, so zu dem Burgherrn zu
sprechen. Aber der Zorn, der in ihm aufgewallt war, ließ ihn darauf
jetzt keine Rücksichten nehmen.
»Ihr beleidigt mich, Ritter?« fragte der Graf und kniff die Augen
zu schmalen Schlitzen zusammen.
»Ich sage nichts als die Wahrheit!«
Böse lachte der Burgherr auf. »Dies zu tun, hat kürzlich schon
jemand vorgegeben. Es ist ihm gar nicht gut bekommen!«
»Dieser jemand war gewiß Jacques d'Artagnac!« vermutete der
Ritter mit dem Löwenherzen.
Abermals lachte der Graf. »Da Ihr es schon wißt... Es wird Euch
sicherlich freuen, Euren Freund alsbald wiederzusehen!«
Er wandte sich an seine Getreuen. »Packt ihn!«
Rolands Rechte fuhr nach dem Knauf seines Schwertes. Aber er
kam nicht dazu, die Waffe aus der Scheide zu ziehen. Augenblicklich
war er von einer großen Anzahl gräflicher Ritter umringt.
»Seid ihr töricht, Ritter Roland«, sagte der hochgewachsene,
schlanke Haldemar.
Roland sah die Aussichtslosigkeit jedweden Widerstands ein. Und
auch Volker vom Hohentwiel, der seinem Freund zu Hilfe eilen
wollte, erkannte die Ungunst des Augenblicks. Die Getreuen des
Grafen standen wie eine Mauer.
Roland sah, daß es nicht nur feindliche Blicke waren, die ihn
trafen. Manch einer der Gräflichen zeigte durchaus Mitgefühl - der
junge Kuno zum Beispiel, dem Roland einige Kunststücke mit dem
Schwert vorgeführt hatte. Aber natürlich wagte es keiner der Männer,
sich gegen die Befehlsgewalt des Grafen aufzulehnen.
Roland und Volker wurden ergriffen und weggeführt.
Auf dem Weg zu den Verliesen sah Roland die schöne Balthild auf
dem Balkon ihres Gemachs stehen.
Ein befriedigtes Lächeln umspielte die vollen Lippen der
Grafentochter.
*
»Karlemann!«
Der Entsetzensschrei Agnes Diederichs gellte so laut durch das
Haus, daß Rodulf Lamm davon erwachte. Da es nicht gut für ihn
war, bei Tageslicht gesehen zu werden, hatte er die Einladung des
Schultheiß angenommen und war noch im Haus geblieben, um die
Abenddämmerung abzuwarten. Der Schlaf war in den letzten Tagen
und Nächten etwas zu kurz gekommen, und deshalb hatte er sich ein
wenig aufs Ohr gelegt. Jetzt aber war an ruhiges Weiterschlafen nicht
mehr zu denken. Der Schrei der Schultheißfrau riß ihn von seinem
Lager hoch.
Er trat an die geschlossene Tür der kleinen Stube, die man ihm
zugewiesen hatte, und lauschte.
Jetzt weinte Agnes Diederich, während der Schultheiß selbst böse
Verwünschungen ausstieß. Dazu ertönte eine junge Männerstimme,
die erklärte, daß alles halb so wild sei.
Fremde schienen sich nicht in der Wohnstube nebenan aufzuhalten.
Deshalb wagte Rodulf es, sein Versteck zu verlassen. Er öffnete die
Tür und trat in die Wohnstube.
Da waren der Schutlheiß und seine Frau und ein junger Bursche,
bei dem es sich fraglos um den Sohn der beiden handelte.
Aber wie sah der Bursche aus!
Die Kleidung hing ihm nur noch in Fetzen vom Leibe. Überall
waren böse Hautabschürfungen zu sehen, und um sein rechtes Bein
schlang sich ein Tuch, das durch und durch voller Blut war.
Potztausend - man hatte dem Jungen wirklich übel mitgespielt.
Agnes Diederich, ganz fürsorgliche Mutter, kümmerte sich bereits
um ihren Sohn. Sie hatte eine Schüssel Wasser geholt und machte
sich daran, das blutige Beintuch vorsichtig zu lösen.
»Das also ist das Ergebnis der Verhandlungen mit unserem
geliebten Landesherrn«, stellte Rodulf mit bitterem Spott fest.
Karlemann Diederich hob den Kopf, blickte zuerst Rodulf, dann
seinen Vater an.
»Wer ... ist dieser Mann?«
»Du hast sicher schon von ihm gehört - Rodulf Lamm«, gab der
Schultheiß Auskunft.
»Der Hauptmann der Freischärler?«
»Ja, der bin ich«, sagte Rodulf.
Trotz der Schmerzen, die er zwangsläufig haben mußte, strahlte
der junge Bursche jetzt übers ganze Gesicht.
»Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Hauptmann«, erklärte er.
»Männer wie Euch müßte es mehr geben, dann...«
»Schon gut, Karlemann«, unterbrach ihn sein Vater. »Würdest du
uns nun endlich berichten, was geschehen ist?«
Das Gesicht des jungen Mannes verdüsterte sich. »Da gibt es
eigentlich nicht viel zu berichten.«
»Ihr habt den Grafen gar nicht zu Gesicht bekommen?«
»Unglücklicherweise doch! Aber er war nicht bereit, uns
anzuhören. Er beschimpfte uns als schmutziges Faulenzerpack, und
dann nahm er ein Schwert und erschlug den Schultheiß von
Eichenau.«
»Er... erschlug ihn mit eigener Hand?«
»Ohne mit der Wimper zu zucken«, bestätigte Karlemann
Diederich. »Und anschließend hetzte er eine wilde Hundemeute auf
uns. Wenn mich nicht ein Ritter im letzten Augenblick gerettet hätte,
wäre ich auf dem Burghof zerfleischt worden.«
Agnes Diederich schluchzte laut. »Mein armer, armer Junge. Wärst
du doch nur hier geblieben!«
Rodulf Lamm schob das Kinn nach vorne und blickte den
Schultheiß scharf an.
»Nun, Rolfmar Diederich«, sagte er, »meinst du nicht doch, daß
mein Plan eine nochmalige Überlegung wert ist?«
Der alte Mann nickte langsam und bedächtig. »Vielleicht hast du
recht, Rodulf Lamm!«
*
Roland bekam einen gemeinen Tritt in das verlängerte Hinterteil und
wurde regelrecht in das Verlies hineinkatapultiert. Klirrend schloß
sich hinter ihm die massive Bohlentür. Der Schlüssel drehte sich
zweimal, dann war Stille.
Ächzend erhob er sich von den rohen Steinen, auf die er gestürzt
war. Dann machte er sich daran, sein Gefängnis zu erkunden.
Viel zu erkunden gab es da allerdings nicht. Das Mauergeviert
hatte einen Durchmesser von vielleicht fünf Ellen. Ein Fenster gab es
nicht, nur die Tür und dicke, undurchdringliche Wände, die feucht
waren und modrig rochen.
Ein Verlies, aus dem es kein Entkommen gab!
»Zufrieden mit deinem neuen Zuhause, Freund?«
Roland zuckte zusammen, als er die völlig unvermutete Stimme
hörte. Er hatte bisher gar nicht bemerkt, daß sich noch jemand in
dem engen Raum befand. Sehen konnte er in der abgrundtiefen
Finsternis ohnehin nichts. Und bei seinem Rundgang war er auch auf
niemanden gestoßen.
»Wo ... bist du?« fragte er.
»Hier!«
Die Stimme, schwach und zittrig wie die eines uralten Mannes,
kam aus der linken Ecke des Verlieses. Roland tastete sich an der
schlüpfrigen Mauer entlang. Und tatsächlich, da war der Mann. Er
saß mit angezogenen Beinen auf dem steinernen Boden, so eng an
die Wand gepreßt, daß Roland zunächst glatt an ihm vorbeigegangen
war.
Der Ritter mit dem Löwenherzen ging vor seinem
Leidensgenossen in die Knie.
»Wer bist du?« wollte er wissen. »Jacques d'Artagnac vielleicht?«
Im Gegensatz zu Volker vom Hohentwiel kannte er den Sänger aus
der Provence nicht persönlich.
»Nein«, antwortete der andere. »Der Sänger schmachtet im Verlies
nebenan. Und wer ich bin... Nun, du würdest niemals darauf
kommen.«
»Das mag schon sein. Ich bin nämlich fremd im Land, mußt du
wissen, Freund. Ach ja, mein Name ist übrigens Roland, Ritter
Roland.«
»Oh, ein nobler Herr also. Verzeiht mir, daß ich Euch gleich plump
vertraulich anredete!«
Roland lachte böse auf. »Ich glaube kaum, daß unter den
obwaltenden Verhältnissen höfische Manieren vonnöten sind. Nenne
mich ruhig Roland, Leidensbruder. Und dann sag mir, wie ich dich
rufen soll.«
»Winfried«, antwortete der Mitgefangene. »Winfried von Trutzen,
genauer gesagt.«
»Winfried von... Trutzen? Bist du ... Seid Ihr...«
»Duze mich ruhig, Roland, Du hast recht, hier im Vorhof der Hölle
ist kein Platz für die feinen Bräuche.«
»Bist du in irgendeiner Form mit dem Grafen verwandt? Ein ferner
Vetter vielleicht oder ...«
»Ich bin der Sohn des Grafen«, sagte der andere.
Diese Nachricht mußte der Ritter mit dem Löwenherzen erst mal
richtig verdauen. Der Sohn des Burgherren in einem Verlies wie
diesem... Es war kaum zu fassen. Und so richtig glaubte er es noch
immer nicht. Die Stimme des anderen klang nicht wie die eines
jungen Mannes. Und alt konnte der Sohn des Grafen ja noch nicht
sein.
Er trug dem Mitgefangenen seine Bedenken vor.
Müde lachte der andere. »Wenn du länger als ein Jahr hier unten
geschmachtet hast, Roland, wirst du auch klingen wie dein eigener
Großvater.«
»Aber warum?« fragte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Warum
bist du hier?«
»Weil ich es wagte, meinem Vater die Wahrheit zu sagen.«
»Die Wahrheit?«
»Ich habe meinem Vater ins Gesicht gesagt, daß er ein grausamer,
erbarmungsloser Tyrann ist! Ich habe ihm gesagt, daß ich nicht bereit
bin, den Verbrechen länger tatenlos zuzusehen, die er täglich an
seinen unglücklichen Untertanen verübt!«
»Und da hat er dich eingesperrt.«
»So ist es. Ich kann sogar noch von Glück sagen, daß er mich nicht
getötet hat. Aber das wagte er anscheinend nicht.«
»Warum nicht?« fragte Roland. »So wie ich ihn erlebt habe,
bedeuten ihm Menschenleben nicht viel.«
»Das ist wohl wahr«, pflichtete ihm der Grafensohn zu. »Aber ich
habe Anhänger und Freunde unter den Getreuen der Trutzenburg.
Wahrscheinlich fürchtete mein Vater, daß sich diese Getreuen gegen
ihn stellen würden, wenn er mir das Leben nahm.«
»Aber keiner deiner sogenannten Freunde rührte einen Finger, um
dich hier aus dem Verlies herauszuholen!«
»Man darf von seinen Freunden nicht zu viel verlangen«, sagte
Winfried von Trutzen. »Wer setzt schon aus freien Stücken sein
Leben aufs Spiel? Sicherlich hätte derjenige, der etwas zu meiner
Befreiung tut, den Tod zu erwarten.«
Roland spuckte aus. »Pfui denen, die ihr eigenes Leben höher
einschätzen als das anderer! Um einen Freund zu retten, würde ich
selbst mit dem Teufel kämpfen.«
»Das ehrt dich, Roland, aber ...«
»Da gibt es kein >Aber<!«
»Einer meiner Anhänger tat doch etwas für mich«, fuhr der
Grafensohn fort. »Er spielte mir ein scharfes Messer in die Hand.«
»Um dir die Möglichkeit zu geben, dich selbst zu entleiben?« sagte
Roland anzüglich.
»Ein Messer kann man auch dazu benutzen, sich einen Weg in die
Freiheit zu bahnen.«
»So? Warum bist du dann noch immer hier im Verlies?«
»Wenn ich nicht so krank und geschwächt wäre, hätte ich meine
Freiheit längst wieder.«
Winfried von Trutzen schwieg einige Augenblicke, sagte dann:
»Hilf mir auf die Füße, Roland! Ich will dir etwas zeigen.«
Roland wußte zwar nicht, was es in dieser Finsternis zu zeigen gab,
aber er wollte seinem Leidensgefährten den Wunsch natürlich nicht
abschlagen.
Er packte den jungen Mann mit der uralten Stimme unter den
Achseln und zog ihn behutsam hoch. Winfried von Trutzen war in
der Tat so geschwächt, daß er selbst kaum etwas dazu beitragen
konnte, sich aufzurichten. Mit Grauen dachte Roland daran, daß es
ihm ähnlich ergehen mochte. Die Verpflegung, die der schurkische
Graf seinen Gefangenen zukommen ließ, reichte offenbar soeben
aus, den sicheren Tod etwas hinauszuzögern.
Als Winfried auf den Beinen stand, obwohl er sich mit beiden
Händen an der Wand abstützen mußte, machte der Ritter mit dem
Löwenherzen eine eigentümliche Entdeckung.
»Hier zieht es plötzlich«, stellte er fest.
»Das ist nicht weiter verwunderlich«, lachte sein Mitgefangener
leise. »Wenn frische Luft in den Raum dringt...«
Frische Luft in einem tiefen Kellerverlies? Roland sah sich noch
nicht in der Lage, das Rätsel zu lösen.
»Sieh dir genau an der Stelle, wo ich saß, die Mauer an«, sagte
Winfried von Trutzen.
Roland ging in die Knie.
Und sah einen ganz schwachen Lichtschimmer!
Einer der Mauerquader saß nicht fest im Verbund, so daß sich
Lücken in der Wand zeigten.
Roland richtete sich auf. »Du hast mit dem Messer den Mörtel aus
der Wand gekratzt, Winfried?«
»Das habe ich, ja. Es hat mich ein ganzes Jahr gekostet, die Arbeit
zu verrichten. Dann aber hatte ich es geschafft. Der Quader liegt
übrigens völlig frei und läßt sich herausnehmen.«
»Und warum, zum Teufel tust du es nicht?«
»Dafür gibt es mehrere Gründe«, antwortete der Grafensohn.
»Einmal bin ich inzwischen zu schwach geworden, um den schweren
Stein bewegen zu können. Und zum zweiten ...«
»Ja?«
»Selbst wenn ich den Quader herausnehmen könnte, wäre ich
dennoch nicht in der Lage zu fliehen.«
»Warum nicht? Es fällt Tageslicht ein. Also führt der Weg durch
die Mauer unmittelbar ins Freie.«
»Nimm den Quader aus der Wand«, sagte Winfried. »Dann wirst
du selbst sehen, was ich meine.«
Roland spuckte in die Hände und packte mit beiden Händen den
Stein. Dann aber zögerte er.
»Was ist?« fragte sein Mitgefangener.
»Besteht nicht die Gefahr, daß jemand kommt?«
»Das brauchst du nicht zu fürchten«, wurde Roland durch den
Grafensohn beruhigt. »Nur ein einziges Mal am Tag wird ein Napf
mit Grütze und ein Becher Wasser gebracht. Du kannst sterben hier
unten, ohne daß jemand Notiz davon nimmt.«
Jetzt ließ sich der Ritter mit dem Löwenherzen nicht länger
aufhalten. Er ging wieder in die Hocke und packte den Stein. Er war
schwer, sehr schwer, dieser Quader. Winfried von Trutzen war
offensichtlich ein starker junger Mann gewesen, bevor ihn die lange
Gefangenschaft entscheidend geschwächt hatte. Roland brauchte
jedenfalls seine ganzen Kräfte, um den Stein anheben zu können.
Aber damit hatte er ihn noch keineswegs aus dem Loch.
Dreimal holte Roland tief Luft. Dann wuchtete er den Quader mit
einem Ruck ins Leere des Verlieses.
»Puh«, machte er, während er um Atem rang. »Mit einem wilden
Stier zu kämpfen, ist einfacher!«
Tageslicht fiel jetzt in den engen Raum ein. Es war nicht strahlend
hell, aber es reichte doch aus, um eine gute Elle weit sehen zu
können.
Zum ersten Mal konnte Roland nun seinen Mitgefangenen in
Augenschein nehmen. Winfried von Trutzen war sicherlich einst ein
kräftiger Bursche gewesen. Jetzt allerdings war dies nur noch zu
ahnen. Sein Gesicht, das eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der
schönen Balthild aufwies, wirkte grau und abgezehrt. Die Wangen
waren eingefallen, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Keine
Frage, daß er dem Tode viel näher war als dem Leben.
Auch der Grafensohn hatte seinen Leidensgefährten eingehend
gemustert. Ein mattes Lächeln huschte über sein ausgemergeltes
Gesicht, das so alt wirkte wie das eines Vierzigjährigen.
»Du bist jung und stark, Roland«, stellte er fest. »Deine Muskeln
besitzen die nötige Spannkraft, und deine Hände verstehen es, richtig
zuzupacken. Vielleicht schaffst du es, was ich vergeblich angestrebt
habe!«
Roland nickte und wandte sich von Winfried ab. Seine ganze
Aufmerksamkeit galt nun der Maueröffnung, die er geschaffen hatte.
Sie war gerade breit genug, um Kopf und Oberkörper
hindurchzuzwängen, was Roland auch sogleich tat. Er blickte hinaus.
Eine steil abfallende Felswand lag unter ihm. Die Entfernung bis
zum Talboden betrug mindestens fünfzig Klafter. Roland drehte den
Kopf nach oben und sah den Burgturm über sich. Jetzt wußte er
genau, wo er sich befand: an der rückwärtigen Seite der Trutzenburg.
Die Verliese waren nicht in die Erde hineingebaut, sondern
unmittelbar mit dem Steilhang verbunden worden.
Dennoch sah er keine Möglichkeit, aus dem Gefängnis entkommen
zu können. An der Außenwand entlangzuklettern, würde selbst eine
Katze nicht schaffen. Ein Absturz in die schwindelnde Tiefe wäre
unvermeidlich gewesen. Nur mit einem starken Seil konnte man nach
unten gelangen, und dieses Seil müßte länger sein als jedes, das
Roland je in seinem Leben gesehen hatte. Ein Seil stand ihm und
dem Grafensohn jedoch nicht zur Verfügung, kein kurzes und schon
gar kein langes.
Maßlos enttäuscht zog Roland den Kopf wieder ins Innere des
Verlieses zurück. Er konnte sich kaum etwas Grausameres
vorstellen, als die Freiheit unmittelbar vor den Augen zu haben und
sie doch nicht erreichen zu können.
»Du wirfst den Bogen bereits in den Hafer?« sagte Winfried von
Trutzen mit leicht tadelndem Unterton.
Roland zuckte die Achseln. »Ich wüßte nicht, wie ...«
»Du siehst mir aus wie jemand, der locker vom Rücken seines
Pferdes springt. Oder ziehst du es vor, in Altmännerart aus dem
Sattel zu klettern?«
»Ich ziehe ersteres vor.«
»Wohlan denn«, sagte Winfried. »Warum versuchst du es nicht
auch hier mit einem Sprung?«
»In eine Tiefe von fünfzig Klaftern springen - bist du toll, mein
Freund?«
»Wer redet von fünfzig Klaftern? Blicke noch einmal nach
draußen. Schräg unterhalb der Öffnung, höchstens drei Körperlängen
tiefer, wirst du eine Föhre erkennen, die in einem Spalt in der
Felswand Wurzeln gefaßt hat. Wenn es dir gelingt, im Sprung den
äußersten Ast des Baumes zu erreichen ...«
Roland schob sich bereits wieder durch die Öffnung.
Ja, da stand die Föhre, von der Winfried gesprochen hatte. Der ihm
am nächsten kommende Ast befand sich in der Tat drei Körperlängen
unterhalb der Verliesöffnung. Und die seitliche Entfernung mochte
noch einmal zwei Körperlängen betragen.
»Nun, Roland?« rief der Grafensohn. »Traust du dir einen
tollkühnen Sprung zu?«
Tollkühn, das war genau der richtige Ausdruck! Andererseits, was
hatte Roland zu verlieren? Allenfalls das Leben. Und da dieses im
Verlies ohnehin keinen Pfennig wert war ...
»Ja«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen, »ich traue mir den
Sprung zu.«
*
Die kühnsten Erwartungen Rodulf Lamms wurden bei weitem
übertroffen.
Wer mit uns gegen die Trutzenburg ziehen will, möge sich auf dem
Drosselfeld einfinden!
So war er mit Rolfmar Diederich, den Schultheiß von Zweikirchen,
verblieben. Daß aber der Aufruf, zu dem Diederich sich schließlich
nach langem Hadern mit sich selbst entschlossen hatte, ein solches
Echo finden würde, wäre Rodulf niemals in den Sinn gekommen.
Das Drosselfeld genannte Wiesengelände am Fuß der
Drachenberge quoll geradezu über vor Menschen, und es wurden
stündlich mehr. Von allen Seiten kamen sie, aus zahllosen Dörfern,
Gehöften und Köhlerstätten. Sie kamen zu Fuß, auf Eseln oder
Pferden, auf Wagen, die von Ochsen gezogen wurden.
Sie alle hatten sich bewaffnet, mit Messern und Hirschfängern, mit
Dreschflegeln und Sicheln, mit Mistgabeln und Pflugketten. Und es
waren gar nicht einmal wenige, die richtige Waffen mitgebracht
hatten - vereinzelte Schwerter, Pfeil und Bogen, Steinschleudern.
Gewiß war kaum einer der Versammelten im Kriegshandwerk
geschult. Einen Zweikampf mit einem Ritter hätte wohl kein einziger
erfolgreich bestehen können. Dennoch verkörperten sie alle
zusammen eine mehr als ansehnliche Streitmacht. Ihre schiere Zahl
machte die Bauern und Handwerker auch für ein stattliches
Ritterheer zu einem überaus ernst zu nehmenden Gegner. Und ob der
Graf von Trutzen über ein solches verfügte, durfte mit Fug und Recht
bezweifelt werden.
Rodulf Lamm kletterte auf ein provisorisch errichtetes Holzpodest
und hob die Arme hoch in die Luft.
Langsam wurde es still auf dem weiten Feld. Aller Augen richteten
sich auf den Mann, den die Gräflichen einen räuberischen
Verbrecher und Mörder nannten, der aber beim einfachen Volk
längst den Ruf eines Freiheitshelden genoß, auch wenn dies bisher
nur wenige auszusprechen gewagt hatten.
»Freunde und Kampfesgenossen«, rief Rodulf aus. »Ich will nicht
viele Worte machen, denn wir alle wissen, warum wir uns hier in so
großer Zahl versammelt. Ich danke euch von ganzem Herzen dafür,
daß ihr meinem Ruf gefolgt seid. Und ich verspreche euch, daß ihr
euer Kommen nicht bereuen werdet. Gemeinsam mit den Männern,
die euer aller Vertrauen genießen, werde ich jetzt einen Schlachtplan
ausarbeiten. Und dann gibt es für uns alle nur noch eine Losung:
Kampf dem Tyrannen!«
Ein wilder Begeisterungsschrei, der aus einer einzigen Kehle zu
kommen schien, schallte Rodulf Lamm entgegen, als er das Podest
wieder verließ.
Kampf dem Tyrannen!
Aus diesem Grunde waren sie gekommen. Und aus diesem Grunde
waren sie auch bereit zu sterben, wenn es das Schicksal denn so
wollte.
Die Ermordung des Schultheiß von Eichenau war der Tropfen
gewesen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hatte. Und nun sollte
Graf Eberhard sehen, wie er die Geister, die er selbst gerufen hatte,
wieder los wurde. Kampf dem Tyrannen!
*
»Jetzt wird es Zeit«, sagte Roland und erhob sich aus seiner
sitzenden Stellung.
Die Voraussage des Grafensohnes, daß es nicht nötig sei, das Loch
in der Mauer wieder zu verschließen, weil ohnehin niemand kommen
würde, hatte sich bewahrheitet. Die Öffnung bestand noch immer,
und keiner der Gräflichen ahnte auch nur das geringste davon.
Nach wie vor fiel Licht in das Verlies ein. Aber es war jetzt kein
helles Tageslicht mehr, sondern das diffuse Licht der Dämmerung.
Der Abend nahte.
Ganz bewußt hatte Roland so lange gewartet. Der Burgturm besaß
eine ganze Reihe von Fenstern. Wenn er seinen Fluchtversuch bei
Tage gewagt hätte, wäre die Gefahr einer Entdeckung nicht
auszuschließen gewesen. Jetzt jedoch, wo es draußen dunkel wurde,
konnte er es beruhigt wagen. Länger warten durfte er allerdings auch
nicht, denn in völliger Dunkelheit würde der beabsichtigte Sprung
mit großer Sicherheit zu einem tödlichen Fehlsprung werden.
Winfried von Trutzen blickte ihn an.
»Ich wünsche dir viel Glück bei deinem Unternehmen, Roland«,
sagte er ernst.
»Das kann ich brauchen«, nickte der Ritter mit dem Löwenherzen.
Nur zu gut wußte er, daß die Wahrscheinlichkeit, sich zerschellt
unten im Tal wiederzufinden, sehr groß war.
Der Grafensohn sprach weiter: »Und wenn du deine Freiheit
wiedergewonnen hast ... Ich will hoffen, daß du mich nicht vergißt.«
Roland lächelte. »Sei unbesorgt, Winfried. Ich bin kein Mann, der
seine Freunde vergißt. Außerdem denke ich nicht nur an dich,
sondern auch an Volker vom Hohentwiel und meine beiden
Knappen. Wir sehen uns wieder, es sei denn ...«
»Du stürzt nicht ab«, nahm ihm Winfried das Wort aus dem Mund.
»Mein Gefühl sagt mir, daß alles gut gehen wird!«
Der Worte waren genug gewechselt. Jetzt hatten Taten zu folgen.
Roland schlüpfte in die Maueröffnung. Sie war groß genug, um in
geduckter Haltung seinem ganzen Körper Platz zu bieten. Handbreit
um Handbreit schob er Kopf und Oberkörper ins Freie, jederzeit
peinlich darauf bedacht, das Gleichgewicht zu bewahren und den
Füßen festen Halt zu bieten.
Er blickte zum Burgturm hinauf. Der nächste Erker lag bereits so
im Dämmerlicht, daß er ihn nur noch undeutlich erkennen konnte.
Mit ziemlicher Sicherheit durfte er davon ausgehen, daß niemand in
der Lage war, ihn zu beobachten.
Jetzt widmete er seine ganze Aufmerksamkeit der Föhre an der
Felswand schräg unterhalb von ihm. Der Ast, auf den es ihm ankam,
ragte über den Abgrund wie der graue Arm eines Gespenstes.
Immerhin konnte er ihn trotz der Lichtverhältnisse noch
einigermaßen klar ausmachen.
Würde seine Sprungkraft ausreichen, den Ast zu erreichen? Er
konnte es nur hoffen.
Wohlan! rief er sich im stillen selbst zu.
Er holte ein paarmal tief Luft und spannte die Muskeln seines
Körpers. Noch einmal zögerte er kurz, dann stieß er sich wuchtig mit
beiden Füßen ab.
Wie ein Gesteinsbrocken, der von der Schleuder durch die Luft
geschnellt wurde, schoß er nach unten, die Arme vorgestreckt, die
Augen starr auf den Ast gerichtet.
Für einen Augenblick kam er sich vor wie ein Vogel. Aber jenes
bewußte Freiheitsgefühl, das man Vögeln immer zuschrieb, stellte
sich bei ihm gewiß nicht ein. Ein ungewohntes Angstempfinden, das
er normalerweise gar nicht an sich kannte, ließ sich nicht ganz
unterdrücken. Ob er wollte oder nicht, im Geiste sah er sich bereits
zerschmettert am Fuß der Felsenwand liegen.
Aber dieses Schreckensbild geisterte nur für die Dauer von
wenigen Herzschlägen durch seinen Kopf. Mehr Zeit blieb nicht.
Da war der Ast...
Roland streckte die Arme noch mehr, riß sie sich fast aus den
Gelenken. Dann packten seine Hände zu, krallten sich seine Finger
wie die Klauen eines Adlers um den Ast.
Spitze Nadeln stachen ihm in die Handflächen, die Haut wurde ihm
von den Knochen gerissen.
Er rutschte ab ...
Der Aufprall war zu stark gewesen, das Gewicht seines stürzenden
Körpers zu groß. Zoll um Zoll lösten sich die Finger von dem
rettenden Ast, fanden keinen Halt mehr.
Roland fiel wieder, zwei Ellen, drei Ellen ...
Dann kam ein tiefer sitzender Ast, dünn und zerbrechlich wirkend,
ein Zweig nur.
Verzweifelt packte der Ritter mit dem Löwenherzen wieder zu.
Und diesmal bekam er sofort festen Halt. Sein Fall war bereits durch
den ersten Ast stark abgebremst worden, so daß sich die Wucht des
Aufpralls entschieden schwächer bemerkbar machte.
Aber gerettet war er noch lange nicht. Das, was er befürchtet hatte,
trat ein. Ein häßliches Knacken, das Roland durch und durch ging,
wurde hörbar. Der dünne Ast brach, konnte sein Körpergewicht doch
nicht halten.
Roland kämpfte, gab sich nicht verloren. Er hangelte sich an dem
Ast entlang, näher zum Stamm des Baumes hin.
Das knackende Geräusch wurde lauter, ließ erkennen, daß der Ast
jeden Augenblick in zwei Teile zerbrechen würde. Roland spürte
brennende Schmerzen, achtete ihrer aber gar nicht.
Weiter hangelte er sich dem Stamm entgegen, verzweifelt bemüht,
das drohende Verhängnis abzuwenden.
Dann brach der Ast. Rolands linke Hand, die sich daran
festklammerte, sackte schwer nach unten. Die rechte Hand aber hatte
noch immer Halt - hier hatte der Ast weiterhin Verbindung mit dem
Stamm.
Roland ließ den abgebrochenen Zweig, den er nutzlos in der Hand
hielt, schnell in die Tiefe fallen und faßte auch mit der freien Hand
nach dem stabilen Aststück.
Es ertönte kein Krachen mehr. Die Gefahr, daß noch eine weitere
Bruchstelle auftrat, schien gebannt. Ohne weitere Schwierigkeiten
konnte sich Roland ganz an den Stamm heranarbeiten und dort auch
mit den Füßen Halt finden.
Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Er hatte es
geschafft! Er war aus dem Verlies ausgebrochen und hatte es
geschafft, nicht in die Tiefe zu stürzen. Der erste Teil seiner Flucht
war geglückt. Und er war guten Mutes, daß er auch den zweiten Teil
zu einem erfolgreichen Abschluß führen konnte.
Zunächst legte er eine kurze Rast ein, um wieder Luft schöpfen zu
können. Sein Herz klopfte wie wild, beruhigte sich jedoch in
zunehmendem Maße. Die zerschundenen Handflächen schmerzten
weiterhin wie Feuer, was Roland jedoch nicht besonders tragisch
nahm. Er war ein harter Mann, der körperliche Pein sehr wohl
aushalten konnte.
Die Pause, die er sich gönnte, währte nicht lange. Es ging ihm jetzt
zunächst darum, eine etwas weniger luftige Position einzunehmen.
Flugs machte er sich daran, an dem Stamm nach unten zu klettern. Es
gelang ihm mühelos. Schon wenig später hatte er sein Ziel erreicht,
jene Stelle, an der die Föhre aus der Felsspalte hinauswuchs. Jetzt
war die Absturzgefahr endgültig gebannt.
Inzwischen hatte die abendliche Dunkelheit weitere Fortschritte
gemacht. Die Sonne war längst untergegangen, und es konnte nicht
mehr lange dauern, bis der Mond am Himmel erschien.
Roland blickte zur Trutzenburg hinüber. Die Öffnung in der
Verlieswand konnte er nicht mehr sehen, selbst wenn er die Augen
noch so sehr anstrengte. Vielleicht hatte Winfried von Trutzen mit
einer großen Kraftanstrengung den Quader auch bereits wieder in die
Lücke gewuchtet.
Hinter zwei höher gelegenen Erkerfenstern konnte er schwachen
Lichtschein ausmachen. Und erst jetzt wurde er sich richtig bewußt,
daß ferne Stimmen an sein Ohr drangen. Das war auch nicht weiter
verwunderlich, denn die Felswand, an der er klebte, hatte eine direkte
Verbindung zum Burghof. Um diese Zeit hielt sich auf dem Hof
natürlich noch so mancher Burgbewohner auf.
Roland beschloß noch zu warten. Wie er von Winfried wußte, der
die Felswand lange Zeit in aller Ausführlichkeit betrachtet hatte, war
es einem halbwegs guten Kletterer möglich, die Spalte
emporzuklettern und so auf den Hof zu gelangen. Es wäre aber
verfrüht gewesen, wenn er sich jetzt schon auf dem Hof blicken
ließe, wo er jederzeit einem der Getreuen des Grafen in die Arme
laufen konnte.
Die Warterei wurde ihm lang. Die Felsspalte, eng und rauh, bot
zwar festen Halt, war ansonsten jedoch ein denkbar unbequemer
Platz. Aber er mußte ausharren, denn auf dem Burghof herrschte
auch nach mehreren Stunden noch keine nächtliche Ruhe.
Roland reckte seine steif gewordenen Glieder, so weit das bei der
räumlichen Enge möglich war. Dann machte er sich an den Aufstieg.
Wie es aussah, hatte Winfried von Trutzen recht. Die Felsspalte
pflanzte sich schräg nach oben fort. Und sie war in der Tat von
einem halbwegs geschickten Kletterer zu bewältigen. Roland fühlte
sich zwar auf dem Rücken eines Pferdes erheblich sicherer, aber
seine Körperbeherrschung reichte doch aus, alle Schwierigkeiten
beim Aufstieg zu meistern, zumal er nichts überstürzte, sondern ganz
vorsichtig dem Plateau des Burghofs entgegenstrebte. Lieber
langsam, dafür aber sicher, das war der Wahlspruch, den er
beherzigte.
Es war sehr, sehr dunkel geworden. Regenwetter kündigte sich
durch einen frischen Wind an, und schwarzgraue Wolken bedeckten
das Gesicht des Mondes. Weiter als eine Elle konnte Roland nicht
sehen, auch wenn er versuchte, die Dunkelheit mit den Augen
förmlich zu durchbohren.
Als die Felsspalte schließlich ein Ende fand, und er den Kopf über
das Plateau schieben konnte, war er selbst etwas überrascht. Triumph
stieg in ihm auf.
Er hatte es geschafft!
Sehr schnell aber wich das Triumphgefühl einer gewissen
Ernüchterung. Winfried von Trutzens Beobachtungen waren
offenkundig doch nicht so zuverlässig gewesen, wie er geglaubt
hatte.
Roland stand mit sicheren Füßen auf ebener Erde. Allerdings
außerhalb der Burgmauern.
*
Es war eine große, ja, eine gewaltige Heerschar, die durch die
nächtliche Landschaft zog. Und wenn sich das Heer auch nicht aus
kampferprobten Rittern zusammensetzte, sondern aus Bauern,
Handwerkern und auch einer Reihe von Frauen, so wirkte es doch
kaum weniger beeindruckend. Wehe dem Feind, der sich mit dieser
Heerschar auseinandersetzen mußte.
Die Männer und Frauen wurden von einer Woge der Begeisterung
getragen. Sie alle hatten sich entschlossen, das Joch der Tyrannei
abzuschütteln, und es gab kaum einen unter ihnen, der nicht vom
Erfolg überzeugt war. Der Wille kann Berge versetzen, so hieß es
nicht umsonst. Und der Siegeswille dieser Entrechteten, die sich
endlich entschlossen hatten, für ihr Recht zu kämpfen, war unbändig.
An der Spitze des Bauernheeres schritt Rodulf Lamm, den die
Gräflichen den Lämmerschling nannten. O ja, vielleicht sollten die
Getreuen des Grafen bald erfahren, daß sie ihm diesen Namen in der
Tat mit recht gegeben hatten. Dann nämlich, wenn er ihnen eine
Schlinge um den Hals legte und sie daran aufhängte, bis sie tot
waren.
Bei diesem Gedanken lachte Rodulf Lamm lautlos vor sich hin.
Zum ersten Mal, seit er vor den Schergen des Grafen die Flucht
ergriffen hatte und in die Berge gegangen war, fühlte er sich fast
glücklich. Und er hoffte zuversichtlich, daß er sich bald noch viel,
viel glücklicher fühlen würde.
Kampf dem Tyrannen!
*
»Halt, wer da?«
Die scharfe Stimme drang an Rolands Ohr wie der Knall einer
Ochsenpeitsche. Schnell wie der Blitz warf er sich flach auf den
Boden und versuchte, mit dem felsigen Untergrund regelrecht zu
verschmelzen.
Teufel auch, er war unvorsichtig gewesen!
Zu nahe hatte er sich an die Burgmauern herangewagt und die
Wachsamkeit der Burgwächter dabei unterschätzt. Er sah den Mann,
der ihn angerufen hatte. Der Getreue des Grafen stand oben auf der
begehbaren Schutzmauer der Burg und hielt eine lodernde Fackel in
der Hand. Sein Kopf war genau in die Richtung gewandt, wo sich der
Ritter mit dem Löwenherzen befand.
Der Schein der Fackel reichte allerdings nicht weit. Roland konnte
also hoffen, daß ihn der Wächter jetzt nicht mehr sah und sich
vielleicht einredete, daß er einer Täuschung zum Opfer gefallen war.
Ganz ruhig verhielt sich Roland, wagte nicht, sich zu bewegen.
Und auch als der Burgwächter ihn zum zweiten Mal anrief, rührte er
kein einziges Glied.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann tauchte oben ein zweiter
Wächter auf. Deutlich konnte Roland die Unterhaltung der beiden
Männer verfolgen, die sich etwa sechs bis acht Ruten von ihm
entfernt befanden.
»Was ist los, Gisbert? Wen hast du da angerufen?«
»Ich könnte schwören, eine dunkle Gestalt gesehen zu haben!«
»Wo?«
»Dort!«
Die Fackel deutete in die richtige Richtung. Aber der Ritter mit
dem Löwenherzen hatte Glück.
»Ich sehe nichts, Gisbert. Mich deucht, du hast vielleicht zu viel
Met getrunken.«
»Ich sehe auch nichts mehr, aber ... Potztausend, ich trinke fünf
Humpen Met und kann noch immer meinen Augen trauen!«
Zu Rolands Erleichterung kamen die beiden Männer schließlich
doch zu der Ansicht, daß sich außerhalb der Mauern nichts bewegte.
Aber es war wohl keine Frage, daß sie von nun an besonders
wachsam sein würden. Rolands Chancen, unbemerkt wieder auf die
andere Seite zu kommen und nach Möglichkeiten zu suchen, Volker,
Jacques, die beiden Knappen und den Grafensohn zu befreien,
standen schlecht. Über die Felswand gab es keinen Weg, blieb also
nur die Mauer, die erstiegen werden mußte. Dazu aber würden es die
Wächter jetzt kaum noch kommen lassen. Zumindest in der nächste
Stunde nicht.
Roland wartete ein Weilchen, bis sich der Fackelschein etwas
entfernte. Dann zog er sich vorsichtig weiter von der Mauer zurück.
Nun war guter Rat teuer.
Eine ganze Weile überlegte der Ritter mit dem Löwenherzen noch,
dann kam er zu einem Entschluß. Er brauchte in jedem Fall zunächst
einmal Waffen, ein Schwert oder wenigstens ein starkes Messer. Und
er brauchte ein Seil sowie ein paar Reittiere. Ihm blieb also gar nichts
anderes übrig, als sich auf den Weg zum nächsten Dorf zu machen
und dort sein Glück zu versuchen.
Gedacht, getan.
Roland wandte der Trutzenburg den Rücken zu und schritt davon.
Den Weg hinunter ins Tal konnte er nicht verfehlen, denn es gab nur
einen einzigen.
Bald hatte er den Fuß des Hügels erreicht, auf dessen Gipfel die
Trutzenburg errichtet worden war. Er erinnerte sich, daß er auf dem
Hinweg eine Siedlung in nördlicher Richtung gesehen hatte. Am
klügsten war es wohl, diese Siedlung aufzusuchen, auch wenn er
noch mindestens drei Meilen zurücklegen mußte.
Rüstig schritt er aus. Die Landschaft, durch die er marschierte, war
überwiegend felsig und bestand aus Brachland. Gesträuch und
Gruppierungen von Nadelbäumen bestimmten die Szenerie.
Plötzlich blieb Roland ruckartig stehen. Er hatte etwas gehört,
unbestimmte Geräusche, die vor ihm in der Dunkelheit laut
geworden waren.
Ein Tier?
Möglich, sogar wahrscheinlich, denn jetzt war schon nichts mehr
zu hören.
Roland ging weiter. Nach etwa zwanzig Schritten blieb er jedoch
wieder stehen. Unfreiwillig allerdings. Die fünf, sechs Männer, die
wie Schemen aufgetaucht waren und ihn nun von allen Seiten
umringten, ließen ihm keine andere Wahl.
*
»Ah«, sagte der große, breitschultrige Mann mit den flammenden
roten Haaren, »so sieht man sich also wieder!«
Roland erkannte den anderen auf Anhieb. Es war niemand anderes
als der Anführer der Wegelagerer, die ihn und seine Freunde in dem
Hohlweg überfallen hatten. Wie hieß er doch gleich?
Lämmerschling! So hatte ihn der Ritter Haldemar genannt.
Es hatte Roland nicht sonderlich überrascht, daß er nun abermals
überfallen worden war. Wo Wegelagerer in der Gegend waren,
mußte man jederzeit damit rechnen. Was ihn jedoch aufs äußerste
verblüffte, war die gewaltige Zahl von Kumpanen, die der
Räuberhauptmann um sich geschart hatte. Soweit er das erkennen
konnte, mußte es sich um Hunderte, ja vielleicht sogar um Tausende
handeln. Es hatte fast den Anschein, als hätten sich die Männer - es
waren allerdings auch einige Frauen darunter - aufgemacht, um in
einen Krieg zu ziehen.
Anders als beim ersten Mal hatte Roland jetzt keine
Möglichkeiten, den Rotschopf in seine Gewalt zu bringen. Die
Männer, die ihn gefangengenommen hatten - eine Vorhut der
riesigen Horde offenbar - waren kein Risiko eingegangen. Zu fünft
hatten sie ihn gepackt und ihm die Hände auf dem Rücken
zusammengebunden. Natürlich hatte sich Roland nach Leibeskräften
gewehrt. Vergeblich jedoch, denn gegen die Übermacht war kein
Kraut gewachsen gewesen. Er hatte allenfalls die Genugtuung, dem
einen seiner Gegner ein blaues Auge und einem zweiten eine
achtbare Zahnlücke verpaßt zu haben. Nun aber sah es so aus, als
habe er einen ganz schlechten Würfelwurf vorgelegt. Die Miene des
Anführers versprach wenig Gutes.
»Antworte, wenn ich mit dir spreche, Ritterhund«, sagte der
Rothaarige, der sich sichtlich im Glanz seiner Macht über Roland
sonnte.
»Es ist nicht meine Art, mit Strauchdieben und Verbrechern zu
reden«, erwiderte Roland stolz. »Vor allem dann nicht, wenn diese
Strauchdiebe meinen, sich mit mir auf eine Stufe stellen zu können
und mich duzen zu dürfen. Wenn du also etwas von mir willst,
Strauchdieb, dann sprich mich gefälligst in gebührender Form an!«
Laute des Unmuts wurden von den Umstehenden ausgestoßen.
Einer knuffte Roland roh in die Rippen. Andere verlangten, ihm
unverzüglich die Kehle durchzuschneiden.
Der Rothaarige hingegen ärgerte sich nicht. Er lachte sogar
lauthals. »Du bist ein mutiger Mann, Ritterhund. Sonst würdest du es
nicht wagen, in deiner Lage auch noch große Töne zu spucken. So
etwas gefällt mir. Vielleicht ist es sogar schade, daß wir Feinde
sind.«
Roland zuckte die Achseln. »Bis neulich kannte ich dich nicht und
verspürte deshalb auch keine Feindschaft gegen dich. Du selbst hast
uns zu Feinden gemacht, indem du mich überfielst!«
»Alle gräflichen Ritter sind meine Feinde«, sagte der Rothaarige
entschieden. »Das liegt in der Natur der Sache.«
»Gräflicher Ritter?« echote Roland. »Ich bin kein Getreuer des
Grafen von Trutzen, falls du das meinst.«
»Du kommst geradewegs von der Trutzenburg, oder?«
»Ja, aber ...«
»Das genügt! Im übrigen sind alle Ritter ausgemachte Schurken
und Halsabschneider, gleichgültig welchem Herren sie dienen.
Niemals rührte einer von ihnen den Finger, um einem der unsrigen
eine Wohltat zu erweisen. Ihr seid nur dazu da, uns zu tyrannisieren
und auszubeuten. Und darum habt ihr alle den Tod vieltausendfach
verdient!«
Roland wußte, daß es sinnlos war, dem Mann zu widersprechen.
Der Rothaarige war so voller Haß auf alle, die ein Schwert trugen,
daß er mit Worten sicherlich nicht umzustimmen war. Und seine
Kumpane waren keinen Deut anders. Wieder wurden Forderungen,
ihm endlich den Garaus zu machen, laut. Zahllose Augenpaare, in
denen keine Gnade war, durchbohrten Roland förmlich.
Im stillen wußte der Ritter mit dem Löwenherzen, daß er diesen
Haß nur einem einzigen zu verdanken hatte: dem Grafen von Trutzen
nämlich. Er hatte selbst gesehen, wie Eberhard mit seinen Untertanen
umsprang. Die Einstellung der Leute war daher nicht einmal
unverständlich.
»Der Kopf des Ritters soll rollen!« rief einer.
»Vierteilt ihn«, verlangte ein anderer.
Johlender Beifall aus einer Vielzahl rauher Kehlen war diesen
beiden Vorschlägen gewiß.
Der Rothaarige hatte seine eigenen Vorstellungen.
»Lämmerschling haben sie mich genannt«, sagte er laut. »Sei es
drum, ich werde meinem Namen alle Ehre machen!«
Im nächsten Augenblick hatte er ein geflochtenes Seil in der Hand,
das er unverzüglich mit einer Schlinge versah. Roland konnte sich
nicht dagegen wehren, die Schlinge um den Hals gelegt zu
bekommen.
»Siehst du diesen Baum, Ritterhund?« fragte der Rothaarige und
zeigte auf eine knorrige Kiefer, die am Wegesrande stand. »Daran
sollst du hängen, den Bussarden als Nahrung und deinen ritterlichen
Freunden zur Mahnung und Warnung!«
Roh wurde Roland zu der Kiefer hinübergezerrt. Der Rothaarige
warf das Seilende um einen Ast und fing es wieder auf. Jetzt
brauchte er nur noch an dem Strick zu ziehen und dann ...
»Grüß mir den Teufel, Ritterhund«, sagte der Anführer mit einem
bösen Auflachen.
In diesem Augenblick, in dem Roland bereits mit seinem Leben
abgeschlossen hatte, geschah etwas gänzlich Unerwartetes.
Aus der großen Schar von Menschen, die im Hintergrund stand
und dem Schauspiel zusah, löste sich plötzlich ein junger Bursche
und kam eiligen Schrittes herbeigelaufen.
»Haltet ein, Hauptmann«, rief er mit lauter Stimme. »Hängt den
Ritter nicht auf!«
Unwilliges Gemurmel wurde in der Menge laut. Und auch das
Gesicht des Rothaarigen war nicht gerade freundlich, als er sich dem
Burschen zuwandte.
»Was soll das heißen, Karlemann Diederich?« fragte er scharf.
»Bestimmst du jetzt hier, was geschieht, weil du der Sohn des
Schultheiß von Zweikirchen bist?«
Der Bursche ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Dieser Ritter
verdient den Tod nicht. Er hat mir das Leben gerettet, und sich selbst
dabei in größte Gefahr gebracht!«
Jetzt erkannte Roland den Burschen. Es war der, den er davor
bewahrt hatte, von den Hunden Graf Eberhards in Stücke gerissen zu
werden.
Der Lämmerschling zögerte. »Das soll der Ritter sein, von dem du
mir erzählt hast, Karlemann?«
»Ja, Hauptmann!«
Der junge Bursche lächelte Roland an, und der Ritter mit dem
Löwenherzen erwiderte das Lächeln.
Der Rothaarige sah ihn unentschlossen an. »Sagt mir, warum Ihr
den Burschen gerettet habt, Ritter.«
Mit großer Erleichterung nahm Roland zur Kenntnis, daß der
Anführer plötzlich dazu übergegangen war, ihn so anzureden, wie es
einem Ritter zustand. Das war sicherlich ein gutes Zeichen. Zwar
hatte er noch immer die Schlinge um den Hals, aber für den
Augenblick schien Gevatter Tod ein paar Schritte zur Seite getreten
zu sein.
»Ich habe den Jungen gerettet, weil ich keineswegs ein solcher
Schurke bin, wie du mich vorhin hingestellt hast, Lämmerschling.
Ich habe ihn gerettet, weil in meinen Augen auch Bauernburschen
Menschen sind. Zum Lohn dafür ließ mich Graf Eberhard ins Verlies
werfen, dem ich nur mit großer Mühe entkommen konnte.«
»Das ist wahr?«
»So wahr mir Gott helfe!«
Der Rothaarige spielte fahrig mit dem Seilende, das er noch immer
in der Hand hielt.
»Dann seid Ihr also kein Freund, sondern ein Feind des Grafen von
Trutzen?«
Roland nickte. »Das wollte ich bereits vorhin sagen. Aber es war
niemand da, der mich anhören wollte.«
»Gebt ihn frei, Hauptmann«, sagte der junge Bursche. »Der Ritter
steht auf unserer Seite.«
Noch einmal zögerte der Lämmerschling kurz. Dann trat er auf
Roland zu und löste die Halsschlinge.
*
Die Morgendämmerung war nicht mehr fern, als das Bauernheer am
Fuße des Burghügels anlangte.
An der Spitze der zu allem entschlossenen Menschenmenge
schritten Rodulf Lamm und Roland. Die beiden Männer, die nicht
nur von der Statur und dem Alter her manches gemeinsam hatten,
verstanden sich mittlerweile so prächtig, daß die Standesunterschiede
zwischen ihnen nicht ins Gewicht fielen. Das lag nicht zuletzt auch
daran, daß Roland keinen Dünkel kannte. Er war selbst ein Mann,
der aus dem Volke kam. Aufgewachsen als Sohn eines Köhlers, war
er erst durch den Ritterschlag König Artus' in den Stand der Noblen
erhoben worden. Und er hatte seine Jugend niemals vergessen.
Rodulf Lamm machte keinen Hehl daraus, daß er sehr froh über
Rolands Entschluß war, beim Sturm auf die Trutzenburg
mitzumachen. Ein Teil der Last und der Verantwortung, die auf
seinen Schultern ruhten, war dadurch von ihm genommen.
Und auch Roland war froh über die Entwicklung der Dinge. Seine
anfängliche Absicht, die gefangenen Freunde ganz allein aus ihren
Verliesen herauszuholen, war bei nüchterner Betrachtung ein schier
aussichtsloses Unterfangen. Als Verbündeter der aufständischen
Bauern jedoch sah die ganze Sache schon anders aus.
»Wie gehen wir vor?« fragte Rodulf Lamm, der den Namen
Lämmerschling gar nicht so gerne hörte. »Umstellen wir den Hügel
von allen Seiten?«
»Das wird nicht nötig sein. Wenn wir uns auf die Vorderseite
beschränken, reicht das vollkommen aus.«
»Wirklich?« zweifelte der Rothaarige. »Ich möchte unter allen
Umständen vermeiden, daß sich der Tyrann heimlich davonstiehlt.«
»Es gibt nur einen Weg, auf dem man die Burg verlassen kann«,
beruhigte ihn der Ritter mit dem Löwenherzen. »Und zwar den Weg,
den wir jetzt hinaufziehen.«
»Ihr müßt es wissen, Ritter Roland, denn Ihr kennt die Trutzenburg
besser als ich.«
Dem war nichts hinzuzufügen. In breiter Front bewegte sich die
Heerschar den Serpentinenweg hinauf.
»Ob der Graf und seine Getreuen schon ahnen, was auf sie
zukommt?« sinnierte Rodulf Lamm.
»Das ist wahrscheinlich«, antwortete Roland. »Von der Burgmauer
aus hat man einen weiten Blick ins Tal. Und da sich die Nacht
langsam zu lichten beginnt... Aufmerksame Wächter müßten unsere
Annäherung inzwischen bemerkt haben, zumal diese ja nicht gerade
lautlos erfolgt.«
In der Tat machte eine so große Menschenmasse, wenn sie sich
vorwärts bewegte, einigen Lärm. Die Trutzenburger mußten schon
auf ihren Augen und Ohren sitzen, wenn sie jetzt noch völlig ohne
jede Ahnung waren.
Bevor die Aufständischen das Plateau vor der Burgmauer
erreichten, ließ Rodulf, der sich mit Roland abgesprochen hatte, die
ganze Heerschar anhalten.
»Jetzt gilt es, Freunde«, rief er die Männer und Frauen an. »Aber
wir wollen nicht wie ein wilder Hühnerhaufen auf die Burg des
Tyrannen losstürmen, sondern mit Bedacht und Überlegung
vorgehen.«
Beifälliges Nicken von allen Seiten war die Antwort.
»Wir gehen in mehreren Wellen vor«, fuhr der Rothaarige fort.
»Zunächst brauchen wir alle Bogenschützen und Steinschleuderer.
Tretet nach vorne, Freunde!«
In der Menge entstand ein wildes Gedränge und Geschiebe, wobei
es auch nicht ohne unflätige Worte abging. Von Ordnung und
Disziplin hatte dieser zusammengewürfelte Haufen natürlich niemals
etwas gehört.
Eine für Roland überraschend große Anzahl von Männern löste
sich aus der Menge. Es waren weit mehr als hundert, die über Bögen
und Schleudern verfügten. Dazu hatten fast alle roh
zusammengehauene Bretter bei sich, die als Schilde Verwendung
finden sollten.
»Nun die Leiterträger«, kommandierte Rodulf Lamm.
Diesmal dauerte es noch etwas länger, bis die aufgerufenen
Männer nach vorne traten. Dies war aber nur zu verständlich. Die
Leitern, die bis zum Fuße des Berges auf Ochsenkarren transportiert
worden waren, mußten jetzt per Hand getragen werden. Und da sie
zum Teil sehr schwer und unhandlich waren, brauchte dies seine
Zeit.
»Und nun brauchen wir noch Freiwillige für die erste
Sturmtruppe!«
Jetzt wurde das Gedränge noch größer. Fast jeder wollte dabei
sein. Und das, obwohl die Gefahr, schnell sein Leben zu verlieren,
nicht gerade gering war.
Roland kam nicht umhin, dem Anführer der Aufständischen seine
Anerkennung auszusprechen. Es war Rodulf Lamm wirklich
gelungen, die Leute mit echter Kampfesbegeisterung zu erfüllen.
Und auch was die Utensilien anging, die zum Sturm auf die Burg
erforderlich waren, hatte er bestens vorgesorgt. Selbst ein erfahrener
Ritter hätte es nicht viel besser machen können, das mußte Roland
neidlos zugeben.
»Seid ihr bereit, Freunde?«
»Ja!«
Der vielstimmige Antwortschrei war wie das Geräusch des
Donners. Roland fand diesen Ausdruck der Bereitschaft allerdings
nicht so gut. Jetzt war bestimmt auch der hartnäckigste
Siebenschläfer der Trutzenburg wach geworden.
Die Streitmacht setzte sich auf ein Zeichen Rodulfs wieder in
Bewegung.
Daß die Trutzenburger nicht auf ihren Augen und Ohren saßen,
zeigte sich alsbald. Als die Spitze der Heerschar das Plateau
erreichte, wurde sie gleich von einer schneidenden Stimme
empfangen.
»Halt!«
Rodulf gab das Zeichen zum Stehenbleiben.
»Was soll dieser Aufmarsch?« meldete sich der Trutzenburger
wieder, in dem Roland sogleich den Ritter Haldemar erkannte. »Seid
ihr toll geworden?«
Noch war es längst nicht hell genug geworden, um klar und
deutlich sehen zu können. Dennoch war erkennbar, daß sich auf der
Schutzmauer eine größere Anzahl von schattenhaften Gestalten
aufhielt.
Rodulf Lamm, der ebenfalls ein Bretterschild bei sich trug, zögerte
nicht mit der Antwort.
»Wir wollen nicht mehr und nicht weniger als Eure Kapitulation«,
rief er zur Burg hinüber. »Ergebt Euch freiwillig, und wir jagen Euch
nur mit Schimpf und Schande davon. Leistet Ihr jedoch Widerstand,
werden wir das Leben keines einzigen schonen!«
Sekundenlang kam keine Antwort. Dann hörte man Haldemars
Lachen, in das gleich auch andere Trutzenburger einfielen.
»Du bist der Lämmerschling, nicht wahr?« rief Haldemar. »Oder
sollte ich vielleicht »Graf von Lämmerschling« sagen?«
»Ich erwarte eine Antwort«, rief Rodulf Lamm, ohne auf den Spott
des Ritters einzugehen.
»Hier hast du unsere Antwort!«
Schon im nächsten Augenblick war die Luft von einem
verräterischen Surren erfüllt. Ein Pfeilregen jagte der
Bauernstreitmacht entgegen. Und nicht alle, die vornan standen,
konnten sich dem aus der Dunkelheit heraneilenden Verderben mit
ihren Schilden schnell genug entgegenstemmen. Schmerzensschreie
gellten auf, als die bei den herrschenden Lichtverhältnissen nicht
einmal genau gezielten Geschosse ihre Opfer fanden.
»Bogenschützen und Schleuderer, schießt zurück!« befahl der
Lämmerschling.
Auf dieses Kommando hatten die Aufständischen gewartet. Pfeile
schossen von den Bogensehnen, und faustgroße Steinbrocken
wurden der Burg entgegengeschleudert.
Die Geschosse klatschten gegen die Mauer, prallten an der
Brüstung ab oder gingen über sie hinweg. Und es war durchaus
möglich, daß dieser oder jener Getreue des Grafen getroffen wurde.
Es war schwer, zwischen Wut- und Schmerzensschreien zu
unterscheiden.
»Weiter, weiter«, feuerte Rodulf Lamm seine Männer an. »Ihr
müßt den anderen Schutz geben!«
Die Anzahl der Schützen war groß genug, um dieser Aufforderung
nachkommen zu können. Ungeachtet der Geschosse, die natürlich die
Verteidiger weiterhin heranjagen ließen, schossen sie, was ihre
Schleudern und Bögen hergaben.
»Leiterträger ... vor!« kommandierte der Lämmerschling.
Todesmutig rannten die braven Männer los, ihre Leitern zu zweit
oder auch allein tragend.
»Sturmtruppe ... ihnen nach!«
Die nächste Gruppe setzte sich in Bewegung, stürmte mit
vorgehaltenen Schildern zur Burgmauer hinüber.
Rodulf Lamm winkte einen seiner Männer herbei.
»Ja, Hauptmann?«
»Ich übertrage dir hier das Kommando, Heribert. Wenn du siehst,
daß wir die Mauer erklommen haben, schickst du die nächste Truppe
los. Und wenn sich das Tor öffnet...«
»Kommen wir alle«, nickte Heribert. »Ich habe verstanden,
Hauptmann!«
Es brannte Roland auf den Nägeln, sich den über das Plateau
hetzenden Männern anzuschließen. Aber er wollte in der Nähe des
Lämmerschlings bleiben. Wenn dieser eine grundfalsche
Entscheidung treffen wollte, mußte er die Möglichkeit haben, einen
gegebenen Befehl wieder rückgängig zu machen. Bisher jedoch hatte
der Hauptmann der Aufständischen seine Sache ganz ausgezeichnet
gemacht.
»Kommt, Ritter Roland, nun auch wir!«
Rodulf Lamm, Schild in der linken, ein Schwert in der rechten
Hand, rannte los. Roland war sofort an seiner Seite. Auch der Ritter
mit dem Löwenherzen besaß Schild und Schwert. Beides hatte er von
einem der Aufständischen bekommen. Das Schwert lag zwar etwas
zu leicht in seiner Hand, aber es war scharf geschliffen und gut zu
handhaben.
Der Lauf über das Plateau war wie ein Gang durch die sieben
Schlünde der Hölle, nicht nur für Roland und Rodulf Lamm, sondern
auch für alle anderen. Zwar belegten die Männer, die für die
Rückendeckung der Angreifer sorgten, die Trutzenburger mit einem
wahren Hagel von Geschossen ein. Aber die Getreuen Graf
Eberhards schossen zurück. Sie zielten besser und hatten auch das
freiere Schußfeld. Allein die ungünstigen Lichtverhältnisse
bewahrten die Streitmacht des Lämmerschlings vor einer
Katastrophe. Aber auch so kam es zu schweren Verlusten. Die
Todesschreie der Sterbenden und das Schmerzgebrüll der Verletzten
kündeten von der Treffsicherheit der Gräflichen.
Auch Roland hätte es beinahe erwischt. Im letzten Augenblick
gelang es ihm noch, sein Schild hochzureißen. Sonst wäre seine
Kehle von einem Pfeil durchbohrt worden.
Inzwischen hatten bereits mehrere der Leiterträger die Burgmauer
erreicht. Hastig bemühten sich die Männer, die Klettergeräte
aufzustellen, um es den nachdrängenden Kämpfern zu ermöglichen,
die Mauer zu stürmen.
Aber natürlich versuchten die Gräflichen, genau das zu verhindern.
Die Leiterträger unter Beschuß zu nehmen, war für sie sehr
schwierig, weil sich diese überwiegend im toten Winkel befanden.
Darum unternahmen die Verteidiger alle Anstrengungen, die
aufgestellten Leitern wieder umzustoßen.
Und damit hatten sie auch Erfolg. Eine Reihe von Kletterern, die
bereits auf dem Weg nach oben waren, stürzten von den
umkippenden Leitern herunter.
»Haltet die Leitern fest, ihr Narren«, rief Roland, als er ebenfalls
am Fuß der Mauer ankam. »Stützt sie, so daß sie nicht von oben
umgeworfen werden können.«
In dem allgemeinen Lärm hatte er es schwer, sich verständlich zu
machen. Ein paar Leiterträger begriffen jedoch, was er meinte. Zu
mehreren Mann stemmten sie sich gegen die Holme der Leitern. Und
so schafften sie es dann auch, das Umstürzen zu verhindern.
Die ersten Angreifer erreichten jetzt die Mauerzinnen und
versuchten, auf den Wehrgang zu gelangen. Sofort wurden sie in
wilde Handgemenge mit den Verteidigern verwickelt. Und dabei
hatten die im Nahkampf erprobten Ritter alle Vorteile auf ihrer Seite.
Mann um Mann wurden die tapferen Leute des Lämmerschlings, die
mit dem Mute der Verzweiflung kämpften, zurückgeschlagen und
wieder nach unten befördert.
Roland beschränkte sich nicht darauf, gute Ratschläge zu geben.
Wenn einer eine Bresche in die Reihen der Verteidiger schlagen
konnte, dann war er es.
»Haltet gut fest«, sagte er zu den Männern, von deren Leiter gerade
ein Kämpfer hinuntergestürzt war.
Fest packten die Bauern zu, und Roland stürmte mit erhobenem
Schwert die Leiter empor.
Aber er schaffte es nicht, nach oben zu kommen. Die Getreuen
Graf Eberhards wandten jetzt noch eine weitere Verteidigungstaktik
an. Schwere Gesteinsbrocken wurden über die Mauerbrüstung
gestoßen. Einer dieser Felsklötze stürzte genau auf den Ritter mit
dem Löwenherzen zu. Nur mit einem schnellen Sprung von der
Leiter konnte sich Roland in Sicherheit bringen.
Einer der beiden Männer am Fuß der Leiter war nicht so glücklich.
Er wurde voll von dem Brocken getroffen, kam nicht einmal mehr
dazu, einen Schrei auszustoßen. Er war auf der Stelle tot.
Anderen ging es genauso. Die Felsklötze brachten die Angreifer
ziemlich durcheinander. Tollkühnheit und Kampfesbegeisterung
bekamen einen Dämpfer. Einige Stimmen, die zum Rückzug rieten,
wurden laut.
Davon wollte Rodulf Lamm nichts wissen.
»Bleibt, wo ihr seid!« tönte er so laut, wie er nur konnte. »Zeigt,
daß ihr Männer seid und keine Hasen, die vor dem ersten Fuchs
davonlaufen!«
Es gelang dem Hauptmann der Aufständischen noch einmal, seine
Männer bei der Stange zu halten. Abermals wurden die Leitern
angestellt, abermals stürmten die Kämpfer die Sprossen empor.
Dann jedoch griffen die Gräflichen zu einer weiteren Waffe.
Glühend heißes Pech wurde auf die Angreifer hinuntergeschüttet,
mehr und immer mehr. Die Pforten der Hölle schienen sich geöffnet
zu haben, um jeden zu verderben, der sich zu nahe heran wagte.
Jetzt gab es für die Streitmacht des Lämmerschlings kein Halten
mehr. In wilder Flucht stürzten die Männer davon, um sich aus der
Reichweite der tödlichen Gefahr zu entfernen.
Auch Roland erkannte, daß es so nicht möglich sein würde, die
Burg zu erstürmen. Er zog sich ebenfalls zurück.
*
Es hatte Rodulf Lamm und Volker sehr viel Mühe und Anstrengung
gekostet, die Streitmacht zusammenzuhalten. Der Mut der Leute war
gebrochen, ihre Zuversicht, das große Ziel erreichen zu können,
dahingeschwunden. Die Toten und die Verletzten, die sie in aller Eile
geborgen hatten, waren für sie ein allzu augenfälliger Beweis für die
Unbesiegbarkeit der gräflichen Ritter. Dennoch hatten es Roland und
der Lämmerschling geschafft, ihre Mitstreiter dazu zu bewegen, noch
eine zweite Attacke zu wagen. Eine Attacke, die allerdings unter
veränderten Umständen vonstatten gehen würde - wenn Rolands
vorbereitende Maßnahmen von Erfolg gekrönt waren!
Alle Angehörigen des Bauernheeres hatten sich unterhalb des
Plateaus vor den Pfeilen und Steinen der Trutzenburger in Sicherheit
gebracht. Jetzt jedoch stürmte eine größere Anzahl von Kämpfern
wieder gegen die Burgmauer vor. Dieser Angriff war jedoch nur ein
Scheinangriff, bei dem jeder einzelne vor allem darauf bedacht war,
sich mit seinem Schild zu schützen. Die Attacke sollte nur von dem
wahren Geschehen ablenken.
Und im Mittelpunkt dieses wahren Geschehens standen Roland,
Rodulf Lamm und vier weitere Leute aus der Gruppe des
Lämmerschlings. Die sechs Männer rückten gemeinsam mit den
anderen vor, sonderten sich dann jedoch sehr schnell ab. Ihr Ziel war
jene Stelle am Rand des Plateaus, an der Roland nach seiner Flucht
aus dem Verlies herausgekommen war.
Der Ritter mit dem Löwenherzen blickte zur Burgmauer hinüber.
Es war heller geworden, so daß man inzwischen etwa zehn Klafter
weit sehen konnte, wenn auch undeutlich und verschwommen.
Erleichtert atmete er auf. Es hatte nicht den Anschein, als ob die
Verteidiger auf ihn und seine Begleiter achteten. Die Gräflichen
konzentrierten ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Scheinangriff.
Gut so!
»Kommt«, sagte er zu seinen Kampfesbrüdern.
Er selbst machte den Anfang und ließ sich mit den Füßen zuerst zu
der Spalte hinunter, die den Fels durchschnitt. Ohne lange zu zögern,
kletterte er weiter abwärts. Nacheinander folgten Rodulf Lamm und
die übrigen vier Männer.
Binnen kürzester Zeit hatten sie alle sechs den Fuß der Föhre
erreicht. Und sie konnten mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß
keiner der Burgbewohner etwas von ihrer Annäherung ahnte.
Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf den Turm, in dem
sich Winfried von Trutzens Verlies befand. Im Grau des
Dämmerlichts konnte er auf Anhieb eine dunklere Stelle ausmachen.
Die Öffnung, durch die er entflohen war! Der junge Grafensohn
hatte sie also doch nicht wieder geschlossen. Ein Stein, der schwerer
war als der, der in dem Loch gesteckt hatte, fiel Roland vom Herzen.
Wenn Winfried den Quader wieder an seinen Platz gewuchtet hätte,
wäre sein Plan von vornherein gescheitert gewesen. So jedoch
bestanden gute Aussichten, daß er verwirklicht werden konnte.
Auch Rodulf und die anderen vier Männer waren voller Freude.
Ihre fast schon aufgegebenen Hoffnungen, Eberhard von Trutzen das
tyrannische Handwerk zu legen, bekamen neue Nahrung.
»Jetzt wollen wir nur hoffen, daß der Gefangene uns hört«,
murmelte Roland.
Er legte beide Hände vor den Mund, formte einen Trichter.
»Winfried!« rief er dann halblaut. Und noch einmal: »Winfried!«
Mehrere Sekunden gespannter Erwartung vergingen. Dann glaubte
Roland, drüben eine Bewegung feststellen zu können.
»Winfried, ich bin es«, rief er. »Ritter Roland!«
»Roland?« echote eine schwache Stimme, die Stimme des jungen
Grafensohns.
Der Ritter mit dem Löwenherzen triumphierte innerlich. Winfried
hatte ihn gehört und zweifellos auch erkannt.
»Wir sind gekommen, um Euch zu befreien«, teilte er dem
Grafensohn mit. »Aber Ihr müßt uns dabei helfen.«
»Was kann ich schon tun?« schallte es kaum hörbar zurück.
»Wir werfen Euch jetzt ein Seil hinüber. Ihr braucht es nur
aufzufangen und es irgendwo im Verlies zu befestigen. Habt Ihr
mich verstanden, Winfried?«
»Ich habe Euch verstanden!«
»Gut, dann haltet Euch bereit!«
Einer der Männer gab Roland das Seil, das er bisher auf dem
Rücken getragen hatte. Ein faustgroßer Stein war am Ende
festgebunden, um einen stabilen Flug zu gewährleisten. Sich mit der
linken Hand festhaltend, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren,
rollte Roland das Seil auf und nahm den Stein fest in die Rechte.
Dann bog er den Arm zurück, nahm Maß und schleuderte Stein und
Seil zur Verlieswand hinüber.
Die Entfernung betrug gute zehn Körperlängen. Aber Roland war
ein starker Mann. Mit Leichtigkeit schaffte er es, den Stein weit
genug zu werfen. Allerdings hatte er nicht genau gezielt. Der Stein
verfehlte sein Ziel, prallte gegen die Wand und fiel dann in die Tiefe.
Das Seil in Rolands Hand wurde ganz leicht. Der Stein hatte sich aus
der Schlinge gelöst.
Dadurch ließ sich der Ritter mit dem Löwenherzen jedoch nicht
entmutigen. Flugs holte er das Seil wieder ein und befestigte einen
neuen Stein daran, den ihm einer seiner Begleiter reichte.
»Paßt auf, Winfried«, rief er zum Verlies hinüber. »Wir versuchen
es erneut.«
Bevor er den zweiten Versuch unternahm, blickte er sich noch
einmal prüfend in der Umgebung um. Nichts deutete darauf hin, daß
das Unternehmen im Rücken der Gräflichen von irgend jemandem
bemerkt worden war. Jedenfalls konnte er an den höher gelegenen
Fenstern keine Menschenseele erspähen. Leicht gedämpft drang vom
Plateau Kampfeslärm herüber. Die Streitmacht des Lämmerschlings
nahm also noch immer die ganze Aufmerksamkeit der Verteidiger in
Anspruch.
Wieder holte der Ritter mit dem Löwenherzen weit aus und
schickte den Stein mit dem Seil auf die Reise.
Und diesmal hatte er besser gezielt als beim ersten Mal. Wenn er
es auch nicht genau erkennen konnte, wußte er, daß der Stein durch
die Wandöffnung geflogen sein mußte. Der Fall in die Tiefe blieb
aus, und Augenblicke später spürte er einen Zug am Seilende.
»Ich habe es«, verkündete die schwache Stimme Winfrieds von
Trutzen.
»Dann macht es gut fest!«
Wenig später spannte sich das Seil. Und auch als Roland kräftig
daran zog, lockerte es sich nicht.
»Geschafft!« sagte er befriedigt.
Er wickelte das Ende, das er in der Hand hielt, ganz fest um den
Stamm der Föhre. Und dann stand dem nächsten Schritt nichts mehr
im Wege.
Wieder machte Roland den Anfang.
Er packte das Seil mit beiden Händen, überprüfte noch einmal
seine Haltbarkeit und begann dann, sich langsam hinüberzuhangeln.
Natürlich bog sich das Seil unter seinem Gewicht leicht durch. Und
das Gefühl, über einem gähnenden Abgrund zu hängen, war auch
nicht gerade angenehm. Aber jetzt war nicht der rechte Augenblick,
sich darüber Gedanken zu machen, was passieren würde, wenn das
Seil riß oder sich aus seiner Verankerung löste. Immer mit einer
Hand über die andere greifend, kämpfte sich Roland weiter vorwärts.
Näher und näher kam die Turmwand. Ganz genau konnte Roland
jetzt schon die Öffnung erkennen. Und auch Kopf und Oberkörper
des Grafensohnes, der ihm erwartungsvoll entgegenblickte, waren
deutlich sichtbar.
Augenblicke später war er am Ziel und kletterte durch die Öffnung
in das Verlies.
Winfried von Trutzen war außer sich vor Freude und Rührung.
»Daß Ihr das für mich gewagt habt«, preßte er hervor. »Niemals
werde ich Euch das vergessen.«
Roland legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich habe es nicht
nur für Euch gewagt, Graf Winfried«, sagte er offen. Dann schob er
den Kopf durch das Loch und rief zur Föhre hinüber, daß der nächste
kommen möge.
Während sich nun auch Rodulf Lamm und seine Männer
nacheinander daran machten, den Abgrund zu überqueren, erzählte er
dem Grafen, was mit diesem Unternehmen außerdem bezweckt
wurde.
Winfried von Trutzen war mehr als erstaunt. Er hatte bisher gar
nicht gewußt, daß die Trutzenburg belagert wurde. Zwar hatte er
ferne Geräusche und Stimmen gehört, war aber nicht in der Lage
gewesen, sich daraus ein klares Bild zu machen.
»Ich weiß nicht, ob ich sehr glücklich über das bin, was Ihr da tut,
Ritter Roland«, sagte er leise.
»Es bringt Euch Eure Freiheit wieder, Graf Winfried!«
»Dennoch! Es ist nicht recht, daß Bauern und Wegelagerer sich
gegen ihren fürstlichen Herrn auflehnen.«
»Euer Vater hat seine fürstliche Macht schmählich mißbraucht«,
sagte Roland entschieden. »Er hat den gesamten Adels- und
Ritterstand mit Schmach und Schande beladen. Glaubt nicht, daß ich
ein Mann sei, der die überlieferte Ordnung stürzen will. Ich bin selbst
ein Ritter und stolz darauf. Aber ein blutiger Tyrann wie Euer
Vater...«
»Wer soll nach meinem Vater kommen?« fragte der Grafensohn.
»Will sich dieser ... Lämmerschling zum Herren des Landes
aufschwingen?«
Roland schüttelte den Kopf. »Weit gefehlt. Ich glaube kaum, daß
der König einen halbfreien Bauern auf dem Grafenthron von Trutzen
dulden würde. Und Rodulf Lamm hat auch gar nicht den Ehrgeiz, das
Land zu beherrschen. Er und ich, wir haben ganz andere Absichten.«
»Ihr selbst wollt Graf von Trutzen werden!«
Roland lächelte. »Wiederum weit gefehlt. Wir dachten vielmehr
an... Euch!«
»An ... mich?«
»Gewiß. Ihr seid der rechtmäßige Erbe Eures Vaters, und wie Ihr
selbst sagtet, besitzt Ihr durchaus Freunde unter den Getreuen des
Grafen. Außerdem habe ich von meinem Kampfesgenossen gehört,
daß Ihr Euch großer Beliebtheit im Lande erfreut. Welche Lösung
läge also näher, als Euch zum Herrscher zu machen?«
»Das muß ich erst in aller Ruhe überdenken«, sagte der
Grafensohn langsam.
»Tut dies«, nickte Roland. »Mich aber entschuldigt nun!«
Während seines Gesprächs mit Winfried von Trutzen waren
Rodulf Lamm und die vier anderen ebenfalls im Verlies angelangt.
Der enge Raum wurde dadurch noch enger. Es gab gerade noch so
viel Bewegungsfreiheit, um den nächsten Schritt zur Eroberung der
Trutzenburg zu tun.
Zwei der Männer hatten schwere Äxte mitgebracht. Roland und
der Lämmerschling, die fraglos die Kräftigsten waren, nahmen je
eine davon und machten sich sogleich ans Werk. Mit wuchtigen
Hieben, von denen jeder einzelne ausgereicht hätte, einen Ochsen zu
töten, rückten sie der schweren Bohlentür zu Leibe.
Schon nach den ersten Schlägen erzitterte die Tür in ihren Festen.
Das Holz ächzte und splitterte, und es dauerte nicht lange, bis sich
die ersten klaffenden Risse zeigten. Unermüdlich hieben die beiden
Recken weiter auf die Tür ein, so lange bis sie krachend aufflog.
Der Weg war frei!
Sekundenlang blieben alle Männer lauschend stehen. Aber es
rührte sich nichts. Gegenwärtig hatten die Gräflichen Besseres zu
tun, als sich um die Verliese zu kümmern.
»Wohlan denn«, sagte Roland.
Er nahm die Axt in die linke Hand und zückte mit der rechten das
Schwert. Die anderen taten es ihm gleich.
Dann verließen die Männer das Verlies und traten hinaus in den
düsteren Kellergang, der von keiner Fackel erhellt wurde. Aber das
war auch nicht nötig, denn Roland hatte sich den Weg nach oben
sehr wohl gemerkt.
Einen Augenblick dachte er daran, auch Volker, die beiden
Knappen und den Sänger Jacques d'Artagnac, die sicherlich in den
benachbarten Verliesen schmachteten, zu befreien. Aber er stellte
diesen Gedanken gleich wieder zurück. Ehe er die Freunde gefunden
hatte, würde weitere Zeit vergehen. Und Zeit war jetzt, wo es
draußen heller und heller wurde, das kostbarste Gut.
Er und seine Begleiter bewegten sich den Gang entlang, bis sie an
eine aufwärts führende Treppe gelangten. Niemand hinderte sie
daran, die Treppe hinaufzueilen. Sie erreichten ein Zwischenpodest,
das fraglos ebenfalls noch zu den Kellergeschossen gehörte. Ohne
Zeit zu verlieren, machten sie sich daran, die nächste Wendeltreppe
zu erklimmen.
Dann endlich war auch diese Treppe zu Ende, und sie befanden
sich zu ebener Erde. Und wenig später standen sie auf dem Burghof,
ohne bisher auch nur einem einzigen Menschen begegnet zu sein.
Und auch jetzt nahm noch niemand Notiz von ihnen, obwohl das
Licht überall angebrachter Fackeln hell auf sie fiel. Die Getreuen des
Grafen hielten sich ausnahmslos auf der Mauer auf. Und diejenigen
Burgbewohner, die nicht am Kampf teilnahmen, dachten
verständlicherweise nicht daran, die schützenden Gebäude zu
verlassen.
Alle, bis auf einen!
Und dieser eine war Graf Eberhard. Der Herr der Trutzenburg
stand mitten auf dem Hof und brüllte Anweisungen zu seinen
Männern auf der Mauer hinauf.
Und er war es dann schließlich auch, der Roland und seine
Begleiter sah.
Einen Augenblick lang stand er wie angewurzelt da. Dann stieß er
einen wilden Schrei aus und griff nach seinem Schwert.
»Überlaßt ihn mir«, raunte Roland dem Lämmerschling zu.
»Kümmert Ihr Euch um das Tor!«
Weitere Worte waren überflüssig. Rodulf Lamm und seine Männer
setzten sich bereits in Bewegung.
Und auch Roland tat dies. Nur daß er sich nicht dem Tor zuwandte,
sondern dem Grafen.
Eberhard erwartete ihn schon. Kampfbereit stand er da, mit
wutblitzenden Augen und erhobenem Schwert.
»Verräter!« schrie er dem Ritter mit dem Löwenherzen entgegen.
»Wer sich mit dem niederen Pack auf eine Stufe stellt, hat nichts als
den Tod verdient.«
Wild stürmte er auf Roland los. Der Zorn, der in ihm tobte, ließ ihn
jede Vorsicht vergessen. Er drang auf Roland ein, als sei dieser ein
aufsässiger Bauernbursche, den er zu züchtigen gedachte.
Es bereitete dem Ritter mit dem Löwenherzen keinerlei
Schwierigkeiten, die ungestüme Attacke abzuwehren. Dann ging er
seinerseits zum Angriff über. Ein einziger Hieb genügte, um
Eberhard von Trutzen entseelt zu Boden zu strecken.
Im gleichen Augenblick war es Rodulf Lamm und seinen Freunden
gelungen, das Burgtor von innen zu öffnen. Sekunden später
strömten mehr als tausend von wildem Kampfesmut erfüllte Bauern
und Handwerker auf den Hof.
*
Das große Gemetzel war ausgeblieben. Die Getreuen des Grafen
hatten sehr schnell erkannt, daß sie dieser gewaltigen Übermacht
niemals widerstehen konnten. Und als dann auch noch Winfried von
Trutzen erschienen war und sie beschworen hatte, sich seiner
Befehlsgewalt zu unterstellen, hatten sie alsbald die Waffen
gestreckt.
Der Grafensohn war der neue Herrscher der Trutzenburg, und alle
waren es zufrieden, aufständische Bauern und Ritter gleichermaßen.
Auch Volker, die beiden Knappen und der provenzalische Sänger
jubelten vor Freude, als sie ihr Verlies wieder verlassen konnten. Nur
eine war alles andere als hochbeglückt: Balthild, die schöne
Grafentochter. Jetzt, als sie erkannte, daß Roland der große Sieger
war, wollte sie dem Ritter mit dem Löwenherzen ihre Gunst
schenken.
Aber darauf konnte Roland leicht verzichten. Er hatte nämlich
festgestellt, daß Rodulf Lamm eine Schwester besaß.
Und was für eine!
ENDE
Von der wilden Hundemeute gehetzt, brechen Hirsche aus
dem Unterholz und rennen auf die Lichtung, wo die berittenen
Jäger Lauerstellung bezogen haben. Herzog Adalbert und
seine Jagdgenossen heben ihre Bogen. Noch warten sie, um
das Rotwild näher herankommen zu lassen.
Auch Otmar von Lützen hat seinen Bogen in Anschlag
gebracht, doch er schießt nicht auf das Wild, sondern auf
Herzog Adalbert. Adalbert stürzt schwerverletzt zu Boden. Er ist
dem Sterben nah. Da überfällt ihn die Sehnsucht nach seiner
Tochter Berthild. Er möchte sie sehen, sie,
Die verstoßene
Herzogstochter
Ritter Roland gerät in das Familiendrama. Wird er Herzog
Adalbert den letzten Wunsch erfüllen können?
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Herbst. DM 1,60