Ritter Roland 14 Günther Herbst Die blutige Gräfin

background image
background image

Die blutige Gräfin

von Günther Herbst

scanned by : horseman

kleser: Larentia

Version 1.0

Es war ein rauschendes Hochzeitsfest gewesen, von dem
man noch lange sprechen würde. Mehr als zweihundert
Gäste hatten sich auf Burg Falkenberg versammelt. Zehn
Ochsen und Dutzende von Laiben edlen Weißbrots waren
in hungrige Mägen gewandert, ungezählte Fuder Wein und
Met durch durstige Kehlen geflossen. Zwei berühmte
Troubadoure aus der Provence hatten die Feiernden mit
ihrem herrlichen Gesang erfreut. Es war eine wahre
Freude gewesen, wie sich alle belustigt und amüsiert
hatten.

Auf Helmbrecht von Falkenberg jedoch, den Burgherren,

background image

wartete noch ein Vergnügen, das alle anderen
Lustbarkeiten weit in den Schatten stellte: die
Hochzeitsnacht mit seiner ihm angetrauten Gemahlin.
Ungeduldig harrte er des Augenblicks, in dem er den
jungfräulichen Leib der traumschönen Birgitta endlich in
seine Arme schließen konnte. Dazu jedoch würde es
niemals kommen, denn noch in dieser Nacht sollte Graf
Helmbrecht von Falkenberg den Tod finden...

background image

Helmbrecht lag auf dem mit feinstem Linnen ausgeschlagenen Lager
des gräflichen Schlafgemachs und wartete. Aber Birgitta kam noch
nicht. Sie war hinausgetreten auf den Erker und blickte hinunter auf
den Burghof, von dem das Gelächter der letzten noch feiernden
Festgäste nach oben drang.

»Geliebte«, rief Helmbrecht, »wo bleibst du denn? Komm endlich

ins Bett!«

Birgitta antwortete nicht, obgleich er sich ganz sicher war, daß sie

ihn gehört hatte. Leichter Unmut wallte in ihm hoch. Was stand sie
da draußen herum und ließ ihn mit seinem Sehnen nach ihrer Liebe
allein? Wußte sie nicht, daß sie ihm Gehorsam zu erweisen hatte,
wenn er diesen von ihr verlangte?

Abermals rief er ihren Namen und wiederholte sein Begehr -

abermals vergeblich.

Helmbrechts Unmut verwandelte sich in Ärger. Ein mächtiger

Markgraf wie er war es wirklich nicht gewohnt, daß man ihn mit
Nichtachtung und Unbotmäßigkeit strafte. Böse Falten gruben sich
auf seiner Stirn ein, als er sich vom Bett schwang und zur
offenstehenden Erkertür hinüberging.

Da stand Birgitta. Sie drehte sich nicht um, als sie ihn hinter sich

hörte, sondern fuhr fort, auf den Hof hinunterzublicken.

»Birgitta!«
Jetzt erst wandte sie langsam den Kopf und sah ihn an. Der

Feuerschein vom Hof tauchte ihr Gesicht und ihre Gestalt in rosiges
Licht. Helmbrechts Ärger verflüchtigte sich sofort, als er sie in ihrer
ganzen Schönheit so vor sich stehen sah. Das ebenmäßige, stolze
Gesicht, umwallt von schulterlangem Blondhaar, das aussah wie
gesponnenes Gold, der makellos gewachsene Körper, schlank und
biegsam wie eine Tanne, der prächtige, hoch angesetzte Busen, das
milchige Weiß ihrer Haut - dies alles machte es ihm unmöglich, ihr
ernstlich böse zu sein. Ihr Blick war dazu angetan, selbst einen Stein
zum Schmelzen zu bringen. Und sein Herz war nicht aus Stein.

»Birgitta«, sagte er wieder und trat mit ausgestreckten Armen auf

sie zu. Er versuchte, sie in seine Arme zu ziehen, aber sie wich einen

background image

Schritt zurück.

»Nicht hier, Helmbrecht«, wehrte sie ihn ab. »Die Gäste können

uns von unten sehen.«

Das konnten sie in der Tat. Mehrere der Feiernden blickten schon

nach oben. Ritter Armbold winkte mit einer gerösteten
Schinkenkeule, zwei andere Getreue hoben ihre Trinkbecher. Aber
das kümmerte Helmbrecht nicht im mindesten, und auch die
Tatsache, daß er sich bereits des größten Teils seiner Kleidung
entledigt hatte, machte ihm überhaupt nichts aus. Ein Hundsfott und
Dummkopf, wer etwas dabei fand, daß er der Jungfernschaft seiner
Angetrauten ein lustvolles Ende zu bereiten gedachte.

»Was scheren uns die Gäste?« fragte er deshalb. »Ich bin der Graf

von Falkenberg und tue und lasse, was mir beliebt!«

Wieder griff er nach ihr. Zwar versuchte Birgitta erneut, ihm

auszuweichen, aber es gelang ihr nicht, weil ihr die Erkerbrüstung im
Wege war. Seine Hände schlossen sich um die schwellenden Brüste
seiner Gemahlin. Er fühlte ihr köstliches Gewicht und spürte, wie das
Feuer in seinen Lenden erwachte.

»Komm, Geliebte«, sagte er heiser. »Gehen wir ...«
»Laß mich los«, zischte Birgitta und machte dabei ein Gesicht, als

sei er der letzte Stallknecht, an dessen Händen noch der Mist der
Schweine klebte.

Helmbrecht dachte nicht daran, sie freizugeben. Lange, zu lange

schon, hatte er auf diese Nacht gewartet. Und der Teufel sollte ihn
holen, wenn er noch länger auf das verzichtete, was ihm nun auch
rechtens zugesprochen war. Fester noch als zuvor umspannte er
Birgittas Brüste und zog die herrliche Frau dichter an seinen
liebesbereiten Körper.

»Loslassen«, sagte Birgitta zum zweiten Mal, und ihre Stimme

klang dabei scharf und schneidend wie ein Schwert.

Helmbrecht von Falkenberg wußte nicht genau, ob er wütend

werden oder lachen sollte. Die Situation war peinlich und lächerlich
zugleich. Wenn die Feiernden merkten, daß sich ihm seine Gemahlin
verweigerte ... Das trug nicht dazu bei, sein Ansehen zu erhöhen, und

background image

wenn er dreimal der Markgraf war.

Grobheit schien ihm angebracht. Einmal, um den Männern dort

unten zu zeigen, wie man mit einer widerspenstigen Frau umsprang.
Zum zweiten aber auch, um diese Posse zu beenden.

»Mir reicht es jetzt, Weib!« herrschte er seine Angetraute halblaut

an. »Du kommst jetzt sofort mit mir ins Schlaf gemach und ...«

»Nein!«
Helmbrecht blickte in Birgittas Augen.
Und er spürte, wie ihn ein Schauder durchlief.
Kein heißer Schauder der Begierde und Lust, sondern ein eisiger

Schauder plötzlicher Furcht. Ein Feuer loderte in Birgittas
bernsteinfarbenen Augen, ein Feuer, das ihn zu verschlingen und zu
verzehren drohte.

Helmbrecht wollte den Blick abwenden. Aber er spürte, daß er

dazu nicht in der Lage war. Birgittas Augen hielten ihn fest, zogen
ihn mit unheimlicher Macht in ihren Bann, machten ihn hilflos wie
ein Reh, das die Wolfsmeute gestellt hatte.

»Nimm deine Hände weg«, befahl Birgitta.
Und Graf Helmbrecht von Falkenberg, der sonst niemandem

gehorchte außer dem König - und diesem auch nur, wenn es sich
ganz und gar nicht vermeiden ließ -, löste gehorsam die Hände von
den Brüsten der Frau, die ihm auf einmal so fremd vorkam wie ein
mörderisches Hunnenweib. Er nahm seine Hände nicht weg, weil er
es wollte, sondern weil er es mußte, weil er einen Zwang spürte, dem
er sich nicht widersetzen konnte, gegen den er nicht ankämpfen
konnte.

Er wollte etwas sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Seine

Kehle war wie zugeschnürt, die Zunge wie gelähmt.

Und noch immer waren Birgittas Augen auf ihn gerichtet, diese

Augen, die das ewige Feuer der Hölle widerzuspiegeln schienen. Das
teuflische Glühen verlor sich auch nicht, als die Gräfin jetzt lächelte
und ihr Gesicht dabei engelhafte Züge annahm.

»Liebst du mich, Helmbrecht?« fragte sie.
Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr scharf, sondern sanft und weich

background image

wie ein Mooskissen, das den müden Wanderer zum Schlummer
einlud. Aber Helmbrecht ließ sich dadurch nicht täuschen. Die
Augen waren die wahre Birgitta, eine Birgitta, die er bisher nicht
gekannt hatte, eine Birgitta, die er ganz sicherlich nicht liebte.

Er wollte ihr dies sagen, aber er mußte zu seinem Entsetzen

feststellen, daß er es nicht konnte. Statt dessen kamen ihm Worte
über die Lippen, die ein anderer an seiner Stelle zu sagen schien.

»Ja, ich liebe dich«, hörte er sich sagen. »Ich liebe dich von

ganzem Herzen.«

Das Lächeln seiner Gemahlin verstärkte sich. Offenkundige

Belustigung kräuselte ihre Lippen.

»Es freut mich, daß du mir deine Liebe gestehst, mein Gemahl«,

erwiderte sie mit einem kurzen Auflachen. »Und sicher würdest du
auch alles tun, um diese Liebe unter Beweis zu stellen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Helmbrecht wider Willen, »ich würde alles tun, was du

verlangst.«

»Wirklich alles?«
»Alles«, bestätigte der Graf. »Alles, was in meiner Macht steht.«
Birgittas Augen leuchteten wie ein offenes Herdfeuer. Dunkle,

alptraumhafte Gestalten schienen in den lodernden Flammen
umherzutanzen, Gestalten, die Helmbrecht einen Schauder des
Entsetzens nach dem anderen den Rücken hinunterjagten.

»Gut«, sagte sie, »sehr gut. Du sollst Gelegenheit haben, mir deine

Liebe zu beweisen. Klettere auf die Erkerbrüstung, und springe
hinunter auf den Hof!«

Helmbrecht glaubte, nicht recht zu hören. »Ich soll...?« Die

Stimme versagte ihm.

»Ja, das sollst du«, nickte Birgitta. »Und zwar sofort!«
»Aber das ... Das wäre mein sicherer Tod«, stammelte der Graf.
Der Burghof lag mehr als zwanzig Klafter unter dem Erker und

war mit hartem Schiefergestein gepflastert. Kein Mensch konnte
einen Sprung aus dieser Höhe überleben.

»Ich weiß, daß du dabei den Tod finden wirst«, sagte Birgitta

beinahe gleichmütig. »Dennoch bestehe ich darauf. Spring!«

background image

Nein, wollte Helmbrecht sagen, nein, nein, nein!
Aber er sagte es nicht. Sein Mund war wieder wie verschlossen,

die Zunge gehorchte ihm nicht. Und er war auch nicht mehr Herr
seines Körpers. Dieser machte sich selbständig, strebte wie von
Geisterhand geführt zur Erkerbrüstung hinüber. Schon schnellte sein
rechtes Bein hoch und schwang sich über die steinerne Schutzmauer.

Verzweifelt bemühte sich Helmbrecht, gegen das wahnsinnige,

selbstmörderische Geschehen anzukämpfen. Aber er stand dabei auf
verlorenem Posten. Eine unheimliche Kraft beherrschte und lenkte
ihn, eine Kraft, die stärker war als er und der er nichts
entgegenzusetzen hatte.

»Weiter«, hörte er Birgitta sagen. »Jetzt das andere Bein!«
Helmbrecht stützte sich mit beiden Händen ab und zog das linke

Bein nach. Im nächsten Augenblick hockte er auf der Brüstung wie
die Henne auf dem Ei.

Unten auf dem Hof war man auf sein ungewöhnliches Tun

aufmerksam geworden. Helmbrecht sah vor Verblüffung
aufgerissene Münder, spürte fassungslose Blicke auf sich ruhen.

»Herr Graf, was tut Ihr?« drang die Stimme Ritter Armbolds an

sein Ohr. »Seid Ihr trunken?«

Nein, wollte Helmbrecht antworten, nicht der Wein ist schuld. Sie

ist es, die mich treibt! Birgitta, meine engelgleiche Gemahlin, die in
Wirklichkeit eine Tochter des Teufels ist.

Aber natürlich sagte er nichts von alledem, denn dazu war er nicht

fähig. Die unheimliche Macht hielt ihn unerbittlich in ihren Klauen,
gab ihm keine Möglichkeit, das zu sagen oder zu tun, wonach sein
eigenes Wollen so brennend verlangte.

»Und nun ... Spring!« befahl Birgitta.
Ihre Stimme war so leise, daß sie unten auf dem Hof nicht gehört

werden konnte. Und doch war sie so zwingend, so unwiderstehlich,
daß ihr der Graf gehorchen mußte.

Er sprang ...

*

background image

Zwei Monde lang trauerte die Gräfin um den Verlust ihres
heißgeliebten Gemahls. Dann war sie bereit, die Herrschaft über
Falkenberg anzutreten.

Und von diesem Tag an wurde alles anders im Lande ...

*

Seit Stunden schon ritten Roland und Volker vom Hohentwiel mit
ihren Gefährten am Strom entlang, ohne einen Überweg zum anderen
Ufer gefunden zu haben. Fast hatten sie den Eindruck, daß die
Grafschaft Falkenberg unerreichbar war, obwohl man sie klar und
deutlich dort drüben sehen konnte. Es schien, als schirmten sich die
Falkenberger ganz bewußt gegen alle Fremden ab.

»Letzten Endes wird uns nichts anderes übrigbleiben, als den Fluß

schwimmend zu durchqueren«, stellte Ritter Volker fest und lachte
dabei vergnüglich.

Seine Worte riefen ungeahnten Schrecken hervor. Der dickliche

Knappe Pierre fiel vor Entsetzen fast vorn Pferd.

»Schwim ... men?« wiederholte er mit mehlgrauem Gesicht. »Das

kann nicht Euer Ernst sein!«

»Warum nicht? Oder solltest du dich fürchten, dir den dicken

Hintern naß zu machen, Pierre?«

»Das ist es nicht«, erwiderte der Knappe. »Aber bedenkt doch die

reißende Flut des Stroms, die haushohen Wellen, die mörderischen
Strudel, die eisige Kälte ...«

»... die gewaltigen Flußdrachen und die teuflischen Wasserhexen«,

fiel ihm Roland lachend ins Wort. »Du kannst aufhören zu jammern,
Pierre. Eine halbe Meile flußaufwärts, drüben auf der anderen Seite,
sehe ich etwas. Es könnte sich um eine Fährstation handeln.«

Die anderen drei Männer blickten dorthin, wohin sein

ausgestreckter Arm wies.

Volker legte die Hand an die Stirn, um das Licht der

schrägstehenden Sonne abzuwehren. »Du mußt vorzügliche Augen
haben, wenn du dort etwas siehst, Freund Roland. Ich kann jedenfalls

background image

nichts erkennen.«

»Doch, doch, er hat recht«, sagte der Knappe Louis. »Auch ich

kann die Station ausmachen.«

Bevor Louis in die Dienste Rolands trat, war er ein Räuber

gewesen, der den größten Teil seines Lebens in der Wildnis
zugebracht hatte. Diese schwere Zeit hatte seine Augen geschärft.
Genauso wie die seines Herrn, der ebenfalls größtenteils in der freien
Natur aufgewachsen war. Volker und Pierre, die ihre früheren Jahre
weniger entbehrungsreich verbracht hatten, konnten es in dieser
Hinsicht nicht mit ihren Gefährten aufnehmen.

Bald war für alle vier Männer ersichtlich, daß in der Tat ein

Fährbetrieb aufrechterhalten wurde. Auf dieser Seite des Stroms
befand sich eine Anlegestelle, die eigentliche Station am
gegenüberliegenden Ufer. Und natürlich lag auch die Fähre drüben
vor Anker. Gegenwärtig ließen sich weder hüben noch drüben andere
Reisende blicken, die das Wassergefährt benutzen wollten.

Roland und seine Freunde zügelten ihre Pferde vor der

Anlegestelle und stiegen aus den Sätteln.

Louis trat auf den Anlegesteg und ruderte mit den Armen.
»Hol über!« ließ er seine Stimme erschallen.
Seine Stimme war laut genug, um am anderen Ufer gehört zu

werden. Es kam ein kurzer Bestätigungsruf, und wenig später legte
die Fähre drüben ab.

Es dauerte eine ganze Weile, bis das ochsenbetriebene

Seilzugsystem die Fähre über den Fluß geführt hatte. Schließlich
aber näherte sie sich doch dem Steg, auf dem die vier Gefährten mit
ihren Pferden warteten.

Mit einem gewissen Erstaunen nahm Roland zur Kenntnis, daß

sich auf dem flachen, kiellosen Wassergefährt nicht nur die beiden
Fährleute befanden. Auch vier Ritter fuhren auf der Fähre mit, harte,
kampferprobte Recken, wie man auf den ersten Blick erkennen
konnte. Der Raubvogel auf ihren Schilden wies sie als Getreue der
Gräfin von Falkenberg aus. Es stand außer Zweifel, daß die vier
Ritter keine Reisenden waren, die auf dieser Seite des Flusses

background image

irgendwelche Dinge verrichten wollten. Sie hatten keine Pferde bei
sich, beabsichtigten also, wieder mit der Fähre zurückzufahren.

Auch Volker vom Hohentwiel war zu derselben Ansicht gelangt.
»Die Falkenberger scheinen sehr höfliche Leute zu sein«, raunte er

Roland zu. »Wo wird man sonst schon an der Landesgrenze von
einer ritterlichen Abordnung empfangen?«

Roland war sich nicht so sicher, daß es die reine Höflichkeit war,

die die vier Ritter auf die Fähre geführt hatte. Erschreckende
Gerüchte waren nach Camelot gedrungen, Gerüchte, in denen von
Mord und Tod berichtet wurde, die in der Mark angeblich gang und
gäbe sein sollten. Aus diesem Grund hatte König Artus den Ritter
mit dem Löwenherzen nach Falkenberg geschickt. Er sollte nach
dem Rechten sehen und die verabscheuungswürdigen Übelstände
beseitigen, wenn es in seiner Macht stand. Und als Roland die
Falkenberger Ritter jetzt so auf der Fähre sah, erwachte sofort das
Mißtrauen in ihm.

Kurz darauf machte die Fähre am Steg fest. Schweigend blickten

die beiden Fährleute und die Ritter der Gräfin den Gefährten
entgegen. Keiner von ihnen lächelte, keiner sagte ein freundliches
Begrüßungswort, wie es eigentlich Sitte war.

Volker wollte sein Pferd auf die Fähre treiben. Aber dazu ließen es

die Falkenberger nicht kommen.

»Gemach, Ritter!«
So schnell, daß das Auge kaum zu folgen vermochte, zogen sie

ihre Schwerter aus den Scheiden und bauten sich wie eine
menschliche Mauer am Rand der Fähre auf.

Volker vom Hohentwiel verhielt seinen Schritt. Ein Zucken des

Unmuts huschte über sein olivfarbenes, männliches Gesicht. Eine
Augenbraue anhebend, fragte er mit einem Blick auf die vier
gezückten Klingen: »Was hat dies zu bedeuten?«

»Beantwortet uns eine Frage, Ritter«, sagte der Sprecher der

Falkenberger, ein vierschrötiger Mann mit einer tiefen, schlecht
verheilten Narbe auf der rechten Wange. »Warum wollt Ihr über den
Strom setzen?«

background image

»Wir gedenken, der Mark einen Besuch abzustatten.«
»Zu welchem Behufe?«
Volker stampfte mit dem Fuß auf. »Wir sind freie Ritter und

brauchen niemandem über unser Tun Rechenschaft abzulegen, sofern
dieses Tun nicht gegen die Gesetze des Landes verstößt!«

»Gut gesagt«, meinte der Vierschrötige. »Wenn Ihr unsere Gesetze

achtet, steht dem Übersetzen in der Tat nichts im Wege. Ihr sollt
gleich Gelegenheit bekommen, eine Probe Eurer Gesetzestreue
abzulegen.«

Die vier Falkenberger traten einen Schritt zur Seite, öffneten

Volker eine Gasse.

»Kommt, Ritter!«
Der Vierschrötige geleitete Volker auf die Fähre, während die drei

anderen Roland und den beiden Knappen weiterhin den Zutritt
verwehrten.

»Einer nach dem anderen«, wurde Roland beschieden, als er gegen

diese Zurücksetzung Einspruch erheben wollte.

Volker wurde unterdessen vor ein eigenartiges Gebilde geführt, das

die Falkenberger auf der Fähre aufgebaut hatten. Es handelte sich um
einen kindergroßen Findlingsblock, in den altgermanische Runen
eingraviert waren. Der rechteckige Gesteinsbrocken war mit
grünenden Eichenzweigen und einem grotesk geformten
Wurzelgeflecht geschmückt.

»Dies ist ein Heiligtum der wahren Götter«, sagte der

Vierschrötige. »Huldigt ihnen, wie es Gesetz ist in unserem Land!«

»Was ... soll ich?« fragte Volker erstaunt. Mit

zusammengekniffenen Augen blickte er auf den Findling hinunter.

»Ihr hörtet, was ich sagte! Schwört dem falschen Gott ab, und

erweist denen die Ehre, die des Geschickes Mächte seit Anbeginn in
ihren starken Händen halten!«

Am liebsten hätte Volker laut gelacht. Was ihm der Falkenberger

da gesagt hatte, dünkte ihm als reine Torheit. Als Sänger und Dichter
war er ein gebildeter Mann. Er kannte die alten Götter der Germanen
- Wodan, Donar, Loki und wie sie alle hießen. Ihnen jetzt nach

background image

Heidenart zu huldigen, das war Narretei. Aber bitte sehr, wenn die
Falkenberger Vergnügen daran hatten ...

»Ist es Euch recht, wenn ich Donar mit einer Hymne ehre?« fragte

er den Vierschrötigen.

Der nickte.
Volker stellte sich in Positur, ließ dann seine strahlende Stimme

erschallen:

Ich weiß, daß ich hing am windigen Baume
Neun Nächte lang,
Mit dem Speer verwundet,
Geweiht dem Wodan,
Ich selbst mir fremd,
An jenem Baum, da jedem fremd,
Aus welcher Wurzel er wächst.
Dieses Lied war eins der wenigen, zu denen er Text und Noten

nicht selbst geschrieben hatte. Er hatte die Hymne vor einigen Jahren
von einem Sänger aus dem hohen Norden gelernt, und sie gehörte
gewiß nicht zu jenen, die er am liebsten vortrug. Den Falkenbergern
jedoch schien sie sehr gut gefallen zu haben. Ritter und Fährleute
waren sichtlich beeindruckt.

»Seid willkommen in Falkenberg«, sagte der Vierschrötige. »Wir

werden Euch mit Vergnügen übersetzen.«

Roland entnahm diesen Worten, daß auch er und die beiden

Knappen nun die Fähre betreten durften. Aber dies war ein Irrtum.

»Gemach, Ritter«, wandte sich der Sprecher der Falkenberger an

ihn. »Nun müßt auch ihr den wahren Göttern huldigen.«

Der Ritter mit dem Löwenherzen verzog unmutig den Mund. »Mir

ist die Gabe des Gesangs nicht vergönnt.«

»Dann ehrt die Götter auf andere Weise!«
Der Teufel soll mich holen, wenn ich zu heidnischen Göttern bete,

dachte Roland wütend. Schon wollte er seiner Entrüstung Luft
machen, da fiel ihm ein Spottgedicht auf den Gott Donar ein, das ihm
einst in einem Wirtshaus zu Ohren gekommen war.

»Nun denn, so höret«, sagte er und ließ das Gedicht vom Stapel:

background image

Donar ist mächtig
Donar ist groß
Drei Klafter sechzig
Und arbeitslos
»Hundsfott, Elender!« brüllte der Vierschrötige. »Du wagst es, die

Götter zu beleidigen?«

Er hob sein Schwert, und die drei anderen Falkenberger taten es

ihm nach.

Roland, der seine Waffe noch in der Scheide stecken hatte, machte

ein paar blitzschnelle Schritte rückwärts, griff dabei nach dem Knauf
seines Eisens.

Es wurde jedoch nicht erforderlich, das Schwert einzusetzen. Die

vier Ritter machten keine Anstalten, ihm auf den Leib zu rücken. Sie
blieben auf der Fähre.

Aber es geschah etwas anderes, was Roland kaum weniger

unangenehm war. Der Vierschrötige gab den beiden Fährleuten
Befehl abzulegen. Und ehe es sich der Ritter mit dem Löwenherzen
richtig versah, lagen bereits mehrere Klafter Wasser zwischen Fähre
und Ufer.

»He«, rief Roland, »ich könnt doch nicht...«
»Wir können!« rief ihm der Vierschrötige mit einem breiten

Grinsen zu. »Für Spötter wie Euch ist in Falkenberg kein Platz.
Hebet Euch von hinnen!«

Zusehends entfernte sich die Fähre, einen zornbebenden Roland

und zwei verblüffte Knappen am Ufer zurücklassend.

»Nimm es nicht so schwer, mein Freund«, rief Volker von der

Fähre aus. »Du wirst einen anderen Überweg finden. Wir sehen uns
bald wieder!«

Roland war so wütend, daß er das Abschiedswinken seines

Freundes nicht einmal erwiderte.

*

So wisset denn, Brüder und Schwestern

background image

Schreckliches widerfährt euch allen

Mißachtet ihr des Donnerers Begehr

Der Sonne güldener Glanz verblaßt

Der Nacht dunkler Mantel bedeckt das Land

Rot vor Blut sind die Sterne

Unsichtbar durchpflügt der Hammer das Dunkel

Zerschmettert sinken nieder die Entleibten

Ihrer Bürde wird die Erde nicht Herr

Drum hütet euch, Brüder und Schwestern

Und seid dem Donnerer zu Willen

(Weissagung des Sehers Snorri Thorgnyr)

*

Nacheinander betraten die Männer, die für die Geschicke

Steinmülheims Sorge trugen, die Versammlungsstube des Dorfes. Sie
alle machten bedrückte, betretene Gesichter. Kein einziger von ihnen
offenbarte Anzeichen von Frohsinn oder Heiterkeit, was auch
wirklich nicht geziemend gewesen wäre.

»Nehmt Platz«, empfing sie Karl Waldner.
Schweigend ließen sich die Männer auf den Holzbänken der Stube

nieder.

»Du hast nach uns geschickt, Schultheiß!« brach der Müllner

Rupold schließlich das Schweigen. »Was steht an?«

Die Frage war überflüssig wie der Eimer Wasser während des

Regens. Jeder im Raum wußte dies. Und doch hatten sie jetzt alle
Mienen aufgesetzt, als würden sie etwas erfahren, das ihnen gänzlich
unbekannt war. Es lag in der Natur des Menschen, sich ahnungslos
zu stellen, wenn es um Dinge ging, die man am liebsten vergessen
hätte.

Karl Waldner konnte es den Männern nachfühlen. Auch er selbst

hatte eine große Scheu vor dem Kommenden. Aber er wußte nur zu
genau, daß es keine Möglichkeit gab, sich an der Sache
vorbeizudrücken. Für ihn am allerwenigsten, denn er würde der erste

background image

sein, den die Getreuen der blutigen Gräfin zur Rechenschaft zogen,
sollte Steinmülheim es wagen, sich den Befehlen der Herrin zu
widersetzen. Was sein mußte, mußte sein.

Er räusperte sich und sagte: »Das Fest der Sonnenwende steht vor

der Tür. Ihr wißt, was dies für uns bedeutet!«

Ja, sie wußten es. Die stummen Blicke, die sie jetzt tauschten, spra-

chen eine unmißverständliche Sprache. Und ohne daß es einer sagte,
stand ein Wort nun deutlich im Raum.

Das Opfer!
»Ich habe eine Liste der Mädchen gemacht, die in Frage kommen«,

sprach Karl Waldner weiter.

Er holte ein Stück Pergament hervor, daß er mit mehreren Namen

beschrieben hatte. Normalerweise trafen ihn bei solcher Gelegenheit
Blicke der Bewunderung, denn er war der einzige im Dorf, der lesen
und schreiben konnte. Deshalb war er auch als Schultheiß eingesetzt
worden. Diesmal jedoch konnte von Bewunderung wahrlich keine
Rede sein. Es war eher Haß, der ihm aus den Augen der Männer
entgegenleuchtete. Ein Haß allerdings, den er sicherlich nicht
verdiente. Schließlich tat er nur seine Pflicht, handelte er nur im
Auftrag der Herrin. Was konnte der Schmiedehammer dafür, wenn er
das glühende Eisen zum Stöhnen bringen mußte?

Unfroh blickte er auf das Pergament. Vier Namen nur standen

darauf. Und zwei davon waren auch die Sippennamen von Männern,
die sich unter den Anwesenden befanden.

Wieder räusperte er sich. Mehrmals mußte er ansetzen, bevor er

endlich die Sprache wiederfand.

»Fangen wir an«, sagte er mit belegter Stimme. »Da wäre

zunächst... Frotlina Kotbauer.« , Einige der Anwesenden nickten
beifällig. Der Kotbauer war nicht beliebt im Dorf, weil er stets übel
roch und roh und unflätig war. Und natürlich mußte auch seine Sippe
diese Mißliebe teilen.

»Eine gute Wahl«, sagte der Müllner Rupold sofort. »Eine wirklich

sehr gute Wahl, Schultheiß!« Nach Zustimmung heischend blickte er
sich im Kreis der anderen um.

background image

Aber ihm wurde keine allgemeine Zustimmung zuteil.
»Die Kotbauer Frotlina kommt nicht in Betracht«, sagte der

Stellmacher Heiner.

»Warum nicht?« stieß Rupold Müllner fragend hervor und

bedachte den Stellmacher mit einem bösen Blick.

Dieser zuckte die Achseln. »Ich sah des Kotbauern Tochter auf der

Fähre bei den Drei Steinen. Sie hat die Mark Falkenberg verlassen.«

»Wann?« bellte der Müllner.
»Drei Tage mag es her sein.«
Rupold Müllner hämmerte erbittert mit der Faust auf die Bank.

»Geflüchtet ist das Luder - gewiß auf Geheiß ihres Vaters! Dafür
muß der Kotbauer zur Rechenschaft gezogen werden!«

Karl Waldner machte eine abwehrende Handbewegung. »Was hilft

es uns? In jedem Fall ist Frotlina nicht mehr da. Wir müssen sie von
der Liste streichen.«

»Wen haben wir noch?« wollte Friedrich Imthal wissen.
Der Schultheiß blickte auf sein Pergament.
»Hedwig Einhäuser«, las er vor, obgleich er recht wohl wußte, daß

auch dieses Mädchen kaum in Frage kommen konnte.

Der Stellmacher war es, der dies auch gleich bestätigte. »Hedwig

Einhäuser hat den Aussatz«, stellte er fest. »Ist einer unter uns, der
sie berühren möchte?«

Heftiges Kopfschütteln der Anwesenden war die Antwort. Einige

schüttelten sich, als würde sie es bereits bei dem bloßen Gedanken
jucken und kratzen.

»Du sprachst von vier Namen, Schultheiß«, sagte Friedrich Imthal.

»Wer wäre der nächste?«

Am liebsten hätte Karl Waldner den Kopf gar nicht mehr von

seinem Pergament gehoben. Es fiel ihm ungeheuer schwer, den
Namen zu nennen, den er jetzt nennen mußte. Aber ihm blieb keine
andere Wahl. Er konnte nicht verhindern, daß seine Mundwinkel
zuckten, als er den Feldner Christian anblickte.

»Die nächste wäre deine Tochter Berthe, Christian!«
Schweigen folgte diesen Worten. Alle Anwesenden blickten

background image

stumm auf den Bauern Feldner.

Der aber blieb ganz ruhig, zuckte keineswegs zusammen. Zur

Überraschung aller lachte er sogar kurz auf.

»Es dauert mich zutiefst, euch enttäuschen zu müssen, meine

Freunde«, sagte er. »Aber die Berthe steht nicht zur Wahl.«

»Warum nicht?« begehrte Friedrich Imthal auf. »Glaubst du, deine

Tochter hätte einen Freibrief, nur weil du der Dorfversammlung
angehörst, Christian?«

»Dies ist gewiß nicht der Grund«, antwortete der Feldner. »Wohl

weiß ich, daß die Gräfin nicht nach Stand und Würden fragt. Aber es
gibt einen anderen Grund, aus dem Berthe nicht in Frage kommt.«

»Und der wäre?«
»Meine Berthe ist keine Jungfrau mehr!«
»Was?«
»Sie ist im dritten Monat schwanger«, erklärte Christian Feldner

wie beiläufig.

Der Schultheiß runzelte die Stirn. »Das ist die Wahrheit, Christian?

Du versuchst nicht, uns einen Bären aufzubinden, um deine Tochter
zu retten?«

»Dies kann ich schwören«, erwiderte der Feldner und hob auch

bereitwillig die Finger der rechten Hand.

»Wer war es?« rief der Müllner mit hochrotem Kopf. »Wer hat sie

geschwängert - du selbst etwa?«

Christian Feldner sprang auf, ging mit geballten Fäusten auf den

Müllner los.

»Nimm das zurück, du Lump, sonst...«
»Setz dich«, sagte Karl Waldner scharf.
Immer noch vor Zorn bebend nahm der Feldner wieder auf der

Bank Platz. Das Wort des Schultheiß hatte Gewicht in Steinmülheim.

»Des Müllners Frage ist nicht unberechtigt«, fuhr er fort. »Wer hat

Hand an deine jungfräuliche Tochter gelegt, Christian?«

»Mein Knecht Ceslin war es«, gab der Feldner zur Antwort. »Und

wenn ihr es ganz genau wissen wollt - ich hatte nicht einmal etwas
dagegen einzuwenden!«

background image

»Pfui, Teufel!« rief Rupold Müllner und spuckte auf die rohen

Bretter des Bodens. »Ein Kind von fünfzehn Jahren ... Und der
eigene Vater läßt zu, daß ein Knecht seine Lust daran befriedigt!«

»Besser mit fünfzehn geschwängert, als mit sechzehn den Opfertod

gestorben«, sagte Christian Feldner trotzig.

Wild blickte er sich in der Runde um. Niemand sagte mehr etwas.

Auch Rupold Müllner nicht, der jetzt düster auf seine Schuhe
hinunterblickte.

Sein düsterer Blick war nur allzu berechtigt. Denn der vierte und

letzte Name auf Karl Waldners Liste ...

»Luitgart Müllner«, las der Schultheiß vor.
Wiederum sagte niemand etwas. Es war eine Stille in die

Versammlungsstube eingekehrt, wie sie nicht einmal auf dem
nächtlichen Gottesacker herrschte.

Rupold Müllner selbst war es, der die Stille brach. Ein tiefes,

herzzerreißendes Schluchzen kam aus seiner Kehle, ein Schluchzen,
das wenig später in ein haltloses Weinen überging.

Niemand im Raum verübelte ihm seine Tränen. Das galt auch für

Christian Feldner, der dem Müllner kurz zuvor beinahe an die Kehle
gesprungen wäre. Alle Anwesenden hatten volles Verständnis für
den jetzt gramgebeugten Mann. Seine Tochter war nicht schwanger,
litt nicht an Aussatz und hatte sich auch nicht über den Strom
geflüchtet. Sie würde es sein, die sich dem grausamen Willen der
Gräfin von Falkenberg zu unterwerfen hatte.

Luitgart Müllner war dem Opfertod geweiht...

*

Mehrere Meilen noch waren Roland und seine beiden Knappen am
Ufer des Stroms entlanggezogen. Eine Brücke oder eine andere
Fähre hatten sie jedoch nicht gefunden.

Langsam war die Geduld des Ritters mit dem Löwenherzen

erschöpft. Beinahe ruckartig brachte er seinen Schimmel zum
Stehen.

background image

»Wir kehren um«, sagte er entschieden.
Fragend blickten ihn Pierre und Louis an.
»Zurück nach Camelot?« erkundigte sich Pierre hoffnungsvoll.
Der dickliche Knappe liebte das gemütliche, geruhsame Leben.

Und dies ließ sich am Königshof eher führen als in den rauhen
deutschen Landen.

Roland bereitete ihm eine bittere Enttäuschung.
»Zurück nach Camelot geht es erst, wenn ich meinen Auftrag

ausgeführt habe«, machte er Pierre klar. »Mit Umkehren meinte ich,
daß wir uns wieder zu der Fähre begeben werden, mit der Volker
vom Hohentwiel über den Fluß gelangt ist.«

»Aha«, machte Pierre unfroh.
Louis runzelte die Stirn. »Wollt Ihr klein beigeben und den

unchristlichen Forderungen der Falkenberger nachgeben, Ritter
Roland?« wollte er wissen.

»Keineswegs! Donar müßte mich schon mit seinem Hammer zu

Boden schlagen, bevor ich mich vor seinem Götzenaltar verneige.«

»Diese Worte vernehme ich gerne«, sagte Louis befriedigt.

»Andererseits ... Die Falkenberger werden sich weigern, uns
überzusetzen, fürchte ich.«

»Das dürfte gewiß sein«, nickte Roland. »Aber ich beabsichtige

auch nicht, die Fähre zu benutzen.«

»Aber Ihr sagtet doch ...«
»Ich sagte, wir kehren zur Fähre zurück. Ich sagte nicht, daß wir

sie auch benutzen werden.«

»Das ist mir zu hoch«, warf Pierre kopfschüttelnd ein.
»Dabei ist es ganz einfach«, erklärte Roland. »Wir werden den

Fluß tatsächlich schwimmend überqueren.«

»Nein!« rief Pierre entsetzt.
»Doch! An der Stelle, wo die Fährstation liegt, ist der Fluß am

schmalsten. Außerdem können wir uns am Fährseil festhalten.«

»Die Falkenberger werden uns sehen«, gab Louis zu bedenken.
»Nicht, wenn wir warten, bis es dunkel geworden ist. Nachts ruht

der Fährbetrieb.«

background image

Louis dachte kurz nach, machte dann eine zustimmende

Kopfbewegung. »Ja, so könnte es gehen. Findest du nicht auch,
Pierre?«

Der dickliche Knappe hockte wie ein Häufchen Unglück im Sattel

seines Pferdes.

»Wir werden den Tod dabei finden«, murmelte er. »Unsere

Leichname werden den Fluß entlangtreiben und ...«

»Hör auf mit dem Gejammer«, fiel ihm Louis ins Wort.

»Außerdem hast gerade du nichts zu befürchten, Pierre. Du kannst
gar nicht im Fluß untergehen.«

»Wieso nicht?« fragte der dickliche Knappe verblüfft.
»Weil Fett bekanntlich oben schwimmt!«
Pierre fand den derben Scherz gar nicht zum Lachen. Ihm war eher

weinerlich zumute. Aber was sollte er machen - die Gefährten im
Stich lassen? Nein, das kam für ihn nicht in Frage. Bei aller
Hasenfüßigkeit war er doch ein unbedingt treuer Diener seines
Herrn. Tatsächlich würde er sich eher in Stücke hauen lassen, als sich
von Roland zu trennen. Ihm blieb also gar nichts anderes übrig, als
sich Roland und Louis wieder zuzugesellen, die ihre Pferde bereits
gewendet hatten und zurückritten.

Die Sonne schickte sich an, hinter den Bergen im Westen

unterzugehen. Der Himmel hatte eine rosarote Färbung
angenommen. Ein kühler Wind kam auf und kündigte den Abend an.

Die drei Gefährten ließen sich jetzt Zeit. So lange es noch hell war,

durften sie sich nicht am Anlegesteg blicken lassen. Sie konnten es
sich deshalb sogar leisten, eine einstündige Rast einzulegen. Diese
Rast brauchten sie auch, denn die Überquerung des Flusses würde
Kraft kosten. Und das galt für die Männer genauso wie für die
Reittiere.

Dann verschwand die Sonne ganz. Der Himmel wurde dunkler und

dunkler, und bald konnte man nur noch wenige Klafter weit sehen.
Roland und die beiden Knappen brachten das letzte Stück Weg hinter
sich und erreichten die Anlegestelle.

Tiefe Ruhe herrschte ringsum. Zu hören waren nur der

background image

Wellenschlag des Flusses und das gelegentliche heisere Krächzen
eines beutehungrigen Nachtvogels.

Angestrengt blickten die drei Männer zum anderen Ufer hinüber.

Schwacher, flackernder Lichtschein drang an ihre Augen. Die
Fährleute hatten ganz offensichtlich ein Feuer angezündet.

Pierre nahm dies mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis.
»Wir müssen warten, bis sie das Feuer löschen«, meinte er. »Sonst

sehen sie uns unweigerlich.«

Roland schüttelte den Kopf. »Da können wir wahrscheinlich ewig

warten. Ich könnte mir vorstellen, daß das Feuer die ganze Nacht
brennt. Das ist bei Wachfeuern so üblich.«

Pierre druckste. »Das bedeutet also, daß ..., daß wir sofort...«
»Ja!«
Roland selbst machte den Anfang. Es war nicht ratsam, vom

Anlegesteg aus in den Fluß zu gehen. Hier würde das Wasser
bestimmt schon so tief sein, daß die Pferde sofort den Boden unter
den Füßen verloren. Roland wählte deshalb eine Stelle neben dem
Steg, an der das Ufer gemächlich abfiel. Sein edler Hengst scheute
nicht im mindesten, ließ sich willig in den Strom führen.

Als ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, machte

Roland noch einmal halt. Louis war schon unmittelbar hinter ihm,
während Pierres Pferd noch am Ufer stand.

»Nun, Pierre, hast du dich entschlossen hierzubleiben?« rief

Roland dem dicklichen Knappen zu.

»Nein, nein, ich komme ja schon«, antwortete Pierre hastig und

lenkte auch sein Reittier ins Wasser. Er stöhnte tief auf, als seine
Beine naß wurden.

Nicht von ungefähr klapperte er mit den Zähnen. »Eisige Kälte

schleicht mir ins Gebein«, verkündete er. »Wir werden als
Eisklumpen drüben ankommen. Falls wir überhaupt ankommen!«

Er übertrieb maßlos. Das Wasser war kühl und alles andere als

angenehm, ja. Aber von eisiger Kälte konnte ganz bestimmt keine
Rede sein. In jedem Fall ließ es sich aushalten.

»Damit wir uns unterwegs nicht verlieren, werden wir unsere

background image

Pferde durch die Zügel miteinander verbinden«, gab der Ritter mit
dem Löwenherzen Anweisung.

Dies war schnell geschehen. Nun stand dem feuchten Abenteuer

nichts mehr im Wege.

Roland hatte inzwischen mit einer Hand das Fährseil gepackt, das

den Fluß ein paar Handbreit über der Wasseroberfläche überspannte.
Pierre und Louis taten es ihm nach.

»Seid ihr bereit?«
»Ja«, sagte Louis mit fester Stimme.
Pierres Bestätigung fiel um einiges kläglicher aus. Einwände hatte

jedoch auch er nicht mehr zu erheben.

Roland bewegte seinen Schimmel mit einem Fersendruck

vorwärts. Das brave Tier leistete keinen Widerstand, obwohl Wasser
wahrlich nicht sein Element war. Nach wenigen Schritten war es
dann so tief, daß Samun keinen Boden mehr unter den Hufen fand.
Sofort begann er mit natürlichen Schwimmbewegungen, so, als sei
das Überqueren eines Flusses für ihn eine alltägliche Angelegenheit.
Roland mußte ihn bald sogar etwas bremsen, da sich die Zügelleine
zu den beiden folgenden Pferden spannte - ein Zeichen dafür, daß
Pierre und Louis kaum mitkommen konnten.

Alles ließ sich recht gut an. Nach kurzer Zeit war das

zurückbleibende Ufer in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Viel
wollte das allerdings noch nicht besagen. In Ufernähe war die
Strömung ziemlich schwach und stellte keine großen Anforderungen
an die Kräfte der Pferde. Als es jedoch weiter hinausging, fingen die
Schwierigkeiten bald an.

Die Strömung wurde stärker und stärker, versuchte, Pferde und

Reiter stromabwärts zu ziehen. Roland klammerte sich mit starker
Faust am Fährseil fest und schloß beide Beine um den Leib seines
Reittiers, um ein Abtreiben zu verhindern.

Es gelang ihm ... Knapp.
Wie aber sah es mit den beiden Knappen aus?
Auch Louis war es bisher gelungen, die immer größer werdenden

Probleme zu meistern. Pierre jedoch war in einer unangenehmen

background image

Lage. Mit aller Kraft, die in ihm steckte, hielt er das Fährseil
umklammert. Aber seine etwas zu kurzen Beine waren nicht in der
Lage, seinem Pferd ausreichende Unterstützung zu geben. Mehr und
mehr geriet er in die Gefahr, aus den Steigbügeln zu rutschen. Dies
konnte er eigentlich nur verhindern, wenn er das Fährseil losließ.

Und genau das tat er dann schließlich auch.
Die Folgen bekamen Roland und Louis schon im nächsten

Augenblick zu spüren. Pierres Pferd wurde sofort von der Strömung
erfaßt und trieb ab. Durch die Zügelverbindung mit den anderen
beiden Reittieren traten dadurch zusätzliche Zugkräfte auf, die auf
Rolands und Louis' Pferde einwirkten. Dazu kam jetzt auch noch ein
starker Wellengang, der gegen Mensch und Tier klatschte und das
ganze Unternehmen zu einer einzigen Tortur machte.

»Ich ... kann das Seil nicht länger festhalten!« stieß Louis hervor

und spuckte Wasser aus, das ihm in den Mund gedrungen war.

Auch Roland spürte, wie seine Kraft nachließ. Er hatte das Gefühl,

daß ihm der Arm langsam, aber sicher aus dem Schultergelenk
gerissen wurde. Es hatte keinen Zweck, sich noch länger an das Seil
zu klammern. Da war es schon besser, sich den Wellen und der
Strömung zu überlassen und dagegen anzukämpfen.

»Sei's drum«, rief er Louis zu. »Laß das Seil los!«
Der Knappe kam der Aufforderung unverzüglich nach. Und auch

Roland selbst nahm seine Hand von dem Fährseil.

Sofort zog die Strömung sie in ihren Bann. Selbst Roland hatte

einige Mühe, sich im Sattel zu halten. Für den Augenblick verlor er
beinahe die Gewalt über seinen Schimmel. Innerhalb weniger
Sekunden trieben die drei Gefährten weit ab, unkontrolliert, ziellos,
Spielbälle des Zufalls. Ohne die Zügel, die sie miteinander
verbanden, hätten sie sich jetzt bereits verloren. Und bei den
herrschenden Lichtverhältnissen wäre es mehr als zweifelhaft
gewesen, ob sie sich wiedergefunden hätten - in dieser Nacht gewiß
nicht mehr.

Fast hatte Roland seinen Schimmel wieder voll unter Kontrolle, als

er Pierres Schrei hörte.

background image

»Hilfe, ich ...«
Weiter kam der dickliche Knappe nicht. Roland, der sich

unmittelbar neben ihm befand, sah, wie sich sein Pferd plötzlich wie
wild im Kreis drehte. Offenbar war es in die Gewalt eines Strudels
geraten. Pierre, darauf nicht vorbereitet, kippte aus dem Sattel, ging
genau vor Rolands Augen in den Wellen unter.

Blitzschnell packte der Ritter mit dem Löwenherzen zu. Gerade

noch rechtzeitig. Er bekam Pierres Haarschopf zu fassen und krallte
seine Hand hinein. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Kopf des
Knappen wieder nach oben.

Prustend und spuckend tauchte Pierre auf.
»Ich habe gewußt, daß es unser Tod sein wird«, blubberte er

keuchend. »Ich habe gewußt...« Eine Welle klatschte ihm ins Gesicht
und verschloß seinen Mund.

Das Pferd Pierres drehte sich noch immer wie verrückt im Kreise.

Die Zügel, die mit Louis' Reittier verbunden waren, lösten sich. Im
nächsten Augenblick war die Mähre des dicklichen Knappen in der
Dunkelheit verschwunden. Derweil hatte Roland seine liebe Not,
Pierre über Wasser zu halten. Der Knappe war kein sehr guter
Schwimmer. Auf sich allein gestellt wäre er vermutlich jetzt bereits
ein Opfer des Flusses geworden.

»Halte dich an Samuns Sattel fest«, rief ihm der Ritter mit dem

Löwenherzen zu.

Pierres Hand tauchte aus dem Wasser, fuhrwerkte zuerst blind in

der Luft herum, fand dann am Sattelhorn des Schimmels festen Halt.
Roland konnte nun den Haarschopf loslassen. Die Gefahr, daß Pierre
verlorenging, war fürs erste gebannt.

Jetzt konnte sich der Ritter mit dem Löwenherzen wieder darum

kümmern, die beiden noch verbliebenen Pferde auf den richtigen
Kurs zu bringen. Mit hartem Schenkeleinsatz übte er entsprechenden
Druck auf seinen Schimmel aus.

Und er hatte Erfolg damit. Samun, der zwischendurch die

Orientierung ziemlich verloren hatte, schlug jetzt wieder die
Richtung zum gegenüberliegenden Ufer ein und zog Louis' Pferd in

background image

sein Kielwasser. Pierres Reittier mußte wohl als verloren betrachtet
werden. Von ihm war nichts zu sehen und nichts zu hören. Der
dickliche Knappe selbst jedoch, der sich krampfhaft an Samuns
Sattel festhielt, verlor die Verbindung mit seinen Gefährten nicht.

Schließlich war mehr als die Hälfte des Flusses überquert.

Langsam verlor die Strömung an Kraft. Das Ufer auf Falkenberger
Seite kam näher.

Die beiden braven Tiere wurden zusehends müder, konnten ihre

Beine kaum noch bewegen. Aber sie hielten wacker durch, obwohl
Samun auch noch das zusätzliche Gewicht Pierres mitzuschleppen
hatte. Und endlich war das Wasser wieder so flach, daß die
zitternden Beine Boden unter den Hufen fanden.

Die drei Männer und die beiden Tiere wankten an Land,

durchgefroren, erschöpft und nur noch von dem Verlangen beseelt,
sich irgendwo lang ausstrecken und erholen zu können.

Aber dazu bekamen sie keine Gelegenheit, denn am Ufer warteten

bereits die Falkenberger Ritter ...

*

Volker vom Hohentwiel ließ sich keine grauen Haare wachsen, weil
er Roland und die beiden Knappen auf der anderen Seite des Stroms
zurückgelassen hatte. Sein ritterlicher Freund war ein Mann, der es
verstand, mit allen Situationen fertig zu werden. Er würde schon
einen Weg über den Fluß finden, daran hatte Volker nicht den
geringsten Zweifel. Und er war sich auch ganz sicher, daß sie sich in
absehbarer Zeit wiedersehen würden. Ihr gemeinsames Ziel war Burg
Falkenberg gewesen. Es lag deshalb kein Grund vor, warum er sich
nicht schon einmal auf den Weg zur Burg machen sollte.

Von der Fährstation führte ein gut begehbarer Weg landeinwärts.

Wagenräder und zahllose Pferdehufe hatten dem Boden ihren
Stempel aufgedrückt und machten das Vorwärtskommen zu einem
Kinderspiel.

Nach gut zwei Stunden eines nicht allzu scharfen Ritts verspürte

background image

Volker Hunger und Durst. Er beschloß, dem nächsten Gasthaus einen
Besuch abzustatten.

Eine gute Meile weiter tauchte am Wegesrand ein Gebäude auf. Es

war kein Gasthaus, sondern eine Schmiede, wo die Reisenden bei
Bedarf die Hufeisen ihrer Zug- oder Reitpferde erneuern lassen
konnten. Volkers Pferd brauchte keine neuen Hufeisen. Trotzdem
machte er halt, denn üblicherweise gab es in solchen Häusern auch
etwas zu trinken und zu essen.

Als Volker aus dem Sattel kletterte, trat ein Mann aus dem Haus.

Nicht nur seine Größe und kräftige Statur ließen erkennen, daß er das
Schmiedehandwerk ausübte. Die rußgeschwärzte Arbeitsschürze und
die schwieligen, mit Brandnarben übersäten Hände waren sozusagen
ein Wahrzeichen seiner Profession.

Dienernd kam der Mann näher. »Der Herr Ritter wünschen?

Beschläge für das edle Reittier?«

Volker erklärte dem Schmied, daß ihm mehr an einer kräftigen

Mahlzeit und einem guten Schluck gelegen war.

»Gewiß«, sagte der Schmied. »Wenn der Herr Ritter belieben, sich

mit einem Brei zufriedenzugeben ...«

Natürlich wäre Volker ein saftiger Wildbraten oder ein gut

geräucherter Schinken lieber gewesen. Aber das konnte er
schlechterdings nicht erwarten. Fleisch stand nie oder höchst selten
auf der Speisekarte der einfachen Leute. Man mußte mit dem
vorliebnehmen, was zur Verfügung stand. Ein fahrender Ritter wie
Volker war in dieser Beziehung nicht wählerisch.

Der Schmied führte ihn in eine kleine und einfach eingerichtete

Gaststube. Ein Mädchen, dicklich und nicht sehr anziehend wirkend -
offenbar die Tochter des Schmieds - brachte einen Krug Wein nebst
Becher.

»Bring noch einen Becher, mein Kind«, sagte Volker. Er wandte

sich an den Schmied: »Trinkt einen Schluck mit mir, guter Mann.
Einverstanden?«

»Wenn der Herr Ritter es wünschen ...« Der Hausherr machte

einen artigen Diener und setzte sich zu seinem Gast an den Tisch.

background image

Der Wein, den das Mädchen brachte, war nicht sonderlich gut. Er

schmeckte viel zu süß, war ganz offenbar mit Zuckerknollensaft
gepanscht worden. Wenn man zuviel davon trank, bekam man einen
Kopf, der unter keinen Helm mehr paßte.

»Erzählt mir etwas über die Mark Falkenberg, mein Freund«, sagte

Volker.

Der Schmied blinzelte. »Ich verstehe nicht, was ihr meint, Herr

Ritter.«

»Nicht? Nun ...« Volker trank einen Schluck Wein. »Man hört

Gerüchte. Gewalt und Tod sollen das Land regieren. Und verrückter
Aberglaube, wie mir scheint.«

Der Schmied blickte vor sich auf die Tischplatte, gab keine

Antwort. Er hatte die Lippen aufeinandergepreßt, so, als wollte er
gewaltsam verhindern, daß ihm ein unbedachtes Wort entschlüpfte.

»Nun redet schon, mein Freund«, drängte Volker.
Der Schmied blickte hoch. Unverhohlene Furcht blinkte in seinen

Augen.

Volker senkte seine Stimme auf Flüsterniveau herab. »Ihr braucht

keine Angst vor mir zu haben. Ich bin ein Fremder, kein
Falkenberger. Zu niemandem werde ich von dem sprechen, was Ihr
mir sagt.«

»Das ... gelobt Ihr bei Eurer Ehre?« stieß der Schmied hervor und

fuhr sich über die Stirn.

»Ich gelobe es«, nickte Volker.
Es gab eine kurze Unterbrechung, als die Tochter des Hauses an

den Tisch trat und Volker das Essen brachte. Haferbrei mit Pflaumen
- keine Speise für den verwöhnten Gaumen, aber der Hunger trieb es
hinein. Volker aß und spülte mit Wein nach.

Dann erzählte der Schmied.
»Vor einem guten Jahr noch«, begann er, »war die Mark

Falkenberg ein halbwegs glückliches Land. Graf Helmbrecht war ein
gerechter Herrscher und verlangte nicht mehr Dienstleistungen und
Abgaben, als Land und Leute hergeben konnten. An dem Tag jedoch,
an dem der Graf die Nordländerin Birgitta zur Frau nahm, begann

background image

unser Unglück. In der Hochzeitsnacht entleibte sich der Graf selbst,
indem er in einem Anflug von Trunkenheit aus dem Fenster sprang.
Nun war die Nordländerin die neue Herrin Falkenbergs. Alles wurde
anders. Feld- und Fuhrdienste beanspruchen nun mehr Zeit, als der
Tag Stunden hat, die Abgaben in Geld und Naturalien sind selbst von
den Fleißigsten kaum zu erbringen. Dies ist die eine Seite. Aber es
gibt noch eine andere, die viel schlimmer ist. Die neue Herrin von
Falkenberg verlangt von uns, daß wir dem wahren christlichen
Glauben entsagen und uns statt dessen verfluchtem Götzendienst
hingeben!«

»Ich verstehe schon«, warf Volker ein. »Ihr sollt die alten Götter

unserer Vorfahren verehren - Wodan, Donar, Loki ...«

»Ja, so ist es«, bestätigte der Schmied unglücklich. »Wir müssen

den falschen Göttern sogar Opfer darbringen. Menschenopfer!«

»Menschenopfer?«
Volker konnte es kaum fassen. Verständnislos schüttelte er den

Kopf. »Und was geschieht, wenn ihr euch weigert?«

»Schreckliches geschieht! Die Ritter der blutigen Gräfin kommen

und machen jeden nieder, der nicht gehorcht.«

»Ungeheuerlich«, murmelte Volker. »Wie ist es nur möglich, daß

sich Ritter von Ehre zu Handlangern solcher Verbrechen machen?«

Der Schmied beugte sich über den Tisch und flüsterte: »Die Gräfin

ist mit finsteren Mächten im Bunde. Alle Ritter sind ihr hörig und
können gar nicht anders, als ihr unbedingten Gehorsam zu leisten.
Auch Euch würde es genauso ergehen!«

»Mir?«
»Ja, Herr Ritter, auch Euch! Niemand ist imstande, sich der

unheiligen Macht der Nordländerin zu entziehen.«

»Ihr irrt, mein Freund«, sagte Volker selbstsicher.
Beinahe traurig sah der Schmied jetzt aus. »Das hat schon so

mancher Ritter gesagt, der des Weges kam und bei mir einkehrte.
Sobald die edlen Herren jedoch erst einmal auf Burg Falkenberg
waren ...« Er seufzte tief. »Ihr wollt doch auch zur Burg, nicht
wahr?«

background image

»Wie kommt Ihr darauf, mein Freund?«
»Jeder Ritter will zur Burg, um sein Glück bei der Gräfin zu

versuchen.«

Volker runzelte die Stirn. »Was meint Ihr damit?«
»Ihr wißt nicht Bescheid?«
»Über was weiß ich nicht Bescheid?« Langsam wurde Volker ein

bißchen ärgerlich.

»Daß die Gräfin sich wieder vermählen will und ihr jeder adlige

Herr willkommen ist, der um sie freit?«

»Nein, das wußte ich nicht«, erwiderte Volker nachdenklich.

»Aber das bringt mich auf einen Gedanken. Vielleicht ist es auf
diesem Wege möglich, die Herrin von Falkenberg von ihrem bösen
Treiben abzubringen!«

Bitter lachte der Schmied auf. »Mit Verlaub gefragt, Herr Ritter -

glaubt Ihr, Ihr seid der erste, der diesen Plan faßte? Das hat schon so
mancher getan!«

»Ich bin nicht >so mancher<«, sagte Volker. »Ich bin Volker vom

Hohentwiel. Und dies ist ein himmelweiter Unterschied!«

Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Was bin ich Euch

schuldig?«

»Nichts«, sagte der Schmied. »Wenn Ihr der blutigen Gräfin

wirklich Herr werdet... Ich wünsche Euch alles Glück der Welt, Herr
Ritter. Und uns einfachen Leuten auch!«

Volker verabschiedete sich.

*

Mit düsterer Miene saß Rupold Müllner am Tisch seiner Wohnstube
und starrte leeren Blicks vor sich hin. Der Kopf war ihm schwer.
Aber diese Schwere kam weniger von dem vielen Bier, das er
getrunken hatte, um sich zu betäuben. Der Schmerz fraß in ihm wie
ein wildes Tier und machte ihn krank.

Müllners Frau betrat das Zimmer und blieb vor dem Tisch stehen.

Sie hatte verweinte Augen und schien während des letzten Tages um

background image

Jahre gealtert zu sein.

»Der Hellenthaler Friedbert ist da«, sagte sie. »Er will mit dir

sprechen, Mann.«

Rupold Müllner blickte nicht einmal hoch. »Ich bin jetzt für

niemanden zu sprechen.«

»Es sei wichtig, sagt er.«
»Nichts kann angesichts des bevorstehenden Opfertodes unserer

Tochter wichtig sein«, sagte Müllner müde. »Der Hellenthaler soll
sich zum Teufel scheren. Sag ihm das!«

»Nicht nötig«, erklang eine Stimme von der Tür her. »Ich habe

schon alles gehört.«

Unaufgefordert betrat Friedbert Hellenthaler die Stube.

Normalerweise sah Rupold Müllner seinen Nachbarn nicht ungern.
Nach der harten Tagesarbeit hatten die beiden Männer schon so
manchen Humpen Bier gemeinsam geleert. Jetzt aber hatte Müllner
nur das Bedürfnis, mit sich und seinem Kummer allein zu sein. Er
konnte die Gegenwart anderer Leute nicht ertragen.

»Was fällt dir ein, hier so einfach hereinzuplatzen?« fuhr er den

Nachbarn unwirsch an. »Verschwinde!«

Friedbert Hellenthaler ließ sich nicht beirren. »Du solltest mich

nicht wegschicken, ohne mich anzuhören, Rupold. Ich habe dir etwas
zu berichten, was dich nicht gleichgültig lassen wird.«

»Außer dem Leben meiner Tochter ist mir alles gleichgültig«,

antwortete Müllner. »Verstehst du das nicht?«

»Oh, das verstehe ich sogar sehr gut. Und genau aus diesem

Grunde bin ich gekommen.«

»Was willst du damit sagen?«
»Es gibt vielleicht eine Möglichkeit, das Leben deiner Tochter zu

retten!«

Sofort war es mit Rupold Müllners ablehnender Haltung vorbei.

Voller innerer Spannung blickte er seinen Nachbarn an. Ein
Hoffnungsfunke flackerte in ihm hoch.

»Erzähle!«
»Eine Gruppe von Spielleuten und Gauklern ist auf dem Wege

background image

nach Steinmülheim«, sagte Hellenthaler.

Rupold Müllner spürte, wie der Hoffnungsfunke in ihm erlosch, als

sei ein Bottich Wasser darüber entleert worden.

»Na und?« stieß er hervor. »Glaubst du, der Sinn steht mir nach

Lustbarkeiten dieser Art? Du mußt wahnsinnig geworden sein, mich
auf diese Weise trösten zu wollen!«

»Ich rede nicht davon, daß die Gauklertruppe dir Vergnügen

bringt, das in der Tat nicht ziemlich wäre.«

»Sondern?«
»Ich habe das fahrende Volk gesehen«, sagte Friedbert

Hellenthaler. »Es handelt sich um etwa fünfzehn, sechzehn Leute.
Und darunter befinden sich auch drei Mädchen, die ungefähr im
Alter deiner Tochter Luitgart sind!«

Müllner verstand noch nicht, auf was sein Nachbar hinauswollte.
»Was kümmern mich anderer Leute Töchter?« erwiderte er. »Es

geht um meine Tochter.«

»Eben!«
Müllners Frau schlug plötzlich die Hand vor den Mund. Sie hatte

begriffen, was der Hellenthaler meinte.

»Es ist schrecklich«, murmelte sie.
»Aber wenn wir unsere eigene Tochter auf diesem Wege retten

können ...«

Jetzt hatte es auch Rupold Müllner selbst gedämmert. Ein Zucken

ging über sein Gesicht.

»Du willst sagen, daß eine der Gauklerdirnen an die Stelle meiner

Tochter treten könnte, Friedbert?«

»Genau das wollte ich sagen, ja«, bestätigte Hellenthaler.

»Welcher Hahn kräht schon nach einer, die zum fahrenden Volk
gehört?«

Rupold Müllner stieß seinen Schemel so heftig zurück, daß er

umstürzte.

»Das muß sofort mit dem Schultheiß besprochen werden!«
Friedbert Hellenthaler nickte. »Ich begleite dich, mein Freund«,

sagte er.

background image

*

»Ei, ei, wen haben wir denn da?«

Breit grinsend stand der vierschrötige Ritter der Gräfin Falkenberg

wenige Schritte vom Uferrand entfernt. Er und seine drei Gefährten
hielten ihre Schwerter in der Hand. Im Licht der Fackeln, die zwei
der Männer trugen, blinkten die Klingen kalt und tödlich.

Pierre gab einen unterdrückten Überraschungsschrei von sich, dem

man deutlich anhörte, daß die Furcht in ihm hochkroch. Auch Roland
und Louis fühlten sich nicht all zu wohl in ihrer Haut. Aber sie ließen
sich davon nicht das geringste anmerken.

»Gebt den Weg frei«, verlangte Roland. »Wir haben Eure Fähre

nicht benutzt. Was wollt Ihr also noch?«

Die vier Männer wichen keine Elle zur Seite. Roland und seinen

Gefährten blieb nichts anderes übrig, als stehenzubleiben, wenn sie
nicht geradewegs in den blinkenden Stahl hineinlaufen wollten.

Der Vierschrötige grinste noch breiter.
»Es geht nicht um die Fähre«, erklärte er. »Es geht darum, daß Ihr

unerlaubt unser Land betreten habt. Und wir sind nicht gewillt, dies
hinzunehmen!«

»Warum nicht?« fragte Roland. »Ist Falkenberg kein freies Land?«
Er stellte die Frage nicht, weil er glaubte, daß ein Gespräch die

Männer anderen Sinnes werden lassen könnte. Ihm ging es einzig
und allein darum, Zeit zu gewinnen. Diese Zeit brauchten er und die
beiden Knappen, um neue Kräfte zu sammeln, da die
Flußüberquerung sie bis an den Rand der Erschöpfung gebracht
hatte.

»Falkenberg ist ein freies Land«, antwortete der Vierschrötige.

»Aber nur für diejenigen, die die Gesetze achten. Diese Gewähr ist
bei euch nicht gegeben. Oder habt Ihr Eure Meinung unterdessen
geändert?«

»Welche Meinung? Ich habe keinerlei Ahnung, wovon Ihr sprecht,

Ritter.«

»Wollt Ihr uns foppen?« erwiderte der Vierschrötige, während das

background image

Grinsen aus seinen grobschlächtigen Zügen wich und
unübersehbarem Ärger Platz machte. »Ihr wißt recht gut, was ich
meine!«

Roland schüttelte sich, um Flußwasser aus Haar und Kettenhemd

zu vertreiben. Daß die Falkenberger von einer Anzahl Tropfen
getroffen wurden, schien er gar nicht zu bemerken.

»Tut mir leid«, sagte er, »aber mein Kopf hat offenbar unter der

Kälte des Wassers gelitten. »Ich weiß wirklich nicht...«

»Seid Ihr nun bereit, den alten Göttern die gebührende Ehre zu

erweisen?« fuhr der Vierschrötige dazwischen.

Bevor der Ritter mit dem Löwenherzen antworten konnte, tat es

der Knappe Pierre.

»Ja, ja, ja«, erklärte er übereifrig, »wir sind dazu bereit!«
Im nächsten Augenblick warf er sich auf die Knie und berührte mit

der Stirn den Erdboden.

»Ich, Pierre, der Knappe, sprechend auch im Namen meines Herrn

und meines Gefährten, versinke in Demut und Andacht. Oh, ihr
Götter des Donners und der Fruchtbarkeit...«

Das war zuviel für Louis. Hitzig, wie es seiner Natur entsprach,

schwang er den rechten Fuß zurück und trat dem dicklichen Knappen
dann mit aller Kraft in den Hintern.

»Verdammter Feigling, hast du überhaupt keine Ehre in deinem

feisten Leib? Was fällt dir ein, in meinem Namen zu irgendwelchen
Götzen zu beten?«

Die Wucht des Trittes hatte Pierre vollends zu Boden gebracht.

Auf dem Rücken liegend bedachte er seine Gefährten mit einem
kläglichen Blick.

Ich wollte doch nur erreichen, daß wir unseres Weges gehen

können«, erklärte er weinerlich.

»Steh auf«, sagte Roland energisch.
Mühsam rappelte sich Pierre hoch. Er machte keine Anstalten

mehr, den falschen Göttern zu huldigen.

»Das klärt die Dinge wohl«, sagte der vierschrötige Falkenberger

grimmig. »Ihr seid also nicht bereit, unseren Landesgesetzen zu

background image

gehorchen?«

»Sofern diese Gesetze Götzendienst von uns verlangen, habt Ihr

vollkommen recht«, bestätigte Roland.

»Dann gibt es für Euch nur eins!«
»Und das wäre?«
»Ihr verlaßt Falkenberg auf demselben Weg, auf dem Ihr

gekommen seid«, sagte der Vierschrötige mit satter Genugtuung in
der Stimme.

»Ihr meint...?«
»Zurück ins Wasser, ja!«
Pierre stöhnte tief auf. Aber die Maßregelung, die er soeben

erfahren hatte, ließ ihn die Worte zurückhalten, die ihm mit
Sicherheit auf der Zunge lagen.

Louis tauschte einen schnellen Blick mit seinem Herrn. Roland

nickte ihm kaum merklich zu. Die beiden Männer verstanden sich
auch ohne Worte. Seit sie aus dem Wasser gekommen waren, hatten
sie ein paar Minuten Zeit gehabt, sich zu erholen. Es lag also nicht
mehr der geringste Grund vor, sich der Willkür der Falkenberger
kampflos zu beugen.

»Ich zähle jetzt bis drei«, sagte der Vierschrötige. »Wenn Ihr dann

immer noch nicht den Rückzug angetreten habt...«

»Jetzt!« stieß Roland hervor.
Ruckartig riß er am Zaumzeug seines Schimmels. Und Samun tat

genau das, was er tun sollte: Er ging auf der Hinterhand hoch und
fuhrwerkte mit den Vorderhufen in der Luft herum.

Die vier Ritter wichen instinktiv ein paar Schritte zurück, um nicht

getroffen zu werden.

Darauf hatte Roland gehofft. Er bekam die Bewegungsfreiheit, die

er brauchte, um sein Schwert zu zücken. Auch Louis fand Zeit und
Gelegenheit, nach seinem Hirschfänger zu greifen, mit dem er ganz
vorzüglich umzugehen verstand.

Sogleich startete der Ritter mit dem Löwenherzen seinen Angriff.

Er nahm sich dabei nicht den Vierschrötigen vor, sondern einen der
beiden, die in ihrer linken Hand eine Fackel hielten.

background image

Seine Attacke war von Erfolg gekrönt. Zwar gelang es dem

Falkenberger, Rolands Schwerthieb zu parieren. Dem gleichzeitigen
Fußtritt gegen seinen linken Arm jedoch konnte er nicht entgehen.
Aufstöhnend ließ der Mann die Fackel fallen.

Jetzt hatten sich die übrigen drei von ihrer Überraschung erholt.

Samun, dessen Zügel Roland indessen losgelassen hatte, stellte keine
Gefahr mehr für sie dar. Der Vierschrötige kam dem Mann zu Hilfe,
den Roland angegriffen hatte. Die anderen beiden stürzten sich auf
den Knappen Louis.

Rolands Absicht war es gewesen, die zu Boden gefallene Fackel zu

löschen. Bei Dunkelheit würde sich die zahlenmäßige Überlegenheit
der Falkenberger nicht so auswirken, hoffte er. Aber er mußte sich
jetzt seiner Haut wehren, kam nicht dazu, das Feuer auszutreten, das
auch auf dem Boden weiterbrannte und die Szenerie mit Licht
erfüllte.

Zu zweit drangen die Ritter der Gräfin auf ihn ein. Ein wuchtiger

Schlag, den der Vierschrötige führte, verfehlte nur deshalb sein Ziel,
weil Roland blitzschnell zur Seite sprang. Gleichzeitig zuckte sein
Schwert nach vorne, um dem zweiten Mann eine Lektion zu erteilen.

Der Aktion war ein voller Erfolg beschieden. Tief bohrte sich die

Klinge unterhalb des schützenden Kettenhemds in den Oberschenkel
des Falkenbergers. Der Ritter stöhnte zum Steinerweichen auf und
brach in die Knie. Er würde in den Kampf nicht mehr eingreifen
können. Aber da war immer noch der Vierschrötige, mit dem sich
Roland auseinandersetzen mußte.

Louis hatte unterdessen größte Mühe, sich der Attacken der beiden

übrigen Falkenberger zu erwehren. Nur seiner Schnelligkeit und
Geschicklichkeit konnte er es verdanken, daß er noch lebte. Mit der
Geschmeidigkeit einer Katze wich er den wuchtigen Schwerthieben
seiner Gegner aus. Aber er beschränkte sich nicht nur auf
Rückzugsgefechte, er griff auch seinerseits an. Sein Hirschfänger
zuckte nach vorne wie eine hochschnellende Feuerzunge und traf den
einen Ritter an der Schwerthand. Der Falkenberger stieß eine böse
Verwünschung aus. Er sah sich gezwungen, das Schwert in die

background image

andere Hand zu nehmen, um weiterkämpfen zu können. Ganz klar,
daß dadurch seine Kampfkraft stark gemindert wurde. Dennoch war
er nach wie vor ein tödlicher Gegner für den Knappen.

Auch Roland war sich dessen bewußt. Er setzte alles daran, schnell

mit dem Vierschrötigen fertig zu werden, um Louis beispringen zu
können. Der Anführer der Falkenberger Ritter erwies sich jedoch als
hervorragender Kämpfer. Immer wieder gelang es ihm, Rolands
Angriffe abzuwehren. Und er ließ sich auch durch Finten nicht ins
Bockshorn jagen. Andererseits mußte der Ritter mit dem
Löwenherzen selbst höllisch aufpassen, um nicht ernstlich ins
Hintertreffen zu geraten.

Louis ging es jetzt an den Kragen. Gleichzeitig stürmten seine

beiden Gegner auf ihn ein, der eine von vorne, der andere von hinten.
Es gab keine Möglichkeit mehr für den Knappen, sich durch einen
schnellen Sprung in Sicherheit zu bringen. Schon hob der eine das
Schwert, um den entscheidenden Hieb anzubringen.

Da griff Pierre ein ...
Der dickliche Knappe hatte sich bis jetzt zurückgehalten, hatte sich

ganz still verhalten, um ja nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen. Nun aber, da sein Freund in höchster Gefahr war, überwand
er seine Angst vor dem gewalttätigen Geschehen und stürzte sich
ebenfalls ins wilde Kampfgetümmel.

Niemand hatte bislang auf ihn geachtet, niemand hatte ihn ernst

genommen. Das nutzte Pierre jetzt aus. Mit einer Behendigkeit, die
man seinem dicklichen Körper kaum zutrauen konnte, warf er sich
auf den Falkenberger, der Louis gerade den Garaus machen wollte.
Der gräfliche Ritter verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
Pierre wälzte sich auf ihn und hielt ihn im feuchten Gras fest. Louis
fand so wieder Zeit, sich gegen seinen zweiten Gegner zu wenden.

Derweil gewann Roland langsam, aber sicher doch die Oberhand

über den Vierschrötigen. Er war beweglicher als sein Gegner,
schneller und auch listenreicher. Und vor allem war er jünger und
hatte den längeren Atem. Der Falkenberger begann zu keuchen, seine
Schritte wurden schwerfälliger, seine Abwehrbewegungen

background image

mühevoller. Roland deckte ihn mit einer Serie von Schwertstreichen
ein - links, rechts, links, rechts. Dann schloß er den Angriff mit
einem Stoß ab, der genau auf die Brust des Falkenbergers zielte.

Der Vierschrötige war nicht mehr in der Lage, diesen Stoß zu

parieren. Rolands Klinge kam voll durch und setzte dem Kampf ein
Ende.

Sofort wirbelte der Ritter mit dem Löwenherzen herum, um Louis

und Pierre zu unterstützen.

Es wurde höchste Zeit...
Dem Ritter, den Pierre zu Fall gebracht hatte, war es gelungen, den

auf ihm lastenden Körper des dicklichen Knappen abzuschütteln. In
diesem Augenblick hob er seinen Schwertarm, um dem wehrlosen
Pierre den Schädel zu spalten.

Aber Roland gab ihm keine Gelegenheit, seine Absicht in die Tat

umzusetzen. Ein Schwerthieb genügte, um dem Falkenberger ein für
allemal das Ritterhandwerk zu legen.

Nun war von den vier Gegnern nur noch ein einziger kampffähig.

Nicht mehr lange jedoch. Wahrscheinlich wäre Louis allein mit ihm
fertig geworden. Aber Roland wollte kein Risiko eingehen. Er griff,
ohne zu zögern, in das Duell ein.

Der Falkenberger erkannte, daß er der gefährlichere Gegner war,

wandte sich augenblicklich von Louis ab und stellte sich Roland zum
Kampf.

Auf diese Gelegenheit hatte Louis nur gewartet. Bevor der

Falkenberger den ersten Hieb gegen Roland führen konnte, war der
Knappe schon bei ihm. Sein Hirschfänger zuckte nach vorne, und
Roland konnte es sich sparen, von seinem Schwert Gebrauch zu
machen.

Der Kampf war beendet.
Und der Weg nach Burg Falkenberg lag frei vor Roland und seinen

beiden Gefährten.

*

background image

Es waren mehr als fünfzig Männer, die Steinmülheim in dieser Nacht
verließen. Sie alle hatten sich bewaffnet, so gut es ging - mit
Dreschflegeln, Mistgabeln, Sensen und Messern. Und. es waren auch
ein paar dabei, die mit ungeübter Hand ein altes Schwert
umklammerten.

Die Männer waren ungewöhnlich schweigsam. Fast schien es so,

als scheue sich jeder einzelne von ihnen, seinem Nebenmann ins
Gesicht zu sehen. Aber dies änderte nichts an der eisernen
Entschlossenheit aller, den gefaßten Plan in die Tat umzusetzen. Der
Beschluß der Dorfversammlung war einstimmig gewesen. Zwar
wußte jeder einzelne, daß es bitter unrecht war, was sie zu tun
gedachten. Aber es hatte keinen einzigen gegeben, der auf den
Gedanken gekommen wäre, sich dagegen auszusprechen.

Karl Waldner war natürlich ebenfalls unter den Männern. Er trug

kein Hieb- oder Stichinstrument bei sich. Nicht, weil es unter seiner
Würde als Schultheiß gewesen wäre. Es war mehr sein schon etwas
gesetztes Alter, das es ihm gebot, sich nicht auf Handgreiflichkeiten
einzulassen. Dennoch oblag ihm so etwas wie eine Führungsrolle.
Normalerweise hätte er dagegen nichts einzuwenden gehabt. In der
gegenwärtigen Situation jedoch wäre er am liebsten im Dorf
geblieben und hätte das verantwortliche Handeln anderen überlassen.
Dem Müllner Rupold zum Beispiel, der den Anstoß zu diesem
nächtlichen Unternehmen gegeben hatte. Aber was half es? Ein
Schultheiß mußte auch Dinge tun, die er aus tiefstem Herzen
verabscheute, die er haßte. Wenn diese Dinge im Interesse des
Dorfes und seiner Menschen lagen, mußte man die Stimme des
Gewissens überhören.

Das fahrende Volk hatte seinen Lagerplatz ungefähr zwei Meilen

von Steinmülheim entfernt aufgeschlagen. Aller Wahrscheinlichkeit
nach beabsichtigten die Gaukler und Spielleute, morgen ins Dorf zu
kommen und um die Spielerlaubnis nachzusuchen. Nun, wenn die
Nacht vorüber war, würden sie wohl anderen Sinnes geworden sein.

Den Weg zum Lagerplatz zu finden, bereitete selbst in der

Dunkelheit keinerlei Schwierigkeiten. Die Steinmülheimer brauchten

background image

nur immer dem Mühlbach zu folgen. Dort, wo sich dieser in das
Flüßchen Foller ergoß, hatten sich die Fremden zur Nachtruhe
niedergelassen.

Karl Waldner war einer der Männer, die sich an der Spitze der

schwerbewaffneten Gruppe befanden. Neben ihm gingen Christian
Feldner und natürlich der Müllner Rupold. Feldner war es, der
plötzlich seinen Schritt verhielt.

»Dort, seht ihr es?«
Er deutete mit dem ausgestreckten Arm nach vorne.
Der Schultheiß hatte nicht mehr die besten Augen. Rupold Müllner

hingegen nahm sofort wahr, was der Feldner meinte.

»Feuerschein!«
Ja, jetzt, wo er wußte, wonach er Ausschau halten mußte, sah Karl

Waldner es ebenfalls. Das schwache Leuchten dort vorne konnte nur
von dem Lagerfeuer kommen, das die Spielleute entzündet hatten.

Fragend blickten ihn die Männer an. Sie erwarteten, daß er das

weitere Vorgehen bestimmte.

Karl Waldner entzog sich seiner Pflicht nicht.
»Wir teilen uns in mehrere Gruppen«, ordnete er an. »Rupold, du

nimmst dir zwanzig Leute und überschreitest den Mühlbach. Ihr teilt
euch auf und nähert euch dem Lager in einem großen Bogen. Wir
anderen tun dasselbe auf dieser Seite des Baches. Auf diese Weise
können wir die Spielleute einkreisen und verhindern, daß sie die
Flucht ergreifen. Sind noch Fragen?«

Rupold Müllner hatte keine Fragen. Er wählte seine Männer aus

und durchwatete dann mit ihnen den Mühlbach. Das Wasser war nur
hüfthoch und bereitete keinerlei Schwierigkeiten. In kürzester Zeit
standen Müllners Leute drüben.

»Wenn ihr den Schrei des Eichelhähers hört, stürmen wir auf das

Lager los«, rief Karl Waldner halblaut hinüber.

»Verstanden«, bestätigte der Müllner.
Im nächsten Augenblick waren er und seine Männer in der

Dunkelheit untergetaucht.

Auch die Steinmülheimer auf dieser Seite des Mühlbachs setzten

background image

sich wieder in Bewegung. So lautlos wie möglich näherten sie sich
dem Lagerfeuer, dessen Schein immer deutlicher hervortrat. Als die
Entfernung kaum mehr als fünfzig Ruten betrug, ließ der Schultheiß
die Männer ausschwärmen. Im Schutz der überall stehenden
Weidenbäume und Haselnußsträucher schoben sie sich immer näher
an das Lager heran.

Es war offenbar, daß die Spielleute noch nicht bemerkt hatten, daß

sie ungebetenen Besuch bekamen. Vom Lager drangen Fideltöne und
Gesang herüber. Ohne Zweifel saßen die Fremden noch in fröhlicher
Runde beisammen und ahnten nicht das geringste.

Karl Waldner winkte den jungen Hirten Ingo Stallacher an seine

Seite. »Du kannst den Schrei des Eichelhähers nachahmen, nicht
wahr, Ingo?«

»Ich kann alle Vogelstimmen nachmachen«, sagte der junge

Bursche stolz.

»Dann tu es!«
Ingo Stallacher legte beide Hände vor den Mund. Und schon

ertönte der Ruf des Eichelhähers so echt, daß sich selbst das
Weibchen des Vogels hätte täuschen lassen.

Der Ruf wurde von allen Steinmülheimern gehört. Wie ein Mann

sprangen sie aus ihren Verstecken hervor und stürmten auf das Lager
der Spielleute zu. In Sekundenschnelle waren die Fremden von
sämtlichen Seiten umstellt. Keine Maus hätte entkommen können, so
lückenlos hatten Karl Waldners Männer das Lager abgeriegelt. Alles
war so rasch gegangen, daß nicht einmal die Schindmähren, die die
Wagen der Gaukler zogen, etwas von der Annäherung der
Einheimischen bemerkt hatten.

Die Fremden waren vollkommen überrascht. Es mochten zehn,

zwölf Menschen sein, die sich rings um das Lagerfeuer versammelt
hatten - Männer, Frauen und Kinder. Ob das alle waren, ließ sich auf
Anhieb nicht sagen. Möglicherweise befanden sich auf den drei
Planwagen noch weitere Angehörige der Gauklersippe.

Erschrocken sprangen die Überraschten hoch und blickten mit fas-

sungslosen Mienen um sich.

background image

Karl Waldner, geschützt von zwei Steinmülheimern mit zum

Schlag bereiten Sensen, ergriff das Wort.

»Bleibt, wo ihr seid!« rief er den Spielleuten zu. »Wer Widerstand

leistet oder zu fliehen versucht, wird es bereuen!«

Es fiel ihm nicht leicht, solche Drohungen auszustoßen. Von Natur

aus war er ein friedlicher Mensch, der am liebsten niemandem etwas
zuleide getan hätte. Aber es half nichts. Die Situation, in die sie alle
durch die blutige Gräfin gebracht worden waren, ließ kein anderes
Handeln zu.

Der Anblick der schwerbewaffneten Steinmülheimer brachte die

Spielleute zum Zittern. Keiner von ihnen wagte, sich vom Fleck zu
rühren.

Ein weißhaariger Mann, dem ein hartes, entbehrungsreiches Leben

die Schultern gebeugt hatte, nahm seinen ganzen Mut zusammen. Er
machte einen Schritt auf den Schultheiß zu, den er als Anführer der
nächtlichen Besucher erkannt hatte.

»Was ... wollt Ihr von uns?« fragte er stockend.
Karl Waldner antwortete nicht sofort. Er ließ seine Blicke über die

Fremden streichen, hielt dabei Ausschau nach einem Mädchen, das
den Anforderungen der verabscheuungswürdigen Opferzeremonie
gerecht werden konnte. Er hatte große Mühe, seine Enttäuschung zu
verbergen. Unter den Anwesenden befand sich niemand, der in Frage
kam. Neben den Personen männlichen Geschlechts, deren Alter von
zehn bis über siebzig reichen mochte, waren auch ein paar Frauen
dabei. Abgesehen von zwei kleinen Mädchen um die zwölf hatten
diese Frauen ein Alter erreicht, bei dem von Jungfernschaft längst
keine Rede mehr sein konnte.

»Wollt Ihr mir nicht antworten?« machte sich der alte Mann mit

dem gebeugten Rücken abermals bemerkbar.

Karl Waldner räusperte sich. »Ihr braucht keine Angst vor uns zu

haben«, sagte er und spürte dabei, wie falsch und unaufrichtig seine
Worte klangen.

Und natürlich konnte er die Spielleute auch nicht überzeugen.

Angesichts der drohenden Haltung seiner Leute war das auch kein

background image

Wunder. Selbst der Einfältigste hätte wohl kaum an friedliche
Absichten der Steinmülheimer geglaubt.

»Wenn Ihr unsere Besitztümer wollt...«, sagte der Weißhaarige mit

verkniffenem Mund. »Wir sind arm wie die Kirchenmäuse. Wir
besitzen nur das, was wir am Leibe tragen, unsere Pferde, unsere
Wagen ...«

»Schon gut«, unterbrach ihn der Schultheiß. »Wir sehen selbst, daß

ihr nicht mit Reichtümern gesegnet seid. Und ihr solltet auch nicht
denken, daß wir ehrlose Straßenräuber sind, die es auf eure armselige
Habe abgesehen haben. Wir sind ..., äh ..., gesetzestreue Untertanen
unserer Landesherrin.«

»Wir auch«, antwortete der alte Mann sofort. »In welchem Lande

wir auch sind - wir halten uns an die dort herrschenden Gesetze!«

»Um das festzustellen, sind wir hier«, sagte Karl Waldner.
Wieder ließ er seine Blicke durch das Lager der Spielleute

schweifen. Und dabei sah er im Schein des hell aufleuchtenden
Feuers, daß sich die Plane eines Wagens bewegte. Ganz offen-
sichtlich saßen also nicht alle Angehörigen der Sippe am Feuer.
Zumindest auf diesem einen Wagen befand sich noch jemand.

Waldner beschloß, jetzt sofort zur Sache zu kommen. Langes Hin-

und Hergerede führte zu nichts, machte die ganze Situation nur noch
viel unerfreulicher.

»Ist das eure ganze Truppe?« fragte er und machte eine

Handbewegung, die alle Männer, Frauen und Kinder am Feuer
umfaßte.

Der alte Mann zögerte, warf seinen Leuten einen schnellen,

fragenden Blick zu.

»Ja«, sagte er dann, »das sind alle.«
»Der Kerl lügt!« brüllte Rupold Müllner und fuchtelte mit einem

Dreschflegel in der Luft herum. »Da im Wagen... Es beobachtet uns
jemand durch ein Loch in der Plane!«

Das deckte sich mit Karl Waldners eigenen Feststellungen. Keine

Frage, der Alte sagte ganz bewußt die Unwahrheit.

Und der alte Mann gab das nach abermaligem kurzem Zögern auch

background image

gleich zu. »Entschuldigt, ich habe nicht so genau hingesehen. Ein
paar von uns haben sich bereits zum Schlafen niedergelegt und ... «

»Sie sollen rauskommen!« bellte der Müllner. »Sonst machen wir

ihnen Beine!«

Drohend trat er auf den Weißhaarigen zu, den Flegen zum Schlag

erhoben.

»Laß das, Rupold«, sagte der Schultheiß scharf.
Der Müllner verhielt seinen Schritt, verlor aber nichts von seiner

drohenden Haltung.

Waldner wandte sich wieder an den Alten. »Alle, die sich noch in

den Wagen befinden, sollen ans Feuer treten.«

»Auch die Säuglinge?« erkundigte sich dieser mit zuckenden

Mundwinkeln.

»Nein, das ist nicht nötig.«
Der Weißhaarige beriet sich kurz mit den Angehörigen seiner

Sippe. Er tat dies in einer Sprache, die die Steinmülheimer nicht
verstanden. Dennoch hatte niemand den Eindruck, daß die Spielleute
einen Plan zur Gegenwehr ausheckten. Die Fremden hatten erkannt,
daß sie hoffnungslos in der Minderzahl waren, daß es nur gut für sie
sein konnte, wenn sie alles taten, was man von ihnen verlangte.

Und so geschah es dann auch. Der alte Mann rief etwas in seiner

Sprache, und schon wenige Augenblicke später kletterten weitere
Sippenangehörige von den Wagen. Es waren fünf, sechs, sieben
Personen. Und darunter ...

Karl Waldner atmete etwas schneller, als er unter den sieben zwei

junge Mädchen sah, die im richtigen Alter waren. Wenn sie nun auch
noch ihre Jungfernschaft besaßen ...

Den übrigen Steinmülheimern gingen dieselben Gedanken durch

den Kopf. Sie flüsterten miteinander, so leise allerdings, daß die
Gaukler noch nicht ahnen konnten, um was es ging.

»Laß diese beiden vortreten«, forderte Karl Waldner den

Weißhaarigen auf und deutete auf die beiden Mädchen.

»Was ... wollt Ihr von ihnen?«
»Laß sie vortreten!«

background image

Der Alte rief die beiden.
Sie kamen sogleich, scheu, zögernd, aber gehorsam. Mit

angstvollen Gesichtern blieben sie neben dem Weißhaarigen stehen.

Der Schultheiß sprach die erste der beiden an, ein derbes, junges

Frauenzimmer, das der Herrgott mit wenig Anmut und Liebreiz
gesegnet hatte.

»Wie alt bist du, mein Kind?« fragte er und bemühte sich dabei um

einen freundlichen Tonfall.

»Vierzehn«, antwortete das Mädchen.
Beinahe hätte Waldner laut geflucht. Erst vierzehn Jahre alt?

Damit war das Mädchen noch ein Kind und kam nicht in Frage. Ein
Grund, an der Lauterkeit ihrer Antwort zu zweifeln, lag nicht vor.
Die Dirn konnte nicht wissen, daß sie das jugendliche Alter vor dem
Verderben schützte.

Waldner wandte sich an die andere, stellte auch ihr die Frage, wie

alt sie sei.

Auch das zweite Mädchen antwortete bereitwillig. Und es war

genau die Antwort, die die Steinmülheimer hören wollten.

»Ich werde in einem Mond siebzehn.«
Der Schultheiß triumphierte innerlich. Jetzt brauchte das Mädchen

nur noch eine Voraussetzung mitzubringen, und dann ...

Prüfend blickte er das junge Frauenzimmer an. Die Kleine war

hübsch, sehr hübsch sogar. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge und
einen Körper, der es mit dem jeder voll erblühten Frau aufnehmen
konnte. Ihr lockiges Schwarzhaar glänzte im Feuerschein wie
byzantinische Seide. Es würde eine wahre Schande sein, dieses
bildschöne Menschenkind den grausamen Launen der blutigen
Gräfin zu opfern, aber...

Karl Waldner rang die in ihm aufkeimenden Gewissensbisse nieder

und stellte die entscheidende Frage.

»Bist du noch Jungfrau, mein Kind?«
Furcht trat in die Augen des Mädchens. »Was ... habt ihr mit mir

vor?«

»Nicht, was du denkst«, erwiderte Karl Waldner. »Wir haben

background image

keineswegs vor, über dich herzufallen wie die wilden Tiere und dir
die Unschuld zu rauben.«

»Warum fragt Ihr dann?«
»Die Gesetze des Landes verlangen es!«
Der Weißhaarige legte einen Arm um die Schulter seiner

Sippentochter.

»Von einem solchen Gesetz haben wir noch nie gehört«, stellte er

fest.

»Willst du mir unterstellen, daß ich lügnerische Worte im Munde

führe?« entrüstete sich Waldner.

»Nein, nein, natürlich nicht«, beeilte sich der alte Mann zu sagen.
»Na also, dann beantworte meine Frage, Dirn!«
Das Mädchen nickte. »Ja, ich bin noch Jungfrau. Auch wir Frauen

des fahrenden Volkes wissen unsere Ehre hochzuhalten!«

Karl Waldner überlegte, welchen Vorwand er nennen sollte, um

das Mädchen zum freiwilligen Mitkommen nach Steinmülheim zu
veranlassen. Aber er konnte sich seine Überlegungen sparen.

»Das genügt«, stieß Rupold Müllner hervor. »Kommt, Freunde!«
Mit ein paar schnellen Schritten war er bei dem alten Mann und

der Jungfrau. Mehrere andere Steinmülheimer folgten ihm auf dem
Fuß. Schon griff er nach dem Mädchen.

Aber die junge Dirn war schnell auf den Beinen. Geschickt wich

sie dem Zugriff des Mannes aus und sprang zurück. Müllners Arm
ging ins Leere.

»Warte, du Metze«, rief er wütend und wollte dem Mädchen

nachsetzen.

Der Weißhaarige stellte sich ihm in den Weg. »Laßt sie in Ruhe!

Sie hat euch nichts ...«

Weiter kam er nicht. Die Sorge um seine eigene Tochter ließ den

Müllner alle Bedenken vergessen. Er wollte die jungfräuliche
Sippenangehörige, koste es, was es wolle. Mit einem kräftigen Hieb
seines Dreschflegels fegte er den alten Mann aus dem Weg. Dann
warf er sich mit einem mächtigen Sprung auf das junge
Frauenzimmer.

background image

Gellend schrie das Mädchen auf.
Ihr Schrei war wie ein Signal für die anderen Spielleute. Auch sie

erhoben jetzt voller Entsetzen ihre Stimmen und brüllten und
kreischten laut los.

Nicht alle jedoch ließen sich so vom Entsetzen übermannen, daß

sie tatenlos zusahen, wie ihrer Sippenschwester Böses angetan
wurde. Einige von ihnen eilten der von Rupold Müllner zu Boden
gerissenen Jungfrau zu Hilfe.

Dieses Tun wiederum ließ nun alle anderen Steinmülheimer

eingreifen. Von allen Seiten stürmten sie auf das Lager los, Sensen,
Knüppel und Schwerter in den erhobenen Fäusten.

Innerhalb weniger Augenblicke war das Handgemenge

entschieden. Die Steinmülheimer konnten in ihr Dorf zurückkehren.

An der Spitze der Sieger schritt der Müllner Rupold. Mit

zufriedener Miene schleppte er die wimmernde Jungfrau mit sich
fort.

Ganz am Schluß der Truppe ging Karl Waldner.
Er schämte sich.

*

Volker vom Hohentwiel zügelte sein Pferd vor dem mehrere Klafter
breiten Burggraben. Die Brücke war hochgezogen und gestattete es
ihm zunächst nicht, auf den Burghof zu reiten.

Ein recht beschwerlicher Weg lag hinter ihm. Burg Falkenberg war

auf dem Gipfel eines Berges erbaut worden, der besonders im letzten
Drittel steil anstieg. Sein Pferd hatte Mühe gehabt, den schmalen
Pfad zu bewältigen, der sich der Bergspitze entgegenwand. Jetzt aber
war er endlich am Ziel.

Oben auf der Burgmauer standen zwei Torwächter, die zu ihm

hinabblickten.

»Wer seid Ihr?« rief ihn der eine der beiden Männer an. »Und was

wollt Ihr?«

»Ich bin der Ritter Volker vom Hohentwiel. Und es ist mein

background image

Begehr, Eurer Herrin meine Aufwartung zu machen.«

»Volker vom Hohentwiel - der hochgerühmte Minnesänger?«
»Nämlicher!«
»Geduldet Euch einen Augenblick. Ich werde nachhören, ob Ihr

willkommen seid.«

Der Sprecher verließ die Burgmauer, und für Volker hieß es zu

warten. Lange brauchte er sich jedoch nicht mit Geduld zu wappnen.
Schon nach wenigen Minuten verriet ihm ein knarrendes Geräusch,
daß seinem Einlaßbegehren stattgegeben werden sollte. Die
Zugbrücke wurde hinuntergelassen.

Kurz darauf überquerte Volker den Burggraben und ritt auf den

Hof der gräflichen Burg.

Zwei Ritter nahmen ihn in Empfang. Es waren nicht gerade

freundliche Blicke, mit denen sie ihn bedachten. Aber Volker konnte
in ihren Augen auch keine echte Feindschaft lesen.

»Seid willkommen, Volker vom Hohentwiel.«
Volker erwiderte den Gruß und schwang sich vom Rücken seines

Reittiers.

Der eine Ritter winkte einen der Knechte herbei, die sich im

Hintergrund aufhielten.

»Versorge das Pferd unseres Gastes«, befahl er.
Dienernd kam der Knecht der Aufforderung nach und entfernte

sich mit Volkers Pferd.

»Die Gräfin erwartet Euch, Volker vom Hohentwiel. Habt die

Güte, uns zu folgen.«

»Es ist mir ein Vergnügen und eine hohe Ehre«, erklärte Volker

lächelnd und nickte den Falkenbergern zu.

Die beiden Ritter geleiteten ihn zum Portal des Hauptgebäudes der

Burg und betraten dann gemeinsam mit ihm die Eingangshalle.
Mehrere andere Ritter und auch einige Burgfräulein standen dort
umher und sahen herüber. Die Blicke der Männer waren genauso
zwiespältig wie die der beiden, die ihn in Empfang genommen
hatten. Die Frauen jedoch betrachteten ihn mit offenem,
unverhohlenem Interesse, und ein paar von ihnen lächelten ihn auch

background image

vielversprechend an. Volker fand dies nicht ungewöhnlich. Er war es
gewohnt, von der holden Weiblichkeit umschwärmt und bewundert
zu werden. Normalerweise hatte er nichts dagegen und ging gerne
darauf ein. Diesmal jedoch nicht. Diesmal konzentrierte sich sein
ganzes Sinnen und Trachten auf die Burgherrin selbst.

Die beiden Ritter führten ihn durch die Halle und beschritten dann

mit ihm einen Säulengang, an dessen Ende eine reichverzierte
Eichentür lag. Rechts und links davon standen zwei Bewaffnete, die
wie steinerne Statuen wirkten, so starr und unbeweglich nahmen sie
ihre Wächteraufgabe wahr. Die Morgensterne in ihren Fäusten waren
eine einzige nicht ausgesprochene Drohung.

»Öffnet«, sagte einer der Begleiter Volkers.
Jetzt kam Bewegung in die Wächter. Beinahe ruckartig rissen sie

die massive Flügeltür auf.

Einer von Volkers Begleitern trat in den Raum, der hinter der

Eichentür lag.

»Der Ritter Volker vom Hohentwiel«, meldete er.
»Der Ritter möge eintreten«, antwortete eine weibliche Stimme,

die wie Musik in Volkers Ohren klang.

»Kommt«, wurde Volker aufgefordert.
Das ließ sich Volker nicht zweimal sagen. Unverzüglich schritt er

durch die geöffnete Tür, die hinter ihm sofort wieder geschlossen
wurde. Er blieb stehen und ließ seine Blicke durch den Raum
schweifen.

Zwei Menschen befanden sich in dem Raum, ein Mann und eine

Frau. Volker hatte in seinem Leben schon viele Frauen gekannt und
ließ sich nicht mehr so schnell durch weibliche Reize
gefangennehmen. Diese Frau jedoch schlug ihn sofort in ihren Bann.

Sie war schön, wunderschön im wahrsten Sinne des Wortes -

klassisch geschnittene Gesichtszüge, der Körper einer Gestalt
gewordenen Liebesgöttin, schulterlange Haare, die ihr Gesicht und
ihren Oberkörper wie ein Goldflor umrahmten.

Das war sie also - Birgitta, die Herrin der Mark Falkenberg, der

man soviel Böses nachsagte!

background image

Sie saß in einem aufwendig mit Gold- und Silberfiligran

versehenen Sessel. Nein, sie saß nicht, sie thronte vielmehr, ganz wie
eine geborene Fürstin, obwohl sie dies, wie Volker mittlerweile
erfahren hatte, keineswegs war.

Der Mann, der neben ihrem Sessel stand, war ebenfalls eine

imposante Erscheinung. Groß und mächtig wie ein Baum, mit Armen
und Beinen, die an Säulen denken ließen. Sein kantiges Gesicht, von
einem dichten roten Bart überwuchert, der unwillkürlich an eine
Feuerlohe erinnerte, verriet Härte und Willensstärke. Volker scheute
so leicht vor niemandem zurück. Diesem Mann jedoch hätte er nur
höchst ungerne im Kampf gegenübergestanden.

»Tretet näher, Volker vom Hohentwiel«, sagte die Gräfin und

machte eine einladende Handbewegung.

Volker kam der Aufforderung nach.
»Seid gegrüßt, Gräfin«, sagte er mit einer ritterlichen Verbeugung.
Ganz dicht stand er jetzt vor der herrlichen Frau. Er blickte ihr in

die Augen.

Und versank regelrecht darin ...
Ihm war, als würde er in einen klaren Bergsee stürzen. Auf dem

Grunde dieses Bergsees war etwas, das ihn lockte, das ihn mit
unwiderstehlicher Kraft an sich zog. Volker fühlte sich gefangen,
gefangen mit Haut und Haaren. Und obwohl er ein Mensch war, der
seine Freiheit über alles liebte, hatte er gegen diese Gefangenschaft
nicht das geringste einzuwenden. Ja, es schien ihm geradezu
erstrebenswert zu sein, zum Sklaven der Gräfin zu werden. Er
verspürte den brennenden Wunsch, alles zu tun, was sie von ihm
verlangte, auch wenn er dabei gezwungen wurde, sich selbst
aufzugeben.

»... seid Ihr nach Burg Falkenberg gekommen?« drang die Stimme

Birgittas wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

Die Worte rissen Volker in die Wirklichkeit zurück. Er hatte das

Gefühl, aus einem Traum zu erwachen.

»Ich ...«
Er brauchte ein paar Augenblicke, um sich zu sammeln, um wieder

background image

klar denken zu können.

»Ich bin gekommen, um Eure Hand anzuhalten«, steuerte er dann

geradewegs auf sein Ziel zu.

Die Gräfin lächelte, während der .Mann an ihrer Seite eine finstere

Miene aufsetzte und den Besucher mit bösen, unheilverkündenden
Blicken maß.

»Es freut mich sehr, daß mir ein so berühmter Mann wie Ihr die

Ehre antut, um mich zu werben«, sagte Birgitta.

»Aber Ihr solltet wissen, daß es nicht ausreicht, eine schöne

Stimme zu besitzen, wenn Ihr der Mann an der Seite der Gräfin zu
werden gedenkt«, warf der Rotbärtige mit grollender Stimme ein.

Volker tat so, als würde er den Mann erst in diesem Augenblick

bemerken.

»Wer ist er?« erkundigte er sich bei der Gräfin, ohne den anderen

dabei anzusehen.

Dennoch war es der Rotbärtige selbst, der ihm eine Antwort auf

seine Frage gab.

»Mein Name ist Fridjof von der Heide«, ließ er Volker wissen.

»Vielleicht habt Ihr schon einmal von mir gehört.«

Und ob Volker schon einmal von ihm gehört hatte! Fridjof von der

Heide war ein Ritter, von dessen Heldentaten man an so manchem
Fürstenhof und in zahllosen Gasthäusern wahre Wunderdinge
berichtete. Sein Mut, seine beispiellose Kampfkraft waren weithin
hochgerühmt. Volker hatte sich schon lange gewünscht, diesem
Mann einmal persönlich zu begegnen. Daß es nun unter solchen
Umständen geschah, da er Fridjof von der Heide ohne jeden Zweifel
als Nebenbuhler um die Gunst der Gräfin ansehen mußte, hatte er
sich allerdings mitnichten erträumt.

»Fridjof spricht Wahres«, sagte die Gräfin jetzt. »Derjenige, dem

ich mein Herz und meine Hand schenke, muß mehr zu bieten haben
als schönen Gesang und die Kunst des Reimens. Ich erwarte an
meiner Seite einen Mann, der jederzeit in der Lage ist, allen meinen
Feinden Trotz zu bieten, und seien sie auch noch so stark und
mächtig!«

background image

»Ein solcher Mann bin ich«, antwortete Volker im Brustton der

Überzeugung.

Fridjof von der Heide ließ ein polterndes Lachen erschallen.
»Ihr sprecht große Worte gelassen aus, Sänger«, sagte er mit

unverhohlenem Spott. »Wenn ich Euch so höre, so schließe ich
beinahe daraus, daß Ihr auch bereit wärt, Euch im Zweikampf mit
jederman zu messen. Oder sollte ich mich irren?«

»Ihr irrt Euch nicht«, erwiderte Volker, ohne auch nur eine

Sekunde zu zögern.

»Auch mit mir würdet Ihr des Schwertes Klinge kreuzen?« fragte

Fridjof mit lauerndem Unterton.

Volker sah die Gräfin an, sah den Ritter an.
»Gewiß«, sagte er dann, »auch Euch würde ich mitnichten aus dem

Wege gehen!«

Birgitta von Falkenberg lächelte.
»So sei es«, sagte sie. »Euer Zweikampf soll stattfinden, noch

bevor die nächste Nacht beginnt!«

»Ja«, nickte Volker.
Und Fridjof von der Heide lachte triumphierend.

*

Pierre hatte ein neues Pferd bekommen, nachdem das seine im Fluß
untergegangen war. Der Einfachheit halber hatte Roland eins der
Reittiere genommen, die den Falkenberger Rittern gehörten. Nicht
umsonst, verstand sich, denn er war schließlich kein Pferdedieb. Er
hatte den Fährleuten, in deren Obhut sich die Pferde befanden, einen
Silberdenar dafür gegeben. Dies erschien ihm ein angemessener
Preis, zumal wenn er bedachte, daß die Falkenberger indirekt die
Schuld am Verlust von Pierres Pferd trugen.

Die drei Gefährten waren in dieser Nacht nicht mehr allzu weit

geritten. Nach ein paar Meilen hatten sie ein Gasthaus gefunden und
waren dort eingekehrt, um bis zum neuen Tag zu schlafen. Nach
einem kräftigen Frühstück befanden sie sich nun wieder auf dem

background image

Weg.

Es war ein prächtiger Morgen. Die Sonne tauchte das Land in

goldenes Licht, die Vögel zwitscherten und jubilierten, Felder und
Wiesen zeigten ihr üppiges Grün. Die Natur hatte die Mark
Falkenberg reichlich aus ihrem Füllhorn bedacht, und man sollte
meinen, daß die Bewohner ein zufriedenes Leben führten. Daß dem
tatsächlich nicht so war, wußte Roland inzwischen. Und er sollte es
alsbald noch einmal nachdrücklich bestätigt bekommen.

Die Gefährten folgten dem Lauf eines kleinen Flüßchens, das sich

auf verschlungenem Weg durch die liebliche Landschaft wand.
Gegen Mittag, als ihre Mägen wieder zu knurren begannen, sahen sie
vor sich ein paar Planwagen, die an einer Biegung des Flüßchens
standen.

»Fahrendes Volk, wie mir scheint«, sagte der Ritter mit dem

Löwenherzen.

Pierre zog die Mundwinkel nach unten. »Fahrendes Volk! Das sind

alles Hungerleider, die nicht einmal einen Bissen Brot für uns übrig
haben werden. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn wir eine
ritterliche Jagdgesellschaft getroffen hätten!«

»Mußt du immer ans Essen denken?« entrüstete sich Louis. »Du

tust ja gerade so, als ob du am Verhungern bist!«

»Ein gutes Essen hält Leib und Seele zusammen«, verteidigte sich

der dickliche Knappe. »Oder?«

Louis gab ihm keine Antwort mehr, sondern ließ nur ein

verächtliches Grunzen hören. Er gab seinem Reittier die Hacken, um
wieder zu Roland aufzuschließen, der schon ein Stück vorgeritten
war.

Die Planwagen kamen näher. Mehrere Leute zeigten sich -

Männer, Frauen und Kinder. Ja, es waren tatsächlich Gaukler und
Spielleute, wie ihre bunte Kleidung zweifelsfrei erkennen ließ. Von
der unbeschwerten Heiterkeit allerdings, die Angehörige des
fahrenden Volkes oft auszeichnete, war allerdings nichts zu spüren.
Im Gegenteil, die Spielleute blickten den Ankömmlingen geradezu
feindselig entgegen.

background image

Roland ließ sich dadurch jedoch nicht abschrecken. Unbeirrt ritt er

auf die Menschengruppe zu. Und die beiden Knappen folgten seinem
Pferd auf den Hufen.

Jetzt aus nächster Entfernung sah er, daß irgend jemand den

Spielleuten übel mitgespielt haben mußte. Fast alle, die älteren
Kinder und die Frauen nicht ausgenommen, machten einen
mitgenommenen und lädierten Eindruck. Beulen, blaue Flecken und
Schlimmeres überall. Einige hatten sich Tücher um die verletzten
Glieder geschlungen, durch die das Blut hindurchsickerte. Eine
Horde von Barbaren schien über die Gaukler hergefallen zu sein.

Roland zügelte sein Pferd und hob grüßend die rechte Hand.
»Ihr braucht keine Furcht vor uns zu haben«, sagte er. »Wir

kommen als Freunde.«

Ein älterer Mann mit weißem Haar trat vor. Er hatte den rechten

Arm in einer Schlinge und hinkte leicht.

»Wer seid Ihr?« fragte er, während das Mißtrauen in seinen Augen

glänzte.

»Mein Name ist Roland. Und dies sind meine beiden Knappen

Louis und Pierre.«

»Ihr steht im Sold der Gräfin von Falkenberg?«
»Ich stehe in niemandes Sold!«
Die Stirn des alten Mannes legte sich in grüblerische Falten.
»Roland, Roland«, murmelte er. »Seid Ihr der, den man den Ritter

mit dem Löwenherzen nennt?«

Roland nickte stumm.
»Derjenige, der den letzten Lindwurm tötete?«
»Nämlicher«, bestätigte Roland.
Jetzt lächelte der alte Mann. »Dann haben wir in der Tat nichts von

Euch zu befürchten. Seid uns willkommen!«

Der Bann war gebrochen. Feindseligkeit und Mißtrauen wichen

aus den Gesichtern der Spielleute. Allgemeine Freundlichkeit schlug
den drei Ankömmlingen jetzt entgegen. Sie wurden zum Essen
eingeladen, und Pierre hatte dabei sogar die Freude, einen frisch
erlegten Hasen verzehren zu können.

background image

Roland erfuhr von dem alten Mann, was der Sippe Böses

widerfahren war.

Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Aber warum? Einfache

Dorfbewohner, die sich wie eine Rotte gemeiner Straßenräuber
aufführen? So etwas habe ich noch nie gehört.«

»Und doch ist es wahr«, sagte der Alte. »Sie haben unsere Ilona

mit sich fortgeschleppt. Was sie mit ihr vorhaben ... Ich wage gar
nicht, es mir vorzustellen!«

»Wie weit ist das Dorf entfernt?« erkundigte sich Roland.
»Wenige Meilen nur.«
»Und habt ihr nicht versucht, Ilona wieder zu befreien?«
Hilflos hob der alte Mann die Arme. »Was könnten wir schon

ausrichten? Wir sind wenige, die Steinmülheimer aber viele. Sie
hätten uns abermals zusammengeschlagen. Sonst wäre nicht das
geringste dabei herausgekommen.«

Entschlossen schob Roland das Kinn nach vorne.
»Wir werden sehen, ob sie es schaffen, auch mich

zusammenzuschlagen«, sagte er.

»Was ... meint Ihr?« »Ich werde Ilona befreien!« »Das wollt Ihr

wirklich tun, edler Ritter?«

»Ja«, bekräftigte Roland. »Ich habe es mir zum Lebensziel gesetzt,

den Schwachen und Hilflosen beizustehen, wann immer es in meiner
Macht steht. Wenn eure Ilona noch zu retten ist, dann werde ich sie
retten. Seid unbesorgt.«

Der alte Mann war außer sich vor Freude. Und seine Sippenbrüder

und - Schwestern konnten ihre Begeisterung ebenfalls kaum zügeln.

Weniger erfreut war Pierre. Der dickliche Knappe wäre viel lieber

am Lagerfeuer sitzengeblieben und hätte sich an einer weiteren
Hasenkeule gütlich getan. Aber als Roland zum Aufbruch mahnte,
war er doch gleich bereit, der Gemütlichkeit zu entsagen.

Von den besten Wünschen des fahrenden Volks begleitet, machten

sich Roland und seine Gefährten auf den Weg nach Steinmülheim.

*

background image

Volker vom Hohentwiel wußte, daß ihm wahrscheinlich der
schwerste Kampf seines Lebens bevorstand. Fridjof von der Heide
war ein Gegner, mit dem es kaum jemand aufgenommen hätte, der
ganz bei Tröste war. Dennoch hatte Volker nicht eine einzige
Sekunde gezögert, die Herausforderung anzunehmen. Die schöne
Birgitta hatte ihn so tief beeindruckt, daß er bereit war, sein Leben
aufs Spiel zu setzen. Er wollte sie besitzen, wollte den Platz an ihrer
Seite einnehmen. Und wenn er dieses Ziel nur erreichen konnte,
indem er den rotbärtigen Ritter besiegte ...

Alle Vorbereitungen zum Duell waren getroffen. Der Burghof war

mit einer Lage Sand bedeckt worden, um zu vermeiden, daß sich
einer der beiden Kämpfenden beim Sturz vom Pferd den Hals brach.
Die Burgbewohner, Hochgeborene und Gesinde gleichermaßen,
hatten ihre Plätze eingenommen, um Zeuge des kämpferischen
Schauspiels zu werden. Auch die Gräfin war zugegen. Sie saß in
ihrem Thronsessel und ließ sich von einer Zofe frische Luft
zufächern.

Volker vom Hohentwiel und Fridjof von der Heide hatten bereits

ihre Kampfpositionen bezogen. Sie saßen auf ihren Pferden, hundert
Ellen voneinander getrennt, die Lanzen in der Faust und tödliche
Entschlossenheit im Herzen. Beide blickten zur Gräfin hinüber, die
das Signal zum Kampfbeginn geben würde.

»Seid Ihr bereit, edler Ritter?« fragte Birgitta.
»Ja, Herrin«, bestätigte Fridjof von der Heide. »Meine Lanze

wartet schon darauf, dem Sänger die goldene Kehle zu
durchbohren!«

Er begleitete seine derben Worte mit einem rauhen Lachen, in das

mehrere der Falkenberger einfielen. Die Ritter hielten Volker für
einen Mann, dessen Talente ausschließlich auf dem Gebiet der
Sangeskunst und des Reimeschmiedens lagen. Daß er auch ein
außerordentlicher Kämpfer war, wußten sie nicht.

Volker machte dies nichts aus. Im Gegenteil, er begrüßte es sogar,

daß man ihn unterschätzte, was besonders für Fridjof galt. Ein Mann,
der seinen Gegner zu leicht nahm, neigte zur Überheblichkeit und

background image

war deshalb fehleranfällig.

»Seid auch Ihr bereit, Volker vom Hohentwiel?« erklang abermals

die Stimme der Gräfin.

Sie bedachte ihn dabei mit einem Lächeln, das sein Herz

schmelzen ließ wie den Tau in der Morgensonne. Volker fühlte
regelrecht, wie sich sein Blut erhitzte. Er konnte es kaum noch
erwarten, daß der Kampf begann.

Er hob die linke Hand zum Zeichen seiner Bereitschaft.
»So sei es denn«, sagte Birgitta. »Möge der Bessere von Euch den

Sieg davontragen. Fangt... an!«

Kaum waren die Worte der Gräfin verklungen, da hielt es die

beiden Ritter nicht mehr. Sie gaben ihren Pferden die Hacken und
jagten im Galopp aufeinander los.

Rasend schnell verkürzte sich der Abstand zwischen ihnen.

Achtzig Ellen, fünfzig, vierzig ...

Volker hatte die Zügel losgelassen, lenkte sein Reittier nur mit der

Kraft seiner Schenkel. Mit beiden Fäusten hielt er die Lanze
umklammert, zum wuchtigen Stoß bereit.

Zwanzig Ellen trennten ihn jetzt noch von seinem Gegner. Fridjof

hatte das Visier seines Helms geschlossen, aber hinter den
Sehschlitzen konnte Volker das mörderische Funkeln seiner Augen
erkennen.

Zehn Ellen noch, fünf, drei...
Volker stieß mit der Lanze zu und wurde im selben Augenblick

von der Waffe seines Gegners getroffen.

Ihm war so, als würde ihm das Herz aus dem Leibe gepreßt. Seine

Brust war auf einmal wie zugeschnürt. Er bekam kaum noch Luft,
und alles drehte sich vor seinen Augen. Nur mit allergrößter Mühe
gelang es ihm, sich im Sattel zu halten.

Dann war Fridjof von der Heide an ihm vorbei. Nach wie vor saß

der rotbärtige Ritter aufrecht und stolz auf dem Rücken seines
Pferdes. Volkers Lanzenstoß hatte ihn nicht erschüttert, war offenbar
harmlos von seiner Rüstung abgeglitten.

Volker hatte nicht viel Zeit, sich zu erholen. Er mußte sein Pferd

background image

wenden und sich seinem Gegner zum zweiten Mal stellen.

Wieder jagten die beiden Ritter aufeinander los. Schon zuckte die

Lanze des Rotbärtigen nach vorne, so schnell wie der Kopf einer
zuschnappenden Kreuzotter.

Diesmal jedoch wandte Volker eine andere Taktik an. Er stieß

seinerseits nicht zu, wehrte statt dessen mit seiner Lanze lediglich die
Attacke des Gegners ab.

Und mit dieser Taktik fuhr er gut. Während er selbst nicht

erschüttert wurde, riß der Schwung des fehlgegangenen Stoßes den
Rotbärtigen beinahe aus dem Sattel.

Die beiden Kämpfer waren wieder aneinander vorbei.
Da jedoch tat Fridjof von der Heide etwas, worauf Volker in keiner

Weise vorbereitet war. Gänzlich unerwartet drehte er sich im Sattel
um und schlug seinem Gegner von hinten die Lanze über den
Schädel.

Volker hatte das Gefühl, als sei ein Felsblock auf ihn

herabgestürzt. Ein dunkler Schleier legte sich vor seine Augen,
machte ihn für den Moment beinahe blind. Er schwankte im Sattel
hin und her wie jemand, der zuviel Met getrunken hat. Das Grölen
der Zuschauer drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Der Zorn
jedoch, der in ihm tobte, gab ihm die Kraft, sich auf dem Rücken
seines Pferdes zu halten.

Was der Rotbärtige getan hatte, war ein eindeutiger Verstoß gegen

die Regeln des ritterlichen Reiterduells. Die Lanze durfte nur zum
Parieren der gegnerischen Attacke oder zum eigenen Stoß verwandt
werden, keineswegs aber war es erlaubt, sie als Schlaginstrument zu
mißbrauchen.

Hier auf Falkenberg schien man dies nicht zu wissen oder aber

nicht wissen zu wollen. Kein Wort des Protestes erhob sich, niemand
untersagte Fridjof sein heimtückisches Tun.

Nun gut, mein Freund, dachte Volker vom Hohentwiel, wenn du

mit falschen Würfeln spielst, dann wundere dich gefälligst nicht,
wenn ich zu denselben Mitteln greife!

Er tat so, als habe ihn der Schlag auf den Helm so mitgenommen,

background image

daß er vor Schwäche aus dem Sattel rutschte und sich mit einer Hand
auf dem Boden abstützen mußte. Daß er dabei seine Hand mit Sand
füllte, konnte niemand ahnen.

Das Gelächter der Zuschauer machte Volker nicht das geringste

aus. Er wußte, daß stets derjenige am besten lacht, der zuletzt lacht.

Im nächsten Augenblick saß er wieder aufrecht im Sattel und

wendete sein Pferd. Er war bereit zum nächsten Zusammentreffen
mit dem Rotbärtigen.

Wieder sprengten die beiden Ritter aufeinander zu. Schnell

verkürzte sich der Abstand zwischen ihnen. Als sie noch eine
Pferdelänge voneinander entfernt waren, schleuderte Volker seinem
Gegner die Handvoll Sand entgegen.

Und er traf gut...
Die feinen Sandkörner drangen mit Leichtigkeit durch die

Helmschlitze und setzten sich in den Augen Fridjofs fest. Der
Rotbart war geblendet. Volker hatte keine Mühe, Fridjofs
unkontrolliertem Lanzenstoß durch eine blitzschnelle
Körperverlagerung auszuweichen. Gleichzeitig nahm er selbst Maß,
ganz ruhig und ohne Hast, peinlich darauf bedacht, seinen Gegner
genau dort zu erwischen, wo es zählte.

Als Fridjof fast schon an ihm vorbei war, stieß er pfeilschnell zu.
Und er hatte richtig Maß genommen ...
Die Lanzenspitze verhakte sich in der Rille, die Fridjofs Helm mit

seinem Brustharnisch verband. Sie saß so fest, als sei sie
angeschmiedet worden.

Das, was geschehen mußte, geschah. Die Pferde galoppierten in

entgegengesetzter Richtung davon. Volker brauchte den
Lanzenschaft nur mit aller Kraft festzuhalten, alles andere ergab sich
von selbst.

Fridjof von der Heide, von den Sandkörnern noch geblendet, hatte

keine Möglichkeit, sich dem Verhängnis entgegenzustemmen, denn
natürlich konnte es selbst ein so bärenstarker Mann wie er nicht mit
der gemeinsamen Kraft der Pferde aufnehmen. Er wurde aus dem
Sattel gerissen und klatschte auf den Boden wie ein Sack Mehl.

background image

Volker hätte nicht übel Lust gehabt, den heimtückischen Gegner

noch ein Stück hinter sich herzuziehen. Aber seine ritterliche
Gesinnung hieß ihn, diesen Gedanken nicht weiterzufolgen. Er ließ
den Lanzenschaft los und ersparte dem Rotbärtigen damit die
Schande, durch den Dreck des Burghofs geschleift zu werden.

Sein Triumph war auch so vollkommen.
Die Zuschauer, Edelleute und Gesinde gleichermaßen, jubelten

ihm zu. Sie klatschten in die Hände, bedachten ihn mit Hochrufen,
sahen ihn mit offener Bewunderung an. Er war der Sieger, der Mann,
der den als unbezwingbar geltenden Fridjof von der Heide in den
Staub gezwungen und gedemütigt hatte.

Volker zügelte sein Pferd und schlug die Klappe seines Helms

hoch. Er blickte zu seinem Gegner hinüber.

Der Sturz aus dem Sattel war dem Rotbärtigen nicht gut

bekommen. Offenbar war er auf den Kopf gefallen oder hatte sich
ein Bein verstaucht. Mühsam versuchte er, wieder auf die Füße zu
gelangen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Immer wieder wurden
seine Knie schwach. Er kippte zurück in den Sand.

Die Zuschauer hatten keinen Blick für den Geschlagenen. Keiner

trat vor, um ihm behilflich zu sein. Man beachtete ihn gar nicht, tat
so, als würde er überhaupt nicht existieren. Alle hatten nur Augen für
den stolzen Sieger.

Birgitta von Falkenberg bildete keine Ausnahme. Vergessen war

der Mann, der bisher an ihrer Seite gestanden hatte. Ihr strahlendes
Lächeln galt nur noch Volker.

Volker kletterte aus dem Sattel und schritt auf die Gräfin zu, um

seinen Siegeslohn zu kassieren.

*

Roland und seine beiden Gefährten brauchten nicht lange, um
Steinmülheim zu erreichen. Eine knappe halbe Stunde nachdem sie
das Lager der Spielleute verlassen hatten, passierten sie die ersten
Häuser und ritten in das Dorf ein.

background image

Sogleich machte sich Überraschung in ihnen breit. In keiner Weise

machte Steinmülheim auf sie den Eindruck, als würden hier
Menschen hausen, die das Benehmen von Straßenräubern oder
sonstigen Gewalttätern an den Tag legten. Das Dorf sah ganz alltäg-
lich aus, sauber, ordentlich und ... friedlich. Besonders überraschend
aber war die Tatsache, daß sich Steinmülheim bar jeden Lebens
erwies. Kein Mensch zeigte sich auf der Straße, niemand lugte hinter
den Fenstern hervor. Nur ein räudiger Hund tauchte auf und rannte
bellend und zähnefletschend neben den Pferden der Gefährten her.

Langsam ritten Roland, Pierre und Louis die Dorfstraße entlang.

Das ungewohnte Bild änderte sich nicht. Weder Mann noch Weib
noch Kind ließen sich blicken.

»Seltsam«, sagte Louis. »Es sieht fast so aus, als hätte die Pest die

Bewohner hinweggerafft.«

»Wohl kaum«, widersprach ihm Roland. »Noch in der

vergangenen Nacht haben die Steinmülheimer das Lager der Gaukler
überfallen. Und so schnell schlägt selbst der Schwarze Tod nicht zu.
»Aber wo sind sie alle?«

»Das werden wir herausfinden!«
Daß sich alle Dorfbewohner auf den Äckern und Weiden befanden,

zog Roland gar nicht in Betracht. Er hatte noch nie erlebt, daß ein
ganzes Dorf gleichzeitig auf den Feldern arbeitete.

Vor einem Haus, das durch ein handgemaltes Schild als Gasthof

ausgewiesen wurde, machten die drei Männer halt. Roland stieg vom
Rücken seines Pferdes.

»Seid vorsichtig«, sagte Pierre mahnend. »Vielleicht haben sich

die Mädchenentführer versteckt und fallen ganz überraschend über
Euch her. Und über uns natürlich auch!«

»Keine Bange«, erwiderte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Ich

passe schon auf. Die rechte Hand am Knauf seines Schwerts schritt
er auf die Tür des Gasthauses zu. Sie war verschlossen. Rolands
energisches Klopfen nutzte nichts. Niemand kam, um zu öffnen.
»Hm«, machte Roland.

Wenn sogar das dörfliche Gasthaus menschenleer war ... Seltsam,

background image

sehr seltsam.

Er wandte der Gasthaustür den Rücken zu und schritt auf das

Nachbarhaus zu. Auch hier klopfte er gegen Tür und Fenster -
vergeblich. Und auch als er die Prozedur bei einigen weiteren
Häusern wiederholte, kam nichts dabei heraus.

Dann aber erspähten Louis' scharfe Augen doch etwas. Er beugte

sich im Sattel vor und deutete auf eine Kate, die auf der anderen
Straßenseite stand.

»Dort ist jemand!«
»Bist du sicher?« fragte Roland. Für ihn selbst sah die Kate so leer

und unbewohnt aus wie alle anderen Häuser auch.

»Ganz sicher«, blieb der Knappe bei dem, was er gesagt hatte. »Ich

habe ein Gesicht gesehen. Das Gesicht eines alten Mannes!«

»Nun, das werden wir gleich haben.«
Roland überquerte die Straße und trat auf die Katentür zu. Sie war

nicht abgeschlossen. Der Ritter hatte keine Mühe, in das kleine Haus
einzutreten. Er fand sich in einem düsteren Flur wieder, in dem es
unangenehm nach Kohl roch.

»Hallo, ist hier jemand?« rief er.
Er bekam keine Antwort, auch nicht, als er seine Stimme zum

zweiten Mal erschallen ließ.

Jetzt reichte es Roland. Er war es müde, hier sinnlos seine Zeit zu

vertun. Ohne anzuklopfen, stieß er eine der beiden Türen auf, die von
dem Flur abgingen. Dabei ließ er die Vorsicht nicht außer acht. Nach
wie vor lag seine rechte Hand am Knauf des Schwertes.

Seine Vorsicht war gänzlich unbegründet. Niemand tauchte auf,

um ihn hinterrücks zu überfallen.

Er fand sich in einem winkligen Zimmer wieder, das genauso

düster war wie der Flur. Der Kohlgeruch war allgegenwärtig.
Gewaltsam mußte der Ritter einen Brechreiz unterdrücken.

Es vergingen ein paar Augenblicke, bis er sich an die schummrigen

Lichtverhältnisse gewöhnt hatte.

Dann sah er den Mann ...
Ein alter, genau wie es Louis beschrieben hatte. Zahnlos,

background image

glatzköpfig und ausgemergelt hockte er auf einem Stuhl und blickte
Roland mit angstvollem Gesichtsausdruck entgegen.

»Aha«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen und trat auf den

Mann zu. »Warum meldest du dich nicht auf mein Rufen, Alter?«

»Ich ... Ich ...« Der alte Mann zitterte, kroch fast in die Lehne

seines Stuhls hinein. Solche Angst hatte er.

»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte Roland. »Ich

habe nur ein paar Fragen an dich.«

Stumm nickte der Steinmülheimer.
»Was ist hier passiert?« wollte Roland wissen. »Wo sind die

Dorfbewohner alle?«

Noch immer schwieg der Alte.
Roland wurde immer ungeduldiger. Stumm war der alte Mann

nicht, dessen war er sich sicher. Warum, bei allen Elfen des Waldes,
antwortete er also nicht?«

»Fragen wir anders«, sagte er. »Weißt du etwas von einem

Mädchen, das entführt wurde?«

Die Lippen des Steinmülheimers bebten. »Ich ... weiß von nichts.

Ganz bestimmt nicht.«

Er log, da gab es für Roland gar keine Frage. Das schlechte

Gewissen stand ihm im Gesicht geschrieben. Wenn er
wahrscheinlich wegen seines Alters und seiner Gebrechlichkeit bei
dem Überfall auf das Lager der Spielleute nicht dabeigewesen war,
so wußte er ganz bestimmt doch darüber Bescheid.

Es .widerstrebte Roland, rauh mit einem so alten Mann

umzugehen. Aber wenn es gar nicht anders ging ...

Drohend trat er noch näher an den alten Mann heran und zog sein

Schwert halb aus der Scheide.

»Paß auf, Alter«, sagte er. »Wenn du jetzt nicht den Mund

aufmachst, geht es dir schlecht. Ist das klar?«

Der Blick des alten Mannes saugte sich regelrecht an Rolands

Waffe fest. Offenbar glaubte er, daß der Ritter wirklich sein Schwert
zücken und ihn einen Kopf kürzer machen würde.

»Ich ... Ich habe nichts damit zu tun«, stammelte er. »Niemand hat

background image

mich gefragt. Der Schultheiß und der Müllner Rupold ...«

»Wo ist das Mädchen?«
»Ich ... Ich will alles sagen!«
Und das tat der Alte dann auch.
Wenig später wußte Roland, welches schreckliche Schicksal die

Steinmülheimer der schönen Ilona zugedacht hatten.

Und er wußte auch, wo sich sämtliche Dorfbewohner gegenwärtig

aufhielten.

Im Opferhain ...

*

Die Gräfin hatte geruht, Volker vom Hohentwiel zu einem Mahl in
ihren Privatgemächern zu laden. Es verstand sich von selbst, daß der
Ritter nicht eine einzige Sekunde zögerte, der höchst willkommenen
Einladung zu folgen.

Birgitta ließ das Feinste auftragen, was Falkenberg zu i>ieten hatte.

Saftiger Rehrücken in einer köstlichen Sauce, verschiedene Gemüse,
appetitlich geröstete Grundbirnen. Dazu gab es Wein von einer
Erlesenheit, wie ihn Volker lange nicht mehr gekostet hatte.

Dennoch schenkte er dem Mahl weniger Aufmerksamkeit, als

dieses verdient hätte. Er hatte nur Augen für die herrliche Frau, die
ihm am Tisch gegenübersaß. Aus allernächster Nähe kam sie ihm
noch schöner vor. Das goldene Haar, die vollendeten Linien ihres
Gesichts, die prächtigen Rundungen ihres Körpers - er konnte sich
gar nicht satt an ihr sehen.

Birgitta genoß die Bewunderung, die Volker ihr zollte. Und sie

bedankte sich mit einem Lächeln, das dem Ritter den Himmel auf
Erden versprach. Volker beherrschte sich jedoch. Er wußte, was sich
geziemte. Es wäre höchst unschicklich gewesen, sich ihr bereits jetzt
zu nähern. Dazu war nach dem Essen immer noch Zeit. In gewisser
Weise fand Volker das Warten auf den Augenblick, in dem er ihren
Körper endlich genießen konnte, höchst anregend. Die prickelnde
Erwartung, die ihn erfüllte, erfuhr dadurch eine ungeahnte

background image

Steigerung.

Statt dessen plauderte er mit der Gräfin. Zunächst über ganz

allgemeine Themen, dann aber über das, was ihm ganz besonders am
Herzen lag, über das, was ihn eigentlich überhaupt erst in die Mark
geführt hatte.

»Man hört ungewöhnliche Dinge über Falkenberg in den anderen

Landen«, sagte er wie von ungefähr.

»Ungewöhnliche Dinge?« wiederholte die Gräfin, während sie eine

Weintraube verzehrte.

»Man sagt, daß Ihr dem wahren Gott abgeschworen habt und statt

dessen dem Aberglauben unserer heidnischen Vorfahren anhängt.«

Ein Zug des Unwillens huschte über Birgittas schönes Gesicht.

»Ich mag es ganz und gar nicht, wenn Ihr solche Töne im Munde
führt, Ritter Volker! Von heidnischem Aberglauben kann überhaupt
keine Rede sein. Die alten Götter leben!«

»Das glaubt Ihr wirklich?«
»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es! Schließlich haben mich die

Götter auserwählt, ihre Hohepriesterin zu sein, deren Aufgabe es ist,
die alten Sitten wieder einzuführen.«

»Menschenopfer«, murmelte Volker.
Der unwillige Zug um Birgittas Mundwinkel verstärkte sich.

Beinahe böse sah sie ihn an.

»Ihr sagt dies in einem Tonfall, der mich glauben läßt, daß Ihr die

Opfer für ein Verbrechen haltet.«

»In der Tat, das tue ich!«
Der unwillige Zug verschwand aus dem Gesicht der Gräfin,

machte einem Ausdruck Platz, der fast an Mitleid gemahnte.

»Ihr seid ein Narr, Ritter Volker«, sagte sie. »Was Ihr ein

Verbrechen nennt, ist in Wahrheit ein unabdingbares Gesetz. Wehe
dem, der gegen dieses Gesetz verstößt!«

»Für mich ist und bleibt es Mord«, blieb Volker beharrlich bei

seiner Meinung.

»Mord?« Birgitta lachte. »Den Opfertod zu Ehren der Götter zu

sterben, ist eine Auszeichnung, nach der sich jede Jungfrau von

background image

ganzem Herzen sehnen sollte. Auch Ihr werdet bald zu dieser
Überzeugung kommen, Ritter Volker!«

»Niemals!«
»Oh, doch!«
»Nun denn, Gräfin, wenn Ihr wirklich meint...«
Volker verfolgte diesen Gesprächsfaden nicht weiter. Er war sich

ganz sicher, daß es ihm gelingen würde, dem abergläubischen
Opferspuk in der Mark ein Ende zu bereiten, wenn er erst einmal
seinen Platz an der Seite der Gräfin eingenommen hatte.

Noch ahnte er nicht, wie sehr er sich irrte ...

*

Roland und seine beiden Knappen waren wieder unterwegs.
Steinmülheim blieb hinter ihnen zurück. Das Waldstück, in dem sich
der sogenannte »Heilige Hain« befand, kam näher und näher.

Aufrechter Zorn kochte in Roland wie siedendes Wasser. Er

verspürte einen regelrechten Haß auf die Gräfin von Falkenberg. Das
Weib zwang ihre ehrsamen und gesetzestreuen Untertanen, zu
Mädchenentführern und Mördern zu werden. Er war froh, daß König
Artus ausgerechnet ihn in die Mark geschickt hatte. Er würde alles
tun, um die Verbrecherin auf dem Grafenthron für ihre blutigen
Taten zur Rechenschaft zu ziehen.

Zunächst aber gab es etwas anderes für ihn zu tun. Zunächst mußte

er das Mädchen Ilona retten. Er konnte nur hoffen, daß die
Steinmülheimer Bauern noch nicht damit begonnen hatten, die
grausame Opferzeremonie zu vollziehen.

»Schneller«, forderte er Louis und Pierre auf. Gleichzeitig gab er

Samun die Hacken zu spüren. Sofort ging das brave Tier in einen
gestreckten Galopp über. So schnell flog das edle Pferd dahin, daß
die beiden Knappen kaum zu folgen vermochten.

Wenig später hatten die drei Gefährten den Waldesrand erreicht.

Ja, da war der Karrenweg, den der alte Mann in Steinmülheim
Roland beschrieben hatte. Über diesen Weg pflegten die Dörfler das

background image

Holz abzutransportieren, das sie im Wald geschlagen hatten.

»Kommt!«
Das strahlende Licht der Sonne verschwand, als die drei Männer in

den Wald hineinritten. Die dichtstehenden Nadel- und Laubbäume
tauchten den Waldweg in ein diffuses Halbdunkel. Außerdem war
der Boden von tiefen Furchen durchzogen, die von den Karrenrädern
stammten. Unter diesen Umständen war es nicht möglich, weiterhin
im Galopp zu reiten. Wohl oder übel mußte Roland auf Schrittempo
zurückgehen.

Nachdem etwa zweihundert Ruten zurückgelegt waren, hielt

Roland sein Pferd an. Nach der Beschreibung des alten Mannes
mußte irgendwo an dieser Stelle ein schmaler Pfad von dem
Karrenweg abgehen, der geradewegs zum Opferhain führte.

Wie so oft war es wieder einmal Louis, dessen scharfe Augen den

Pfad erspähten. Er lag noch ein Stück voraus und wurde links und
rechts von wucherndem Unterholz gesäumt.

»Es scheint mir nicht ratsam zu sein, die Pferde mitzunehmen«,

sagte Roland. »Sicher kommen wir auf unseren eigenen Füßen
beträchtlich schneller vorwärts.«

Zum großen Mißfallen Pierres, dem Fußmärsche nicht weniger

zuwider waren als das Durchschwimmen eines kalten Flusses. Er
maulte wie gewohnt. Aber sein Herr brauchte ihn nur einmal scharf
anzublicken, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Hundert Ruten etwa, dann müßte der Pfad auf den Hain stoßen.

Das jedenfalls hatte der alte Mann gesagt. Und da sich seine
bisherigen Angaben als richtig erwiesen hatten, würde er wohl auch
in diesem Punkt die Wahrheit gesagt haben.

Roland zückte sein Schwert, während die beiden Knappen nach

ihren Hirschfängern griffen. Diese Übung erfüllte einen doppelten
Zweck. Einmal konnten sich die Männer damit besser einen Weg
durch das Gestrüpp und Wurzelwerk bahnen. Und zum zweiten
wollten sie sofort kampfbereit sein, wenn sie mit den
Steinmühlheimern zusammentrafen.

Anfänglich legten die Gefährten wenig Wert darauf, sich lautlos

background image

vorwärts zu bewegen. Je näher sie dem Ziel jedoch kamen, desto
vorsichtiger wurden sie. Es konnte wichtig sein, daß die
Dorfbewohner ihre Annäherung erst im letzten Augenblick
bemerkten. Schließlich waren sie viele, während Roland, Louis und
Pierre nur zu dritt waren.

Ungefähr die Hälfte des Wegs war zurückgelegt, als Roland

plötzlich stehenblieb.

Eigenartige Geräusche drangen an sein Ohr. Geräusche, die Roland

erst nach wenigen Sekunden als Gesang deuten konnte.

Es war ein eigenartiger Gesang, dumpf, monoton und fremdartig.
Pierre schüttelte sich. »Das ist ja ... unheimlich.«
Roland kam nicht umhin, ihm recht zu geben. Dieser eigenartige

Singsang, der so ganz anders klang als die gewohnten Minne- und
Heldengesänge Volkers vom Hohentwiel, ließ sogar ihn leicht
frösteln.

»Ganz leise«, flüsterte er. »Wir schleichen uns an und versuchen,

so nahe wie möglich heranzukommen, ohne daß uns die Bauern
sehen.«

Louis nickte und umspannte seinen Hirschfänger mit fester Hand.

Auch Pierre gelobte, sich so leise zu verhalten wie ein
beutesuchender Raubvogel im Flug.

Mit Roland an der Spitze bewegten sich die drei Männer vorwärts.

Und es gelang ihnen tatsächlich, jedweden Lärm zu vermeiden. Nur
gelegentlich knackte es unter ihren Füßen, wenn einer von ihnen auf
einen umherliegenden Zweig trat.

Lauter und lauter drang der Gesang der Steinmülheimer auf sie ein.

Und das nicht nur, weil sie den Sängern immer näher kamen. Roland
konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Zeremonie dort
einem Höhepunkt entgegenstrebte, der sich in der Intensität des
Gesangs ankündigte.

Dann waren die drei so nahe heran, daß sie nicht nur etwas hören,

sondern auch etwas sehen konnten. Aus der Deckung des
Unterholzes konnten sie auf eine von Eichen gesäumte Lichtung
blicken, auf der sich eine gespenstische Szene abspielte.

background image

Mehr als hundert Menschen, Männer, Frauen und auch Kinder,

hatten sich an den Händen gefaßt und einen großen Kreis gebildet.
Im Mittelpunkt dieses Kreises hatten sie einen Stapel aus
Eichenscheiten aufgebaut. Und auf diesem Stapel, an Händen und
Füßen gebunden wie ein Stück Schlachtvieh, ein schwarzhaariges
junges Mädchen.

Ilona!
Die Steinmülheimer umtanzten den Scheiterhaufen, in seltsam

anmutenden, schaukelnden Bewegungen, und ließen dabei jenen
monotonen Gesang ertönen, den Roland und seine beiden Knappen
schon von weitem gehört hatten.

Louis stieß hörbar die Luft aus.
»Was tun wir?« raunte er Roland zu und hatte dabei Mühe, seine

helle Empörung zu unterdrücken. »Wenn wir uns nicht beeilen,
könnte es zu spät sein. Jeden Augenblick wird einer dieser
Wahnsinnigen den Holzstapel anzünden.«

Damit rechnete Roland auch. Aber noch schien das nicht der Fall

zu sein. Er konnte kein Feuer erkennen. Im Augenblick drohte dem
Opfer also noch keine akute Gefahr.

Roland überlegte noch, wie der Situation am besten beizukommen

war, als etwas Ungewöhnliches geschah.

Gerade noch stand die Sonne schräg am Himmel und badete die

Lichtung in ihrem goldenen Licht. Im nächsten Moment jedoch
änderte sich das schlagartig. Dunkle Wolken, schwarz wie
Holzkohle, zogen am Himmel auf und verdeckten das Gesicht der
Sonne vollständig.

Augenblicklich wurde es so dunkel, daß man meinen konnte, die

Abenddämmerung sei vorzeitig angebrochen. Zusätzlich kam ein
Wind auf, obwohl sich Sekunden zuvor nicht ein Lüftchen geregt
hatte. Einen derartig krassen Wetterumschwung hatte Roland noch
nie in seinem Leben erlebt.

Pierres Gesicht war so bleich geworden, als habe man es in einen

Sack Mehl getaucht.

»Das ... geht nicht mit rechten Dingen zu«, flüsterte er.

background image

Fast war Roland geneigt, ihm beizupflichten. Auch ihm kam das

Geschehen äußerst unheimlich vor. Der verrückte Gedanke, daß die
Steinmülheimer den Wetterumschwung durch ihren immer
eindringlicher werdenden Singsang bewirkt hatten, wollte ihm nicht
aus dem Kopf.

Schneller umtanzten sie jetzt den Scheiterhaufen, zuckend wie die

Holzfiguren eines Puppenspielers. Und ihr Gesang wurde lauter und
ekstatischer.

Schärfer blies der Wind. Die Zweige der Bäume wurden hin und

her gepeitscht. Die Kronen schwankten, als würden sie von einer
Riesenfaust geschüttelt. Der Himmel war noch dunkler geworden, so,
als stünde der Weltuntergang bevor.

Und dann glaubte Roland, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
Rollender Donner erschütterte die Szenerie. Gleichzeitig flammte

ein greller Blitz auf, der den Himmel in Flammen zu setzen schien.
Das Licht des Blitzes verflüchtigte sich jedoch nicht, sondern nahm
plötzlich Form an. Eine Gestalt bildete sich heran, die auf den
dunklen Regenwolken zu stehen schien.

Es war die Gestalt eines riesigen Mannes, eines Recken, wie ihn

die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Hüne hielt einen gewaltigen
Hammer in der Hand und schwenkte ihn über dem Kopf.

Ein Stöhnen entrang sich Rolands Brust, als ihm klarwurde, was er

da am Himmel sah. Donar!

Der Gott der alten Germanen war also nicht nur ein Hirngespinst

abergläubischer Tröpfe. So unvorstellbar es auch war, er mußte sich
mit der Wirklichkeit abfinden.

Donar existierte wirklich!
Gebannt sah Roland zum Himmel empor. Wenn er es auch gewollt

hätte, er wäre jetzt beim besten Willen nicht in der Lage gewesen,
die Augen niederzuschlagen.

Wie ihm ging es auch seinen beiden Knappen. Auch sie waren

außerstande, den Blick von dem unglaublichen Geschehen am
Himmel abzuwenden.

Und dieses Geschehen hatte seinen schrecklichen Höhepunkt noch

background image

nicht erreicht. Dieser kam erst jetzt.

Der gewaltige Arm des Germanengottes ließ den Hammer in seiner

Hand los, schleuderte ihn auf die Erde hinunter. Schneller als ein
Pfeil fliegen konnte, jagte der Lichthammer heran.

Und schlug auf dem Holzstapel ein, an den das Gauklermädchen

Ilona gefesselt war!

Ein dröhnendes Lachen, das von allen Seiten, von oben und unten

gleichzeitig, zu kommen schien, klang auf, brach dann ab. Im
gleichen Augenblick fing die unheimliche Lichtgestalt am Himmel
an, sich aufzulösen, sich zu verflüchtigen. Eine Sekunde später war
nichts mehr von ihr zu sehen.

War der Spuk damit vorbei?
Nein!
Lodernde Flammen schossen von dem Holzstapel hoch. Der

Lichthammer hatte den Scheiterhaufen in Brand gesetzt!

Roland war noch immer wie gebannt. Er konnte nicht fassen, was

er hier erlebt hatte. Seine Glieder waren wie gelähmt, und in seinem
Kopf jagte ein wirrer Gedanke den anderen.

Der gellende Entsetzensschrei einer schmerzgequälten

Mädchenstimme riß ihn aus seiner Erstarrung. Erst jetzt wurde er
sich richtig bewußt, daß der Holzstapel echtes Feuer gefangen hatte,
daß die hochzüngelnden Flammen Wirklichkeit waren.

Die junge Ilona war einem schrecklichen Tod geweiht, wenn nicht

sofort etwas geschah!

Noch immer sangen die Leute aus Steinmülheim und tanzten um

den brennenden Scheiterhaufen herum.

Roland hielt es nun nicht mehr in seinem Versteck. Er konnte und

durfte nicht mitansehen, wie die Tochter des fahrendes Volkes
elendig verbrannte. Er mußte ihr helfen.

Sofort!
Wie ein Pfeil, der von der Bogensehne schnellte, schoß er aus dem

Gebüsch hoch und stürmte auf den Kreis der Tänzer los. Während
des Laufens riß er sein Schwert aus der Scheide.

Die Steinmülheimer bemerkten ihn erst, als er bereits bei ihnen

background image

war. Wie ein Rammbock durchbrach er die Menschenkette, die den
Scheiterhaufen abschirmte. Die Bauern waren so überrascht, daß sie
zunächst gar nicht auf den Gedanken kamen, Widerstand zu leisten.
Roland brauchte sein Schwert nicht einzusetzen, um sich den Weg zu
dem brennenden Holzstapel zu bahnen.

Die sengenden Flammen gar nicht beachtend, die wie gierige

Hände nach ihm griffen, sprang Roland auf den Holzstoß. Seine
Augen begannen zu tränen, und er hatte Mühe, das Mädchen auf
Anhieb auszumachen.

Da war es, hilflos auf dem Rücken liegend und von den zuckenden

Flammen umzüngelt!

Roland beugte sich über die Tochter des fahrendes Volkes. Im Nu

hatte er mit Hilfe seines Schwerts ihre Arm- und Fußfesseln
durchtrennt.

Ilona war frei...
Aber natürlich war sie nicht in der Lage, aus eigener Kraft auf die

Füße zu kommen. Die Fesseln hatten das Blut gestaut, verurteilten
sie auch jetzt noch zur Bewegungsunfähigkeit.

Roland erkannte dies sofort und sorgte für Abhilfe. Er schob den

linken Arm unter ihre Achseln und hob sie hoch. Dann sprang er mit
einem mächtigen Satz von dem Scheiterhaufen hinunter, das
Mädchen mit sich nehmend. Im nächsten Augenblick stand er mit
gezücktem Schwert den Opferdienern des Germanengottes
gegenüber.

Auf seiner und des Mädchens Kleidung glomm hier und dort noch

ein Funken, und an einigen Stellen schmerzte ihn die versengte Haut.
Ernsthaft aber waren weder er noch die junge Ilona in
Mitleidenschaft gezogen worden. Er hatte zu schnell gehandelt, um
dem Feuer eine Chance zu geben, bleibenden Schaden anzurichten.

Die Leute aus Steinmülheim hatten inzwischen aufgehört zu singen

und zu tanzen. Sie starrten ihn an wie ein Gespenst, begriffen
offenbar noch gar nicht so recht, wo er eigentlich hergekommen war.
Niemand machte Anstalten, etwas gegen ihn zu unternehmen.

Nach einigen Sekunden allseitigen Schweigens trat ein älterer

background image

Mann zögernd auf ihn zu.

»Was habt Ihr getan, Ritter?« fragte er gepreßt. »Ihr habt das Opfer

entweiht!«

»So, habe ich das?« erwiderte Roland. »Mich deucht eher, ich habe

ein grausames Verbrechen verhindert!«

»Der Gott und seine Hohepriesterin, die Gräfin von Falkenberg,

werden außer sich vor Zorn sein. Gleich wird Donar wieder
erscheinen und uns alle bestrafen.«

Roland blickte zum Himmel empor. Dort waren die dunklen

Wolken längst wieder im Begriff, sich aufzulösen. Schon lugte hier
und dort die Sonne hervor. Auch der scharfe Wind hatte sich gelegt
und sich in ein lindes Lüftchen verwandelt.

Die Erinnerung an das Erscheinen des Germanengottes verblaßte

bereits in Roland. Er fragte sich, ob das Unglaubliche wirklich
geschehen war. Konnte es sein, daß er und alle anderen Anwesenden
nur einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen waren? War nicht nur
ein ebenso kurzes wie heftiges Unwetter niedergegangen? Auch daß
sich der Scheiterhaufen entzündet hatte, kam ihm auf einmal gar
nicht mehr so wundersam vor. Ein Blitz hatte das aufgetürmte Holz
getroffen und das Feuer entfacht! Auch bei dem Lichthammer, den er
gesehen zu haben glaubte, mochte es sich lediglich um ein Trugbild
handeln, das einzig und allein der Einbildung entsprungen war.

Ja, je länger er darüber nachdachte, desto glaubhafter erschienen

ihm die Erklärungen, die er sich selbst gegeben hatte.

Trugbilder!
Trugbilder, hervorgerufen durch den sinnesverwirrenden Singsang

der Dorfbewohner. Ja, so mußte es gewesen sein.

Die Tatsache, daß der vorgebliche Germanengott gar nicht daran

dachte, wieder am Himmel zu erscheinen, bestärkte Roland in seiner
gewonnenen Überzeugung.

Alles Humbug, alles Täuschung, alles pure Einbildung ...
Die Steinmülheimer, wie arme Sünder standen sie da, verstrickt in

ihrem Aberglauben und den verderblichen Einflüsterungen der
blutigen Gräfin.

background image

Die Gräfin war an allem schuld. Ihr mußte das finstere Handwerk

gelegt werden, je eher, desto besser.

»Macht Platz«, forderte Roland die Dorfbewohner auf. »Ich habe

Wichtigeres zu tun, als mich mit euch aufzuhalten.«

Und die Leute aus Steinmülheim waren noch so geschockt, daß sie

ergeben zur Seite traten und ihn mit dem befreiten Gauklermädchen
passieren ließen.

*

Das Mahl war beendet.

Jetzt hielt Volker vom Hohentwiel den Augenblick für gekommen,

in dem er den Preis für seinen Sieg über seinen rotbärtigen
Nebenbuhler zu kassieren gedachte.

Er erhob sich von seinem Stuhl, ging um den Tisch herum und

blieb vor der schönen Birgitta stehen.

»Komm«, sagte er mit belegter Stimme. »Du hast mir versprochen,

die Meine zu werden, wenn ich das Duell siegreich bestehe. Nun löse
dein Versprechen ein.«

Eine kleine Falte erschien auf der Stirn der Herrin von Falkenberg.

»Wie meint Ihr das, Ritter Volker?«

Volker lachte. »Ist das so schwer zu verstehen, meine Liebe? Ich

muß einer Frau wie dir doch nicht erst auf die Sprünge helfen, oder?«

Und als Birgitta immer noch keine Anstalten machte, auf ihn

einzugehen, wurde Volker deutlich. Er beugte sich nieder und legte
der herrlichen Frau die Arme um die Schulter. Mit sanfter Gewalt
versuchte er, sie hochzuziehen.

»Komm, führe mich in dein Schlafgemach«, sagte er mit jener

schmeichelnden Stimme, der so leicht keine Frau widerstehen
konnte, wie Volker aus Erfahrung nur allzu gut wußte. »Mach mich
glücklich, Geliebte, und laß mich dich glücklich machen.«

Seine schmelzenden Worte konnten Birgitta von Falkenberg

jedoch in keiner Weise beeindrucken. Eher war das Gegenteil der
Fall. Die Gräfin versteifte sich, schien plötzlich aus Stein geworden

background image

zu sein.

»Laß mich los«, zischte sie.
Verwundert hob Volker die Brauen. »Was sagst du da? Das kannst

du nicht im Ernst meinen!«

»Und ob ich es im Ernst meine! Nimm sofort deine schmutzigen

Finger von mir!«

Schmutzige Finger?
Das hatte noch niemand zu Volker gesagt. Im ersten Augenblick

war er voller Zorn. Eine Ader schwoll auf seiner Stirn. Schmutzige
Finger! Wen glaubte diese Frau vor sich zu haben?

Schon ein paar Herzschläge später aber schwand sein Ärger wieder

dahin. Er begehrte diese Frau, begehrte sie mit allen Fasern seines
Herzens und seines Körpers. Er konnte ihr nicht böse sein, war
bereit, ihr ihre unfreundlichen Worte zu verzeihen.

Sie kam ihm vor wie ein schlafender Vulkan, dessen Feuer erst

geweckt werden mußte, bevor es ausbrach. Und er war ein Mann, der
es bestens verstand, die Liebesglut in einer Frau zu entfachen.

Seine Hände lösten sich von ihren Schultern, glitten zärtlich tiefer,

berührten die Apfelbrüste unter dem weitgeschnittenen Gewand, das
sie trug.

Birgitta reagierte so, als würde eine widerwärtige Spinne über

ihren Körper wandern. Sie stieß einen Zischlaut aus, der jeder
Schlange Ehre bereitet hätte. Und wie eine giftige Otter schoß sie
dann auch von ihrem Sitz hoch und schüttelte Volkers Hände ab.

»Haderlump, du wagst es, mich zu betasten wie eine Dirne, die

sich mit den Schweinen suhlt? Keinem Manne ist es gestattet, mich
zu berühren, denn ich habe mich dem Donar geweiht!«

Volker blinzelte. »Was sagst du da? Du hast dich dem ... Donar

geweiht?«

»So ist es!«
»Soll das bedeuten, daß du noch ... Jungfrau, bist?« Volker wollte

es gar nicht glauben.

»Wie kannst du daran zweifeln, Erbärmlicher?« gab die Gräfin

zurück. »Glaubst du wirklich, ich würde mir von einem elenden

background image

Sterblichen die Unschuld rauben lassen? Diese Ehre gebührt allein
dem hehren Gott, dessen überirdische Macht mich stets beschützt.«

»Ich verstehe es nicht«, sagte Volker kopfschüttelnd. »Hast du dich

nicht dem Mann versprochen ...?«

Silberhell lachte Birgitta auf. »Ich habe mich vielen Männern

versprochen, denn ich weiß sehr wohl, daß mein Körper ein Köder
ist, dem ihr lächerlichen Mannsbilder nicht widerstehen könnt.«

»Aber warum? Warum nur? Wenn du uns ... sterbliche Männer so

sehr verabscheust ...«

»Ja, ich verabscheue euch und eure niederen, gemeinen Triebe«,

unterbrach ihn die Gräfin. »Aber ich brauche euch auch.«

»Du brauchst uns - wozu?«
»Trotz der Macht, die mir der hehre Gott als Dank für die

Jungfräulichkeit verliehen hat, bin ich nur ein schwaches Weib.
Niemals würde es mir allein gelingen, das große Ziel zu erreichen,
das ich mir gesetzt habe.«

»Welches große Ziel?«
»Du bist dumm, Volker vom Hohentwiel, dumm wie Bohnenstroh.

Hast du noch immer nicht begriffen, daß es mir darum geht, den
alten Göttern wieder den Platz in den Herzen der Menschen zu
verschaffen, der ihnen gebührt? Leider sind fast alle Menschen so
dumm und einfältig wie du. Deshalb muß man sie zwingen, zum
wahren Glauben zurückzukehren. Wie all die anderen Ritter, die ich
zu meinen gehorsamen Dienern gemacht habe, wirst auch du in
meinem Namen diesen Zwang ausüben, bis der letzte im Lande
überzeugt und bekehrt ist. Weißt du nun, warum ich dich in mein
Gemach gelockt habe?«

Eine Falle, dachte Volker. Sie hat mich und sämtliche Ritter, die in

ihren Diensten stehen, in eine Falle gelockt!

Nur eins verstand er nicht. Warum blieben die Männer alle ergeben

in der Falle sitzen, anstatt aufzustehen und dem tollen Weib zu
zeigen, wer die Hosen anhatte?

Nun, wie dem auch war, er würde gewiß nicht in der Falle sitzen

bleiben wie ein Hanswurst. Er würde die Falle sprengen und der

background image

Fallenstellerin ihre Grenzen zeigen. Und das würde ihm sogar
höchstes Vergnügen bereiten. Birgitta mochte sein, was sie wollte,
dies änderte jedoch nicht das geringste daran, daß sie eine
begehrenswerte Frau von makelloser Schönheit war. Und mochten
auch ihre Seele verrucht und ihre Gedanken böse sein, es war ein
erstrebenswertes Ziel, ihren jungfräulichen Körper zu besitzen. Und
eben die Tatsache, daß niemals zuvor die Liebe eines Mannes in sie
eingedrungen war, verlieh dem Ganzen einen ganz besonderen Reiz.

»Na warte, mein Täubchen«, sagte Volker, »ich werde dich lehren,

wer von uns beiden der Herr und wer der Sklave ist!«

Mit diesen Worten machte er einen Satz nach vorne, um nach

Birgitta zu greifen.

In diesem Augenblick sah er in ihre Augen...
Ihm war, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen, die sich

plötzlich zwischen ihm und der Gräfin aufgebaut hatte. Stocksteif
stand er da, nicht mehr fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Diese Augen!
Ein unheimliches Feuer glomm auf einmal darin, ein Feuer, das

alles zu zerschmelzen drohte, was den ritterlichen Mann Volker vom
Hohentwiel ausmachte. Seine Zuversicht, sein Eroberungswille, sein
Stolz - nichts blieb mehr davon übrig. Jetzt fühlte er sich wirklich
wie in einer Falle, aus der es kein Entkommen gab.

Verzweifelt versuchte er, dagegen anzugehen. Er versuchte, sich

der unheimlichen Kraft zu widersetzen, die Macht über ihn
gewonnen hatte. Er wollte den Blick von ihren Augen abwenden,
denn er spürte, daß es diese Augen waren, die ihn unterjochten und
versklavten. Aber er war ganz einfach nicht in der Lage, sein
Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er konnte den Blick nicht
abwenden, mußte vielmehr fortfahren, in das lodernde Feuer in
Birgittas Augen zu sehen, das mehr und mehr von seinem Ich
verschlang.

Die Gräfin lächelte jetzt. Das Lächeln adelte ihr schönes Gesicht,

und doch hatte Volker den Eindruck, geradewegs mit dem Antlitz der
Hölle konfrontiert zu werden. Alles Böse, alles Schlechte, alles

background image

Verderbte drückte sich in Birgittas Miene aus. Sie war der gefallene
Engel, von dem die Schrift kündete und vor dem sie warnte.

Diese Erkenntnis kam zu spät. Volker verlor sich selbst, verfiel der

Gräfin mit Haut und Haaren, mit Herz und Seele. Und es gab nichts,
was er dagegen tun konnte.

Birgitta kostete ihren Triumph voll aus. Es genügte ihr nicht, ihn

macht- und willenlos zu sehen. Sie wollte ihn auch demütigen, wollte
ihm ein für allemal vor Augen führen, daß seine Sklaverei eine
vollendete war.

»Tritt näher, Volker vom Hohentwiel«, kommandierte sie.
Jetzt konnte sich Volker wieder bewegen. Aber er war nicht der

Herr seiner Glieder. Die wahre Befehlsgewalt darüber übte die
Gräfin aus. Er war nur die Puppe, an deren Fäden sie zog.

Gehorsam trat er näher, bis er unmittelbar vor seiner Herrin stand.
»Knie nieder!«
Volker kniete nieder.
»Küsse meine Füße!«
Volker beugte sich nach unten, bis seine Stirn fast den Fußboden

berührte. Er spitzte die Lippen und drückte einen Kuß auf die Schuhe
der Gräfin.

Um das Maß der Demütigung vollzumachen, versetzte Birgitta ihm

jetzt einen Tritt, der ihn rücklings zu Boden streckte.

Seit langen, langen Jahren hatte Volker keine Träne mehr

vergossen. Jetzt hätte er es am liebsten getan. Aber nicht einmal dazu
war er in der Lage.

*

Ohne von den Steinmülheimern belästigt oder gar aufgehalten zu
werden, verließen Roland, die beiden Knappen und das befreite
Mädchen den Opferhain, Die junge Ilona stand noch so unter der
Wirkung des Schrecklichen, das sie durchgemacht hatte, daß sie
kaum Worte fand, sich für die Rettung zu bedanken. Aber darauf
kam es dem Ritter mit dem Löwenherzen auch gar nicht an. Ihm

background image

genügte es, daß das Mädchen seine Freiheit wiedergewonnen hatte.

Die Pferde standen noch dort, wo die drei Gefährten sie

zurückgelassen hatten. Roland stieg in den Sattel und hob die Kleine
dann zu sich herauf. Dem Abmarsch stand nichts mehr im Wege,
denn von den Steinmülheimern ließ sich nach wie vor niemand
blicken.

Bald erreichten die vier das Dorf, in dem es noch genauso totenstill

war wie zuvor. Es lag kein Grund zum Verweilen vor. Deshalb
setzten sie ihren Ritt ohne Aufenthalt fort.

Wenig später kamen sie im Lager der Spielleute an. Die Freude

und die Begeisterung des fahrenden Volks kannte keine Grenzen.
Roland wurde gefeiert und bejubelt, als hätte er das große Turnier
von Xanten zum dritten Mal hintereinander gewonnen.

Roland gab den Spielleuten noch den Rat mit auf den Weg, die

Mark Falkenberg auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Mit diesem
Vorschlag rannte er nur offene Türen ein.

»Keine Minute länger bleiben wir in diesem gottlosen Land«, sagte

der Sippenälteste. »Möge es verflucht sein bis ans Ende der Zeiten!«

Roland schüttelte den Kopf. »Das solltest du nicht sagen, mein

Freund. Im Grunde genommen sind die Menschen schuldlos an den
furchtbaren Dingen, die sie tun. Und das gilt auch für die Bauern von
Steinmülheim. Die wahre Schuldige sitzt auf dem Fürstenthron. Aber
seid guten Mutes. Vielleicht könnt ihr schon bald zurückkehren, ohne
um Leib und Leben fürchten zu müssen.«

»Wie wollt Ihr das erreichen, edler Ritter?«
»Indem ich die blutige Gräfin ganz einfach von ihrem Thron

stoße«, sagte Roland.

Daß dies allerdings nicht so einfach werden würde, wie er es sagte,

ahnte er bereits jetzt.

*

Eine weitere Nacht lag hinter Roland und seinen beiden Knappen,
die sie in einem Gasthaus verbracht hatten. Jetzt saßen sie wieder auf

background image

ihren Pferden, um das letzte Wegstück zurückzulegen.

Gegen Mittag hatten sie ihr Ziel vor Augen. Aus dem Tal konnten

sie Burg Falkenberg auf dem Gipfel des Berges liegen sehen.

»Vielleicht solltet ihr hierbleiben«, sagte Roland sinnend. »Es ist

möglich, daß mir der schwerste Kampf meines Lebens bevorsteht.
Wenn die Gräfin wirklich mit den alten Göttern im Bunde ist ... Ich
kann nicht erwarten, daß ihr euer Leben aufs Spiel setzt.«

»Wohin Ihr geht, dahin gehen auch wir«, sagte Louis beinahe

feierlich.

»Außerdem sind sechs Arme stärker als zwei.«
Pierre sagte zwar nichts, aber er nickte beifällig. Ausnahmsweise

hatte er einmal nichts zu maulen.

»Wohlan denn«, erwiderte Roland. Dann lenkte er Samun auf den

vielfach gewundenen Weg, der zur Burg hinaufführte.

Eine Weile später standen die drei vor dem Burggraben. Die

beiden Wächter, die oben auf der Mauer hin und her patrouillierten,
blickten auf die Ankömmlinge hinunter.

»Ein Ritter mit zwei Knappen?« rief er Roland an. »Ihr müßt ein

bedeutender Mann sein. Wie ist Euer Name?«

»Roland.«
»Roland, der Drachentöter?«
Bald konnte es Roland nicht mehr ertragen, ständig an seinen

siegreichen Kampf mit dem letzten Lindwurm erinnert zu werden.
Aber natürlich konnte er sich nicht dagegen wehren. Von allen
Heldentaten, die er in jüngster Zeit vollbracht hatte, war es vor allem
der Drachenkampf gewesen, der ihm landesweiten Ruhm eingetragen
hatte.

»Seid Ihr gekommen, um unsere Herrin zu freien?« wurde er

anschließend gefragt.

Freien um eine Frau, an deren Händen das Blut zahlloser

Unschuldiger klebte? Dies lag gewiß nicht in Rolands Absicht. Aber
wenn er mit einem solchen Vorsatz das Tor öffnen konnte...

»Deshalb bin ich hier, ja«, erwiderte er.
»Wartet einen Augenblick, Ritter Roland!«

background image

Der Augenblick währte ziemlich lange. Endlich wurde dann die

Zugbrücke hinuntergelassen. Roland und seine beiden Gefährten
konnten auf den Burghof reiten.

Mehrere Ritter nahmen die Ankömmlinge in Empfang. Während

Pierre und Louis ein Quartier im Gesindeteil der Burg zugewiesen
wurde, tat man Roland die Ehre an, gleich bei der Landesherrin
vorgelassen zu werden.

Bald stand er der Gräfin gegenüber. Und ob er wollte oder nicht, er

war beeindruckt von ihrer strahlenden Schönheit. Ganz entgegen
seinen Absichten verspürte er den dringenden Wunsch, mit dieser
Frau das Lager zu teilen und dabei alles zu vergessen, was zwischen
ihm und ihr stand.

Birgitta schien ähnliche Gedanken zu haben. Das Lächeln, das sie

ihm schenkte, war schon mehr als ein Versprechen.

Ein kühner Gedanke keimte in Roland auf. Wenn er sich wirklich

darum bemühte, der Mann an ihrer Seite zu werden, hatte er da nicht
die besten Chancen, ihren Umtrieben ein schnelles Ende zu bereiten?

Ja, dies war ohne jeden Zweifel ein Weg, der es wert war,

begangen zu werden.

Ohne lange zu überlegen, machte Roland der Gräfin einen Antrag.

Er verwendete dabei nicht die gesetztesten Worte, denn er war kein
Mann der schönen Rede. Dennoch nahm Birgitta seinen Antrag mit
sichtlichem Wohlwollen auf.

»Der Ruhm Eures Namens ist auch nach Falkenberg gedrungen,

Ritter Roland«, sagte sie mit einem holdseligen Lächeln, das so gar
nicht dem düsteren Bild entsprach, das sich Roland bisher von ihr
gemacht hatte. »Es wäre mir ein Vergnügen und eine große Freude,
meinen Thron mit Euch teilen zu dürfen. Aber ich muß auf das Wohl
meines Landes bedacht sein. Meine treuen Untertanen würden es mir
niemals verzeihen, wenn ich einen Mann erwählen würde, der meiner
nicht wirklich würdig ist.«

»Was muß ich tun, um mich als würdig zu erweisen?« wollte

Roland wissen.

»Ihr müßt unter Beweis stellen, daß Ihr wirklich ein solcher Held

background image

seid, wie man Euch nachsagt. Denn woher sollte ich sonst wissen,
daß der Edle, den ich bisher auserkoren habe, nicht doch würdiger
ist, als Ihr es seid?«

»Und wer ist der Mann, mit dem Ihr meine Tugenden vergleicht?«

fragte Roland.

Die Antwort gab nicht die Gräfin, sondern der Ritter, der

unvermutet hinter einem Vorhang hervortrat.

»Ich bin der Mann«, sagte Volker vom Hohentwiel.

*

Selten zuvor hatte sich Roland so unwohl in seiner Haut gefühlt.
Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Kampf auszufechten, zu dem
inzwischen alle Vorbereitungen getroffen waren: der Kampf gegen
seinen besten Freund Volker.

Es ist verrückt, sagte er immer wieder zu sich selbst, vollkommen

verrückt!

Aber er war sich dabei ziemlich sicher, daß die Verrücktheit nicht

von ihm, sondern von Volker ausging. Von Anfang an hatte ihn sein
ehemaliger Gefährte nicht mehr als Freund angesehen. In seinen
düsteren Augen, die das Lachen verlernt zu haben schienen, hatte
nichts als offenkundige Feindschaft gestanden. Ja, Volker war
geradezu versessen darauf gewesen, das Duell um die Gunst der
Gräfin mit ihm auszutragen. Roland wäre kein Mann gewesen wenn
er sich geweigert hätte, die Herausforderung anzunehmen.

Sein Gefühl sagte ihm jedoch, daß irgend etwas nicht mit Volker

stimmte. Irgend etwas war ihm widerfahren, das sein ganzes Wesen
verändert hatte. So, wie sich Volker jetzt gab, hatte Roland ihn in der
Vergangenheit niemals erlebt.

Was war schuld an der Verwandlung des Freundes? Roland wußte

es nicht mit Sicherheit zu sagen. Er ahnte allerdings, daß die schöne
Birgitta irgendwie ihre Finger mit im Spiel haben mußte.

Wie dem auch war - der Kampf würde stattfinden. Es gab kein

Zurück mehr.

background image

Roland saß bereits auf seinem Samun. Er hatte seine volle Rüstung

angelegt und hielt die Lanze in der Hand.

Auch Volker vom Hohentwiel hatte seine Kampfposition auf der

anderen Seite des Burghofs bezogen. Die beiden Ritter warteten nur
noch auf das Zeichen der Gräfin, um mit dem Duell zu beginnen.

Dann kam das Signal...
Unverzüglich preschte Roland los, die Lanze zum Stoß erhoben. Er

hatte gewiß nicht vor, den Mann, den er im stillen noch immer als
seinen Freund ansah, ernstlich zu verletzen. Aber er beabsichtigte
auch nicht, den Kampf zu verlieren. Zwei Gründe waren es, die ihn
nach dem Sieg streben ließen. Einmal ging es um Birgitta. Und zum
zweiten vertrug es sich nicht mit seiner Ritterehre, daß eine
Niederlage an sein Banner geheftet wurde.

Auch Volker hatte sein Reittier angespornt und jagte der Mitte des

Burghofs entgegen.

Die Zuschauer links und rechts von der Kampfbahn hielten den

Atem an, als die beiden Kämpfer nur noch zwei, drei Pferdelängen
voneinander getrennt waren.

Noch wenige Herzschläge, dann ...
Gänzlich unerwartet sah sich Roland einer Attacke ausgesetzt, mit

der er ganz bestimmt nicht gerechnet hatte.

Irgend etwas klatschte gegen sein Visier - Sand oder kleine Steine,

dem Geräusch nach zu urteilen.

Volker, was tust du? schoß es ihm verblüfft und voller Abscheu

durch den Kopf. Daß der ehemalige Freund zu solchen hinterhältigen
Mitteln greifen würde, hätte er sich niemals träumen lassen.

Die Wirkung der Attacke blieb nicht aus. Durch die Sichtschlitze

waren zahllose Sandkörner in den Helm eingedrungen, die sich
sofort in den Augen festsetzten.

Roland konnte nichts dagegen tun, er mußte die Augen zumachen.

Genau darauf war es Volker vom Hohentwiel natürlich
angekommen. In dem Moment, in dem die beiden Reiter auf einer
Höhe waren, konnte Roland nichts sehen. Es war sinnlos, in dieser
Situation mit der Lanze zuzustoßen. Kein blinder Jäger war in der

background image

Lage, eine Flugente vom Himmel zu holen.

Ganz anders hingegen Volker. Seine Lanze schnellte wuchtig und

zielbewußt auf Roland zu.

Und der ehemalige Freund traf gut. Der Lanzenstoß erwischte

Roland zwischen Harnisch und Helm, hakte sich dort irgendwo fest.

Es war nicht allein die Wucht des Stoßes, die Roland zu schaffen

machte. Viel schwerwiegender war die Tatsache, daß er durch die
festsitzende Lanzenspitze beinahe aus dem Sattel gerissen wurde.
Roland glaubte sich bereits verloren, da rutschte Volkers Lanze doch
noch ab und gab ihn frei.

Schweratmend erreichte Roland die gegenüberliegende Seite des

Burghofs. Es konnte noch keine Rede davon sein, daß sich seine
Sehschwierigkeiten entscheidend verbessert hatten. Der Sand saß
noch immer in seinen Augen, und da er wegen des Helms nicht die
Möglichkeit hatte, ihn herauszureiben, würden die Schwierigkeiten
auch noch während der nächsten Kampfrunde andauern. Roland
konnte nur blinzeln und sich dabei lediglich ein ungefähres Bild von
seiner Umgebung machen.

Dennoch, es half nichts. Der Ritter mit dem Löwenherzen mußte

seinen Samun wenden und sich Volker zum zweiten Vorbeiritt
stellen.

Wieder jagten die beiden Kämpfer aufeinander los, Roland stark in

seiner Kampfkraft behindert, Volker siegesbewußt und im Vollbesitz
seiner Kräfte.

Und abermals war Roland nicht in der Lage, einen kontrollierten

Stoß anzubringen. Er sah Volker und sein Pferd nur als einen
Schemen, der in diesem Moment da war, im nächsten aber wieder
verschwand.

Die Attacke, die Volker diesmal startete, war kaum weniger

hinterlistig als beim ersten Mal. Jetzt zielte er mit der Lanzenspitze
auf Rolands Augenschlitz.

Erst im allerletzten Sekundenbruchteil erkannte Roland die

tödliche Gefahr.

Gerade noch rechtzeitig ...

background image

Blitzschnell machte er eine seitliche Kopfbewegung, so daß die

Lanzenspitze nicht in den Visierschlitz eindringen konnte, sondern
nur eine geschützte Stelle traf.

Gleichzeitig ging er zur Gegenattakke über. Er ließ seine eigene,

unter den obwaltenden Umständen recht nutzlose Lanze los und griff
statt dessen nach Volkers Waffe. Trotz seiner beschränkten
Sichtmöglichkeiten gelang es ihm, die Lanze mit fester Hand zu
packen.

Wilder Zorn wallte in ihm. Volker hatte hemmungslos versucht,

ihn zu töten, hatte die Gesetze des ritterlichen Duells abermals auf
das schwerste mißachtet. Und das gegen einen Mann, den auch er
einst als seinen Freund angesehen hatte.

Mit aller Kraft, die in ihm steckte, riß Roland an der Lanze. Volker

reagierte ein bißchen zu langsam, ließ die Lanze ein bißchen zu spät
los.

Die Zugkräfte, die durch die wieder auseinanderstrebenden Pferde

hervorgerufen wurden, wirkten sich verhängnisvoll für ihn aus.
Ruckartig wurde er aus dem Sattel gerissen und schlug schwer auf
dem Boden des Burghofs aus.

Der vielstimmige Aufschrei der Zuschauer sagte Roland, daß er

den Kampf trotz aller Widrigkeiten siegreich beendet hatte. Aber es
war ein Sieg, über den er sich nicht freuen konnte. Er hatte den Mann
in den Staub gezwungen, mit dem er schon so manches gefahrvolle
Abenteuer bestanden hatte, der ihm stets ein guter, ja, sein bester
Freund gewesen war.

Und er sah Volker auch jetzt noch als Freund!
Die Zurufe der Zuschauer nicht beachtend, hielt er sein Pferd an

und schwang sich aus dem Sattel. Statt sich von Birgitta, der
Schirmherrin des Duells, Glückwünsche aussprechen zu lassen, ging
er dorthin, wo Volker auf dem Boden lag, und beugte sich über ihn.
Blinzelnd blickte er auf den Freund hinunter.

»Volker, kannst du mich hören?«
Der gefallene Ritter war von dem Sturz noch ganz benommen.

Mühevoll hob er den Kopf.

background image

»Roland!«
Der Ritter mit dem Löwenherzen sah noch immer nicht sonderlich

gut, aber sein Gehör hatte nicht gelitten. Ihm entging nicht, daß
Volkers Anrede nicht feindselig und haßerfüllt klang. Er hatte
vielmehr den Eindruck, daß eine gewisse Traurigkeit angeklungen
war.

Und in dieser Überzeugung sah er sich nicht getäuscht.
»Es tut mir unendlich leid, mein Freund«, sprach Volker weiter.

»Ich weiß gar nicht...«

»Geht es dir gut?« unterbrach ihn Roland. »Bist du ernstlich

verletzt?«

»Nein, ich glaube nicht. Aber das spielt jetzt auch keine Rolle. Ich

muß dir etwas erklären, Roland.«

»Nicht jetzt. Wir können später ...«
»Nein, es ist zu wichtig«, widersprach Volker. »Du mußt sofort

Bescheid wissen, damit es dir nicht ebenso ergeht wie mir. Birgitta
ist eine Teufelin, der unbedingt das Handwerk gelegt werden muß.
Sie hatte mich regelrecht... verhext, hatte mich zu einem willenlosen
Sklaven gemacht. Ich war nicht mehr ich selbst und tat Dinge, die
mir sonst niemals eingefallen wären. Erst als ich vom Pferd stürzte
und auf dem Boden aufschlug, fand ich wieder zu mir selbst zurück.
Der Schlag gegen den Kopf muß etwas in meinem Gehirn bewirkt
haben, was es mir ermöglichte, den unheimlichen Bann der Gräfin
abzuschütteln. Paß auf, mein Freund. Um mit der Teufelin fertig zu
werden, mußt du folgendes tun ...«

Mit äußerster Aufmerksamkeit hörte Roland zu.

*

Und wieder gab die Gräfin von Falkenberg ein festliches Mahl zu
Ehren des Siegers.

Es war genauso köstlich, wie es Roland nach der Schilderung

seines Freundes erwartet hatte. Und der Ritter mit dem Löwenherzen
langte ordentlich zu. Der Kampf mit Volker hatte ihn einiges an

background image

Kraft gekostet, und er war rechtschaffen hungrig. Außerdem war er
einem guten Bissen und einem prächtigen Tropfen niemals abgeneigt
gewesen.

Wenn ihm nicht allzu gut bekannt gewesen wäre, daß Birgitta ein

böses Weib war, das ihre teuflische Natur hinter einer schönen Larve
verbarg, hätte er dem Beisammensein mit ihr durchaus einiges
Vergnügen abgewinnen können. Er wäre kein richtiger Mann
gewesen, wenn ihn die fraulichen Reize Birgittas unbeeindruckt
gelassen hätten. Von einem Körper wie dem ihren mußte ganz
einfach ein jeder träumen, dessen Lenden noch nicht erkaltet waren.

Auch die Art und Weise, in der sie plauderte und dabei eine

ungeahnte Schärfe des Geistes offenbarte, gefiel ihm. Ja, sie war von
ihrer Natur her die geborene Fürstin, auch wenn sie den Gerüchten
nach in einer nordländischen Holzfällerhütte das Licht der Welt
erblickt haben sollte. Schade war nur, daß ihr Bestreben, der Macht
des Bösen zum Sieg zu verhelfen, ihre unbestreitbaren Vorzüge null
und nichtig machte. Eine Frau wie sie hatte ganz einfach nicht das
Recht, ein Land zu regieren und dem Volk ihren unheiligen Willen
aufzuzwingen. Nicht eine einzige Sekunde wurde Roland in seinem
Beschluß schwankend, ihrer Herrschaft ein Ende zu bereiten.

Ahnte sie bereits, daß er etwas plante, was ihr zum Verhängnis

werden würde?

Nein, es sah nicht so aus. Sie fühlte sich ganz als Fürstin, die sich

huldvoll dazu herabgelassen hatte, mit einem zukünftigen Sklaven zu
plaudern und sich dabei ein Bild über seine Nützlichkeit zu machen.

Nun, sie sollte ihr blaues Wunder erleben ...
Das Mahl neigte sich seinem Ende entgegen. Der Augenblick des

Handelns kam näher und näher.

Es lag Roland viel daran, daß er diesen Augenblick bestimmen

konnte. Wenn Birgitta ihrerseits die Initiative ergriff und ihn
überraschte, war alles verloren.

Dazu wollte es der Ritter mit dem Löwenherzen nicht kommen

lassen. Es wurde Zeit...

Wie unbeabsichtigt stieß er mit einer scheinbar ungeschickten

background image

Handbewegung seinen Weinbecher vom Tisch. Mit erschrockenem
Gesichtsausdruck sprang er auf.

»Ich bitte um Vergebung, Gräfin. Denkt bitte nicht, daß ich ein

geborener Tölpel bin.«

Er ging in die Knie, scheinbar mit der Absicht, den Pokal vom

Boden aufzuheben. Auf diese Weise kam er höchst unauffällig bis
auf zwei Ellen an Birgitta heran.

Und er nutzte die Gelegenheit gut. Ehe es sich die Gräfin versah,

hatte er sich wieder aufgerichtet und stand im nächsten Moment
hinter ihrem Stuhl.

Die Gräfin zuckte leicht zusammen.
»Was soll das bedeuten, Ritter Roland?« fragte sie nicht ohne eine

gewisse Schärfe.

Sie wollte den Kopf wenden, aber dazu ließ es Roland gar nicht

erst kommen. Er hatte eine Hand in ihr goldfarbenes Haar geschoben
und hielt ihren Kopf so fest, daß sie ihn lediglich um wenige Zoll
bewegen konnte.

»Was tut Ihr, Ritter?«
Roland lachte leise. Mit Leichtigkeit hinderte er sie daran, sich

seinem Griff zu entziehen.

»Was ich tue?« sagte er. »Nun, ich sorge dafür, daß du mich nicht

mit deinen teuflischen Augen ansehen kannst, um mich wie alle
anderen zu deinem ergebenen Diener zu machen, meine kleine
Hexe!«

Er gab sich nicht mehr die Mühe, die Form zu wahren und sie als

Fürstin anzusprechen. Er hatte den Würfelbecher hochgehoben. Die
Augenzahlen lagen auf dem Tisch.

Das erkannte auch Birgitta. Ein leichtes Beben ging durch ihren

schönen Körper.

»Nun gut, Bube«, stieß sie hervor. »Du kennst also das Geheimnis

meiner Macht. Was gedenkst du jetzt zu tun? Auf ewig wird es dir
kaum gelingen, meinem Blick auszuweichen.«

»Ich könnte dich töten, kleine Hexe!«
»Das wagst du nicht! Meine Getreuen würden dich in Stücke

background image

reißen. Und außerdem ...«, sie ließ ein überhebliches Lachen ertönen,
»... verträgt es sich nicht mit deiner albernen Ritterehre, eine
wehrlose Frau umzubringen.«

Roland hatte es schon gewußt: Birgitta war sehr scharfsinnig. Sie

kannte ihn kaum, und doch war es ihr bereits gelungen, ihn ziemlich
richtig einzuschätzen. Nein, es würde ihm in der Tat niemals
einfallen, eine Angehörige des schönen Geschlechts zu töten. Frauen
waren nicht für den Tod, sondern für etwas ganz anderes bestimmt ...

»Sei unbesorgt«, sagte er, ohne seinen Griff zu lockern, »dein

Leben ist nicht in Gefahr. Ich werde deine Macht auf andere Weise
brechen!«

»Und wie?«
»Indem ich dir deine jungfräuliche Unschuld raube, die du deinem

Gott geweiht hast!«

Ein unterdrückter Aufschrei entrang sich Birgittas Kehle. Dieser

Aufschrei bestätigte Roland, daß er genau ins Schwarze getroffen
hatte. Nur ihre Jungfräulichkeit sicherte ihr die Gunst des
Donnergottes mit dem Hammer. Wenn sie erst einmal eine Frau wie
tausend andere war, würde sie die unheimliche Macht ihrer Augen
verlieren. So hatte es Volker jedenfalls verstanden. Und so schien es
auch zu sein.

»Laß mich los«, keuchte die Gräfin, die ihre offenkundige Angst

jetzt nicht mehr verbergen konnte. »Du weißt nicht, wen du vor dir
hast!«
»Und ob ich das weiß«, erwiderte Roland leichthin. »In meinen
Augen bist du eine Hexe - noch! Aber das wird sich gleich ändern.
Mit der freien Hand zog er ein Tüchlein aus undurchsichtigem
Leinen hervor und schlang es der Frau um die Augen. Im
Handumdrehen hatte er es so fest verknotet, daß es nicht rutschen
konnte. Natürlich wollte Birgitta sofort nach dem Tuch greifen. Aber
Roland war wachsam und band mit einem anderen Tuch auch noch
ihre Hände zusammen. Er zog die Gräfin von ihrem Stuhl hoch. Sie
schrie und strampelte und versuchte auch, ihn zu beißen. Es war alles
vergebliche Mühe. Roland gab ihr keine Chance. Kurz darauf hatte

background image

er sie in das benachbarte Schlafgemach gezogen und auf das breite
Bett gelegt. Mit kundiger Hand entkleidete er sie, bis sie in ihrer
ganzen unvergleichlichen Schönheit nackt vor ihm lag. Anschließend
legte er seine eigenen Kleider ab und schlüpfte zu ihr auf das Bett.
Noch einmal versuchte Birgitta, sich zu wehren. Dann aber, als sie
die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen einsah, gab sie auf. Ganz
still lag sie da, und als Roland anfing, sie mit Lippen und Händen zu
liebkosen, entspannte sich ihr verkrampftes Gesicht sogar. Bisher
hatte sie niemals die Köstlichkeit der Liebe erfahren. Fast schien es
Roland so, als habe sie insgeheim schon lange auf den Augenblick
gewartet, in dem ihr Jungfrauendasein enden sollte. Roland ließ sich
Zeit, ihre Lust und seine eigene zu steigern. Dann, als er das Gefühl
hatte, daß Birgitta bereit war, ihn zu empfangen, legte er sich auf sie
und drang behutsam in sie ein. Die Gräfin stöhnte leise auf, als seine
Männlichkeit ihre Unschuld zerstörte. Aber Roland war sich nicht
ganz sicher, ob es ein Stöhnen der Entsagung oder der Erleichterung
war. Als der erste Akt des für Birgitta so neuen Spiels zu Ende war,
wagte es Roland, ihr Augentuch zu lösen. Unwillkürlich hielt er den
Atem an, als sie ihn ansah. Aber da war nichts zu sehen von dem
unheiligen Feuer, das ihm Volker mit so warnender Eindringlichkeit
beschrieben hatte. Es bestand kein Zweifel mehr: Die unheimliche
Macht, die Birgitta über die Menschen besessen hatte, war
dahingeschwunden. Irgendwo in weiter Ferne glaubte Roland, ein
polterndes Lachen zu hören. Er kannte dieses Lachen. Zuletzt hatte
er es gehört, als der Scheiterhaufen des Gauklermädchens Ilona
Feuer fing.

ENDE

background image

Im Westen brodelte Unruhe.
Wehte der Wind von See, roch es nach Brand. Am Tage
hingen leichte Rauchschleier zwischen Himmel und Erde.
Nachts ging der Mond auf wie gelber Hauch.
In Camelot, Schloß und Land, bereiteten sie das Jubiläum vor.
Sie hatten für nichts anderes Interesse als für König Artus'
Ehrentag.
Bis zu jenem Abend.
Da erreichte ein Läufer mit dem letzten Licht die Waldringe vor
dem Schloß. Der große, kräftige Mann war bis auf ein Fell um die
Lenden nackt. Er wankte und kam mehr taumelnd als laufend
voran. Der Stumpf eines Pfeiles ragte aus seinem Rücken.
Keuchend rief er:

Camelot in Piratenhand

Liebe Ritter-Freunde, diesen packenden Abenteuer-Roman
von Götz Altenburg bekommen Sie in 14 Tagen bei Ihrem
Zeitschriftenhändler. DM 1,60


Wyszukiwarka

Podobne podstrony:
Ritter Roland 30 Ekkehart Reinke Die Schlacht um Camelot
Ritter Roland 10 Joachim Honnef Die Siegesfeier der Banditen
Ritter Roland 25 Joachim Honnef Die Bluthochzeit
Ritter Roland 04 Ekkehart Reinke Die Wikinger kommen
Ritter Roland 16 Joachim Honnef Die Bärenfalle
Ritter Roland 06 Günther Herbst Die geteilte Herzogskrone
Ritter Roland 22 Günther Herbst Die Blutbestie
Ritter Roland 27 Günther Herbst Das Duell um die Grafentochter
Ritter Roland 12 Günther Herbst Die verstoßene Herzogstochter
Ritter Roland 20 Günther Herbst Die Jagd nach dem Schwarzen Stein
Marion Zimmer Bradley Darkover 14 Die Blutige Sonne
Ritter Roland 11 Günther Herbst Bauernaufstand
Ritter Roland 19 Günther Herbst Der Racheschwur
Die sieben größten Rätzel der Wissenschaft
Ritter Roland 24 Joachim Honnef Verrat!
Ritter Roland 09 Götz Altenburg Der falsche König Artus
Ritter Roland 18 Joachim Honnef Hochzeit mit dem Mordgesellen
Ritter Roland 17 Götz Altenburg Hassos wilde Horde
Ritter Roland 13 Joachim Honnef Das rothaarige Luder

więcej podobnych podstron