Ritter Roland 05 Ekkehart Reinke Calibans Goldschatz

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Calibans Goldschatz

von Ekkehart Reinke

scanned by : horseman

kleser: Larentia

Version 1.0

Am Waldrand erschien ein Zweiergespann, das eine
rotbemalte Kutsche zog. Der Kutscher warf scheue Blicke
in alle Himmelsrichtungen, dann lenkte er das
schwerbeladene Gefährt in eine düstere Senke.

»Was hast du?« fragte sein junger Begleiter. »Wir

nähern uns einem verrufenen Ort«, gab der andere zurück.
»Sie nennen ihn den Hexentanzplatz.« Schwerfällig
mahlten die Räder der Kutsche durch den grauen Sand.
Wind pfiff durch das Gebüsch. Die letzten Strahlen der
Abendsonne blendeten.

»Ich glaube zwar nicht an derlei Ammenmärchen«, sagte

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der jüngere Mann auf dem Kutschbock keck. »Aber gäbe
es Hexen, so wollte ich sie gern tanzen sehen. Natürlich
keine alten, sondern frische junge Hexlein!«

Die Männer sollten keine Hexen tanzen sehen, sondern

blinkende Schwerter. Jetzt ging es für sie ums Überleben.

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Wie Gespenster brachen die Zwei aus dem Busch. Aber sie ritten auf
Pferden von Fleisch und Blut, und sie selber waren auch höchst
lebendig. Brustharnisch und Helm umschlossen die Leiber der
Reiter. Im Galopp fegten sie heran.

»Da siehst du, was für eine Unke du bist«, rief verächtlich der

Jüngere auf dem Kutschbock. »Du mit deinen Hexen! Hier kommen
uns zwei edle Ritter entgegen, Beschützer der Armen und
Schwachen ...«

»Vorsicht!« mahnte der Ältere. »Warum haben die edlen Herren

wohl ihre Visiere geschlossen? Und warum schwenken sie die
blanken Schwerter? Ich fürchte, sie führen Böses im Schilde.«

Da mußte er auch schon die Kutschpferde zügeln, um einen

Zusammenstoß zu vermeiden. Mit hartem Ruck kam das Gefährt
zum Stehen. Gebannt sahen die Männer auf dem Bock den Rittern
entgegen.

Der vordere war ein hochgewachsener Mann, der einen

Rapphengst mit einigen weißen Blessen ritt. Blondes Haar stahl sich
unter dem Helm hervor. Im Schein der letzten Abendsonne glänzte es
golden. Ihm folgte ein kleinerer Reiter mit beträchtlichem
Leibesumfang.

Der blonde Ritter packte den Kutscher an der Joppe und riß ihn

vom Sitz. »Herunter mit euch!« Die Stimme klang wie Metall.
»Wird's bald? Soll ich euch Beine machen?« Drohend schwang er
die blitzende Klinge.

Die beiden sprangen hurtig vom Bock in den gelben Heidesand,

jeder nach seiner Seite. Unschlüssig und beklommen standen sie da,
bis der Ritter sie anfuhr: »Werft euch zu Boden!«

Sie taten es.
»Nicht so! Dreht euch auf den Bauch! Und die Nasen ins Erdreich

gedrückt! So ist's recht. Ihr lernt rasch. Nun denkt an eure Sünden,
rührt euch nicht und schließt die Augen - sonst wird euch ein
anderer, Gevatter Tod nämlich, bald die Augen für immer
schließen!«

Zitternd lagen die Kutscher im Sand und gaben keinen Mucks von

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sich. Indessen ritt der große Mann weiter. Vor ihm öffnete sich der
Kutschenschlag. Ein bärtiges Männergesicht lugte heraus. »Warum,
zum Teufel, wird hier gehalt...«

Die Hand des Ritters schoß vor, faßte den Bart und zog daran. Der

Gepeinigte schrie laut auf. Er wurde aus der Kutsche gezerrt und fiel
draußen auf die Knie.

»Alle heraus!« dröhnte die metallisch klingende Stimme hinter

dem geschlossenen Visier.

Wenig später standen die Insassen - zwei Männer und zwei Frauen

- verstört im Freien. Ängstlich wanderten ihre Blicke zwischen den
reglos liegenden Kutschern und Reitern, deren Gesichter nicht zu
erkennen waren, hin und her. Die letzten Sonnenstrahlen verlöschten.
Urplötzlich kroch ein kalter Schauder über die Erde. Rot glühte es
am Himmel. Die Damen fröstelten. Eine begann zu weinen.

»Machen wir es kurz!« sagte der Ritter schneidend. »Die Herren

händigen uns ihre Geldkatzen aus, die Damen ihren Schmuck.«

»Das ist unverschämter Straßenraub!« empörte sich der Bärtige.

»Ihr solltet Euch schämen! Wie können Ritter sich zu so
unwürdigem Tun hergeben!«

Er wollte noch weitersprechen, aber da traf ihn der Knauf eines

Schwertes am Ohr. Er stieß einen lauten Schrei aus. Seine Hand fuhr
in den Rock aus teurem Stoff. Wenig später händigte er, mißmutig
und kleinlaut, seine reichgefüllte Geldkatze aus.

Sein Begleiter folgte diesem Beispiel. Dabei murmelte er etwas,

das niemand verstand. Es klang wie: »Elender Ritter!«

»Sagtest du etwas?« fragte der Ritter drohend.
»Ich sagte: Möge das Geld euch nützen!«
»Gut gesprochen!« Schon streckte der Ritter die Hand nach den

Halsketten und Ringen der Damen aus. Jetzt schluchzten beide.
Ungerührt nahm er den Schmuck entgegen. Ohne weiteren Verzug
wendeten die beiden Berittenen und sprengten davon. Eine
Staubwolke bildete sich und sank lautlos zu Boden. Die Kutscher
standen auf, klopften sich die Kleider ab und schauten betreten
umher.

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Die Raubritter aber waren verschwunden, wie sie erschienen waren

- ein Spuk.

»Habt Ihr den Schild des Ritters gesehen?« fragte der jüngere

Kutscher erregt.

»Was war mit ihm?«
»Er zeigte ein Wappen - einen Würfel mit einem einzigen Auge.«
Der Passagier mit dem Bart ließ sein blutendes Ohr los und faßte

sich an die Stirn. »Gut beobachtet, Bursche! Es paßt zu dem übrigen.
Der Ritter war hochgewachsen, blond und saß auf einem
Rapphengst.«

»Was bedeutet das alles?« fragte eine Dame.
»Der Mann, der uns ausplünderte, war Ritter Roland! Roland, den

alle für einen untadeligen jungen Helden halten, ist nichts anderes als
ein erbärmlicher Strauchdieb!«

*

Zwei Tage später lagerte zur Mittagszeit eine Gruppe reisender
Kaufleute auf einer Wiese, durch die sich ein schmaler, aber
lebhafter Bach schlängelte. Nach einem herzhaften Mahl vom
mitgeführten Proviant hatten sich die Herren zu einem Schläfchen im
milden Herbstsonnenschein ausgestreckt.

Plötzlich fielen zwei große Schatten über sie. Die Herren

erwachten. Mitten unter ihnen saßen hoch zu Pferde zwei Ritter. Der
Größere von ihnen deutete auf mehrere Ballen sehr guten Stoffes und
fragte: »Wieviel verlangt ihr für diese Ware, Leute?«

Die Kaufleute steckten die Köpfe zusammen und berieten sich

flüsternd. Dann sagte der, den sie zum Sprecher erwählt hatten: »Für
100 Dukaten sollen diese Stoffe Euer sein!«

»100?« wiederholte der große Ritter. »Das ist wohlfeil. Da braucht

man nicht länger zu handeln.« Und er befahl seinem kleinen,
ziemlich beleibten Begleiter, den er Pierre nannte, die ausgesuchten
Stoffballen auf das mitgeführte Packpferd zu verladen. Die beiden
jüngsten Kaufleute beeilten sich, ihm dabei zur Hand zu gehen, so

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daß die Arbeit in kürzester Zeit erledigt war.

Danach bedankte sich der große Ritter bei allen Kaufleuten für den

angenehmen Verlauf des Handels, wünschte ihnen eine gute Reise
und weitere vorteilhafte Geschäfte und schickte sich an, dem bereits
wegreitenden Gefährten zu folgen.

Doch die Kaufleute stellten sich ihm in den Weg. »Herr, Ihr

vergaßt zu zahlen!« Erst jetzt fiel ihnen auf, daß beide Ritter zu
keiner Zeit ihr Visier gelüftet hatten und ihre Gesichter deshalb
verborgen geblieben waren.

»Ist das so?« entgegnete der Ritter. »Wie unbesonnen ich war!

Verzeiht mir, ich hole es nach. 100 habt ihr verlangt, nicht wahr?
Und 100 sollt ihr bekommen. Ich zahle bar, und ich zahle in meiner
eigenen Münze.«

Damit hob er die Lanze und drosch mit dem eisernen Schaft auf

den nächststehenden Kaufmann ein. Dabei zählte er laut die
grausamen Schläge mit, als zähle er Golddukaten auf dem Tische ab.
Bei sieben aber brach der bedauernswerte Mann zusammen. Die
harten Schläge hatten ihm das Schultergelenk gebrochen.

Keinen Blick verschwendete der Raubritter an den hingestreckten

Körper des Verletzten. Vielmehr spornte er seinen Rappen, um
dessen Kameraden zu verfolgen. Sie rannten in schierer Angst wie
gejagtes Wild nach vielen Seiten davon. Laute Schmerzensschreie
verkündeten, daß er noch hier und da einen erreichte und »bezahlte«.

Doch bald wurde er der Verfolgungsjagd müde, und beim 16.

Schlag stellte er sie ein. Weit dröhnte seine metallische Stimme
durch das Tal. Sie drang, gut zu verstehen, auch an die Ohren der
Fliehenden.

»Warum rennt ihr denn vor eurem Schuldner davon?« rief er mit

ätzendem Spott. »Paßt euch meine Münze nicht? Dabei sind meine
Spezialdukaten viel wertvoller als die gemeine Feld-, Wald- und
Wiesenmünze. Von der hält doch schon jeder Bauer ein paar Stück in
der Matratze versteckt. Und mancher Landstreicher hat ein Exemplar
im Halstuch verknotet. Seht nur - unter dem Gewicht von nur sieben
meiner Dukaten ist euer Kamerad bereits zusammengebrochen.

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Bleibt stehen, damit ich euch voll auszahlen kann - denn ich zahle
gern!«

Doch nur umso eiliger entfernten sich die geängstigten Männer.
»Nun denn, nachlaufen will ich euch nicht«, beschloß der Ritter.

»Zu seinem Glück soll man niemand zwingen, heißt es. Wo der
Gläubiger Reißaus nimmt, da erlischt jede Schuld.« Sprach's, riß sein
Pferd herum und folgte dem Reiter mit dem Packpferd. Bald war er
verschwunden.

Nach geraumer Zeit wagten sich die Kaufleute wieder an den Ort

des unglückseligen Handels zurück. Grau im Gesicht, standen sie um
den verwundeten Kameraden, der jämmerlich stöhnte. Einer, der sich
auf Wundpflege verstand, richtete ihm mit Ästen und Leinen einen
Verband.

Ihr Sprecher aber sagte in ohnmächtigem Zorn: »Weh dir, falscher,

verräterischer Roland! Wir haben dich gar wohl erkannt - an Schild,
an Gestalt und am Roß. Auch nanntest du unbesonnen den Namen
deines Knappen Pierre! Weh dir, der du dich als Drachentöter feiern
läßt, während du in Wahrheit das schändliche Gewerbe des
Raubgesellen betreibst!«

*

Die Gerüchte wanderten mit dem leichten Fuß des Boten, der kundig
die Gebirge überschreitet - und mit dem raschen Galopp des Reiters
über die offene Ebene.

Die Neider, die das schnelle Anwachsen von Rolands Ruhm

mißgünstig beobachtet hatten, begannen zu triumphieren. Die
meisten Ritter aber waren betroffen und traurig. Jedes Verbrechen,
das einer ihres Standes beging, beschmutzte auch den eigenen
Wappenschild.

In den Burgen wuchs die Unruhe.
Schwer trafen die üblen Nachrichten Rolands Freunde. Wie ein

Pesthauch vergifteten sie die Luft in der Aue, wo Percy Heißblut auf
seiner schmucken kleinen Feste eine Schar Ritter gastlich

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willkommen hieß.

Noch nie hatten die Wände der rauchgeschwärzten Halle an den

Abenden, da der Weinkrug kreiste, so viele derbe Flüche
vernommen! Rolands Untaten mußte Einhalt geboten werden. Und
sie durften nicht ungesühnt bleiben. Darüber waren die Gäste sich
einig.

Der abwesende Übeltäter wurde herzhaft verwünscht. Niemand tat

sich dabei mehr hervor als der Graukopf Odoaker.

Am liebsten hätte sich Percy, der Gastgeber, die Ohren zugestopft.

Jedes Wort gegen den Mann, der ihn bei den Wikingern vorm
Hängetod bewahrt hatte, schnitt ihm wie ein Messer ins Herz. Eine
Stunde nach Mitternacht hielt er es nicht mehr aus.

Mit den Fäusten hämmerte er auf die schweren Bohlen der

eichenen Tafel, daß Krüge umstürzten, Wein verschüttet ward und
alle Gespräche verstummten.

»Wer unter diesem Dach«, rief Percy, »noch weiter die Stimme

gegen Roland erhebt, den fordere ich zum Waffengang! Denn wer
Rolands Ehre schmäht, schmäht auch die meine! In einer Woche
treffe ich ihn am geheimen Ort. König Artus' Tafelrunde hat ihm
einen neuen Auftrag erteilt. Er soll den Goldschatz des Caliban
suchen und bergen. Dabei begleite ich ihn. Drum hütet Eure Zungen!
Sonst wird meine Lanze rot sein vom Blute der Schmäher, wenn ich
Roland, meinen Freund, begrüße!«

Mancher versteckte sein Gesicht im Weinkrug. Aber viele Gäste

murrten. Mit schriller Stimme schrie Odoaker: »Wollt Ihr einen
Verbrecher in Schutz nehmen, Percy?«

»Schweigt!« donnerte Percy entflammt. »Ich kenne Roland besser

als ihr alle! Als mein Leben verfallen war, mein Körper in Fesseln
lag und Wikingerführer Hakon Scharfaxt mich am höchsten Mast
seines Schiffes zu hängen befahl - stand Roland an meiner Seite und
bot 300 blutgierigen Wikingern Trotz. Daß ich Euch heute zu Gast
laden konnte, verdanken wir nur ihm!«

Odoaker wußte eine Entgegnung. »Eure Freundschaft in Ehren,

aber was beweist sie? Nichts. Umso schlimmer verurteilte ich den,

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der gestern tapfer gegen die Wikinger focht, wenn er heute harmlose
Kaufleute überfällt!«

»Schweig, Odoaker! Kein Falsch wohnt in Rolands Herz. Die

Berichte lügen, oder die Zeugen müssen sich geirrt haben. Eher
schießt der Blitz von der Erde aufwärts und schlägt hoch oben in die
Wolke ein, als daß Roland eine ehrenrührige Tat beginge!«

Beeindruckt schwiegen die Ritter. Nur Odoaker fuhr fort zu

höhnen. »Man könnte meinen, edler Percy, nicht die schöne Helga
sei Eure Gattin, sondern Ihr teiltet lieber mit Roland das Ehebett.«

Diesen lästerlichen Worten folgte langes Schweigen. Manch einer

wagte kaum zu atmen. Zentnerschwer wog die Beleidigung. Mit
ungeheurer Anstrengung bezwang Percy den Drang, Odoaker zu
packen und an die Wand zu schmettern. Endlich erhob er die
mühsam gebändigte Stimme, während seine Hände zuckten. »Nur
Euer graues Haar bewahrt Euch davor, Odoaker, daß ich Euch zum
Waffengang fordere und mit der Lanze durchbohre. Wenn je das
Wort Feigling in Verbindung mit einem Ritternamen gebraucht
werden durfte, dann mit dem des eitlen Spötters Odoaker. Wer floh
außer Landes, als die Wikinger angriffen? Odoaker! Wer sprang aus
Angst vor einem meuternden Milchbart von Knappen aus dem
Fenster, brach sich die Hüfte und lahmt noch heute? Odoaker! Wer
meldete zu vielen Turnieren und sagte stets unter dünnem Vorwand
ab? Odoaker!«

Totenbleich saß der Gescholtene und wagte den Blick nicht zu

erheben.

»Heute schützt Euch noch das heilige Gastrecht vor meinem Zorn,

Unseliger«, fuhr Percy fort. »Aber danach kommt mir nie wieder ins
Gehege! Und nahtet ihr im kältesten Winter nackt und erschöpft, aus
vielen Wunden blutend, durch tiefen Schnee dieser Burg, während
hungrige Wölfe Euch umkreisten, ich ließe Euch die Tore
nimmermehr öffnen!«

*

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Frohen Mutes lagerte die kleine Gruppe von Pilgern auf einer
Anhöhe hoch über dem Rhein. Ihr Wegführer, ein kecker junger
Bursche aus einem Dorf am großen Strom, hatte eine erfreuliche
Mitteilung bekanntgegeben. Nur noch fünf Tagesreisen waren sie
von ihrem Ziel, der heiligen Stadt Köln, entfernt.

Während die Pferde unter dem wolkenbedeckten Himmel

weideten, sahen die Pilger ehrfürchtig über den breiten Fluß zum
jenseitigen Ufer und machten sich gegenseitig auf die Schönheiten
der Landschaft aufmerksam. Manch einer betete still versunken im
dankbaren Glücksgefühl, so Herrliches schauen zu dürfen.

Da brauste wie ein Ungewitter ein Reiterpaar unter die fromme

Herde. Gepanzert an Brust und Kopf, brachten zwei Ritter ihre
Pferde mitten in der Gruppe zu plötzlichem Halt, sprangen auf den
Boden und zogen die Schwerter.

Die drei Frauen unter den Pilgern stießen Schreckensrufe aus und

drängten dicht zueinander.

Der eine Ritter war ein hochaufgeschossener Mann, dessen Gesicht

unter dem verschlossenen Visier nicht zu erkennen war. Er kam ohne
Umschweife zur Sache.

»Mir ist zu Ohren gekommen«, sagte er mit einer metallisch

klingenden Stimme, »daß ihr Männlein und Weiblein erhebliche
Goldmengen mit euch führt. So etwas kann auf einer langen Reise zu
Beschwerlichkeiten führen. Erlaubt also, daß ich euch von dem
Überfluß befreie, ehe ihr noch bösen Räubern in die Hände fallt!«

Und damit wandte er sich schon an den nächststehenden Pilger.

Mit hohntriefenden Worten forderte er ihn auf, die Arme zum
Himmel zu strecken und den Rock zu lüften, damit er ihm leicht an
die Börse käme. Auf diese Weise nahm der Ritter in schneller Folge
den Männern das Geld ab.

Trotz ihrer bescheidenen Kleidung führten sie zum Teil wirklich

größere Summen bei sich. Denn die meisten begnügten sich nicht mit
dem Zehrpfennig. Vielmehr gedachten sie, am Ziel ihrer Reise, wo
sie Vergebung aller Sünden erhofften, der Kirche eine erkleckliche
Spende zukommen zu lassen. Viele hatten jahrelang dafür gespart.

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Mit diesen schönen Plänen war es nun vorbei. Der Ritter ließ ihnen

nichts, was Ähnlichkeit mit Gold und Goldeswert hatte.
Niedergeschlagen ließen die Pilger diese harte Schicksalsprüfung
über sich ergehen.

Nur einer empörte sich. Mutig trat er zu dem plündernden großen

Mann. »Herr Ritter, bedenkt, welche Sünde Ihr auf Euch ladet! Ihr
bestehlt den lieben Herrgott, für den der größte Teil unseres Geldes
bestimmt ist.«

Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde der Ritter zornig.

Schon bereute der Pilger sein vorschnelles Wort. Doch dann besann
der große Mann sich anders. Er brach in schallendes Gelächter aus
und rief: »Du bist auf dem Holzweg Pilger! Ich und der Herrgott -
wir stehen so miteinander.« Er hob die rechte Hand, wobei er Zeige-
und Mittelfinger verschränkte.

»Versündigt Euch nicht, Herr!« mahnte die milde Stimme eines

älteren, fast kahlköpfigen Pilgers voll Nachsicht.

»Nein, wirklich«, fuhr immer noch lachend der Ritter fort. »Gerade

heute morgen erst gab mir der Herrgott ein Zeichen. Als ich noch auf
meinem Lager ruhte, fragte ich mich: >Wohin soll ich reiten, um
einen fetten Fang zu machen?< Und eine innere Stimme sagte mir:
>Reite zu der Anhöhe am Rhein!< Nun, siehst du, das war die
Stimme des Herrgotts, der es wahrhaftig gut mit mir meinte.«

»Es war die Stimme des Teufels«, sagte erschauernd der

kahlköpfige Pilger.

»Du irrst! Der Teufel hätte mich in seiner bekannten Bosheit

betrogen und mich irgendwohin geschickt, wo ich stundenlang
vergeblich auf reiche Leute gewartet hätte!«

Unter so rohen und lästerlichen Scherzen befreite der Ritter auch

die letzten der frommen Schar von all ihrem Vermögen. Indessen
hatte sich sein Begleiter - ebenfalls mit heruntergelassenem Visier -
an die drei Frauen herangemacht. Zwei lieferten ihm, wenn auch
unter bitteren Tränen, freiwillig ihre Geldtaschen aus. Die Dritte,
eine wohlgestaltete, hübsche Bürgerin, wollte ihn mit einem einzigen
Dukaten abspeisen, den sie ihm mit spitzen Fingern reichte.

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Der große Mann bemerkte ihr Manöver. »Laß dich nicht reinlegen,

Louis!« warnte er. »Greif ihr in den Blusenausschnitt! Feine Damen
pflegen oft ihr Geld in dem stillen Tal zwischen den beiden Hügeln
ihres Busens zu verbergen. Frisch hineingefaßt!«

Zum Erschrecken der Frau gehorchte Louis. »Der Rat ist trefflich,

Roland!« rief er, packte die Frau mit dem Schwertarm an der
Schulter und streckte die andere Hand nach ihrer Bluse aus.

Da traf er auf ein unerwartetes Hindernis.
»Hände weg, verruchter Bube!« erklang eine helle Stimme. »Du

wirst diese Frau nicht berühren! Das lasse ich nicht zu!«

Bei diesen Worten holte der junge Wegführer unter seiner Joppe

eine stämmige Holzkeule hervor, die mit mächtigen Nägeln gespickt
war. Mit dieser Waffe drang er auf den kleineren Ritter ein.

Der ließ die Frau los und trat einige Schritte zurück.
Herausfordernd schwang der junge Wegführer den Morgenstern.
Der große Mann erfaßte die Lage auf einen Blick. Er ließ ein paar

der geraubten Geldbeutel fallen und schritt drohend auf den Jungen
mit der mörderischen Waffe zu. Der drehte sich zu dem neuen
Gegner herum und ging in Verteidigungsstellung.

»Laß den Morgenstern fallen!« befahl der große Mann.
»Wenn Ihr die Dame in Frieden laßt!« verlangte der Junge.
»Das ist bereits geschehen.«
»Und Ihr werdet ihr auch nachher nicht mehr zu nahe treten?«
»Nein. Sie kann unbesorgt sein. Eine Dame, die sich eines so

kühnen Beschützers rühmen kann, hat nichts von uns zu befürchten.«

Der Junge zögerte. »Versprecht Ihr mir das?«
»So wahr ich Ritter bin!«
Befriedigt ließ der Junge die gespickte Holzkeule sinken und trat

bescheiden an seinen Platz zurück.

Es war das letzte, was er auf Erden tat.
Mit gewaltigen Sprüngen folgte ihm der große Mann. Hoch auf

zuckte das Schwert. Dann sauste es herab!

Der Schlag auf sein ungeschütztes Haupt tötete den jungen

Wegführer sofort. Die Pilger sahen es in stummem Entsetzen. Nur

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ein Stöhnen war in der Luft. Unter Flüchen hob der große Mann den
Leichnam auf und schleuderte ihn den Abhang hinunter.

So schnell sie konnten, rafften die beiden Schwertbrüder die

Geldbeutel zusammen, warfen sich auf ihre Pferde und galoppierten
davon.

*

Es dauerte mehrere Stunden, ehe sich die Pilger von dem lähmenden
Entsetzen erholten, das sie bei dem grauenhaften Geschehen befallen
hatte. Zunächst errichteten sie an der Todesstelle ihres jungen
Wegführers ein aus trockenen Ästen roh gezimmertes Kreuz. Mit
Tränen in den Augen sprachen sie ihre Gebete für seine Seele.
Danach hob ein großes Beratschlagen an.

Die Dame, der durch des Jungen beherztes Eintreten ihr Geld

erhalten geblieben war, verteilte ihren Reichtum unter den
Ausgeraubten. Mit drei Begleitern setzte sie alsdann entlang des
Stroms die Pilgerfahrt nach Köln fort.

Die meisten anderen traten erschüttert und mutlos geworden den

Heimweg an. Zwei Männern, die sich häufiger mit dem Jungen
unterhalten hatten, wurde die schwerste Aufgabe zuteil. Sie brachten
den Leichnam in dessen Heimatort zurück.

Zwei Tage später fanden fünf der heimkehrenden Pilger Herberge

für eine Nacht auf Percy Heißbluts Burg in der Aue. Ihre Berichte
weckten Mitleid und ohnmächtigen Zorn.

Doch Percy blieb mißtrauisch. Er ließ die Leute zu sich kommen

und überschüttete sie mit zweifelnden Fragen. Er suchte nach
Widersprüchen und möglichen Lügen. Aber nach mehreren Stunden
unerbittlichen Fragens mußte er sich eingestehen, daß er ehrliche
Leute vor sich hatte, die nichts erfunden hatten.

Also war sein Freund Roland ein nichtswürdiger Räuber, der nicht

einmal vor Mord zurückschreckte!

Allein geblieben, verfiel Percy in einen Zustand, der an Raserei

grenzte. So furchtbar war sein Schmerz, daß er eine Schwertklinge,

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die ihm in die Hände fiel, zerbrach. Danach wurde er ruhiger. Er ging
zu seiner Frau, der schönen Helga, und offenbarte ihr alles.

Er schloß: »Morgen reite ich zu dem vereinbarten Treffpunkt.

Wenn er die Stirn hat, ebenfalls dorthin zu kommen, ziehe ich ihn
zur Verantwortung. Ich werde nicht mit ihm zur Suche nach dem
Schatz des Caliban aufbrechen. Ich nehme Roland fest und schleppe
ihn in Banden vor das Angesicht des Königs Artus im Schloß
Camelot.«

Helga erbleichte. Eine furchtbare Angst legte sich auf ihr Gemüt.

Im Geist sah sie ihren geliebten Percy von dem verbrecherischen
Roland erschlagen. Mit versagender Stimme preßte sie hervor: »Er
wird dich umbringen!«

Percy lachte bitter auf. »Und wäre er stark wie Samson und stände

mit allen Teufeln im Bunde, so würde ich ihn doch überwinden.
Denn meinen Arm stärkt die Sache der Gerechtigkeit!«

Ein wenig getröstet, folgte Helga ihm des Abends ins

Schlafgemach. Der drohende Abschied machte die Welt schwärzer
als die einfallende Nacht. Wie Schiffbrüchige klammerten sie sich
aneinander fest und ließen sich nicht los. Sie taten kein Auge zu und
liebten sich wie nie zuvor.

Eigentlich hatte Percy im ersten Morgengrauen wegreiten wollen.

Aber vergebens wartete sein Knappe Ken Stunde um Stunde am
Burgtor auf ihn. Percy ließ sich nicht blicken.

Mittagszeit war schon vorüber, als Percy und Helga erschienen.

Ken schaute schüchtern weg, als sie Abschied nahmen. Wieder und
wieder fielen sie sich in die Arme. Schließlich entschied Helga: »Ich
begleite dich noch ein Stück, Liebster.«

Ken holte ihren Zelter. Aber sie bestieg ihn nicht, und Ken mußte

ihn am Zügel führen. Denn Percy hatte Helga zu sich in den Sattel
gehoben. So konnte er die geliebte Frau noch eine Weile in den
Armen halten.

Während Ken voranritt, stiegen die beiden an einer einsamen

Waldlichtung ab. Von den milden Strahlen der Herbstsonne
umflossen, liebten sie sich ein letztes Mal - ach, wie feurig und

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innig!

Helgas Angst zerschmolz in der Glut der Umarmungen. Die Stärke

ihres Mannes überströmte sie. Diese unbändige Jugendkraft erfüllte
sie bis in die letzte Faser. Sie pries sich glücklich. Welch ein
herrlicher Mann! Der verruchte Roland war bestimmt nicht imstande,
ihm auch nur ein Barthaar zu krümmen!

Im Galopp ritten sie hinter Ken her und holten ihn nach einer

Weile ein. Helga stieg auf den Zelter um. Trotz des Abschieds war
ihr Herz jetzt so leicht wie eine Vogelfeder. Die würgende Klammer
der Angst war machtlos zersprungen.

Noch einmal drückten sich die Liebenden die Hände. Noch einmal

fanden sich die Lippen zu langem Kuß. Noch einmal trafen sich ihre
Blicke. Noch einmal lächelten sie einander zu.

Dann trennten sie sich.
Singend trabte Helga zur Burg zurück.
Gefolgt von dem unerschütterlichen Ken, strebte Ritter Percy dem

gräßlichsten Abenteuer entgegen, das ihm je auferlegt ward ...

*

Lorimer war ein fahrender Ritter.

Kein strahlender Sieger bei Turnierspielen. Kein Kämpfer, von

dem Balladen berichteten. Kein Held, nach dem die Weiber ihre
Köpfe verdrehten.

Lorimer hatte wenige Bewunderer und gar keine Freunde.
So war er zum Einzelgänger geworden. Und die Einsamkeit wurde

ihm zur zweiten Natur. Sie lehrte ihn vieles.

Mit Gleichmut trotzte er allen Widrigkeiten. Ruhig und ohne

Murren ertrug er Entbehrungen. Augen und Ohren hielt er stets
aufmerksam offen. Mit unermüdlicher Geduld wußte er einen
Gedanken in vielerlei Richtungen zu verfolgen, bedachtsam hin und
her zu wenden und immer wieder neu zu prüfen.

Seine Ausdauer bei körperlichen Anstrengungen war einzigartig.

Er konnte 100 Meilen zu Fuß gehen, ohne einmal Nahrung zu sich zu

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nehmen. Er schlief auf knorrigen Baumwurzeln oder auf
scharfkantigem Felsgrund so gut wie andere auf seidenem Pfuhl.
Wenn es not tat, vermochte er eine Woche lang auf Schlaf zu
verzichten.

Auf die Freuden, die Frauen spenden, verzichtete Ritter Lorimer

schon seit vielen Monaten. In der ganzen Zeit war er von einem
einzigen Gedanken besessen. Dafür hungerte und dürstete er. Dafür
schuftete und quälte er sich. Dafür nahm er jegliche Mühsal in Kauf.
Denn er war felsenfest davon überzeugt, am Ende doch ans Ziel zu
gelangen.

Dann würde er sich zum Herrn der Ritterschaft aufschwingen. Er

würde die schönste Burg erbauen, die tollsten Frauen besitzen und
die glänzendsten Turnierfeste veranstalten. Ja, mit König Artus
würde er wie ein Gleichgestellter verkehren!

Seit Monaten suchte Lorimer mit einer Hartnäckigkeit

ohnegleichen und einem langerprobten Spürsinn den Goldschatz des
toten Räuberhauptmanns Caliban! Er dachte nicht daran, ihn - wie
die Tafelrunde es plante - den vielen von Caliban beraubten Rittern
und Städten zurückzuerstatten. Behalten würde er ihn bis auf den
letzten Dukaten, bis auf das letzte Goldgefäß.

Er wollte der reichste Mann des Landes werden - oder im Elend

sterben!

Schon war er dem Geheimnis dicht auf der Spur. Kein Ritter wußte

auch nur entfernt so viel darüber wie er. Wenn auch nicht von
Angesicht, so doch mit Namen und Beschreibung kannte er den
augenblicklichen Besitzer und eifersüchtigen Hüter des Schatzes. Es
war der sagenhafte Zwergenkönig Alberich, den keines Menschen
Auge je erspäht!

Jeweils zwölf Zwerge mußten ihm einen Monat lang als

Schatzwächter dienen. Danach wurden sie von zwölf anderen
Zwergen abgelöst. Verrat brauchte Alberich nicht zu befürchten. Das
Gedächtnis der Zwerge ist kurz. Und außerdem nahm er jede neue
Wachmannschaft viele Meilen entfernt in Empfang und verband
jedem die Augen, ehe er sie an die Schatzkammer führte. Ebenso

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hielt er es, wenn die alte Mannschaft abgelöst wurde.

Lorimer aber kannte bereits den Namen des Ortes. Mit unendlicher

Mühe hatte er ihn herausgefunden. Er hieß »das Felsenmeer«.

Dieses Felsenmeer sollte sich sechzig Meilen nordostwärts von der

heiligen Stadt Köln befinden.

Während er die Gegend ruhelos und unermüdlich, gefühllos gegen

Hunger und Durst, abgestumpft gegen Hitze, Kälte und Feuchtigkeit
durchstreifte, begegnete Lorimer in einer hellen Mondnacht zwölf
Zwergen mit verbundenen Augen, denen ein etwas größerer Zwerg
voranschritt.

Mitten im flotten Schritt verhielt Lorimer, erstarrte und wurde zur

Steinsäule, Ein breiter Baum mit wucherndem Unterholz bot ihm
willkommene Deckung. Nach einer Weile ließ er sich geräuschlos zu
Boden gleiten. Vorsichtig schob er die Zweige des Unterholzes zur
Seite und kroch so weit hindurch, daß er das Gelände vor sich gut
überschauen konnte.

Er hatte sich kaum einigermaßen behaglich in seinem

Späherversteck eingerichtet, als der Anführer der Zwerge stehenblieb
und auch dem blinden Gefolge, das ihm Hand in Hand nachschritt,
zu halten gebot.

Sie waren so nahe, daß Lorimer jedes Wort verstehen konnte. Der

Anführer sagte mit der gequetscht klingenden Stimme, die den
meisten Zwergen eigen war: »Setzt euch hierhin und wartet die Zeit,
die man braucht, um eine Meile zurückzulegen! Dann mögt ihr die
Binden abnehmen! Ihr werdet euch am selben Orte befinden, wo ich
euch vor einem Mond abholte. Von hier aus findet ihr den Weg in
die Gefilde, wo ein jeder von euch sein Wesen zu treiben pflegt. Und
vergeßt, was ihr saht! Vergeßt es!«

Nach jedem Satz antworteten die zwölf artig im Chor: »Jawohl,

König Alberich, das werden wir tun!« Oder auch: »Jawohl, König
Alberich, alles geschehe nach Eurem Befehl!«

Das Herz schlug Lorimer bis in den Hals. Endlich bekam er den

sagenhaften König, den Hüter des Schatzes zu Gesicht! Ganz nahe
war er nun an seinem heißersehnten Ziel!

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Er mahnte sich selbst zu äußerster Vorsicht. Mit Scharfsinn mußte

er jetzt zu Werke gehen. Sonst entschlüpfte ihm noch der Schatz im
letzten Augenblick. Gleichzeitig aber durfte er es an Mut nicht fehlen
lassen. Mit größter Aufmerksamkeit musterte er seinen Gegner, den
König Alberich.

Trotz seiner geringen Größe bot der Zwergenherrscher einen

imponierenden Anblick. Er war in erlesenes blaues Tuch gekleidet,
das mit Tausenden von Gold- und Silberfäden durchzogen war. Im
dichten schwarzen Haar, das ihm bis auf die Schultern wallte, trug er
ein winziges silbernes Krönchen - mehr ein Erkennungszeichen denn
ein Symbol seiner Würde.

Er war von harmonischem Wuchs, wenn man von den ausladenden

Schultern absah, unter denen ein breiter gewölbter Oberkörper den
Blick gefangennahm. Er mahnte Lorimer. Die Kraft dieses Mannes
mußte bedeutend sein. Der verborgene Ritter ahnte die starken
Muskeln, über die Alberich zweifellos verfügte. Sie mußten die
fehlende Größe mehr als wettmachen.

Dieser Bursche war kein Zwerg wie andere Zwerge. Sein hoher

Rang gebührte einem Würdigen. Er würde überall seinen Mann
stehen und selbst für einen gut ausgebildeten und erfahrenen Ritter
einen beachtenswerten Gegner darstellen.

Sicherlich war er auch klug und listenreich. Dafür sprach schon die

raffinierte Weise, in der er den Standort seines Schatzes selbst vor
den Wachmannschaften geheimhielt.

Alberich verließ die zwölf Zwerge. Lorimer ahnte, wohin der

König sich jetzt begab. An den Ort, wo die neue Wache hinbefohlen
war. Offenbar lag es Alberich daran, zu verhindern, daß die beiden
Trupps einander je begegneten.

Würde Alberich ihn jetzt in das Felsenmeer führen? fragte sich

Lorimer gespannt. Seit Wochen befand er sich in dieser Gegend.
Nach allen Richtungen hatte er sie durchstreift. Er war schon am
Verzweifeln gewesen. Denn wie sollte es in dieser weithin flachen
Landschaft ein Felsenmeer geben, das den aufmerksamen Augen
nicht auf viele Meilen hin erkennbar war?

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Doch jetzt fühlte Lorimer, daß sich das große Rätsel in der

nächsten Stunde für ihn lösen werde. Geduckt schlich er Alberich
nach. Es war nicht sonderlich schwer, ihn ungesehen zu verfolgen.
Denn der König der Zwerge schritt in ein Feld wilden Hafers hinein,
das ihm bis ans Kinn reichte. Sein Kopf ragte darüber hinaus wie der
Kopf eines Schwimmers im Wasser.

Lorimer hielt den eigenen Kopf natürlich tiefer. Zu Anfang hatte er

mißtrauische Blicke nach hinten geworfen. Aber keiner der zwölf
Zwerge nahm die Binde von den Augen. Nach Alberichs Weggang
hatten sie angefangen zu schwatzen. Doch niemand übertrat sein
strenges Verbot.

Die warten wirklich, dachte Lorimer. Welch eine Disziplin!
Der wilde Hafer wuchs spärlicher und wurde niedriger. Lorimer

hielt inne. Er mußte Alberich einen größeren Vorsprung gönnen.
Denn jetzt begann freies Feld, das nur von einigen Bodenwellen
durchzogen war.

Offenbar fühlte sich Alberich völlig sicher. Er ging unbeirrt im

gleichen Tempo und warf nie einen Blick zurück. Sowie er hinter
einer Bodenwelle oder einem Buckel verschwand, machte Lorimer
zehn oder zwanzig lange Sätze und warf sich dann der Länge nach
hin. Nie war er mehr als 200 Klafter hinter dem Verfolgten.

Zwei Meilen hatten sie auf diese Weise zurückgelegt, als ein

Heckensaum im Blickfeld erschien. Die Hecke schien sich endlos
nach links und rechts zu erstrecken und war fast überall ihre drei
Klafter hoch. Lorimer

vermochte keine Lücke in dem

wildwuchernden dornenbesetzten Gestrüpp zu erkennen.
Wahrscheinlich war die Hecke auch mehrere Klafter dick.

Wie sollte ein normaler Sterblicher da durchkommen?
Lorimer faßte mit der rechten Hand kurz an seinen Unterschenkel.

Auch für diese schier undurchdringliche Hecke war er gerüstet. Er
hatte sich bei einem ihm bekannten Schmied für teures Geld ein
beidschneidiges Messer von der Länge eines Kurzschwertes
schmieden lassen.

Als wenn ich es geahnt hätte! dachte der einsame Ritter, der

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wenige Bewunderer und nicht einen einzigen Freund besaß. Das
Messer, das ich am Unterschenkel festgeschnallt habe, ersetzt mir
jeden Freund. Ja, es ist besser als ein Freund. Denn es wird nie
wanken, nie deuteln, nie Widerspruch erheben. An seiner Treue ist
nicht zu zweifeln!

Doch wie wollte Alberich die Hecke überwinden?
Jetzt war der kleine Mann mit dem silbernen Krönchen im Haar

vor dem Hindernis angelangt. Lorimer beobachtete ihn, eng an den
Boden gepreßt. Alberich schien unschlüssig. Er ging ein paar Schritte
nach links, blieb stehen, streckte die Hand tastend aus und zog sie
wieder zurück. Dann zuckte er die Achseln und ging nach rechts, ein
paar Schritte über den Ausgangspunkt hinaus.

Er kniete nieder und berührte einen im Boden halbversenkten

Feldstein. Daraufhin bewegte sich wie von Geisterhand ein kleiner
Abschnitt der Hecke und wich zurück. Es entstand eine Öffnung,
durch die Alberich ging, als schritte er unter Trommelwirbel und bei
Trompetenschall durch ein Ehrenportal.

Lorimer merkte sich die Stelle genau.
Er hatte nur wenige Herzschläge lang Zeit dazu. Denn hinter dem

Zwergenkönig schloß sich die Hecke wieder. Und kein Zeichen
verriet die geheime Pforte. Nicht einmal der Feldstein war noch zu
sehen.

Lorimer wartete noch eine Weile ab. Nichts rührte sich. Der

bleischwere Himmel wölbte sich über der kargen Landschaft.

Lorimer huschte zu der Stelle, die er sich gemerkt hatte. Mit

seinem überlangen Messer hackte er einen Weg durch die Hecke. Er
sah nun daß sie künstlich angelegt war. Die Arbeit war mühsam. Die
Hecke erwies sich als noch verfilzter und dorniger, als sie aussah.
Als er zum erstenmal den Kopf durch die entstandene Öffnung
zwängte, stach er sich schmerzhaft.

Da erinnerte sich Lorimer seines Helmes und setzte ihn auf. Der

schützte nicht nur gegen Schwertstreiche, sondern auch gegen
fingerlange Dornen.

Dann hackte er sich weiter durch die Hecke.

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Sie war drei Klafter dick - viel mehr, als er erwartet hatte. Keine

Burgmauer bot ihrem Verteidiger besseren Schutz.

Vorsichtig steckte Lorimer den Kopf zur Innenseite hinaus. In

diesem Augenblick fuhr ihn eine gequetscht klingende Stimme in
heißer Wut an: »Was suchst du in König Alberichs Reich?«

Blitzartig wurde dem Ritter klar, daß er unbesonnen in eine

gefährliche Falle geraten war. Alberich hatte seinen Verfolger also
doch beobachtet, sich aber nichts anmerken lassen. Dann hatte er
sich hier hinter der Hecke auf die Lauer gelegt!

Doch Lorimer war nicht der Mann, der in schwierigen Situationen

lange nachdenkt. Sich Vorwürfe über vergangene Fehler zu machen,
kam ihm schon gar nicht in den Sinn. Damit vergeudete man nur
Zeit.

Statt dessen handelte Lorimer. Er hob das Messer, seinen besten

Freund. Aber es ging mühsam. Er konnte sich kaum bewegen. Der
Versuch, sich rückwärts ins Freie zu zwängen, mißlang.

Er steckte fest. Die Dornenzweige hielten ihn mit vielen zähen,

harten Fingern.

Und da dröhnte ihm schon der Schädel zum Zerspringen!
Mit voller Wucht war Alberichs Keule darauf gelandet. Ohne den

Helm wäre Lorimer auf der Stelle tot umgefallen. Aber auch so
erging es ihm schrecklich genug.

Er sah viele tausend Sterne aufsprühen und sich mit irrer

Geschwindigkeit in alle Richtungen der Windrose entfernen. Genau
vor seinen Augen leuchteten grelle gelbe Sonnen, zerplatzten mit
unerträglichem Krach und vergingen in silberfarbenem Gewölk.

Ein lähmender Schmerz umklammerte seine Eingeweide. Die

Beine hielten ihn kaum noch aufrecht. Sie schienen im harten Boden
zu versinken wie in klebrigem Schlamm.

Aus ungeheurer Entfernung vernahm er die Stimme des

Zwergenkönigs: »Wer in Alberichs Reich ohne Erlaubnis eindringt,
der ist des Todes!« Er hörte jedes Wort trotz der riesigen Entfernung
genau, aber es gelang ihm nicht, den Sinn zu erfassen.

Die Schmerzen wurden so unerträglich, daß er annahm, sein

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Schädel sei an mehreren Stellen gespalten. Dabei ahnte er, daß
Alberich die Keule bereits wieder erhoben hatte. Jeden Augenblick
mußte der zweite Schlag niedersausen, der für ihn das Ende aller
Dinge bringen würde.

Lorimer sehnte sich förmlich danach. Noch einmal ein Schmerz,

der alles Vorstellbare übertraf - dann aber Verlöschen, Stille,
Erlösung. Ein wünschenswertes Ziel, dachte er ächzend.

Schlag doch, schlag doch! hämmerte es dumpf in seinem

gemarterten Schädel. Worauf wartest du noch?

Gleichzeitig aber regte sich in Lorimers Inneren ein anderer Drang.

Viele Jahre eines rauhen und harten Lebens als fahrender Ritter
hatten einen Widerstandswillen in ihm erzeugt, der für normale
Menschen unbegreiflich war. Und deshalb mahnte ihn sein Unterbe-
wußtsein: Gib nicht auf! Gib niemals auf!

Als darum Alberichs zweiter Schlag niederfiel, hatte sich Lorimer

mit jähem Ruck aus den zäh haftenden Dornen befreit und sich zur
Seite geworfen. Fast so wirkungslos streifte die Keule nur die
Schulter des Ritters.

Der raffte sich bereits wieder auf, schnellte herum und sprang

gegen den überraschten Zwergenkönig. Mit dem Oberkörper prallte
er heftig gegen dessen Beine. Der Schwung schleuderte Alberich
rücklings nieder. Sofort folgte Lorimer und kniete ihm auf der
breiten Brust.

Das Messer!
Auch in der Hitze des Kampfes hatte er es nicht einen Augenblick

losgelassen. Jetzt riß er es hoch und legte die Schneide an Alberichs
Kehle.

Dessen graue Augen blinzelten mehr verwundert als erschreckt.
In der kurzen Spanne ihres Ringens hatte Lorimer alle Schmerzen

vergessen. Jetzt überfielen sie ihn mit vermehrter Gewalt. Gleich
wurden ihn die Kräfte verlassen. Dann wäre es ein Leichtes für
Alberich, sich von ihm zu befreien.

Ächzend stand er auf und trat ein paar Schritte zurück. Mit einer

Handbewegung bedeutete er Alberich, sich ebenfalls zu erheben. Der

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tat es. »Nun hebe beide Arme über den Kopf und verschränke sie!«
Alberich gehorchte.

Aber aus seinen Augen sprühten jetzt zornige Funken. »Was

unterstehst du dich?« schrie er mit seiner gequetschten Stimme. »Du
wirst es noch bereuen, dich je ins Reich des Zwergenkönigs gewagt
zu haben! Jeden Augenblick werden meine Wachen erscheinen ...«

»Deine Wachen«, unterbrach ihn Lorimer kalt, »sind bereits auf

dem Heimweg. Und ihre Ablösung wartet fern von hier auf jemand,
der nicht kommen kann. Also, halt den Mund und führe mich zu den
Schätzen des toten Räubers!«

»Zu welchen Schätzen?«
Lorimer spürte, wie seine Schmerzen immer stärker wurden. Das

steigerte seine Ungeduld. »Calibans Schätze! Du hast sie! Suche
keine Ausflüchte!«

Höhnisch antwortete Alberich: »In meinem Reich wachsen keine

Schätze, sondern nur Steine. Sieh dich um! Hier gibt es Felsen, und
sonst nichts.«

Zum erstenmal wandte Lorimer die Augen von seinem Gegner.

Was er sah, machte ihn erstaunen. Hinter der Hecke begann eine tiefe
Schlucht von unbestimmter Länge. Wohin das Auge auch blickte,
traf es auf graue Felsen von fantastischen Formen. Sie erhoben sich
aus unsichtbaren Abgründen. Einer war bizarrer als der andere.
Manche glichen Säulen, andere riesenhaften Figuren, andere
Dämonen oder gar hochaufragenden Burgen.

Das sagenhafte Felsenmeer!
Deshalb hatte er es nie auf seinen zahllosen Streifzügen gefunden!

Weil es in tiefer Schlucht hinter fast undurchdringlicher Umzäunung
lag. Eine vergessene Welt.

Begehrlichkeit erfaßte Lorimer. Die Schmerzen schwanden. Er

konnte den Augenblick nicht abwarten, da er das Gold in die Hände
nahm, um es zu liebkosen.

»Verfluchter Zwerg! Führ mich zur Schatzkammer - oder ich lege

dir den Kopf vor die Füße!«

Alberich dachte nach.

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Lorimer hob das Messer. »Wird's bald?«
»Und wenn ich es täte ...«, begann Alberich zögernd.
»Dann rettest du dein erbärmliches Leben!« Lorimer jubelte

innerlich. Wie schnell hatte das Blättchen sich gewandelt! »Und ich
bin auch bereit, mit dir zu teilen«, lockte er. »Es ist sowieso zu viel
für einen Menschen wie mich.«

»Sprichst du im Ernst?«
»Zweifle nicht, ich schwöre es dir«, log Lorimer, wobei er den

Zwergenkönig keinen Moment aus den Augen ließ.

Alberich wiegte den Kopf auf den breiten Schultern. »Trotzdem

weiß ich nicht, ob ich dir glauben darf. Die Menschen schwören oft
und viel - und lügen dennoch!«

»Nicht wenn sie bei dem schwören, was ihnen das liebste auf der

Welt ist«, entgegnete Lorimer hastig.

»Dann schwöre beim Leben deiner Mutter und beim Leben deiner

Liebsten!«

»Unsinn!« sprach der verruchte Mann. »Was gelten mir Frauen!

Ich schwöre bei Alberichs Schatz! Der ist mir das liebste auf der
Welt!« Lorimer lachte dröhnend. Ihm wurde von Atemzug zu
Atemzug wohler. Was war er doch für eine starke Natur! Er fing an,
sich zu bewundern. »Und nun geh voran, reicher Alberich! Führe
deinen Ehrengast zur Schatzkammer, auf daß wir dort brüderlich
teilen!«

Noch zögerte der Zwergenkönig. Schon glaubte Lorimer, er habe

die Täuschung durchschaut. Doch plötzlich wandte sich der andere
ohne ein weiteres Wort und führte Lorimer durch die zaubermäßige
Welt der zu grauem Fels erstarrten Wogen eines Ozeans aus
vergangener Welt.

Wie rasend klopfte Lorimers Herz vor Gier, als die Felsen wichen

und die schmale Schlucht sich zu einem riesigen, von Gestein
überdachten Halbrund weitete. Alberich streckte den Arm aus und
sagte nur ein einziges Wort: »Da!«

Und Lorimer sah sich den Schätzen gegenüber, die der tote Caliban

mit seiner Bande in vielen Jahren aus 100 Burgen geraubt und hier

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aufgehäuft hatte. Gold, Elfenbein, edle Hölzer,»Teppiche, Gemälde,
Kleinodien, Geschmeide und Edelsteine. Überwältigt, fast geblendet
schloß Lorimer die Augen. Als er sie öffnete, war Alberich ver-
schwunden. Unruhe ergriff Lorimer. »Wo bist du, verfluchter
Zwerg?«

Plötzlich sprang ihn ein Körper hinterrücks an. Hände legten sich

wie Schraubstöcke um seinen Hals. Er mußte nachgeben. Erschöpft
sank er zu Boden. Ein unsichtbares Wesen hielt ihn umklammert.
Verzweiflung senkte sich über ihn. Die Augen traten ihm fast aus
den Höhlen, aber er sah niemand. Und doch drückten Lasten auf
seinen Körper und schnürten ihm den Hals ab.

Lorimer wurde es schwarz vor Augen. Gegen Unsichtbare zu

kämpfen, ist aussichtslos.

Sein Körper streckte sich. Dann wurde er starr.
Der Unsichtbare ließ ihn los.
Die Lasten hoben sich von Lorimers Körper. Er blieb wie tot

liegen. Es war sein letzter Trick.

Und der unsichtbare Zwergenkönig Alberich fiel darauf herein!
Unter fast geschlossenen Augenlidern sah Lorimer, wie der Zwerg

plötzlich aus leerer Luft wieder zu einem menschlichen Wesen
wurde. Von einer Sekunde zur anderen war er Fleisch und Blut.

Lorimer nahm seine letzte Kraft zusammen. Als Alberich sich nach

dem breiten Messer bückte, fuhr der Ritter in die Höhe, packte den
Knauf, hob die Schneide - und trennte dem überraschten Verteidiger
des Schatzes mit einer fließenden Bewegung den Kopf von den
Schultern.

Alberich war tot!
Lorimer faßte sich an die Kehle. Das Messer entglitt seinem Griff.

Ihm war unheimlich übel. Der Würgegriff schmerzte mehr als alle
Leiden zuvor. Immer noch war er sich nicht ganz sicher, daß er
überleben würde.

Sein Blick fiel auf Alberichs Hand, die im Tode noch einen

Gegenstand umklammert hielt. Eine graue Kappe aus einem Stoff,
den Lorimer nicht kannte. Neugierig riß er ihm die Kappe aus der

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Hand und setzte sich das Gewebe, das sich rauh und glatt, heiß und
kalt, leicht und schwer in einem anfühlte, auf den Kopf.

Von einem Augenblick zum anderen verging das dumpfe Dröhnen

der Keulenhiebe auf seinen Schädel. Das Würgen im Halse wich wie
unter dem Einfluß eines allmächtigen Balsams. Die erschöpften
Glieder wurden leicht und schwerelos. Die Muskeln gehorchten ihm
wieder. Eben noch zu Tode erschlafft, war ihm jetzt so wohl wie
nach vielstündigem erquickendem Schlaf.

Aber irgend etwas stimmte nicht. Ihm war, als berührten seine

Beine nicht mehr den Boden, als schwebe er mehrere Fuß hoch in der
Luft.

Mißtrauisch warf er Blicke in die Runde. Nichts hatte sich

geändert. Der Anblick war so überwältigend wie zuvor. Unbeweglich
glänzten, glitzerten und gleißten die Schätze des Caliban, die hier
von seinen Raubzügen aus 100 Burgen angehäuft waren. Gold,
Elfenbein, edle Hölzer, Teppiche, Gemälde, Kleinodien, Geschmeide
und Edelsteine!

Alles unverändert.
Und doch war etwas anders.
Er blickte an sich herunter und sah nichts. Sein Körper war

verschwunden! Er faßte sich an die Brust. Er befühlte seine Rippen.
Er spürte sein Herz pochen. Aber er sah keine Hand, keine Brust,
keinen Rumpf, keine Beine.

Sein Körper war so unsichtbar geworden wie vorher der des

Alberich!

Eine Ahnung ließ ihn nach der grauen Kappe auf dem Kopf

greifen. Das Gewebe war anders als jedes, das er bis dahin angefaßt.
Es schien nicht von dieser Erde. Immer noch fühlte es sich rauh und
glatt, heiß und kalt, leicht und schwer zu gleicher Zeit an.

Er nahm die Kappe ab, und im gleichen Augenblick wurde sein

Körper wieder sichtbar. Alles war da, wo es hingehörte: Hand, Arm,
Brust, Rumpf, Beine, Füße.

Da begriff Lorimer. Er hatte dem toten Alberich nicht nur nur

seinen Schatz abgenommen, er war auch Erbe seines größten

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Geheimnisses geworden. Er besaß die Tarnkappe, die ihn, wann
immer er wollte, für jedermann unsichtbar machte!

Wo er stand, sank Lorimer zu Boden. Der Ansturm der

Glücksgefühle fällte ihn wie ein Blitz. Liegend kostete er die
herrlichsten Augenblicke seines Lebens aus, die ihn für alle
Entbehrungen belohnten.

Der Schatz machte ihn zum reichsten Mann des Landes!
Die Tarnkappe machte ihn zum mächtigsten Mann des Landes!
Und so, in höchster Beseligung, schlief Lorimer inmitten seiner

Schätze ein. Er schlief tief und traumlos. Er sah und hörte nichts.

Er sah und hörte vor allem nicht, wie nach zwei Stunden ein

furchtsamer Zwerg vorsichtig aus seinem Versteck, einer großen
venezianischen Vase stieg. Der Zwerg hieß Säckelmann. Er war
Alberichs Kammerdiener gewesen und hatte das Felsenmeer noch
nie verlassen. In seinem Versteck war er unbemerkt Zeuge der
blutigen Ereignisse geworden.

Auf Zehenspitzen schlich Säckelmann davon. Als er die Kammer

verlassen hatte, rannte er, so schnell ihn seine Füße trugen. Doch er
hielt nicht lange durch. Bald stach und zwickte es überall in seinem
ungeübten Körper.

Vor Tränen fast blind, stolperte Säckelmann durch die Hecke,

deren Öffnungsmechanismus er betätigte, und wanderte unbeholfen
wie ein Heimatloser nach Süden, immer weiter weg vom Felsenmeer,
wo er fast sein ganzes Leben verbracht hatte.

*

Sonst hüpfte ihm das Herz im Leibe vor Freude, wenn er zu neuen
Taten auszog. Diesmal ritt Roland mit Leichenbittermiene zum
Treffpunkt mit Percy. Auch seine Knappen Pierre und Louis ließen
die Köpfe hängen, als sie wortkarg auf ihren Pferden hinter ihm
herzottelten.

In der vergangenen Woche war ihnen das Leben schier

unerträglich geworden. Immer neue Kunde kam von Untaten, die

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Ritter Roland mit seinen Knappen verübt haben sollte.

Da nützte es wenig, daß Roland laut seine Unschuld beschwor.

Zwar wagte kaum jemand, ihm ins Gesicht hinein zu widersprechen.
Aber die Blicke, die sie hinter seinem Rücken tauschten! Das
Getuschel, das sich erhob, wo immer er sich blicken ließ - und
plötzlich erstarb, wenn er nahe herankam! Die geballten Fäuste, die
man aus der Ferne gegen ihn schüttelte!

Roland spürte die zunehmende Feindseligkeit in seiner Umgebung

so deutlich wie einen Wetterumschwung.

War es erst einen Monat her, daß man ihn als Sieger über die

Wikinger und Retter des Landes bejubelt hatte? Dieselben Leute, die
ihn damals in den Himmel hoben, verdammten ihn jetzt, als habe er
sie selber beraubt, auf den Kopf geschlagen und zum Krüppel
gemacht.

Im Grunde war Roland froh, daß er eine neue Aufgabe erhalten

hatte. Sie würde seinen ganzen Scharfsinn und seinen ganzen Mut
erfordern. Er freute sich auf das Wiedersehen mit seinem
Waffengefährten Percy. Mit ihm zur Seite getraute er sich, das
Caliban-Rätsel zur Zufriedenheit der Tafelrunde zu lösen. Vor allem
aber - Percy würde ihm bestimmt glauben, wenn er ihm versicherte,
daß da offenbar ein bösartiger Doppelgänger sein tödliches Spiel
getrieben habe.

Nicht eine Sekunde würde Percy den häßlichen Verdacht der

anderen gegen Roland teilen. Und mochten auch alle äußeren
Anzeichen noch so sehr gegen ihn sprechen.

So ritt Roland zum Treffpunkt. Und von Meile zu Meile wurde

sein betrübtes Herz leichter. Wenn er Percy Auge in Auge
gegenüberstand - so glaubte er -würde ihm ein einziger Blick zeigen,
daß üble Nachrede nichts gegen Freundestreue vermochte!

*

Doch als die drei wirklich an dem Treffpunkt Percys ansichtig
wurden, verschwendete der keinen Blick für sie.

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Denn genau in diesem Augenblick war Percy in ein hitziges Duell

mit einem fremden Ritter verwickelt.

Roland stieg ab. Von einem kleinen Hügel konnte er den Fortgang

des Scharmützels gut beobachten. Die Knappen folgten seinem
Beispiel.

Und sofort wich jeder Trübsinn von ihnen. Denn Percy, ihr Freund,

zeigte sich in Hochform!

Wieder einmal war sein Temperament, das ihm den Beinamen

Heißblut eingebracht hatte, nicht zu zügeln. Mit beispiellosem
Übermut attackierte er den Fremden, der bei fast jedem
Zusammenprall nahe daran war, aufgespießt zu werden oder aus dem
Sattel zu fallen.

Doch Percy lag offensichtlich nichts an einem schnellen Sieg. Eine

halbe Stunde zuvor war er unvermittelt dem Fremden begegnet, hatte
seinen eigenen Namen genannt und nach dem des anderen gefragt. Er
hoffte auf Austausch von Neuigkeiten, einen kleinen Schwatz unter
Männern und dachte nicht im entferntesten an einen Waffengang.

Doch da rief der fremde Ritter: »Ihr seid Percy? Percy Heißblut,

die Zierde der Ritterschaft? Percy, dem die Weiber nachlaufen, und
dem die Männer, blöd wie sie sind, nachzueifern trachten?«

»Weiß nicht, ob ich so guten Ruf verdiene«, erwiderte Percy.

»Weiß nur, daß ich jedes guten Mannes Freund bin und der
Schrecken der Bösen.«

»Tatsächlich?« meinte der hagere sehnige Fremde. »Dann muß ich

wohl zu den Bösen gehören ...«

Percy lachte laut. »Ihr treibt Scherz! Ich sah nicht, daß Ihr bei

meinem Anblick erschrakt.«

»Da saht Ihr recht. Wer sollte bei Eurem Anblick schon

erschrecken?« Des Fremden Miene verfinsterte sich, als trüge er
geheimen Groll. »In meinen Augen seid Ihr keine Zierde der
Ritterschaft, sondern ein hochgelobter Affe!«

»Hoho! Ihr vergreift Euch in den Worten!«
»Keineswegs. Ich habe Euch durchschaut, affiger Percy. Und nun

laßt uns nicht länger mit eitlen Worten fechten. Klappt das Visier

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herunter! Ihr steht dem Ritter gegenüber, der Euch und alle Euch
ähnlichen Schmarotzer mit blutigen Köpfen vom Gipfel unverdienten
Ruhms herunterholen wird.«

Percy war fassungslos über diese Frechheit. »Nennt Euren Namen,

Fremder!«

»Im Augenblick Eures Todes werdet Ihr ihn vernehmen, weit

überschätzter Percy. Wenn Euer Heißblut im Sand verströmt, nenn
ich Euch meinen Namen, damit Ihr im Jenseites berichten könnt, wer
Euch überwand!«

Nach diesen Beleidigungen blieb Percy gar nichts anderes übrig,

als das Visier herunterzuklappen und den anderen zum Waffengang
zu erwarten. Einem derartigen Abenteuer mochte aus dem Wege
gehen, wer da wollte - der heißblütige Percy gewiß nicht. Und so
drückte er" die treue Lanze in die Hüfte, gab seinem Pferd die Sporen
und sprengte in voller Karriere auf den Hageren zu, der seinen
Namen erst in der Todesstunde des Gegners nennen wollte.

Doch schon beim ersten Waffengang erkannte Percy, daß ihm ein

Sieg über den Fremden wenig Ruhm und gar keine Beute versprach.
Der Gegner war gar zu schlecht für einen Zweikampf gerüstet.

Nur mit Mühe gelang es ihm, sein Pferd zu einem müden Galopp

aufzustacheln. Der Wallach war in Percys Augen ein elender
Klepper. Hart zeichneten sich die Rippen unter dem abgewetzten Fell
ab. Die Beine kamen kaum vom Boden weg. Mit zehn
Galoppsprüngen gelangte das Tier kaum so weit wie Percys Pferd
mit dreien.

Und auch der Reiter wirkte schäbig genug. Es sah aus, als habe er

sich bei einem armseligen Trödler ausgestattet, der irgendwo in
einem baufälligen Schuppen alte, vielfach gebrauchte Rüstungen für
wenig Geld verkaufte. Als Percy sich dem traurigen Paar näherte, sah
er Rost an vielen Stellen des Harnischs. Mitleid überkam ihn. Ein
einziger regelrechter Lanzenstoß würde den Hageren viele Klafter
weit über den Pferdeschwanz zu Boden schleudern und
wahrscheinlich sein Lebenslicht ausblasen.

So wendete Percy die Lanze vom Ziel ab und ritt an dem Fremden

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vorbei, ohne ihm Schaden anzutun. Dann parierte er sein Roß und
rief ihm zu: »Laßt ab von diesem vergeblichen Streit, Mann! Ihr seid
nicht in der Lage, Euch zu verteidigen! Reitet davon! Ich will Euch
ungekränkt ziehen lassen.«

Ein heiserer Wutschrei war die Antwort. Diesmal brachte der

Klepper keinen Galoppsprung mehr zustande. In schaukelndem Trab
kam er auf Percy zu. Kopfschüttelnd nahm Percy einen derben
Lanzenstoß gegen die linke Schulter in Kauf. Trotzdem mochte er
sich nicht dazu verstehen, dem Fremden zu Leibe zu rücken.

Der aber ließ ihm keine Ruhe. Von neuem trabte er heran und

zielte mit der Lanze nach Percy. Dabei bemerkte der Ritter etwas
Seltsames. Auf dem schäbigen alten Helm des Fremden war - welch
krasser Gegensatz - ein silbernes Krönchen angebracht!

Von zwei weiteren Lanzenstößen geärgert, entflammte Percy

schließlich in berechtigtem Zorn. Der Fremde hatte alle Warnungen
in den Wind geschlagen, nun sollte er leiden. Percy machte Ernst und
hob ihn aus dem Sattel. Wie erwartet, flog er in hohem Bogen über
den Pferdeschwanz hinweg und setzte sich unsaft auf die Erde. Doch
blieb er unverletzt, rappelte sich mit großen Beschwerden auf und
besaß noch die Unverfrorenheit, Percy erneut zum Kampf zu fordern.

»Steigt herab von Eurem Roß!« verlangte er. »Oder ich werde aller

Welt berichten, daß Percy ein erbärmlicher Feigling ist!«

Kannte der Übermut dieses schäbigen Mannes denn keine

Grenzen? Dem Geschmähten blieb keine Wahl. Percy sprang aus
dem Sattel, steckte die Lanze mit der Spitze nach unten in die Erde
und zog sein Schwert. Er war jetzt so gereizt, daß er beschloß, dem
Fremden eine ernsthafte Lektion zu erteilen.

Mit wenigen verwirrend schnell geschlagenen Hieben gewann

Percy sofort die Oberhand. Der Gegner war alles andere als ein
geübter oder auch nur geschickter Fechter. Doch er stand seinen
Mann, gab nicht auf und verteidigte sich aus Leibeskräften. Ab und
zu warf Percy einen Blick auf das rätselhafte Krönchen am Helm des
anderen. Dann holte er zum nächsten Streiche aus.

Nun geriet der Hagere wirklich in Bedrängnis. Es konnte nur noch

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kurze Zeit dauern, dann würde Percy Lücken in seiner Abwehr
finden und ihm die ersten Wunden zufügen.

Noch einmal rief der Ritter von der Aue: »Ergebt Euch, Fremder,

ehe ich Euch zur Ader lasse! Ihr seid mir hoffnungslos unterlegen,
aber ich will Euch schonen.«

»Und Ihr«, lautete die trotzige Antwort, »seid dem Tode näher, als

Ihr denkt!«

Percy seufzte und bereitete mit einigen Finten den nächsten

Angriff vor.

Schon vorher war ihm die graue Kappe aufgefallen, die sein

schwacher Gegner in einer Lederschlaufe am Harnisch trug. Jetzt
griff dieser verbissene Mann mit der freien Hand nach der Kappe und
streifte sie sich blitzschnell über den Helm mit der Krone.

Verblüfft blieb Percy mitten im Angriffschwung stehen.
Sein Gegner war verschwunden!
Wo er eben noch gestanden hatte, schwer bedrängt, keuchend, mit

verzerrtem Gesicht, auf schwankenden Beinen, war nichts mehr ...

Percy klappte das Visier auf und rühr sich mit der Linken über die

Augen. Es half nichts. Der Kerl tauchte nicht wieder auf. Er hatte
sich in Luft aufgelöst.

Verwirrt kniff Percy beide Augen fest zu, um sie erst nach einer

Weile wieder zu öffnen. Er starrte in alle Richtungen der Windrose.
Doch der Kerl war und blieb verschwunden! Nur sein Klepper stand
mit zitternden Beinen und hängendem Kopf ein paar Schritte entfernt
und drohte jeden Augenblick umzufallen.

Noch einmal rieb sich Percy die Augen. War hier Zauberei im

Spiele?

»Wo seid Ihr, fremder Ritter?« rief er.
Er bekam keine Antwort.
Und dieses leise Zischen, das die Luft zerschnitt - war das die

Antwort?

Unwillkürlich wollte Percy sich ducken. Doch es war schon zu

spät. Das Zischen hörte auf, und aus dem Nichts stach die
unsichtbare Messerklinge in Percys Brust.

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Und aus dem Nichts sprach höhnend die Stimme des unsichtbaren

Fremden: »Hörst du mich, Percy? Lorimer war es, der dich ins
Jenseits beförderte! Lorimer, der einst ein fahrender Ritter war und
jetzt die Schätze des Räubers Caliban im Felsenmeer hinter der
dichten Hecke erbte! Lorimer, der reichste und mächtigste Mann im
Lande!«

Diese Worte waren das letzte, was Percy vernahm. Ein ungeheurer

Schmerz in der Brust nahm dann seine ganze Aufmerksamkeit in
Anspruch. Als er glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, verebbte
der Schmerz. Erleichtert tat Percy einen tiefen Atemzug.

Sein Bewußtsein trieb ab, und er starb.

*

»Vorwärts!« rief Roland mit metallischer Stimme.

Sie hatten den Kampf von der Anhöhe aus beobachtet. Das

Abtasten zu Beginn. Die große Überlegenheit Percys. Seine
vergeblichen Versuche, den anderen zum Aufgeben zu überreden.
Und schließlich den raschen, den bestürzenden, den kaum faßbaren
Ausgang des Waffenspiels.

Und nun rasten sie in voller Karriere zu dem Punkt, wo Percy im

Staub lag, dahingestreckt von einem, der sich plötzlich in Luft
verflüchtigt hatte, unsichtbar, ungreifbar, unverfolgbar wurde.

Samum trug seinen Herrn fast doppelt so schnell zu Percy wie die

Pferde der Knappen. Kaum stand der Araber, glitt Roland aus dem
Sattel, kniete neben Percy, griff nach seiner Hand, nach seinem Puls,
horchte an seiner Brust und schaute ihm in die Augen.

Aschfahl war Roland, als er sich wieder aufrichtete. Der Puls des

Ritters von der Aue stockte. Sein Herz war verstummt. Die Augen
faßten nichts mehr. Ja, Percy war tot.

Roland wünschte, er läge an seiner Stelle.
Dann kamen die Knappen. Sie brauchten nicht zu fragen. Ein Blick

in das Gesicht ihres Ritters verriet ihnen die grausame Wahrheit.

»Percy tot«, stöhnte Louis. »Und du, Erde, bewegst dich weiter?

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Und du, Sonne, hörst nicht auf zu scheinen? Und ihr, Bäume, werft
eure Blätter nicht ab? Percy tot! Ich begreife es nicht. Er schien
leichtes Spiel zu haben. Doch dann wurde sein Gegner unsichtbar.
Was geht hier vor? Werden die alten Legenden Wirklichkeit? Aber
warum wenden sie sich gegen den edelsten Sproß der Ritterschaft?
Warum siegt das Böse? Lorimer nannte er sich. Nie hörte ich diesen
Namen vorher. Lorimer! Drei Silben, eine mir verhaßter als die
andere! Drei Silben, die dem Teufel einfielen!«

Und er warf sich zu Boden und wühlte das Gesicht in den Staub.

Lautlos weinte Pierre.

»Lorimer«, wiederholte Roland mit einer Stimme, die jeden Klang

verloren hatte. »Seltsam fügt es sich, daß ich dir begegnete, der du
nach eigenem Zeugnis den Schatz des Caliban erbtest. Ich wünsche
dir, Lorimer, daß du in diesen Schatz vernarrt bist, als sei er ein
Stück von dir. Denn ich werde ihn dir entreißen, und es wird sein, als
zerrisse ich dich in Stücke. Armer Percy! Du hörst mich nicht mehr.
Oder doch? Im Jenseites vielleicht? Dort wo die Helden wohnen?
Wie immer es Sein mag, bei deinem Leichnam, dessen Anblick mich
jammert, schwöre ich, du wirst nicht ungerächt bleiben. Und wäre
Lorimer der Satan selbst, ich würde ihn aus der Hölle holen.«

Mit bebender Stimme erinnerte Pierre: »Im Felsenmeer wohnt er,

hinter der dichten Hecke - ich erinnere mich wohl.«

Obwohl niemand von ihnen je das Felsenmeer besucht hatte, war

ihnen der Name und seine ungefähre Lage - sechzig Meilen nördlich
von Köln - gut bekannt. Sie begruben Percy und pflanzten seine
Lanze und seinen Schild aufs Grab. Als sie sich nach seinem Pferd
umsahen, war es nirgends mehr zu sehen. Nur Lorimers Klepper war
noch da. Er hatte in der Zwischenzeit ein saftiges Grasstück
gefunden und tat sich daran gütlich.

Offenbar hatte Lorimer sich auf Percys Pferd davongemacht.
Herzlich, aber mit wenigen leisen Worten begrüßt, hatte sich

unterdessen Volker vom Hohentwiel eingefunden. Auch der
berühmte Minnesänger war auf dem Wege zu ihrem vorher
vereinbarten Treffpunkt. Roland schilderte ihm mit bewegten Worten

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Percys Ende.

Als das Grab errichtet war, griff Volker zur Laute, schlug ein paar

Akkorde an und wollte singen. Aber die Stimme versagte ihm. So
große Trauer ließ keinen Gesang zu. Mit einem rührenden
Achselzucken brach er ab.

Wer würde Helga, Percys Weib, die traurige Nachricht

überbringen? Roland beauftragte Louis damit.

Dessen dunkle Augen wurden schwarz wie die Nacht. Der Auftrag

behagte ihm wenig. Viel lieber wäre er stracks mit zum Felsenmeer
geritten und hätte Lorimer herausgefordert, so große Gefahren das
auch in sich barg.

Doch der wildbärtige Knappe schickte sich drein. Herzlich nahm er

Abschied von den Freunden und ritt dann den Weg zurück, der Burg
in der Aue zu.

Es war ein guter Tagesritt, aber schon bald war klar, daß Louis

sicherlich drei Tage dazu brauchen würde. Denn je näher er der Burg
in der Aue kam, desto langsamer ließ er seinen Braunen gehen. Aus
Galopp wurde Trab. Aus Trab wurde Schritt. So schlichen sie
unlustig dahin.

Louis fürchtete sich vor dem Augenblick, da er Helga die

furchtbare Nachricht enthüllen mußte. Welche Worte sollte er
wählen? Wie sollte er ihr die Tragödie am schonendsten mitteilen?

Kurz und trocken? Weit ausholend? Mit vielem Rumgerede?
Was immer er tat, sie würde ihm die Wahrheit sogleich von den

Augen ablesen. In seinen Ohren gellten schon die schrillen Schreie
der schmerzgetroffenen Frau. Niemals hatte er eine schwierigere und
peinvollere Aufgabe übernommen.

Natürlich wußte er, warum Roland ihn und nicht etwa Pierre zum

Boten bestimmt hatte. Pierre hatte zu wenig Erfahrung im Umgang
mit Frauen. Wenn eine nur das Wort an ihn richtete, pflegte er schon
zu erröten. Er würde ins Stottern kommen und alles nur noch
schlimmer machen.

Dennoch hätte Louis lieber einen Kampf auf Tod und Leben gegen

eine feindliche Übermacht aufgenommen, als der armen Helga die

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Nachricht zu überbringen, daß sie Witwe geworden war.
Unwillkürlich musterte er aus spähenden Augen den vor ihm
aufragenden Wald. Wenn dort ein Trupp Gesetzloser auf ihn lauerte
und ihn überfiele! Es würde zumindest den schrecklichen
Augenblick der Begegnung mit Helga hinauszögern.

Doch niemand lauerte auf ihn. Niemand bedrohte ihn. Und keiner

griff ihn an. Zwischen dem Wald und der etwa eine Meile weit
entfernten Ortschaft wanderten nur einzelne, völlig harmlose
Menschen dahin. Eine Kräutersammlerin, ein Holzfäller, ein Jäger.

Eben betrat der Jäger ein schmales zweistöckiges Haus am

Ortseingang. Als er die Tür öffnete, drang Stimmengewirr heraus. Es
war ein Gasthaus!

Wie von selbst trottete Louis Brauner auf das Gasthaus zu. Oder

lenkte ihn sein Reiter dorthin? Ein kurzer Aufenthalt konnte nicht
schaden. Plötzlich spürte Louis brennenden Durst.

Er stieg ab, band den Braunen an einem Baum fest und beauftragte

einen herumlungernden Jungen, das Tier zu füttern.

Dann betrat Louis die Gaststube. Früher einmal hatte er selber eine

Gastwirtschaft besessen, bevor der Ritter Aar sie dem Erdboden
gleichgemacht hatte.

Niemand kümmerte sich um den neuen Gast. Hinter dem

Ausschank stand ein breitschultriger Mann mit vorgebundener
Lederschürze. Besonders auffallend waren seine riesigen Hände.
Seine Arme waren nackt, und die Muskeln boten bei jeder Bewegung
ein prächtiges Bild. Man sah ihm auf den ersten Blick an, daß er über
außergewöhnliche Körperkräfte verfügte.

Eine hübsche, aber sehr blasse Frau half ihm. Sie spülte Krüge und

reichte sie ihm zu. Dabei warf sie scheue Blicke um sich.

Je länger Louis warten mußte, umso mehr wuchs seine Ungeduld.

Er hatte große Lust, mit der Faust auf den Schanktisch zu schlagen
und zu rufen: Bekomme ich endlich etwas zu trinken?

Aber er bezwang den Impuls. Denn mit diesem Kraftmenschen, der

der Wirt zu sein schien, wollte er nicht ins Handgemenge kommen.

Endlich geruhte der Muskelmann, von Louis Notiz zu nehmen. Er

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fragte in grobem Ton: »Willst du hier nur rumlungern und Maulaffen
feilhalten, Bursche? Oder willst du, verdammt noch mal, was
bestellen?«

Wieder zuckte es Louis in den Fingern. Aber behielt die Ruhe und

antwortete bescheiden: »Wenn es recht ist, nähme ich gern einen
Humpen Bier und ein Krüglein Branntwein.«

»Nur wenn du Geld hast, Bursche!«
Louis nickte bestätigend.
Nach einer Weile stellte der Mann das Verlangte vor ihn hin.

Bedächtig tat Louis Schluck um Schluck. Die Getränke waren von
mittelmäßiger Güte. Immerhin hob sich unter ihrem Einfluß die
gedrückte Stimmung des Knappen. Als er Humpen und Krüglein
geleert, nahm er dieselbe Ration noch zweimal. Danach fühlte er sich
imstande, der Begegnung mit Helga mit größerem Gleichmut ins
Auge zu sehen.

Also kündigte er an, er wolle nunmehr die Zeche bezahlen.
Der Wirt verlangte fünf Dukaten. Das war ungefähr sechsmal so

viel, als er von Rechts wegen verlangen durfte. »Viel zu viel«,
entfuhr es dem verblüfften Louis.

Der Kraftmensch wandte ihm ein breites, grobes Gesicht mit

kleinen bösen Augen zu. »Du hast zehn Humpen leergemacht«,
behauptete er dreist, »und 15 mal füllte ich dir das Krüglein. Wirf
schnell die fünf Dukaten über den Tisch - oder du bekommt eine
Tracht Prügel, an die du dein Lebtag denken wirst!«

Louis schien es, als werfe ihm die Frau warnende Blicke zu. Ihr

Mund bewegte sich tonlos. Der Knappe las ihr das Wort von den
Lippen: »Zahle!«

In der Gaststätte schienen solche Szenen nicht gerade neu zu sein.

Denn kaum einer kümmerte sich darum. Die meisten setzten unbeirrt
ihre Gespräche fort. Nur ein alter Mann, der nicht weit von Louis
entfernt seinen Bierhumpen hielt, mahnte ihn freundlich: »Junger
Mann, wenn Hans Jürgen sagt, daß du ihm fünf Dukaten schuldest,
dann ist es auch so. Denn Hans Jürgen rechnet besser als wir alle
zusammen. Jeder von uns hat sich schon mal geirrt. Und jeden

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belehrte er eines besseren, und so mußten wir draufzahlen, was ich
dir auch dringend rate.«

Louis verstand sehr wohl die Zweideutigkeit dieser Worte.

Plötzlich aber erfaßte ihn ein wilder Zorn auf den Ausbeuter hinterm
Schanktisch. Er warf ihm einen Dukaten hin und rief trotzig: »Hier,
du Rechenkünstler! Mehr gibt es nicht! Ich verschenke mein Geld
nicht an Betrüger!«

Er hatte den letzten Satz kaum ausgesprochen, da schien das Dach

über ihm zusammenzubrechen. Ein fürchterliches Krachen erfüllte
seinen Schädel. Louis begann zu schwanken. Hilfesuchend ruderte er
mit den Armen in der Luft. Er bekam den alten Mann zu fassen.
Doch seine Finger glitten kraftlos ab.

Dann stürzte er der Länge nach in die Sägespäne.

*

Volker und Pierre hatten große Mühe, Roland nicht aus den Augen
zu verlieren. Eine tiefe Unruhe trieb den Ritter vorwärts. Sie übertrug
sich auf Samum, der in weiten Galoppsprüngen dahinstürmte.

Zweimal mußte Volker aus dem Sattel, um an Samums Hufspuren

die Richtung zu bestimmen. Nur so blieben sie auf Rolands Spur.

So kam es, daß er bei seinem Zusammentreffen mit Wulfbrand und

dessen Kameraden allein war.

Roland überraschte die drei Männer, als sie rund um ein

Lagerfeuer saßen und einen Rehrücken brieten. Er hatte den
Feuerschein schon von weitem gesehen und war gerade darauf
zugeritten.

Die Männer sprangen auf. Sie besaßen ausdrucksvolle Gesichter

mit mehr Falten, als es in ihren Jahren üblich war. Sie schienen voll
Furcht. Ihr Anführer, ein hochgewachsener Mann, sagte ehrerbietig:
»Gestattet, Herr Ritter, daß wir Euch zu unserem Mahle einladen.«

Unschlüssig verharrte Roland. Er hatte den ganzen Tag über

keinen Bissen zu sich genommen. Der würzige Geruch des Bratens
stieg ihm verlockend in die Nase. »Gut«, sagte er schließlich. »Ich

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nehme Eure freundliche Einladung an. Mein Name ist Roland. Doch
folgen mir noch zwei Gefährten ...«

»Das Fleisch reicht für alle«, beruhigte der Große. Dabei flog ein

Leuchten über sein Gesicht. Kam es von innerer Gemütsbewegung?
Oder war es der Abglanz des Lagerfeuers? »Da Ihr Roland seid, den
die Leute als Helden preisen, möchte ich mich und meine Kameraden
unter Euren Schutz stellen. Ich heiße Wulfbrand. Seht, wir sind
wandernde Schauspieler. Unsere Waffen taugen nur für die Bühne,
auf der wir manche Schlacht darzustellen vermögen. Doch im
wirklichen Leben sind wir erbärmlich dran, wenn es darum geht, die
Waffen miteinander zu messen. Schon mehrfach begegneten wir
Räubern und konnten ihnen nur knapp entkommen. Deshalb wäre es
uns lieb, wenn Ihr uns schütztet, edler Roland.«

Eine halbe Stunde später trafen Volker und Pierre ein. Dann ließen

sich die sechs Männer den Rehrücken schmecken. Auch die beiden
anderen Schauspieler bestätigten den Wunsch, unter Rolands Schutz
Weiterreisen zu dürfen.

»Wohin führt denn Euer Weg?« fragte Roland.
»Zur Burg Momberg«, sagte der Anführer der Schauspieler. »Dort

sind wir eingeladen, ein Spiel vorzuführen. Wir werden sie morgen
im Laufe des Nachmittags erreichen. Sie liegt im Norden.«

»Dann liegt sie auf unserer Richtung«, meinte Volker. »Aber sagt

mir, guter Mann, wie kommt es, daß Eure Truppe aus nur drei
Personen besteht? Welcher Art sind denn die Stücke, die Ihr spielt?«

»Wir beherrschen auswendig sechs Tragödien und eine Komödie.

Jeder von uns übernimmt in den Stücken mehrere Rollen, auch die
von Weibern. So können wir selbst personenreiche Dramen
wiedergeben.«

»Aber es werden sich nie mehr als drei Personen gleichzeitig auf

der Bühne befinden«, wandte Volker ein.

»Das ist auch nicht notwendig«, erwiderte der Schauspieler. »Denn

kein Zuschauer kann mehr als drei Personen auf einmal im Auge
behalten.«

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*

Wie Wulfbrand vorausgesagt hatte, kamen sie am Nachmittag des
nächsten Tages auf Burg Momberg an. Sie lag äußerst abgeschieden
- fern von den bekannten Reisewegen. Nach Auskunft der Mimen
waren sie von der Burgherrin Tula eingeladen worden. Tula führte
seit dem Tode ihres Vaters auf Momberg das Regiment.

Die Burg sah vernachlässigt aus. Die Bediensteten, die Roland und

seine Gefährten zu Gesicht bekamen, wirkten unhöflich und
anmaßend.

Man wies ihnen weit voneinander entfernt liegende Räume als

Gastzimmer an. Erst am Abend wollte die Burgherrin sie beim Essen
begrüßen. Danach sollte die Theatervorstellung beginnen.

Rolands Gemach besaß einen winzigen vergitterten Balkon, auf

dem gerade eine Person Platz fand. Da es im Zimmer stickig war, trat
der Ritter auf den Balkon hinaus.

Er blickte auf einen unregelmäßig verlaufenden Graben mit hohem

Wasserstand. Der Rest war von Unkraut überwuchert. Auf dieser
Seite der Burg, die grau und abstoßend wirkte, gab es nur einen
weiteren Balkon, der ein Stück schräg über Roland an der
Außenwand klebte.

Aus der Richtung dieses Balkons ertönte plötzlich der Gesang

einer Frau. Die Stimme war so lieblich wie der Himmel an einem
schönen Frühjahrsmorgen, so klar wie ein Bergsee und so melodisch
wie der Ruf der Lerche über dem Stoppelfeld. Roland erstarrte und
lauschte gespannt. Die Stimme drang ihm tief ins Herz.

Melodie und Text waren traurig. So lauteten die Worte:
»Oh weh, wie ist der Geliebte mir ferne! Mich hört nur der Wind,

mich sehn nur die Sterne. Wie sollt' ich nicht weinen, wie sollt' ich
nicht trauern? Gefangen bin ich in den eigenen Mauern.«

Dann verstummte der Gesang. Aber die Töne schwebten in

Rolands Seele. Während er ihnen noch atemlos nachlauschte,
entstand Bewegung auf dem unteren Balkon. Zuerst erschien eine
Hand, ein schlanker Arm. Dann schob sich ein Köpfchen ins

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Blickfeld - nur für kurze Zeit, nicht länger als drei schnelle
Atemzüge.

Aber die Linien dieses Gesichtes prägten sich Roland

unauslöschlich ein. Das klare, leicht gebräunte Oval unter dem
kastanienbraunen Schwall von Haaren, die hellen Augen, in denen
Tränen glitzerten und die doch voller Mut erschienen, der volle
kirschrote Mund.

Roland war wie verzaubert. Wer war diese Schönheit?
Noch ehe er zu einem Entschluß kam, vollführte der Arm der Frau

eine halbkreisförmige Bewegung, und ein kleines rundes Etwas flog
wie ein Vogel in steilem Bogen zu ihm hinauf. Doch ach, gleich war
zu sehen, daß der Schwung nicht ausreichen würde. Zu kurz, zu
niedrig flatterte das Ding. Doch kam es nahe genug, daß es zu
erkennen war - ein Bogen Papier, der um einen Stein gefaltet
worden.

Eine Botschaft für ihn?
Ohne Besinnen sprang Roland mit dem Kopf voran über das Gitter.

Nur mit der linken Hand hielt er sich an dem eisernen Querrahmen
fest. So hing er mit dem Kopf nach unten und haschte mit ausge-
strecktem rechten Arm nach dem Blatt.

Schon berührte er es mit den Fingerkuppen. Noch einmal faßte er

nach. Da entglitt es ihm schon. Er konnte es nicht festhalten. Es fiel
nun rasch hinunter, platschte in den Burggraben und versank.

Einen Augenblick drohte Roland abzustürzen. Doch eisern hielt

seine Linke ihren Griff.

Er warf den Körper herum und schwang sich mit einem kraftvollen

Klimmzug über das Gitter auf den Balkon.

Nun spähte er wieder nach drüben. Ihm war, als höre er einen

unterdrückten Aufschrei. Der Arm der Frau verschwand.

Noch lange Zeit stand Roland wie angewurzelt und wandte den

Blick nicht von dem nun leeren Balkon. Von dort kam kein Laut
mehr, und niemand zeigte sich. Zeitweise war ihm, als habe er am
hellen Tage geträumt.

Und doch hatte er ihr Lied gehört, ihr Gesicht gesehen und sich

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nach ihrem Zettel ausgereckt.

Und wie er alles noch einmal vor seinem geistigen Auge abrollen

ließ, war er plötzlich ganz sicher, daß jemand im Inneren des
Zimmers die Frau mit Gewalt hineingezerrt hatte.

*

Es klopfte an Volkers Zimmertür. Der Minnesänger erhob sich vom
Lager, auf dem er geruht hatte, und öffnete.

Draußen standen die beiden Schauspieler von Wulfbrands kleiner

Truppe. Volker ließ sie herein. Mit verlegenen Gesichtern folgten sie
der Aufforderung.

Bevor sie ihr Anliegen vorbringen konnten, fragte Volker den

Kleineren, dessen breiter Gürtel sich über einem ansehnlichen
Bäuchlein spannte: »Was für Rollen spielt Ihr, mein Bester?«

Bereitwillig gab der Dicke Auskunft. »Ich spiele Heldenväter und

Könige, Pfaffen und Mönche, komische alte Weiber und strenge
Richter.«

»Und ich«, fiel ihm sein Kamerad, ein drahtiger Mann, Mitte

Zwanzig ins Wort, »stelle meist Wulfbrands Gegenspieler dar, die
Bösewichter und Verbrecher, die Intriganten und Ränkeschmiede.
Doch wenn es sein muß, hülle ich mich auch in Weiberkleider und
spiele zarte und romantisch gesinnte Prinzessinnen.«

»Das bringt mich auf den Grund unseres Besuchs«, nahm der

Dicke wieder das Wort. »Die Burgherrin Tula schickt uns. Da sie die
schönen Künste liebt, bittet sie um den Vorzug, den berühmten
Minnesänger vom Hohentwiel noch vor dem Abendessen
kennenzulernen.«

»Ich habe nichts dagegen. Ist sie jung und schön?«
Statt einer Antwort verdrehten die beiden verzückt die Augen, und

der Darsteller ruchloser Bösewichte und bezaubernder Prinzesinnen
küßte sich vielsagend die Fingerspitzen.

Volker sprang auf. »Warum sitzen wir noch herum? Lassen wir die

Herrin nicht warten!«

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»Gestattet, daß ich vorangehe«, sagte der Mann, der auf der Bühne

Könige, Pfaffen und komische alte Weiber zu verkörpern pflegte.

Volker ging hinter dem Dicken her. Seine lebhafte Fantasie malte

sich bereits die Burgherrin Tula in vielen Einzelheiten aus. Dabei
achtete er überhaupt nicht auf den Weg, den der dicke Schauspieler
einschlug. Er merkte nicht, daß es tiefer und tiefer hinunter ging und
immer dunkler wurde. In seine Fantasien versunken, fiel es ihm auch
nicht auf, daß jetzt außer dem drahtigen Schauspieler, dem Bühnen-
Bösewicht, noch weitere vier Bedienstete ihm folgten.

Einmal fragte er ungeduldig: »Sind wir bald da?«
»Sofort«, gab der Dicke über die Schulter zurück.
Als wäre das Wort ein Signal, stürzten sich auf einmal der

Drahtige und die vier Bediensteten von hinten auf den Minnesänger.
Der war viel zu überrascht, um große Gegenwehr zu leisten.

Schon schloß der Dicke eine Tür auf, und die Männer stießen

Volker in den dahinterliegenden Raum. Sie warfen die Tür hinter
ihm zu. Gleich darauf hörte er, wie sich draußen abermals der
Schlüssel drehte.

Mit Schwung stürzte Volker in den stockfinsteren Raum, dessen

Fußboden sich steil senkte. Laut plätscherte es unter seinen Füßen.
Das Wasser spritzte bis zu seinen Oberschenkeln. Er hatte Mühe,
sich auf den Beinen zu halten und nicht lang hinzustürzen.

Es roch muffig. Im Nu waren seine Schuhe durchgeweicht. Das

Wasser mußte in dem Gemach anderthalb Fuß hoch stehen.

Volker fand sein Gleichgewicht wieder. Er stand still. Das Wasser

reichte ihm fast bis an die Hüften.

Von irgendwoher kam ein leises Wimmern.
Immer noch war es stockdunkel. Keine Möglichkeit, sich zu

orientieren. Und doch hatte Volker schon eine ungefähre Vorstellung
von dem Ort, an den man ihn verschleppt hatte.

Er drehte sich um und schritt langsam zurück. Jetzt ging es bergan,

und mit jedem Schritt wich das Wasser ein wenig.

Wie aus weiter Ferne sagte eine Stimme: »Ist da wer?«
Sie klang ungemein kläglich. Volker erkannte den Sprecher. Es

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war Pierre, der Knappe. Er antwortete in ruhigem Ton: »Ja. Ich bin's,
Volker!«

»Oh, Herr Ritter«, jammerte Pierre unsichtbar in der Finsternis.

»Ich fürchte, wir sind verloren!«

»Niemand ist verloren, solange er sich nicht selber verloren gibt«,

versetzte Volker. »Wie bist du hierher geraten?«

»Ich schlief«, berichtete Pierre weinerlich, »ermüdet von dem

langen Ritt. Da drangen zwei Kerle in mein Gemach, warfen einen
Teppich über mich, rollten mich ein, so daß ich mich nicht wehren
konnte, und trugen mich davon.«

»Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«
»Zuerst dachte ich an einen Scherz. In meiner Pagenzeit trieben

wir auf Schloß Camelot aus Übermut oft derlei derbe Spaße.
Manchmal überfielen wir, als Gespenster verkleidet, einander des
Nachts. Erst als sie mich in dieses grausige Gemach hier einsperrten,
dämmerte es mir, daß die Sache womöglich nicht so harmlos gemeint
war, wie ich zuerst angenommen.«

»Da hast du recht, Pierre. Schauen wir den Tatsachen ins Auge!

Wir sind im Verlies.«

»Und das Wasser? Das Verlies auf Schloß Camelot, in dem einst

Roland schmachtete, war völlig trocken.«

»Das viele Wasser hier beweist, daß unser Gefängnis mit dem

Burggraben in Verbindung steht. Wo bist du?«

»An der Wand. Links neben der Tür.«
»Gut. Bleibe vorläufig dort! Ich sehe mich mal um.«
»Seid nur vorsichtig, Ritter!«
»Ach Pierre! Keinen erwischt das Schicksal eher als den, der sich

stets und ständig von der Vorsicht leiten läßt. Mein bester Ratgeber
war immer der frische Mut.«

Er hörte Pierre seufzen und watete wieder tiefer ins Wasser. Bald

stieg es ihm bis an die Brust. Er begann zu schwimmen, denn das
Waten wurde schwierig. Nicht lange, und seine tastende Hand stieß
an Stein. Er mußte die äußere Burgwand erreicht haben.

Volker schwamm an der Wand entlang. Zuerst versuchte er es nach

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links. Aber hier endete das Verlies schon nach wenigen
Schwimmstößen mit der Querwand. Deshalb drehte er sich um und
erkundete die andere Seite.

Unterwegs hielt er mit einer Hand stets Verbindung zur

Außenwand.

Plötzlich faßte er ins Leere. An dieser Stelle war der Stein

durchbrochen. Volker schloß daraus, das sich hier der Durchgang
zum Burggraben befand.

Nach wenigen Augenblicken stellte sich heraus, daß seine

Vermutung zutraf. Das Loch war ziemlich kreisrund und etwa eine
Armspanne im Durchmesser. Das war der Ausweg ins Freie!

Er überlegte, ob er gleich zurückkehren und Pierre holen sollte.

Aber er entschloß sich anders. Der ängstliche Knappe würde ihn
wahrscheinlich mit allerhand Bedenken, Ausflüchten und
Verzögerungen längere Zeit aufhalten. Womöglich konnte der Junge
nicht einmal schwimmen!

Nein, jetzt kam es auf rasches Handeln an! Wer weiß, was

inzwischen mit seinem Freund Roland geschehen war!

Das Schwimmen durch den runden Verbindungskanal bot keine

Schwierigkeiten. Allerdings mußte er sich sehr flach im Wasser
halten, da es fast bis zur Decke reichte und man sich da oben leicht
den Kopf stoßen konnte.

Mit fünf Stößen geriet Volker an ein neues Hindernis. Eine

schwere Holzklappe verschloß das Loch von außen.

Mit den Fäusten klopfte Volker dagegen. Die Klappe rührte sich

nicht. Er versuchte es mit verdoppelter Kraft, Ohne Erfolg.

Volker murmelte ein paar Flüche, die er nie vor Damenohren von

sich gegeben hätte. Dann befühlte er das Holz. Er suchte nach
irgendeinem Schloß, einem Riegel, einem Haken oder wenigstens
einer Unebenheit.

Er fand nichts. Das Holz war so glatt poliert wie der Marmorsaal

auf Schloß Camelot.

Im Wasser legte sich Volker auf den Rücken, stützte sich mit den

Händen an den Seitenwänden ab und bearbeitete das Brett mit den

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Füßen.

Das Brett rückte und bewegte sich nicht. Sie waren eingeschlossen.

*

Mehrere Gongschläge dröhnten durch Burg Momberg. Roland
gürtete seine Lenden und verließ das Gemach. Er nahm als
selbstverständlich an, daß der Gong zum Abendessen rief.

So war es auch.
Am Eingang zur Halle hielt ihn ein farbenfroh kostümierter Diener

auf und erklärte mit vollendeter Höflichkeit: »Darf ich Euch bitten,
Herr Ritter, Euer Wehrgehänge mit dem Schwert abzulegen, bevor
Ihr die Halle betretet?« Als er die Unmutsfalte auf Rolands Stirn sah,
fuhr er beflissen fort: »Laßt es mich nicht entgelten, daß ich diese
Bitte äußere! Ich tue es nur auf strenges Geheiß der Burgherrin Tula.
Sie haßt den Anblick von Waffen in solchem Maße, daß sie in ihrer
Gegenwart keine duldet.«

»Ist das wirklich so?« meinte Roland zögernd.
»Ja, leider«, bestätigte der Lakai in einem Ton, als mißbillige er

selber diese Anordnung der Herrin von Herzen.

Unter widerstreitenden Gedanken entledigte sich Roland seiner

Waffe und händigte sie dem Lakai aus. Dabei wurde er das
unbehagliche Gefühl nicht los, einen schweren Fehler zu begehen.
Aber er wollte als Gast nicht gleich Ärger machen, und die Erklärung
des Lakaien war ja auch recht einleuchtend.

Beim Eintritt in die Halle erblickte er als erstes die Burgherrin. Sie

stand umgeben von Zofen und mehreren Männern. Sie trug ein
kostbares Seidenkleid von zartgrüner Farbe. Nach der Mode der Zeit
legte der tiefe Halsausschnitt die obere Hälfte ihrer prachtvollen
Brüste frei.

Bewundernd umfaßte sein Blick ihre herrliche Gestalt. Er sah den

Schwall kastanienbrauner Haare und die feinen Linien ihres
Gesichts, die sich seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt
hatten.

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Sie war es! Die traurige Sängerin auf dem Balkon war niemand

anders als Tula, die Burgherrin.

Entschlossen trat Roland auf sie zu. Aber da hielten ihn die Hände

einiger Diener an den Ärmeln fest. »Verzeiht, Herr Ritter! Wir haben
Auftrag, Euch zu Eurem Platz zu führen.«

Gleichzeitig wandte Tula sich ab und begab sich mit ihrem

Schwarm von Zofen und Lakaien an die Stirnseite der Tafel. Oder
war es nicht vielmehr so, daß man sie mit sanfter Gewalt dorthin
brachte?

Roland wandte sich an den Diener, der hinter seinem Stuhl stand.

»Wo ist Ritter Volker?«

Die Antwort kam ohne Besinnen. »Ritter Volker erbat für eine

Stunde Urlaub. Ihm ist eine Melodie für ein Minnelied eingefallen.
Er ging vor die Burg, um beim Lustwandeln in den Fluren einen Text
dazu zu ersinnen.«

Beim Mahl saß Wulfbrand am oberen Ende der Tafel neben Tula.

Angeregt unterhielt er sich mit ihr. Doch nur hin und wieder gab sie
ihm eine kurze Antwort. Oft irrte ihr Blick von ihm ab, und dann
ruhten ihre großen braunen Augen mit ernstem Ausdruck auf Roland.

Es gab Forellen, Äschen und Hecht.
Roland legte gerade eine große Gräte neben seinen Teller, als er

wiederum Tulas Blick auffing. Plötzlich bemerkte er etwas
Seltsames. Die Burgherrin sah ihn voll an und kniff dann das linke
Auge zu. Das wiederholte sie fünfmal!

Die Diener trugen Platten mit Wildschweinfleisch auf.
Tula ergriff ein Fleischmesser. Ohne den Blick von Roland zu

wenden, klopfte sie mit dem Messerrücken als sei sie in Gedanken
versunken, auf die Tischplatte. Roland zählte mit. Sie tat es fünfmal!

Und fünfmal schnippte sie mit den Fingern, um einen Diener

herbeizurufen.

Da wußte Roland, daß irgend etwas Schreckliches im Gange war,

vor dem sie ihn warnen wollte. Auch sie selber schien sich in Gefahr
zu befinden. Sie bat um Hilfe!

Denn im geheimen Code der Ritterschaft, der nur mündlich

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weitergegeben wurde, gab es ein besonderes Warn- und Hilfssignal.
Es bestand in fünfmaliger schneller Wiederholung einer bestimmten
Tätigkeit, die mit den Augen oder den Ohren wahrzunehmen war.
Meist wurden diese Signale mit dem Horn gegeben.

Wahrscheinlich kannte Tula das ritterliche Geheimnis von ihrem

Vater. Vielleicht hatte er es ihr, da er keine männlichen
Nachkommen besaß, auf dem Sterbebett anvertraut.

War Tula in Not?
Wieder einmal bedauerte es Roland, sich so leichtfertig von seinem

Schwert getrennt zu haben. Ihm fielen die Schlußworte ihres Liedes
ein:

»Gefangen bin ich in den eigenen Mauern ...«
War sie wirklich eine Gefangene? Und wer hielt sie gefangen?

Jeder nannte sie doch die »Herrin«! Andererseits aber hatte es so
ausgesehen, als hielte man sie mit Gewalt von ihm fern.

So schien es auch, als die Tafel aufgehoben, die Bänke in Reihen

aufgestellt wurden und die Burgbewohner Platz zu dem Schauspiel
nahmen, das Wulfbrands Truppe aufführen sollte. Wieder versuchte
Roland, an Tulas Seite zu gelangen. Wieder hielten Zofen und La-
kaien sie von ihm fern. Und wieder blinzelte sie ihm mit einem Auge
zu - fünfmal!

Das Schauspiel begann. Roland saß ganz links in der vordersten

Reihe, um mehrere Plätze von Tula getrennt.

Der dicke Bursche trat als erster auf. Er trug eine mit Goldfarbe

angestrichene Pappkrone auf dem Kopf, erklärte, daß er König Janko
heiße und beträchtliche Schwierigkeiten mit seinen Feinden habe. Sie
wollten ihm Thron und Krone rauben. Das Publikum war sofort
gebannt. Der Bursche sprach und spielte gut.

Danach kam sein drahtiger Kollege. Er trug Frauenkleider, und die

Zuschauer tauschten bewundernde Bemerkungen über seine reizende
Erscheinung aus.

Der verkleidete Drahtige gab bekannt, er sei Jarmone, die Tochter

des Königs Janko, und sei bereit, dem kühnen Mann die Hand zum
Ehebunde zu reichen, der ihrem Herrn Vater gegen seine Feinde

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helfe und ihm Thron und Krone bewahre.

Gerührt umarmte der Dicke den Drahtigen - der König seine

Tochter - und dankte in bewegten Worten für soviel Kindesliebe.

Der folgende Auftritt Wulfbrands setzte die Zuschauer in

merkliche Erregung. Jetzt verstummten alle leisen Gespräche
außerhalb des Bühnenraums, denn Wulfbrand war ein dramatischer
Mime, der mit einer Handbewegung, einem einzigen Worte
gespannte Aufmerksamkeit erzwang.

Wulfbrand nannte sich in diesem Stück Prinz Joker. Mit einer

geschulten Stimme, die bis in den letzten Winkel der Halle drang,
schwor er, die Feinde des Königs zu vertreiben und alle, deren er
habhaft werden konnte, zu erschlagen. Als Beweggrund führte er
seine brennende Leidenschaft zu Jarmone an, die bei diesen Worten
erregt die Hand an die Lippen führte und die Augen zu Boden
schlug.

Das war von beiden sehr gut gespielt. Man meinte fast, Jarmone

erröten zu sehen.

König Janko, der bis dahin sorgenvoll dreingeblickt hatte, lächelte

erfreut, reichte Prinz Joker die Hand, drückte ihm gerührt seinen
Dank aus und empfahl ihm, sich sofort ans Werk zu machen, damit
er umso eher den Siegespreis in Empfang nehmen könne.

Dann gingen König und Tochter gemeinsam ab.
Es dauerte nicht lange, und sechs Männer in grauem Steifleinen,

das wie Rüstungen aussah, stürmten auf die Bühne. Sie schwangen
Schwerter aus Holz. Aber bevor sie auf Prinz Joker eindrangen,
hielten sie noch eine erregte Besprechung mit Rede und Widerrede
ab, fuchtelten mit den Armen, stampften mit den Füßen auf und
rollten wild mit den Augen. Alles machte einen sehr starken
Eindruck auf die Zuschauer. Roland fand es allerdings ein wenig
lächerlich, weil er wußte, daß sich solche Szenen in Wirklichkeit
doch etwas anders abspielten. Dennoch konnte er sich dem Zauber
des Bühnengeschehens nicht entziehen.

Jedenfalls bestand Wulfbrands Truppe, wie man sah, aus viel mehr

Männern als den drei, denen er unterwegs begegnet war.

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Endlich waren sich die Sechs in Steifleinen einig und rannten mit

geschwungenen Holzwaffen und unter großem Kriegsgeschrei von
allen Seiten zugleich auf Joker zu.

Der folgende Kampf gefiel auch Roland über die Maßen. Obwohl

er mit ungefährlichem Holz ausgetragen wurde, zeigte es sich
deutlich, daß die Schauspieler nicht wenig von der Fechtkunst
verstanden. Stich, Schlag, Finten und Konter folgten aufeinander mit
verblüffender Leichtigkeit. Natürlich war alles vorher abgesprochen
und sicherlich viele Male geprobt worden. Dennoch wirkte das
Ergebnis verblüffend echt.

Prinz Joker überwältigte nun einen seiner Gegner nach dem

anderen. Die Zuschauer sparten nicht mit Beifall. So stürmisch ging
es auf der Bühne zu, daß auch Roland gepackt war und zeitweilig
meinte, einem wirklichen Kampfe beizuwohnen.

Äußerst echt stellten einige der Steifleinen, die nicht fliehen

konnten, ihre Sterbeszene dar. Wenn sie scheinbar unter großen
Qualen ihr Leben aushauchten, wurden im Publikum Ausrufe laut,
die verschiedene Stimmungen wiedergaben: Schadenfreude und
Mitleid herrschten vor.

Der dicke König rief seine Tochter auf die Bühne. In seinen

Frauenkleidern kam der Drahtige angetrippelt. Wieder löste sein
Erscheinen begeisterte Zurufe im Publikum aus. Wer nicht wußte,
daß sich unter den Röcken ein Mann verbarg, hätte es nie erraten. So
vorzüglich spielte der Drahtige die weibliche Rolle. Da stimmte alles
bis in die Bewegung des kleinen Fingers.

Auf dem Höhepunkt der Vorstellung sanken Jarmone und Joker

einander in die Arme. Die Zuschauer klatschten sich vor Vergnügen
auf die Schenkel. Die beiden Schauspieler mußten die Umarmung
mehrmals wiederholen. Das Publikum forderte es.

Danach nahm König Janko wieder das Wort. »Du hast meine

Feinde besiegt«, sagte er zu Joker, »aber dein Schwert ist dabei
schartig geworden.«

Joker zog sein Holzschwert, das allerdings krumm und schief

gehauen war, und warf es auf den Boden.

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»Zum Zeichen meiner immerwährenden Huld«, fuhr der Dicke

fort, »nimm dieses Schwert entgegen!«

Ein Lakai betrat die Bühne. Auf einem Samtkissen trug er die

angekündigte Waffe vor sich her - so vorsichtig, als sei es ein Kessel
voll heißer Brühe. Joker griff nach dem Wehrgehänge. Der Lakai
machte kehrt und ging mit dem leeren Samtkissen ab.

Roland warf einen schnellen Blick um sich. Die Dienerschaft stand

überall an den Wänden der Halle verteilt. Und alle Diener schauten
ihn unverwandt scharf an!

In diesem Augenblick zog auf der Bühne Joker das Schwert aus

der Scheide. Es funkelte und gleißte im Licht der vielen Fackeln.
Dies war kein Holzschwert. Es war aus bestem Stahl - und die
Schneide war geschärft.

Während König und Tochter, der eine würdig, die andere anmutig

die Bühne räumten, begann Joker einen faszinierenden
Schwertertanz. Mit unglaublicher Gewandtheit wirbelten seine Füße
ihren verwirrenden Takt. Dabei schwang er die Waffe in genau
berechneten Figuren. Und immer näher tanzte er an die Stelle heran,
wo Roland saß ...

*

Volker schwamm in das Verlies zurück. Sobald er Grund unter den
Füßen hatte, watete er zu Pierre. Er rief ihn an, und dessen Antwort
wies ihm im Dunkel die Richtung.

Kurz berichtete Volker, wie die Sache stand. Pierre unterdrückte

tapfer das aufsteigende Schluchzen.

»Mit Gewalt ist da nichts zu machen«, schloß der Ritter. »Das

Wasser des Burggrabens drückt die Holzplatte fest gegen die Wand
rund um die Öffnung. Aber vielleicht könnte man sie zur Seite hin
verschieben. Wenn man nur ein Werkzeug hätte!«

»Ihr meint - ein Beil?«
»Jeder spitze Gegenstand würde mir nützen. Du hast auch nicht

zufällig einen spitzen Gegenstand bei dir?«

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Pierres Antwort bestand in einem langen Seufzer.
Volker deutete den Seufzer als Verneinung. »Dann bleibt uns

nichts anderes übrig, als abzuwarten.«

»Aber ich habe einen spitzen Gegenstand bei mir! Zwei sogar ...«
»Du hast...?«
»Ja!«
»Gib her! Gib sofort her! Was ist es?«
»Ein Besteck.«
»Ein Besteck?«
»Ja. Ein Messer und eine Gabel. Ich trage immer ein Besteck bei

mir, wohin es auch geht. Selbst ins Schlafzimmer und auch in die
Schlacht. Ich pflege nämlich leicht hungrig zu werden. Und nichts ist
enttäuschender, als im Zustand des Hungrigseins einen Batzen
Fleisch oder einen schönen Käse zu finden und kein Besteck bei sich
zu haben!«

»Schon gut. Her mit dem Besteck! Oh, das ist gut. Ein sehr starkes

Besteck. Das hält etwas aus. Damit brauchte man sich vor einem
lebenden Bären nicht zu fürchten. Hör zu! Ich versuche jetzt, mit
Hilfe deines Bestecks die Platte wegzuschieben. Wenn es gelingt,
schwimme ich ins Freie und ... das heißt, ich sollte vielleicht noch
einmal zurückkommen und dich holen?«

»Das hat Zeit, Ritter Volker! Ich an Eurer Stelle würde zunächst

nach Roland sehen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Nun ist er ganz
allein auf sich gestellt. Wer weiß, in welche Falle man ihn gelockt
hat. Ihr müßt, sobald Ihr frei seid, Euch um nichts kümmern als um
ihn. Sicherlich braucht er Hilfe. Mich könnt Ihr später befreien.«

»Ich danke dir, Pierre. Du bist ein Bursche, der das Herz auf dem

rechten Fleck hat.«

Pierres Antwort hörte Volker nicht mehr. Er hatte sich erneut ins

Wasser geworfen und schwamm zu der Öffnung. Unterwegs verirrte
er sich mehrmals. Aber dann fand er doch den kreisrunden Durchlaß.

Mit aller Kraft stieß er erst das Messer und dann die Gabel in die

Holzplatte. Tief drangen Schneide und Zinken ein. Volker packte sie
wie Handgriffe und schob mit aller Macht die Platte zur Seite.

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Diesmal glückte es. Und es ging sogar überraschend leicht. Nach

kurzer Zeit lag die Öffnung frei. Volker schwamm in den
Burggraben hinaus.

*

Als sich der gewalttätige Gastwirt über Louis beugte, tauchte der
Knappe aus den Tiefen der Bewußtlosigkeit wieder an die
Oberfläche der Wahrnehmung. Er spürte, wie die schaufelgroßen
Hände des Mannes seine Kleidung durchstöberten.

Louis ganzes Vermögen bestand aus zwölf Golddukaten. Es

dauerte nicht lange, und der starke Hans Jürgen fand sie. Ohne sich
um die halb neugierigen, halb ängstlichen Blicke seiner Gäste zu
kümmern, nahm er die Münzen an sich. Dann riß er den liegenden
Körper hoch und rief: »Macht mir die Tür auf!«

Beflissen gehorchten mehrere Gäste.
Hans Jürgen schaukelte Louis wie ein kleines Kind. So holte er

Schwung zum Rauswurf. Doch plötzlich wurde der scheinbar
Bewußtlose in seinen Armen höchst lebendig. Er streckte die beiden
angezogenen Beine scharf und trat dem Wirt vor die Brust. Mehr
überrascht als vor Schmerz ließ der sein Opfer los.

Im Sturz umklammerte Louis die Beine des Gegners und brachte

ihn zu Fall. Schwer krachte Hans Jürgen vor seinem Schanktisch in
die Sägespäne. Blitzschnell kauerte Louis ihm auf Brust und
Oberarmen. Seine Knie bohrten sich schmerzhaft in Hans Jürgens
Armmuskeln. Der stöhnte. Tränen traten ihm in die Augen.

Mit einem Mal standen alle Gäste um sie herum. Die Stimmung

war völlig umgeschlagen. Sie feuerten Louis an.

»Gib es dem Betrüger!«
»Er hat uns monatelang schikaniert!« »Jetzt bekommt er die

gerechte Strafe!« Sie gaben dem hilflosen Hünen Püffe und Tritte.

Es endete damit, daß Hans Jürgen das Schicksal erlitt, das er Louis

zugedacht hatte. Sie nahmen ihm alles Geld ab, das er bei sich hatte,
warfen ihn hinaus und rieten ihm, sich nie wieder blicken zu lassen.

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Louis bat sich seine zwölf Dukaten aus, erhielt sie, stellte sich an

den Schanktisch und sagte zu der blassen Frau: »Einen Humpen Bier,
bitte, und ein Krüglein Branntwein!«

Ihre Augen strahlten, als sie das Verlangte vor ihm hinsetzte. »Du

kannst soviel trinken, wie du willst, und bezahlst keinen Pfennig - bis
an dein Lebensende!«

»Das hört sich gut an«, sagte er lächelnd und tat ihr Bescheid. »Ist

Hans Jürgen nicht dein Mann?«

»Ein Landstreicher ist er«, rief sie. »Kam eines Tages her, bot sich

als Hilfe an und tyrannisierte bald alle Welt. Wer sich widersetzte,
den schlug er zuschanden. Ich bin die Wirtin, aber ich zählte bald
weniger als eine Dienstmagd. Und niemand hatte den Mut, mir zu
helfen. Alle fürchteten seine gewaltige Kraft. Bis du kamst...«

In ihren Augen las Louis, daß er diese Nacht nicht in freiem Felde

und nicht auf einer Strohschütte verbringen würde.

Helga hatte er völlig vergessen.

*

In der Halle der Burg Momberg ...

Immer näher kommt der tanzende Wulfbrand dem gebannt

zuschauenden Roland.

Der Rhythmus des Tanzes aber hat sich verlangsamt. Aus dem

Stakkato rascher Bewegung entwickelt sich das unheimliche
Anschleichen eines Raubtieres.

Drei Schritte vor, zwei zurück.
Auch das Schwert führt Wulfbrand nun anders. Nur noch

andeutungsweise zersticht es die Luft. In kleinen Bögen läßt der
Schauspieler die Klinge tanzen.

Der Mann, der neben Roland sitzt, beugt sich zu ihm. »Ist

Wulfbrand nicht ein wunderbarer Mime?« fragt er zweideutig. »Alles
beherrscht er: Sprache, Mimik, Gefühl und Aktion. Sagt selbst: habt
Ihr je ein größeres Talent auf der Bühne gesehen?«

»Noch nie«, beeilt sich Roland zu versichern. Tatsächlich war dies

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die erste Theatervorstellung seines Lebens. Nicht einen Moment läßt
er Wulfbrand aus den Augen. Und der kommt näher ...

Drei Schritte vorwärts, zwei zurück.
Unausweichlich näher ...
Wenn er jetzt den Arm voll ausstreckt, würde die Schwertspitze

Rolands Brust berühren.

Drei Schritte vorwärts!
Roland springt auf und wirft sich nach rechts. Die Luft sirrt wie

unter einem Peitschenhieb. Nur um Handbreite verfehlt ihn der
sausende Schwertstreich, der sein Haupt spalten sollte.

Da gellt Tulas Stimme: »Flieht, Roland! Er wird Euch umbr...«

Kräftige Fäuste haben die Burgherrin gepackt. Eine entschlossene
Hand hält ihr den Mund zu.

Unverhüllt geht Wulfbrand jetzt gegen Roland vor. Er hat die

Tarnung des Tanzes aufgegeben. Schweiß steht auf seiner Stirn. Ein
irrer Ausdruck unauslotbaren Hasses sticht aus seinen Augen. Die
metallische Stimme dröhnt in Rolands Ohren; »Stirb, Elender!«

Roland kann nicht zurückweichen. Die Stühle sind ihm im Wege.

Hinter ihm steht wie eine Mauer die Schar der Gäste und
Bediensteten. Gedankenschnell streckt er die Arme zur Seite, packt
seinen Nachbarn, reißt ihn an sich und hält den Widerstrebenden wie
mit eisernen Klammern, so daß er ihn mit seinem Körper deckt. Nun,
denkt er, wird Wulfbrand nicht zuschlagen - er erschlüge den eigenen
Mann!

Der Mann in seinen Armen windet sich verzweifelt. Er versucht

sich loszureißen. Es mißlingt. Rolands Arme sind eine unzerreißbare
Fessel.

Da dreht er den Kopf nach hinten, so weit es geht, und zischt:

»Habt Erbarmen, Ritter, und laßt mich los! Ich würde Euch doch
nichts nützen. Wulfbrands Haß ist ohne Grenzen. Auf nichts und
niemand nimmt er Rücksicht, wenn er Euch verderben kann. Er wird
erst mich töten - dann Euch! Erbarmen, Roland!«

Ungläubig hat Roland die Worte gehört. Aber ein Blick in die

wutflackernden Augen des Mimen zeigt ihm, daß der Mann die

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Wahrheit spricht. Deshalb löst er den Griff und stößt ihn beiseite.
Keiner soll seinetwegen Wunden empfangen.

Dann reißt Roland den Stuhl hoch, auf dem er während der

Vorstellung saß, und hält ihn schützend vor Kopf und Oberkörper.
Doch was ist Holz gegen Stahl? Der Stuhl zersplittert, als das
Schwert zuschlägt. Die Beine brechen ab. Doch die dicke Sitzplatte
hemmt zunächst den Weg der Waffe.

Verblüfft hält der Schauspieler einen Augenblick inne. »Hast du

dein schäbiges Leben noch einmal gerettet, elender Roland?« ruft er,
und die metallische Stimme klingt jetzt verzerrt vor unbändiger Wut.
»Aber verloren bist du dennoch! Du verlängerst nur deinen
Todeskampf.«

Fast wider Willen läßt sich Roland zu einer Antwort hinreißen.

»Ich weiß nicht, warum du mich töten willst, Wulfbrand! Ich habe
dir nichts getan, wollte dir nur Gutes. Und denke daran, daß du das
heilige Gastrecht verletzt!«

»Auf das Gastrecht berufst du dich vergebens, Ritter! Denn ich bin

nicht dein Gastgeber. Kein Stein dieser Burg gehört mir. Es ist Tulas
Burg. Wende dich an sie! Aber zuvor schau um dich! Sie ging. Sie ist
fort. Sie hat dich aufgegeben und überließ mir das Feld.«

Sie haben Tula mit Gewalt aus der Halle gezerrt, soviel steht für

Roland fest. Und er sieht nun ein: Mit Worten ist der Rasende,
dessen furchtbarer Haß auf ihn ihm unerklärlich ist, nicht aufzuhal-
ten. Deshalb geht der Ritter urplötzlich zum Angriff über und
schleudert die schwere Sitzplatte gegen den Feind.

So bewirkt er nur einen kurzen Aufschub. Mit dem Schwert fängt

Wulfbrand das Wurfgeschoß ab. Und dann stürmt er wie ein Stier auf
Roland los. Da ist nichts mehr von tänzerischer Anmut zu spüren. Es
ist der nackte Vernichtungswille, der den Mimen treibt. Ein Haß,
dessen Wurzel Roland unbekannt ist...

Der Ritter erspäht eine Lücke in der schweigenden Reihe der

Leute. Er zwängt sich hindurch. Reißt zwei Fackeln von der Wand!
Er schwenkt sie, daß die Flammen nach allen Seiten züngeln und ein
Funkenregen aufstiebt. Erschrocken weichen die Leute beiseite.

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Mit den Fackeln bietet Roland seinem Feinde Trotz. Er rückt ihm

sogar damit zu Leibe. Wulfbrand fährt die Hitze sengend ins Gesicht.
Abrupt bleibt er stehen. Er ist im Augenblick ratlos. Das Schwert läßt
er sinken.

Und wie der Blitz springt Roland vor. Die eine Fackel wirft er auf

Wulfbrand. Mit der anderen schafft er sich gegen drei Männer Raum,
die ihm bedrohlich von der Seite auf den Leib rücken.

Wulfbrand duckt sich. Die Fackel fliegt über ihn hinweg und

landet auf dem Estrich, wo sie noch einmal aufleuchtet und dann
ungefährlich glimmt.

Und wieder hebt der Mime das Schwert, um der zweiten Fackel in

Rolands Hand zu begegnen. Die Schneide frißt sich durch den
pechbeschmierten Schaft, und Roland ist seiner letzten
Verteidigungsmöglichkeit beraubt.

Wehrlos und waffenlos sieht er dem sicheren Ende entgegen.
Langsam weicht er zurück. Aber nach sechs Schritten geht es nicht

weiter. Er steht mit dem Rücken an der Wand. Er blickt in
Wulfbrands zur Grimasse verzerrtes Gesicht. Er sieht die nackte
Klinge, die sich bald von seinem Blute röten wird.

»Jetzt hab ich dich endlich!« frohlockt Wulfbrand in freudlosem

Ingrimm. »Gleich fährst du zur Hölle, und niemand wird dich fortan
vermissen! Kein Lied wird von dir künden, kein Nachruhm deinen
Namen treu bewahren. Nur Schande ist mit dem verbunden, der
Roland heißt. Sogar die Ritterschaft wird mich rühmen, daß ich
deinem ruchlosen Leben ein Ende setzte. Denn ein Strauchdieb,
Heckenräuber und Meuchelmörder bist du in ihren Augen!«

Der Schauspieler lacht gräßlich. »Und in diesen Ruf habe ich dich

gebracht! Denn wisse, ich und meine beiden Gefährten haben, als
Ritter verkleidet, Kutschen, Kaufleute und Pilger überfallen und
einen jungen Mann getötet, um deinen Ruhm, der mich ärgerte, für
immer aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen!«

Nun ist das Geheimnis heraus. Wie Schuppen fällt es Roland von

den Augen. Der lange Wulfbrand mit geschlossenem Visier auf
einem Rappen - wie leicht ließen sich die erschreckten Opfer der

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Überfälle irreführen! Natürlich nahm ihnen die Angst die klare
Übersicht. Und wenn Wulfbrand sich dann noch von seinen
Helfershelfern »Roland« nennen ließ, war die Täuschung
vollkommen.

Der dicke Schauspieler spielte dabei die Rolle des Knappen Pierre,

und der Drahtige die des Louis. Welche abgefeimte Gemeinheit!

Doch woher rührte dieser unendliche Haß des Schauspielers?

Dafür gibt es immer noch keine Erklärung.

Sollte ich je wider Erwarten aus dieser mörderischen Falle lebend

entkommen, denkt Roland, dann werde ich nie, nie, nie mehr
irgendeinen Raum einer fremden Burg waffenlos betreten. Ja, das
schwört er sich in diesen heißen Augenblicken.

Aber es ist gar nicht damit zu rechnen, daß er lebendig entkommen

kann. Dennoch wird er sich nicht ergeben, sondern bis zum letzten
Augenblick kämpfen.

Noch einmal reißt Roland zwei Fackeln von der Wand. Wulfbrand

aber schlägt sie ihm so schnell aus den Händen, daß Roland keinen
Aufschub erreicht. Und an weitere Fackeln kommt er nicht heran.
Vor jeder Leuchte stehen jetzt ein paar Männer.

Roland duckt sich tief. Er weiß, er muß angreifen und so dem

tödlichen Stoß zuvorkommen. Er entscheidet sich, im Hechtsprung
unter der Klinge hinwegzutauchen und den Gegner um die
Leibesmitte zu packen.

Ahnt Wulfbrand das Manöver? Plötzlich hält der den Schwertgriff

in beiden Händen, die Spitze der Klinge genau in die Richtung des
geplanten Sprunges gerichtet. Wenn Roland jetzt seine Absicht
ausführte, würde er sich glatt selber aufspießen.

Nun wird es Roland allmählich doch bange ums Herz. Hinter sich

hört er leise tappende Schritte. Gleich werden ihm Wulfbrands
Helfershelfer in den Rücken fallen! Schon spürt er den verhaltenen
Atem der Männer im Genick.

Über Wulfbrands faltenreiches Schauspielergesicht, das bisher

einen verkrampften Ausdruck trug, breitet sich ein höhnisches
Grinsen aus. Der Mann badet sich im Vorgefühl des unausweich-

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lichen Triumphes.

Es ist aus, denkt Roland. Gebe Gott, daß es schnell vorübergeht...
Und gefaßt erwartet er den Tod. Schwertstich oder Würgegriff -

was wird es sein? Mit großer Deutlichkeit weiß er plötzlich: Jetzt tue
ich meinen letzten Atemzug!

Da dringt eine wohlvertraute helle Stimme vom Eingang her durch

die Halle, und ringsum erstarrt jede Bewegung.

Volker der Minnesänger ist es!
Er ist naß wie eine Katze. Seine Kleidung trieft. Unter ihm bilden

sich Pfützen auf dem Estrich.

Volker ruft: »Hände weg von Roland! Zurück, ihr Männer - oder

ihr seid des Todes! Wer noch eine Hand rührt, den treffen unsere
Pfeile ins Herz! Die Waffen nieder! Sonst töten wir jeden im Saal!«

Die Überraschung ist ungeheuer.
Mit einem Fluch wendet Wulfbrand den Kopf zur Tür und starrt

den Eindringling an. Ihm ist, als sähe er ein Gespenst! Wie nur
kommt Volker vom Hohentwiel hierher? Er hat ihn doch hinter
Schloß und Riegel im Verlies bergen lassen!

Das geht nicht mit rechten Dingen zu.
Abergläubische Furcht befällt Wulfbrand, der wie alle

Schauspieler fest an Geister, Hokuspokus und übersinnliche Mächte
glaubt. Seinen Helfershelfern ergeht es nicht besser. Volker muß mit
dem Teufel im Bunde sein! So glauben sie.

Roland nutzt den Augenblick voll aus. Jetzt wagt er den geplanten

Hechtsprung. Mit der Schulter prallt er gegen Wulfbrands Hüfte und
wirft den übertölpelten Mann glatt um. Im Sturz läßt der sein
Schwert los. Aber seine Hände greifen sofort nach Rolands Kehle.
Der muß seinen eigenen Griff lösen. Und nun windet sich der
Schauspieler wie eine Schlange aus seinen Armen und rennt davon.

Das Schwert läßt er bei dem überstürzten Rückzug liegen.
Noch einmal hören alle seine Stimme. Sie flattert jetzt vor Angst.

»Löscht die Fackeln! Löscht sie alle! Schnell, schnell! So beeilt euch
doch! Löscht sie!« schreit er.

Die Männer beeilen sich, seinem Befehl nachzukommen. Nach

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wenigen Herzschlägen liegt die weite Halle in stockfinsterer Nacht.
Unheimliche Geräusche erfüllen sie. Hastige Schritte von
Rennenden, Flüchtenden. Keuchen. Schmerzensschreie. Rufe nach
Gefährten.

Auch Volker ruft nach Roland.
»Hier bin ich!«
Wie Blinde suchen sie einander, werden von anderen Männern

angerempelt, orientieren sich nach ihren Stimmen und treffen sich
schließlich in der Mitte der Halle, wo Wulfbrands Männer in ihrer
Hast sogar die große Essenstafel umgeworfen haben.

»Ich danke dir, mein Volker«, sagt Roland leise und aus tiefstem

Herzen. »Das war Rettung in höchster Not. Im letzten Augenblick.
Ich hatte mit dem Leben schon abgeschlossen!«

»Diese Burschen dachten, ich griffe mit einer ganzen Schar von

Rittern an!« sagt Volker lächelnd.

»Es war eine gute Idee von dir, in der Mehrzahl zu sprechen«, lobt

Roland.

»Das werde ich mir merken. Vielleicht kann ich diesen Trick auch

einmal anwenden.«

Dann erzählt er dem Freund in fliegenden Worten, was Wulfbrand

ihm enthüllt hat, als er glaubte, Roland gleich ein für allemal zu
erledigen.

»Er hat also die ganzen Schandtaten in deinem Namen verübt?«

staunt Volker. »Wulfbrand war es! Ein Schauspieler! Er ist ein noch
größerer Verbrecher, als ich es für möglich hielt.«

Plötzlich erinnert sich Roland an ein Versäumnis. Erregt fällt er

dem Minnesänger ins Wort. »Ich muß Tula suchen! Sie haben sie aus
der Halle gezerrt, als sie mich vor dem Überfall warnte. Bestimmt
befindet auch sie sich jetzt in großer Gefahr!«

»Aber zuerst brauchen wir Licht!«
»Das ist wahr. Aber wie ...?«
»Aus der Küche! Sicherlich brennt im Herd noch Feuer.«
»Weißt du, wo die Küche ist? Findest du sie im Dunkeln?«
»Nichts leichter als das! Gehen wir nur der Nase nach!«

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*

Tula schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Sie
haben sie in ein Gemach geschleppt, das nahe dem Burgtor liegt und
der Wachmannschaft sonst als Aufenthaltsraum dient.

Süßer Roland, denkt Tula mit verzehrendem Schmerz, lebst du

noch? O mein Gott, warum konnte ich nichts mehr für dich tun!
Wenn sie dich umgebracht haben, dann erlischt der hellste Stern am
Himmel meines Daseins. Dann will ich auch nicht mehr leben.

Sie ringt die Hände. Es ist furchtbar, untätig zu sein, nichts

unternehmen zu können. Sie denkt über die böse Wendung nach, die
ihr Schicksal genommen hat. Sie sucht nach einem Gegenstand, der
ihr als Waffe dienen könnte - und findet nur einen Mehlbeutel.

In dem Moment, da sie dem von fern Verehrten endlich begegnete,

hat sie ihn schon wieder verloren!

Da wird die Tür aufgerissen. Wulfbrand stürmt herein. Die Haare

hängen ihm wirr in die Stirn. Seine Augen haben einen irren
Ausdruck.

»Auf, Tula!« ruft er mit angstvoll gedämpfter Stimme. »Wir reiten!

Wir verlassen die Burg!«

Entschlossen sagt sie: »Ich komme nicht mit dir.«
»Du kommst!« schreit er, packt sie grob am Ellbogen und reißt sie

hoch. »Reize mich nicht! Ich koche vor Wut! Ich bin zu allem fähig.
Du wirst mich begleiten! Es ist nur ein kurzer Ritt...«

»Ich bleibe auf der Burg meines Vaters! Seltsame Dinge gehen

hier vor. Warum sollte ich mitten in der Nacht ins Ungewisse
hineinreiten?«

»Weil du zu mir gehörst, Tula! Wir sind untrennbar gebunden.

Vergiß das nie! Dein Vater hat dich meinem Schutz anvertraut...«

»Da war er nicht mehr Herr seiner Sinne. Die Krankheit hatte ihn

so hinfällig gemacht, daß er deinen Einflüsterungen erlag.«

»Widersprich nicht länger! Komm jetzt! Es ist Zeit. Alles andere

erfährst du unterwegs.«

»Wo ist Roland?«

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»Er ist tot!«
»Du lügst!« ruft sie verzweifelt. »Warum würdest du sonst von

hier fliehen? Fürchtest du einen Toten?«

»Genug der Worte! Später erkläre ich dir alles. Komm jetzt!«
Sie sträubt sich heftig. Aber ohne Mühe bricht er ihren Widerstand.

Halb trägt er, halb schiebt er sie zur Burg hinaus.

Der Himmel ist grauschwarz. Kein Stern unterbricht das Einerlei.

Dünner Regen nieselt herab.

Dann reiten sie. Die Tränen mischen sich mit den Regentropfen auf

ihrem Gesicht. Sie weint über ihre Ohnmacht. Wie haßt sie
Wulfbrand!

Mit einer unseligen Leidenschaft hängt dieser Mann an ihr. Zu

Beginn ihrer Bekanntschaft gefiel er ihr auch. In der Einsamkeit der
abgelegenen Burg Momberg bot er ihr willkommene Abwechslung.
Seine hohe Gestalt, sein kühngeschnittenes Gesicht, die Anmut
seiner Bewegungen, die Eleganz seiner Kleidung blendeten und
verwirrten das unerfahrene Mädchen.

Dazu kamen seine schauspielerischen Talente. Wie metallisch

klang seine Stimme! Wie kraftvoll strömten die Worte der Dichter
aus seinem Munde!

Doch nicht lange dauerte es, und sie erkannte, daß sich hinter der

glänzenden Fassade ein schäbiges Innere verbarg. Der Mann ist ein
geborener Intrigant, eitel, selbstsüchtig und neidisch auf jeden, den
das Glück begünstigt.

Sie wandte sich von ihm ab. Sie entfloh seiner Gesellschaft. Sie

sagte es ihm ins Gesicht, daß sie ihn nicht mochte.

Da kam ihres Vaters Krankheit. Und schließlich kurz vor seinem

Tod das verhängnisvolle Versprechen an Wulfbrand.

Schon vorher hatte Tula begonnen, von einem Mann zu

schwärmen, den sie nie gesehen hatte. Nur die Berichte seiner Taten
drangen mit großer Verspätung an ihr Ohr. Die Zofen berichteten ihr,
was in den Gesindestuben über ihn erzählt wurde.

Sein Name ist Roland.
Seine Abenteuer erfüllen ihr Herz mit Begeisterung. Das ist ein

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Mann, dem sie jeden Wunsch von den Augen ablesen würde! Ihn
kennenzulernen! Ihm um sich zu haben! Ihn zu lieben! Das muß der
Himmel sein.

Als Wulfbrand von ihrer Schwärmerei erfährt, glüht er vor

Eifersucht und schmiedet finstere Pläne. Nur ein Ziel kennt er noch.
Er muß Rolands Namen in den Dreck ziehen. Jedermann soll nur
noch mit Verachtung von dem Mann sprechen, den sie den Ritter mit
dem Löwenherzen nennen.

Heimlich reitet er mit seinen beiden Kumpanen, dem Dicken und

dem Drahtigen, übers Land. Als Ritter verkleidet, begehen sie Raub
und Mord. Und immer vermitteln sie ihren armen Opfern auf
heimtückische Weise die Gewißheit, ihnen sei von Roland und
seinen beiden Knappen so übel mitgespielt worden.

Tula aber wird in ihrem Glauben an Rolands edlen Sinn nicht irre.

Bald durchschaut sie Wulfbrands arglistiges Spiel. Und als sie
Gewißheit hat, daß er hinter all diesen Ränken und Verbrechen steht,
verachtet sie ihn von Grund auf. Ihre Abscheu ist riesengroß.

Was wird Roland von ihr denken? Muß er sie nicht für eine

Komplizin Wulfbrands halten? Oder hat er bemerkt, daß sie ihm das
Warnsignal der Ritterschaft gab?

Wenn Roland lebt - und damit rechnet Tula fest - wird er sie

verfolgen. Aber auch finden? Wulfbrand ist teuflisch geschickt. Er
kennt Tausende von Tricks. Er wird Roland und seine Begleiter an
der Nase herumführen, bis sie die Lust verlieren.

Und dann wird er eines Tages unangefochten auf Burg Momberg

zurückkehren, und kein Hahn wird nach seinen Untaten krähen!
Vielleicht ist sie dann schon seine angetraute Frau. Vielleicht seine
Geliebte. Welche Frau kann für sich garantieren, wenn sie
gezwungenermaßen Tag und Nacht mit einem Mann zusammenlebt?
Gefühle kann man nicht kommandieren. Sie kommen und gehen
ungerufen.

Sie muß etwas tun. Sie muß Roland Zeichen geben. Er darf ihre

Spur nicht verlieren!

Aber wie soll sie es bewerkstelligen?

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Die Hufe der Pferde klappern. Sie reiten über felsiges Gestein. Erst

wenn es hell wird, können sie die Verfolgung aufnehmen. Auf dem
Fels prägt sich kein Hufschlag ein. Tula kämpft vor Verzweiflung
mit den Tränen.

Da fällt ihr der Mehlbeutel ein, den sie vorhin in der Verwirrung an

sich genommen hat. Sie trägt ihn noch in der Tasche ihres langen
Rockes.

Zur Verteidigung taugte das Mehl nicht. Aber sie kann eine Spur

damit legen!

Sie knöpft den Beutel auf und läßt von Zeit zu Zeit ein wenig Mehl

daraus zu Boden rinnen. Viel darf es nicht sein. Es gilt,
haushälterisch mit der geringen Menge umzugehen, die der Beutel
faßt. Aber wenn es in dieser Nacht nicht regnet und kein Sturm
aufkommt, müßte ein aufmerksamer Reiter die häufig unterbrochene,
dünne weiße Spur verfolgen können.

Darauf hofft Tula ganz fest.

*

Auf Burg Momberg geht es inzwischen drunter und drüber. Wie
vermutet, haben Roland und Volker in der Küche noch prasselndes
Herdfeuer vorgefunden und daran mehrere Fackeln entzündet.
Danach aber laufen sie einigermaßen planlos durch die engen Gänge
und Räume der Burg.

Sie suchen Tula.
»Tula!« klingt Rolands spröde Stimme. »Wo bist du?«
»Gib Antwort, Tula!« bittet das weichere Organ Volkers.
Die Burg wirkt wie ausgestorben.
Hin und wieder treffen sie einen, der sich ängstlich an ihnen

vorbeidrückt. Alle, die hier leben, alle, die in dem Schauspiel
auftraten, haben sich in die äußersten Ecken und Winkel der
abgelegensten Räume zurückgezogen, wo sie mit bleichen
Gesichtern auf die drängenden Fragen der Ritter nur mit
abwehrenden Bewegungen antworten.

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»Von dieser Teufelsbrut erfahren wir nie etwas!« zürnt Roland.
»Ich wette, Tula befindet sich gar nicht mehr auf Momberg«, sagt

Volker, etwas außer Atem von dem nutzlosen Gerenne. »Wulfbrand
hat sie bestimmt mit sich geschleppt.«

»Dann gnade ihm Gott!« erwidert Roland.
Zu dieser Zeit denkt keiner der beiden Ritter an Pierre. Die

erregende Suche nach der verschwundenen Burgherrin hat den
Knappen vorübergehend aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

Wozu sollte sich auch jemand um ihn Gedanken machen? Er ist

zwar im düsteren Verlies eingesperrt, aber er hat es einigermaßen
behaglich. Wohl sitzt er auf hartem Stein. Doch das dünkt ihn
angenehmer als das verhaßte Schütteln im Sattel eines trabenden
Pferdes.

Nur der Hunger macht ihm zu schaffen.
Aber da fallen ihm schon die Augen zu. Er schläft ein. Vergessen

sind Einsamkeit, Abgeschlossenheit und Darben ...

Pierre träumt...
Er träumt, er säße in einer riesigen marmornen Badewanne.

Aromatisch duftendes, angenehm temperiertes Wasser umspült seine
Glieder. Zarte Frauenhände waschen seinen Körper und fügen dem
Wasser, das sich ständig erneuert, immer verlockendere Essenzen zu.

Die Damen wetteifern um Pierres Gunst. So etwas Schönes ist ihm

noch nie widerfahren. Und o Wunder, diesmal hemmt keine
Schüchternheit seine Zunge. Mit der Gelassenheit eines erprobten
Schürzenjägers macht er ihnen die hübschesten Komplimente.

Aber jetzt treiben sie es doch zu arg! Sie haben so viel Wasser

nachgegossen, daß ihm ein Schwall in den Mund lief. Und es ist auch
nicht mehr so wohlig warm. Es ist lau - nein, es ist verdammt kalt!

Mit einem Ruck fährt Pierre in die Höhe. Verschwunden sind die

lieblichen Damen. Die Wirklichkeit hat ihn wieder.

Entsetzt stellt er fest, daß er wirklich bis zum Hals im Wasser sitzt.

Das ganze Verlies ist überschwemmt! Er stemmt sich mit den
Händen an der Wand empor, gegen die er mit dem Rücken lehnte.
Noch immer geht ihm das Wasser bis an die Hüfte.

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»Zu Hilfe, Ritter Roland!« ruft er, und seine helle Stimme

überschlägt sich. »Zu Hilfe, Ritter Volker!«

Keine Antwort. Nichts als das eintönige Gurgeln einströmenden

Wassers. Und es ist wirklich unangenehm kalt! Pierres Beine wollen
ihm fast den Dienst versagen, so unterkühlt sind sie.

Seine Pulse beginnen zu jagen. Aus der anfänglichen

Beklommenheit wird würgende Angst.

Und das Wasser steigt.
Es muß vom Burggraben hereinfließen - soviel ist Pierre klar. Aber

warum steigt es? Der Wasserspiegel des Grabens kann doch, selbst
wenn Wolkenstürme über ihn hereinbrechen, nicht so schnell in die
Höhe steigen!

Pierre kann ja nicht wissen, daß Wulfbrand zu Beginn seiner

Flucht ein besonders heimtückisches Verbrechen beging. Er schloß
ein Wehr im nahegelegenen Gießbach. Das änderte den rasenden
Lauf der von den Bergen herabströmenden Mom und leitete ihn in
den Burggraben, der daraufhin rasch anschwoll.

Plan und Anlagen dieser Möglichkeit stammen noch vom Vater der

Burgherrin Tula. Er hat sie für den äußersten Notfall einer
kriegerischen Belagerung seiner Burg bauen lassen. Wenn etwa ein
übermächtiges Heer seine Burg einzunehmen drohte, wollte er die
Mom flutend in den Graben leiten. Alsbald würde der über die Ufer
treten, eine Überschwemmung verursachen und die Feinde
vertreiben.

Von alldem weiß Pierre natürlich nichts. Aber selbst wenn er es

wüßte, würde es ihm nicht helfen!

Noch einmal ruft er, so laut er kann, um Hilfe. Und wieder hört er

als Antwort nur das unheilverkündende Rauschen des steigenden
Wassers, das ihm jetzt schon bis an die Brust reicht.

Stöhnend preßt er die Stirn an die Wand des Verlieses.

Verzweiflung droht ihn zu übermannen. Soll er hier wirklich elendig
umkommen? Tief unter der Burg, in lichtloser Kammer, ersaufen wie
eine Ratte?

»Nein!« knirscht Pierre zwischen den Zähnen hervor.

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Und er stürzt sich kopfüber in die anschwellenden Fluten. Alles ist

besser, als ergeben auf den unvermeidlichen Tod zu warten.

Zum erstenmal fühlt sich der sonst so vorsichtige und ängstliche

Knappe als Kämpfer!

Schwimmen kann er ja leidlich. Der Not gehorchend, hat er es in

seinen ersten Wochen als Page auf Schloß Camelot gelernt. Denn zu
den vielen rohen Scherzen, die dort unter den Jünglingen im
Schwange waren, gehörte es auch, den Unbedachten in den
Burggraben zu stoßen.

Pierre schwimmt aufs Geratewohl los.

*

»Verfolgen wir Wulfbrand sofort?« fragt Volker den Freund. »Oder
warten wir den Tagesanbruch ab?«

Roland überlegt. Und dann schlägt er sich plötzlich mit der Hand

vor die Stirn. »Beinahe hätten wir Pierre vergessen! Wo mag er
stecken?«

Nun ist es an Volker, sich zu erinnern. »Mein Gott, er teilte mit mir

das Verlies! Er ist immer noch dort unten. Er blieb dort, als ich ins
Freie schwamm. Wir kamen überein, daß er seine Befreiung
abwarten solle. Ich versprach ihm, sowie du in Sicherheit bist, den
Schlüssel zu besorgen und ihn herauszuholen. Um ein Haar hätte ich
ihn im Stich gelassen!«

Aber für Selbstvorwürfe ist jetzt keine Zeit. Und Volker weiß das

wie kein anderer. Seine Erfahrung ist unermeßlich.

Er verschwendet kein weiteres Wort, er handelt. Noch einmal

macht er die Runde durch die Gemächer der Burg. Jeden, den er
antrifft, befragt er nach dem Schlüssel für das Verlies. Doch alle
zucken die Achseln und wenden sich ab. Ihnen sind die nächtlichen
Geschehnisse unbegreiflich und unheimlich.

Den Schlüssel hat keiner.
Volker und Roland bewaffnen sich mit Piken. Sie steigen nach

unten. Ein mürrischer alter Mann führt sie über gewundene Treppen

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und viele Ecken zum Eingang des Verlieses, das sie allein nie
gefunden hätten. Mit Geringschätzung verfolgt er ihre
Vorbereitungen, die eiserne Tür mit Gewalt aufzubrechen.

»Und hättet ihr die Kraft zehn Meter hoher Riesen mit Muskeln

wie Schiffstaue, Dir sprengtet diese Tür nicht auf!« prophezeit er
ihnen. »Ich habe das Gemach selber mitgebaut. Tulas Vater achtete
darauf, daß keine menschliche Macht es ohne den richtigen Schlüssel
öffnen kann. Warum, weiß ich nicht. Er selber war ein milder Mann
und hat nie einen ins Verlies gesperrt. Den Schlüssel aber, sag ich
Euch, hat Wulfbrand.«

Die beiden Ritter hören nur mit halbem Ohr hin. Sie stemmen die

Piken zwischen Arm und Körper, nehmen Anlauf und rennen
gemeinsam gegen die Tür an. Mit Donnergetöse prallen die
Waffenspitzen gegen die Türangel.

Eine Pike nach der anderen zerbricht.
Sie versuchen es immer wieder.
Zerborstene Eisenrohre häufen sich zu ihren Füßen. Der alte Mann

schüttelt . höhnisch lächelnd den Kopf.

Die Tür rückt und rührt sich nicht.

*

Pierre schwimmt aus Leibeskräften. Im Wasser ist der beleibte
Knappe beweglicher als auf dem festen Lande. Über die Richtung ist
er sich sofort im Klaren. Er muß gegen den Strom schwimmen. Nur
so kann er hoffen, den Durchlaß zu erreichen, von dem Volker
erzählt hat.

Ewigkeiten vergehen. Der Sog ist ungeheuer stark. Macht er

überhaupt Fortschritte? Kommt er vorwärts? Er bezweifelt es. Die
Zeit dehnt sich zu Stunden. Und ohne Unterbrechung streckt er Arme
und Beine, zieht sie wieder an und streckt sie ... ein anstrengender,
ermüdender Rhythmus ohne Ende.

Drei Stunden meint er schon zu schwimmen, dabei hat er erst den

zehnten Teil einer einzigen Stunde mit seinem einsamen Kampf

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verbracht.

Die Muskeln der Oberarme beginnen zu schmerzen. Die Hände

biegen sich peinvoll im Ansturm des Sogs. Schwer werden die
Beine. Er glaubt zu sinken.

Ach, es wäre beinahe verlockend, sich sinken zu lassen ...
Doch er kämpft weiter. In seinem Inneren erwachen Kräfte, von

denen er nichts ahnte. Und seine Bewegungen werden leichter und
freier. Nun glaubt er, genau zu wissen, daß seine Schwimmstöße ihn
gegen die Macht des eindringenden Wassers vorwärtsziehen, dem
Licht, der Luft, der Freiheit entgegen!

Nach einer weiteren Ewigkeit gelangt Pierre an den kreisrunden

Zugang zur Außenwelt. Sein Atem geht so schnell und so laut wie
ein Blasebalg. Er übertönt schon das Wasserrauschen. In seinen
Ohren dröhnt es. Die Arme schmerzen, wie von 1000 Nadeln
gepeinigt. Die Beine sind schwer wie Blei. Wie Blei, an dem eiserne
Gewichte hängen ...

Und doch denkt er nicht ans Aufgeben. Der Wunsch, sich sinken

zu lassen, in Vergessenheit und Tod zu tauchen, ist dahin. Aber auch
die Angst, die ihm vorher die Kehle zuschnürte, verfliegt. Der Kampf
bindet ihn ans Leben, unzerreißbar fest.

Pierre schwimmt in die kreisrunde Höhlung ein.
Und da macht er eine Entdeckung, die ihm jäh den neugewonnenen

Mut wieder nimmt. Das Wasser füllt die Höhle jetzt völlig aus. Bis
an den oberen Mauerrand. Hier kann man nicht mehr
hindurchschwimmen, wie Volker es vor einer Stunde tat.

Hier muß man hindurch tauchen!
Bis ins Mark erschrocken, läßt Pierre sich zurücktreiben. Mit

kleinen Bewegungen tritt er im Wasser auf der Stelle. Instinktiv trifft
sein Körper die nötigen Vorbereitungen zu dem letzten, dem
gefährlichsten Teil seines Abenteuers.

Er pumpt Luft in seine Lungen. Mit großen Zügen atmet er ein und

läßt jeweils nur einen kleinen Teil der Luft wieder ab. Er fühlt
förmlich, wie seine Lungen anschwellen. So hat er gehört - tun es
auch viele Turnierritter, unter ihnen die erfolgreichsten, vor dem

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Finale im Lanzenstechen.

Jetzt sind seine Lungen bis zum Platzen gefüllt. Er würde nun gern

beten, den Herrn um Beistand bitten. Aber dazu verbleibt ihm keine
Zeit. Nur einen flüchtigen Gedanken schickt er zum Himmel. Ob der
da oben überhaupt von ihm Notiz nimmt?

So oder so - er muß es beginnen. Jetzt oder nie!
Und voll Entschlossenheit strafft der Knappe Pierre tief unter den

Mauern der Burg in lichtloser Verlassenheit die schmerzenden
Muskeln seines geschundenen Körpers und schießt in den
andrängenden Schwall des Wassers hinein. Er vergrößert das Tempo
seiner Bewegungen, als sein Kopf mit geöffneten Augen unter
Wasser verschwindet. Nach dreißig heftigen Stößen glaubt er
ersticken zu müssen. Und hat doch erst einen geringen Teil der
Strecke zurückgelegt!

Er läßt ein wenig Luft durch den Mund heraus. Das erleichtert ihn.

Der Druck um den Brustkorb ist gelindert.

Arme und Beine schneiden wie Flossen durch das Wasser, dessen

Strömung immer mehr zunimmt.

Diesmal gelingen ihm kaum zwanzig Stöße, ehe der eiserne Ring

um die Brust wieder unerträglich wird. Und wieder atmet er ein
wenig aus.

Der Trick gelingt zum zweitenmal. Der Druck schwindet. Er kann

weiterschwimmen.

Und er tut es, mit dumpfem Mut und mit dem letzten Quentchen

Kraft, das ihm von dem langen zermürbenden Kampf mit dem
übermächtigen Element der Strömung verblieben ist.
Zusammenkrümmen, Durchziehen, Strecken. Seine Muskeln arbeiten
wie selbständige Wesen. Das Herz pumpt geduldig und voll Einsatz.

Wie lange kann er das noch durchhalten?
Sind es zwölf, sind es fünfzehn Schwimmstöße, als es in seinem

Kopf zu flackern scheint? Ihm ist, als schössen Blitze durch sein
Hirn. Jäh erlischt jede Kraft.

Da läßt er das letzte bißchen Luft aus den gemarterten Lungen, und

noch einmal verschafft ihm das ein wenig Erleichterung. Er beginnt

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das alte Spiel: zusammenkrümmen, durchziehen, strecken...

Ihm ist nur noch wenig Zeit vergönnt. Wenn Pierre in den nächsten

Zügen nicht den Graben erreicht, ist er verloren. Schimmert es nicht
schon ein wenig heller? Oder spielen ihm die Sinne nach der
stundenlangen todschwarzen Finsternis und der gewaltigen
Anstrengung nur einen Streich?

Noch einmal nimmt er alle Kraft zusammen. Wie ein Messer

schneiden die Arme durchs Wasser. So jedenfalls kommt es ihm vor.
Höchstens noch einen Klafter und er ist im Freien!

Aber dieser letzte Klafter will kein Ende nehmen ...
Pierre ahnt nicht, was ihm wirklich geschieht. Längst sind seine

Muskeln ermattet. Seine Bewegungen sind langsam und schwächlich
geworden. Statt daß er die Strömung besiegt, treibt der Sog ihn
immer stärker ins Verlies zurück. Schon hat er ihn aus dem
kreisrunden Loch herausgedrückt.

Und wieder will er sich strecken, da versagen ihm die Muskeln den

Dienst! Sein Herz arbeitet in einem nie erlebten Schnelltakt. Es ist,
als hielte es nicht mehr in ihm aus, als wolle es aus seinem Körper
schlüpfen.

Nun muß er doch aufgeben. Er kann nicht anders... gleich muß er

Luft holen.

Du darfst nicht! mahnt ihn eine innere Stimme. Er hört nicht

darauf.

Und dann schwinden ihm die Sinne. Zuerst vergehen die

Schmerzen. Er fühlt sich leicht wie eine Flocke. Er gibt dem
ungeheuren Druck nach, der ihn quälte. Wasser strömt ihm zum
Mund herein. Sein Bewußtsein löscht aus.

Eine Weile treibt der Körper noch totähnlich dicht unter der

Oberfläche. Dann beginnt er zu sinken.

Tiefer und tiefer ...
In diesem Augenblick ergreift eine fremde Hand seinen rechten

Arm. Eine zweite Hand krallt sich in sein Wams. Ein Ruck geht
durch den schlaffen Körper. Er wird emporgerissen.

Der andere schwimmt rückwärts. Er liegt auf dem Rücken, hält den

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reglosen Pierre fest und arbeitet sich mit bewundernswerter Energie
allein durch die Schubkraft der Beine gegen die Strömung.

Eine kurze Spanne Zeit vergeht noch - dann wölbt sich der Himmel

über Pierre. Die ersten Sterne erscheinen gerade. Der Kopf des
Knappen taucht aus dem Wasser. Aber seine Augen sind fast
geschlossen. Frische Luft streicht um seine Wangen. Er spürt sie
nicht. Sie dringt durch Mund und Nase und fließt in seine Lungen. Er
weiß nichts davon.

Als Roland ihn jenseits des Burggrabens an Land zieht, ist Pierre

wie tot.

Volker hat am Ufer gewartet. Durch Zurufe lenkte er Roland. Er

nimmt den Körper des Knappen in Empfang und stellt ihn auf den
Kopf. Schier endlos schießt das Wasser aus dem schlaffen Mund.

Indessen liegt Roland zwei Schritte abseits schweratmend am

Boden und beobachtet das Aufsteigen der ersten Sterne. Im Geist
geht er noch einmal die Geschehnisse durch.

Unter dem Hohnlachen des alten Mannes haben sie ihre Versuche,

die Verliestür aufzusprengen, eingestellt. Dann jagen sie hinauf, und
das Lachen verfolgt sie, um Ecken, durch Windungen, über Treppen
und Gänge. Das Lachen eines vom Leben enttäuschten Mannes, den
nach so vielen eigenen Mißerfolgen nun nichts mehr auf der für ihn
enggewordenen Erde freut als fremdes Scheitern.

Volker zeigt dem Freund, wo er die Luke entfernt hat und aus dem

Verlies in den Graben schwamm. Unverzüglich läßt Roland sich ins
Wasser gleiten. Seine Hände erfühlen die Ränder der Öffnung. Und
er erkennt, was geschah.

Das Verlies wurde geflutet! Die Aussicht, Pierre zu finden und zu

retten, ist verschwindend klein. Aber Roland überlegt nicht. Er fühlt
sich für Pierre verantwortlich. Er holt tief Luft und taucht in den
Höllenschlund.

Zwei Stunden, nachdem er Pierre herausgeschleppt hat, wissen sie,

daß sein Einsatz nicht vergeblich war. Der Knappe schlägt die Augen
auf. Sein Mund zuckt. Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig.

Er sagt: »Ich habe es also geschafft. Habe ich geschlafen? Ich war

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so entsetzlich müde.. ..«

In dieser Nacht ist an eine Verfolgung Wulfbrands nicht zu

denken, obwohl es Roland mit allen Fasern danach drängt. Volker rät
dringend davon ab. Sie alle sind erschöpft. Einige Stunden der Ruhe
werden ihnen nützlicher sein als ein unsicheres Hasten bei
spärlichem Sternenlicht.

Doch während Pierre und Volker schlafen, findet Roland keine

Ruhe. Denn ununterbrochen denkt er an Tula. Jede Stunde, die sie in
der Gewalt des Entführers verbringen muß, zerreißt auch ihm das
Herz.

Und so streift er die Nacht über in der Umgebung der Burg umher,

um Spuren zu finden. Auf den Knien liegt er im Gehölz, im
Unterholz. Auf den Pfaden legt er sich nieder, während seine Finger
über den holprigen, steinigen Grund gleiten und suchen, suchen ...

Als eine schmale Lichtschnur über den Horizont taucht und den

nahenden Morgen ankündigt, erblickt er die dünne Mehlspur - die
erste, die Tula nach Verlassen der Burg Momberg hinabrieseln ließ.

Federnd springt Roland auf die Füße. Ein Seufzer der

Erleichterung entringt sich seiner Brust. Die erste Spur! Ihm ist, als
habe er damit schon einen Zipfel vom Gewände der Geliebten
erhascht. Nun wird er sie finden. Die Befreiung ist nah.

Ach, wie gründlich er sich täuscht...
Er ist frisch. Kein Schlaf liegt auf seinen Wimpern. Seine Sinne

sind locker und tatendurstig, als habe er eine lange Nacht in tiefem
Schlaf verbracht.

Und munter ist seine Stimme, als er zur Burg hin ruft: »Auf,

Volker, jetzt erwache! Wir reiten!«

*

Tula hätte nicht sagen können, wie oft Wulfbrand während der Nacht
die Fluchtrichtung wechselte. Doch getreulich und aufmerksam
markierte sie jedes Abbiegen durch ein dünnes Rinnsal aus ihrem
Mehlbeutel. Sie ging sehr vorsichtig mit dem kostbaren Stoff um.

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Solange es geradeaus ging, hielt sie den Beutel fest geschlossen. Vor
allem achtete sie darauf, daß ihr mißtrauischer Entführer von ihrem
heimlichen Tun nichts merkte.

Lang war der Ritt und der Inhalt des Beutels schon auf die Hälfte

zusammengeschmolzen. Tula begann sich Sorgen zu machen.

»Wenn Ihr mich wirklich liebt, Herr Wulfbrand«, klagte sie, »dann

laßt uns endlich rasten! Denkt daran, daß ich eine Frau bin und für so
wüste Anstrengungen weder geschaffen noch daran gewöhnt!«

»Hegt keinen Zweifel an meiner Liebe!« begehrte der Schauspieler

heftig auf. »Sie ist so rein und verzehrend wie das Feuer. Gerade
deshalb kenne ich weder Rast noch Ruhe. Ich will vermeiden, daß
die Verfolger uns einholen und Euch mir entreißen.«

»Ich wette, die liegen noch auf meiner guten Burg im tiefen Schlaf.

Wie sollen sie uns in dieser ägyptischen Finsternis folgen?«

Wulfbrand lachte trocken und freudlos. »Keinem Ritter ist zu

trauen«, versetzte er in schlauem Tonfall. »Sie haben Kenntnisse,
von denen das normale Volk nichts ahnt. So besitzen sie einen
geheimen Code ...«

Tula erschrak. Hatte Wulfbrand bemerkt, daß sie Roland durch

Notsignale zu warnen versuchte? Sei's drum! Ihm war ohnedies
bekannt, daß sie ihm den Ritter vorzog.

»Wer sagt denn«, fuhr er fort, »daß der verfluchte Roland, dessen

Gebeine am Fluß bleichen mögen, nicht in der Nacht sehen kann wie
die Katzen?«

»Ihr träumt!« spottete sie. »Ich bitt' Euch nochmals: wenn Ihr ein

wenig Gefühl für mich hegt, so laßt uns halten und ausruhen. Ich
fühle mich wie gerädert!«

»Zweifelt nicht an meiner Liebe!« rief Wulfbrand mit

ausbrechender Wildheit. »So etwas macht mich zornig. Und hört mit
dem Gejammer auf! Wir reiten noch ein kleines Stück. Ihr versteht
Euch besser darauf, als Ihr vorgebt. Wie oft habt Ihr Euren Vater zur
Jagd begleitet!«

»Er jagte wenigstens nicht zur Nachtzeit«, widersprach sie.
Wulfbrand versank wieder in mürrisches Schweigen.

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Endlos dehnte sich der Weg.
Allmählich schienen die Bäume zurückzutreten. Das Land weitete

sich. Am Himmel glitzerten jetzt einige Sterne. Und dann bot sich
Tula ein Anblick, der sie fast so schön dünkte wie die eigene Burg,
die sie hatte verlassen müssen.

Der Wald lag hinter ihnen. Aus den Wolken hob sich der Mond.

Sein silberner Schein fiel auf ein geduckt niedriges Haus, das einzeln
in der nächtlichen Landschaft stand - mit einem kleinen Stall
daneben. Obwohl kein Lichtschimmer blinkte, erschien das Haus
Tula über die Maßen gastlich, einladend und friedfertig.

»Klopft an die Tür, Herr Wulfbrand!« bat Tula. »Ich bin zu Tode

erschöpft. Ich kann nicht mehr!«

Aber der Schauspieler stieß nur ein wütendes Knurren aus und

lenkte die Pferde seitab. In großem Bogen vermieden sie das Haus,
und bald wurde es hinter ihnen von der Dunkelheit verschluckt. Tula
fragte sich, ob es wirklich da stand oder ob sie es nur geträumt habe.

Wieder ließ sie einen dünnen Faden Mehl zu Boden fallen.
In diesem Augenblick packte sie brennender Haß auf Wulfbrand.

Bisher war sie bereit gewesen, ihm alles, was er ihr angetan, zu
verzeihen. Seine Freveltaten, Raub und Mord. Den Bruch der
Gastfreundschaft. Den Überfall auf den waffenlosen Roland. Ihre
gewaltsame Entführung.

Vielleicht, sagte sie sich, tat er wirklich alles aus Liebe zu ihr. Und

Liebe war etwas, das sie nachfühlen konnte. Denn ihr ganzes Herz
war erfüllt von Liebe zu Roland. Wer weiß, welcher Dinge sie fähig
sein würde, wenn Roland seine Liebe einer Nebenbuhlerin zuwandte!

Vielleicht wäre sie dann auch fähig, Menschen Gewalt anzutun

oder sie durch Tücke zu schädigen.

Aber niemals - selbst in tiefster Verzweiflung - würde sie ihrem

Geliebten, dem Ritter Roland, Übles antun, Wulfbrand jedoch quälte
und peinigte sie. Sonst hätte er an dem Haus Halt gemacht und um
Quartier gebeten. Er hätte ihr einige Stunden Ruhe gegönnt. Ja, was
hätte sie für nur eine einzige Stunde Schlaf gegeben!

Aber er dachte nicht daran. Er zwang sie weiterzureiten. Dieser

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Mann liebte sie nicht. Mag sein, daß er sie begehrte. Er wollte sie
haben. Er wollte sie als Besitz. Sie und ihr Schloß. Aber lieben?

Er liebte nur sich selbst.
Plötzlich zügelte er sein Pferd. Dann drehte er es herum. Sie ahnte

das Manöver im Dunkel mehr, als daß sie es sah.

Hastig versteckte sie den Mehlbeutel.
Mit brutalem Griff packte er sie am Handgelenk. Es tat so weh,

daß sie aufschrie und die Finger öffnete. Dann nahm er ihr den
Mehlbeutel weg.

»Du falsches Weib!« beschimpfte er sie in rasender Wut. »Meinst

du, mich betrügen zu können? Seit Stunden weiß ich, was du treibst!
Du legtest eine Spur für Roland!«

»Jawohl, das tat ich!« schrie sie außer sich. »Und er wird ihr

folgen und uns unfehlbar finden und dir das Schicksal bereiten, das
du verdienst!«

Wieder ließ Wulfbrand sein häßliches trockenes Gelächter hören.

»Wenn er der Spur folgt, so reitet er in die Irre. Was glaubst du,
warum ich dich so lange gewähren ließ?«

Hoffnung und Furcht stritten in ihrer Brust. »Lügner! Du hast es

erst in diesem Augenblick gemerkt.«

»Hoho, falsches Weib! Du irrst schrecklich! Ich ritt in diese

Richtung, die du markiertest, um Roland endgültig abzuschütteln.
Denn siehe, jetzt reiten wir eine Stunde auf unserer Spur zurück und
biegen dann scharf ab. Sie werden uns nie finden! Und du selber bist
es, die sie irregeleitet hat - das ist das Beste!« Und wieder lachte er
hohl und freudlos.

Verzweifelt sprach sie sich selber Trost zu: »Und er wird uns doch

finden! Denn Roland ist dir in allem über! Selbst ohne Waffen trieb
er dich in die Flucht.«

Etwas wie ein Krampf zog über Wulfbrands Gesicht. »Täusche

dich nicht, Tula! An roher Kraft mag er mir über sein. Allein darauf
auch gründet sich sein fadenscheiniger Ruhm. Aber an Verstand
kommt er mir nicht gleich. Ich werde ihn überlisten. Und an Rolands
Grab wirst du mein Weib!«

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*

Roland war den Gefährten weit voraus. Dem Tempo seines
schwarzen Araberhengstes Samum konnten die anderen Pferde nicht
folgen. Sie fielen um Meilen zurück.

Die Angst um Tulas Ungewisses Schicksal trieb Roland an. Seine

Augen waren gerötet und lagen tief in den Höhlen. Bartstoppeln
umgaben das übernächtigte Gesicht. Aber sein Blick war scharf und
schien die schwache Spur, den gelegentlichen dünnen Mehlfaden am
Boden, schon auf Meilen hinweg zu entdecken.

Doch zuweilen verpaßte er in seiner Hast eine Biegung und mußte

manche Meile zurückreiten, ehe er die Spur wiederfand. Dann brach
er jedesmal in einen Jubelruf aus. Denn jedes Mehlkorn brachte ihm
Gewißheit, daß Tula noch am Leben war, daß sie ihm vertraute und
daß er ihr näherkam.

Am Vormittag erreichte er das geduckte niedrige Gebäude. Er sah,

daß es eine Gastwirtschaft war. In vollem Galopp sprengte Samum
heran. Eigentlich wollte Roland ohne Aufenthalt weiterreiten. Aber
dann hörte er Samum schnauben. Das Tier brauchte Wasser.

Also hielt Roland vor dem Haus. Ein Junge lief herbei.

Bewundernd blieb er vor dem herrlichen Hengst stehen. Ein so
schönes Tier muß einem sehr reichen Mann gehören, überlegte der
Junge. Zwar sah Roland nicht gerade nach Reichtum aus. Aber
mancher vornehme Mann liebte es, in geringer Kleidung durchs
Land zu streifen.

Also verlangte der Junge für Tränke und Futter statt des üblichen

Vierteldukaten die volle Münze.

Roland gab ihm einen halben Dukaten, wandte sich ab und betrat

die Gaststube, die um diese Zeit noch leer war. Ein Mann, offenbar
der Wirt, beugte sich mit dem Rücken zu ihm über ein Weinfaß und
rollte es vor sich her.

»Einen Krug Branntwein und einen Becher frischen

Quellwassers!« forderte Roland laut.

Der Mann hielt inne. Sein Rücken straffte sich. Er richtete sich auf

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und drehte sich langsam um. Sein einziger Gast bekam große Augen.
Es war Louis!

»Ritter...«, stammelte Louis überwältigt.
Roland war ungeduldig. »Was tust du hier?«
Louis' Haltung wurde straff. »Ich helfe der Wirtin.«
»Dann bring mir Branntwein und Wasser!«
»Sofort!«
Wenig später stand das Verlangte auf dem Schanktisch. Roland

nahm einen kleinen Schluck Branntwein und behielt ihn eine Weile
im Munde, bevor er ihn schluckte. Angenehme Wärme breitete sich
in seinem Magen aus. Dann trank er durstig das Wasserglas leer.
Louis füllte es neu. Roland machte sich über den Rest des
Branntweins her.

»Das tat gut«, sagte er schließlich und wischte sich über den Mund.

»Und wie kommst du dazu, hier den Wirtsmann zu spielen?«

In fliegenden Worten berichtete ihm Louis. Als Roland erfuhr, daß

Louis noch nicht dazu gekommen war, Helga die Nachricht von ihres
Gatten Tod zu bringen, verdunkelte sich sein Blick. Schon wollte er
ein Donnerwetter über Louis ergehen lassen. Doch er hielt an sich. Er
ahnte, wie schwer es dem Knappen angekommen war, der
Überbringer einer so niederschmetternden Nachricht zu sein.

»Und was führt Euch hierher, Ritter?« fragte Louis. Er meinte,

Roland sei gekommen, um ihn abzuholen. Doch rasch wurde er eines
besseren belehrt. Er erfuhr von dem Abenteuer auf Burg Momberg.

»Sie müssen nachts an diesem Haus vorbeigekommen sein«, sagte

Roland. »Hast du nichts gesehen oder gehört?«

»Es tut mir leid, Ritter. Ich schlief wie ein Murmeltier. Die blonde

Wirtin, die ich den Klauen des wilden Mannes entriß, bezeugt mir
jeden Abend nach dem Zubettgehen ihre Dankbarkeit. Ich kann Euch
sagen: sie ist ein Vulkan an Leidenschaft! Wenn ich nach ihren
feurigen Umarmungen schließlich einschlafe, würde mich selbst ein
Turnier, das vor der Haustür ausgetragen wird, nicht wecken.«

»Wo ist die Frau? Vielleicht hat sie ...«
»Ihr geht es nicht anders. Denn wenn sie ein Vulkan ist, bin ich ein

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Tiger an Leidenschaft! Sie pflegt meist bis gegen Mittag im Bett zu
bleiben. Ehrlich gesagt, ich bin dieses Lebens herzlich überdrüssig.
Ich sattle mein Pferd und reite sofort mit Euch! Den Schurken
Wulfbrand werden wir bald am Kragen erwischen!«

Doch diese Voraussage erwies sich als schwerer Irrtum. Sie fanden

noch eine Mehlspur, nicht weit hinter dem Hause. Es war die letzte.
Den ganzen Tag über sprengte Roland auf Samum kreuz und quer
durch die nähere und fernere Gegend. Auch die anderen suchten
verbissen in jeder Richtung. Gegen Abend trafen sie sich in der
Wirtschaft. Niemand hatte auch nur den Hauch einer Spur gesichtet.

Wulfbrand und Tula schienen sich in Luft aufgelöst zu haben.

*

»Au! Verflucht noch mal! Au! Was ist das für eine Schweinerei!«

Wulfbrand hüpfte im Sattel hin und her, rieb sich die Kehrseite und

schien mit der anderen Hand Insekten zu verjagen. Mehrmals sah er
sich mißtrauisch nach Tula um. Aber die folgte ihm an langer Leine
im üblichen Abstand von acht Klaftern.

Es war am fünften Tag ihrer Flucht, und Tula fühlte sich

einigermaßen erholt. Sie hatten mehrmals in guten Gasthäusern
übernachtet, wo Wulfbrand tief und traumlos schlief. Mit
Leichtigkeit hätte Tula sich davonstehlen können, wenn ... Ja, wenn
sie nicht selber wie eine Tote geschlafen hätte.

Obwohl sie den Mann nun tief verachtete, vermied sie weitere

Streitigkeiten. Irgendwann, so hoffte sie, würde sich die Gelegenheit
ergeben, ihm zu entkommen. Bis dahin machte sie gute Miene zum
bösen Spiel und widersprach auch nicht, wenn er sie in den
Gasthäusern Fremden gegenüber als seine Frau ausgab.

Tagsüber beim Ritt durch die immer herbstlicher werdende

Landschaft schmiedete er laut Zukunftspläne. Er wollte nach Norden,
in eine Stadt unweit des Rheins. Deren Bürger waren berühmte
Messerhersteller und Schwerterschmiede. Sie waren dadurch reich
geworden und auf Vergnügungen erpicht.

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Darauf gründete Wulfbrand seinen Plan. Mit den vielen blanken

Dukaten, die er auf den Raubzügen in der Maske Rolands erbeutet
hatte, wollte er ein geeignetes Haus kaufen, darin eine Bühne
erbauen, neue Schauspieler anwerben und ein ständiges Theater
betreiben. Es sollte ein Ort werden, wo sich an jedem Feiertag die
wohlhabenden Bürger zusammenfanden. Er dachte auch an
gleichzeitigen Ausschank von Bier und Branntwein.

Sogar einen Namen für das geplante Theater trug er schon im Sinn.

Es sollte Globus heißen.

In den Sommermonaten aber würde er sich mit Tula auf Burg

Momberg zurückziehen und dort das Leben eines begüterten Ritters
führen ...

Tula ließ ihn schwatzen und dachte sich ihr Teil.
Wieder zuckte Wulfbrand mit einem Wehschrei zusammen. Er

krümmte sich im Sattel und rieb sich die rechte Schulter, als habe ihn
dort ein Knüppelhieb getroffen. Dann fluchte er laut und schaute sich
nach allen Seiten um. Aber außer Tula war kein menschliches Wesen
in der Nähe. Nur Habichte und Bussarde zogen hoch oben wie
aufmerksame Wächter ihre Kreise.

Halb und halb glaubte Wulfbrand, ein Prügelknabe böser Geister

zu sein. Er bekreuzigte sich und murmelte mehrere
Beschwörungsformeln, die er aus verschiedenen Schauspielen
kannte. Doch sobald er ermüdet eine Pause einlegte, stachen und
schlugen die »Geister« erneut auf ihn ein. Seine Stimmung wechselte
von Erbitterung zu Niedergeschlagenheit und ohnmächtigem Zorn.
Immer wieder schaute er sich um. Offenbar wurde er den absurden
Verdacht nicht los, Tula habe ihre Hand im Spiele.

Schließlich beorderte er sie an seine Seite. So hatte er sie ständig

im Auge. Er sah, daß sie mit beiden Händen die Zügel hielt und ihn
kaum beachtete. Trotzdem zwickte und prellte es ihn immer wieder
von Zeit zu Zeit. Seine Flüche und Zornesausbrüche erfüllten die
Luft.

Tula konnte sich keinen Reim auf sein sonderbares Verhalten

machen. Aber sie war zu stolz, ihn zu fragen.

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Danach war eine Stunde Ruhe.
Urplötzlich stand keine zehn Klafter vor ihnen ein Reiter. Er war

mittelgroß und mager, trug eine alte, an manchen Stellen arg
verbeulte, an anderen Stellen verrostete Rüstung und saß auf einem
struppigen, ungepflegten und häßlichen Gaul. Am Gurt baumelte
eine graue Kappe. Trotz seiner schäbigen Erscheinung hielt sich der
Ritter sehr stolz.

Mann und Pferd waren so unvermittelt erschienen, als seien sie im

Augenblick aus dem Boden gewachsen. Weder Wulfbrand noch Tula
hatten sie heranreiten sehen. Verdutzt rieben sie sich die Augen.

Da sprang auch schon der Ritter vom Pferd, das ruhig stehenblieb,

stellte sich breitbeinig hin und zog in feindlicher Haltung das
Schwert. »Nennt Euren Namen!« forderte er.

»Ich bin Wulfbrand.«
»Nie gehört. Aber das gilt mir gleich. Wulfbrand, ich fordere Euch

zum Zweikampf - auf Tod und Leben!«

»Aber ich habe nichts mit Euch zu schaffen!«
»O doch! So kommt Ihr mir nicht davon! Hat es Euch nicht vorhin

gezwickt und gezwackt?«

»Allerdings. Woher wißt Dir das?«
»Das war ich, der Euch quälte.«
Wulfbrand stieß ein rauhes Lachen aus. »Dann müßt Dir die Gabe

besitzen, Euch unsichtbar zu machen!«

»Vielleicht. Aber lassen wir das! Ich habe es auf Euren Besitz

abgesehen. Deshalb will ich Euch im Zweikampf ums Leben
bringen.«

»Ihr wollt mein Geld?«
»Daß ich nicht lache! So kann nur einer sprechen, der nicht weiß,

welche erhabene Persönlichkeit er vor sich hat. Meine Name ist
Lorimer, und ich bin der reichste Mann des Landes. Bald werde ich
auch sein mächtigster Mann sein!«

Wulfbrand unterdrückte ein hämisches Lächeln. Dieser

abgerissene, schäbige Kerl, diese Vogelscheuche nahm den Mund
sehr voll. Obgleich Wulfbrand nicht zum Kämpfen aufgelegt war,

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entschloß er sich, das Duell anzunehmen. Von diesem hergelaufenen
Burschen und großsprecherischen Prahlhans drohte ihm bestimmt
keine Gefahr. Höhnisch fragte er: »Wenn Ihr so reich und mächtig
seid, wie Ihr behauptet, warum trachtet Ihr dann nach meinem
Besitz?«

»Von all dem, was Euch gehört«, lautete die Antwort, »begehre ich

nur eins. Es ist das Weib, das Ihr bei Euch habt. Denn zu meinem
Reichtum und meiner kommenden Macht fehlt mir noch Schönheit.
Und die da« - er deutete verzückt auf Tula - »ist das schönste Weib,
auf das mein Auge je fiel, und ich bin viel im Lande
herumgekommen. Ich will sie Euch nehmen und sie zu meinem
Weibe machen. Das ist mein unumstößlicher Entschluß!«

Tula senkte den Kopf. Erbittert dachte sie: Wenn der Himmel mir

diesen Kerl! als Befreier schickt, dann meint er es wahrlich nicht gut
mit mir.

Der fremde Ritter breitete die Arme aus und rief mit erhobener

Stimme, die rauh klang vom Staub unermeßlicher Landstraßen: »Ihr
Haar ist dichter als die Mähne meines Pferdes. Ihre Augen blitzen
wie Vogelschwingen. Ihr Mund ist verlockender als ein Zehn-
Dukaten-Stück. Ihre Brüste ähneln reifen, knackigen Äpfeln. Und
ihre Hinterbacken sind von der rechten Form - nicht so dürr wie
Holzpfosten und nicht so breit wie Daunenkissen.«

»Sehr poetisch«, höhnte Wulfbrand, sprang auch aus dem Sattel

und begann den Kampf.

Gespannt schaute Tula zu. Sie wünschte sich, beide Kämpfer

würden ermattet von den Schlägen des Gegners zur gleichen Zeit
niedersinken und ihr die Gelegenheit zum Entkommen bieten.

Schon erhoben die Waffen ihren vertrauten Gesang. Stahl klang

klirrend an Stahl.

Wieder erwies sich der Schauspieler als geschickter Fechter.

Lorimer kam ihm an Schnelligkeit und Fintenreichtum nicht gleich.
Und bald geriet er in eine bedrängte Lage. Er wich zurück, Schritt
um Schritt. Wulfbrand blieb ihm hart auf dem Pelz. Schließlich
wurde Lorimer gewaltsam gestoppt. Er prallte nämlich rücklings

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gegen einen Baum.

Von seinem Sieg überzeugt, rief Wulfbrand: »Jetzt wird's Zeit, daß

du dich unsichtbar machst!«

»Wünsch dir das nicht!« versetzte Lorimer ernst.
Wulfbrand holte zu einem Schlag aus, der dem Gegner den Garaus

machen sollte. Aber der andere parierte mit großer Wucht. Und nun
zeigte sich Lorimers größere Kraft in überraschender Weise. Mit
einem Gewaltschlag entriß er Wulfbrand das Schwert.

Verblüfft sah Wulfbrand auf seine leere Hand. Die Klinge lag auf

der Erde.

Er wandte sich um. Er wollte flüchten. Denn jeden Augenblick

konnte Lorimer den tödlichen Streich führen.

Wenn er es nur bis zu seinem Pferd schaffte ...
Doch Lorimer lachte, hob Wulfbrands Waffe auf, bat ihn zu

bleiben und reichte ihm die Waffe. »Du mußt fester zupacken,
Wulfi! Es geht weiter!«

Mit frischem Mut stellte sich Wulfbrand zum Kampf. Jede List

probierte er aus, die er gelernt hatte. Neue Finten fielen ihm ein, und
er brachte sie alle. öfter als zuvor traf er Lorimer.

Doch was nützte es! Wulfbrands Kraft schmolz dahin. Ohne

Schaden anzurichten, glitt die Klinge vom schartigen Panzer des
Herausforderers ab. Dagegen schlug ihm Lorimer noch zweimal das
Schwert aus der Hand, verzichtete aber auf seinen Vorteil und
erlaubte Wulfbrand, es wieder aufzuheben.

»Nur munter weiter!« rief er mit rauher Stimme. »Du lernst es

schon noch!«

Der Kampf dauerte jetzt schon so lange, daß Wulfbrands Arme

erlahmten. Kaum noch konnte er das Schwert heben. Unwillkürlich
wollte er auch noch zur Unterstützung mit der Linken zupacken, um
die Waffe beidarmig zu schwingen. Dabei löste er ein wenig mit der
Rechten den Griff.

In diesem Augenblick traf Lorimers Klinge genau, und Wulfbrands

Schwert flog in hohem Bogen nach hinten davon. Der Schauspieler
wandte sich, lief ihm hinterher und bückte sich nach dem scharfen

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Eisen.

Lorimer blieb verächtlich stehen, wo er stand. Er hob sich nur ein

wenig auf die Fußballen. Dann schwenkte er die eigene Waffe, die
Spitze nach vorn, nahm bedächtig Maß und schleuderte sie auf den
knieenden Mann. Sie durchbohrte Wulfbrands Hals und tötete ihn
auf der Stelle.

»Zu lange dauerte mir schon das Spiel«, bemerkte Lorimer und

holte sein Schwert.

Starr vor Entsetzen hatte Tula das gräßliche Ende des

Zweikampfes miterlebt. Willenlos ließ sie es nun geschehen, daß
Lorimer ihrem Pferd einen Hieb mit der Gerte versetzte. Es
vollführte ein paar erschrockene Sätze, ehe es wieder in ruhigen Trab
verfiel. Indessen bestieg der Sieger sein eigenes struppiges Pferd und
ritt ihr nach, ohne noch einen einzigen Blick auf den Toten zu
werfen.

Eine Weile ritten sie stumm nebeneinander her. Schreckensbilder

zuckten durch Tulas Hirn. Sie konnte keinen klaren Gedanken
fassen.

Zuletzt brach Lorimer das Schweigen. »Meine Gefühle für Euch,

schönes Weib, kennt Ihr. Mit eigenen Ohren habt Ihr gehört, wie ich
Eure Haare, Eure Augen und Eure unvergleichlichen Lippen anbete,
wie mich Eure prallen Brüste und Hinterbacken entzücken. Nun sagt,
erwidert Ihr meine Neigung?«

Tula brachte keinen Ton heraus. Unstet flackerten ihre Blicke. Die

Zügelhand zitterte. Aber sie schüttelte, von Abneigung und Ekel
gepackt, heftig den Kopf.

Es sah aus, als wolle Lorimer auffahren. Doch er beherrschte sich

und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Ich fragte zu früh. Das verstehe
ich wohl. Gerade erst nahm ich Euch den Gatten. Doch werdet Ihr
Euch rasch an mich gewöhnen. Und wenn Ihr mich erst in meiner
ganzen Herrlichkeit seht, im Glanz meiner unermeßlichen
Reichtümer, werdet Ihr in rasender Leidenschaft zu mir entbrennen.«

»Niemals!« wollte sie entgegnen, aber wieder versagte ihr die

Stimme, und sie schüttelte nur heftiger den Kopf. Abscheu würgte

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sie. Ihre Gefühle waren wie abgestorben.

Doch diesmal nahm er kaum noch Notiz davon. »Denn ich bin

Lorimer, der reichste Mann des Landes«, rief er, »der bald auch der
mächtigste Mann sein und das schönste Weib sein eigen nennen
wird! Alle, die mich bisher verachteten, werden wie Hunde um
meine Knie streichen und um einen armseligen Knochen aus meiner
Hand, einen freundlichen Blick, eine flüchtige Berührung von mir
winseln!«

Plötzlich war Lorimer verschwunden, als habe er sich in Luft

aufgelöst. Tula ritt allein. Sie hatte nicht bemerkt, daß er
zurückgeblieben oder vom Wege abgewichen war.

Sie überlegte nicht lange. Sie war frei! Jetzt oder nie! Sie wandte

ihr Pferd und ritt im Galopp den Weg zurück, den sie gekommen
waren.

Plötzlich spurte sie einen feinen Stich im Nacken. Nun erging es

ihr wie vorher Wulfbrand. Überall zwickte und piekte es. Am Hals,
an der Schulter, im Rücken, in der Seite, im Hinterteil. Sie wand
sich, schlug mit den Armen um sich, stieß Wehlaute aus und fand
doch keine Ruhe. Doch niemand war da. Kein Insekt. Kein Tier.
Kein menschliches Wesen.

Dann warf sich ihr Pferd herum und wendete auf der Hinterhand.

Eine unsichtbare Hand schien das Tier zu lenken. Wieder ging es im
Galopp in der alten Richtung weiter, nach Norden. Sie schauderte.
Was ging hier vor?

Und um das Grauen vollzumachen, klang jetzt Lorimers Stimme

an ihr Ohr. Wild schaute sie zur Seite. Niemand! Nicht vorn, nicht
hinten, nicht links, nicht rechts. Und doch sprach er zu ihr -
eindringlich, laut, als ritte er Schenkel an Schenkel mit ihr.

»Nun wißt Ihr, daß Ihr mir nicht entfliegen könnt, mein

Vögelchen«, sagte Lorimers Stimme mit unheimlicher Kraft.
»Unsichtbar bin ich immer bei Euch, wohin Ihr Euch auch wendet.
Und mögt Dir bisher ein ungebärdiger, wilder Falke gewesen sein, so
werdet Ihr bei mir zum Täubchen, das bald kein anderes Verlangen
mehr spüren wird, als bei seinem Täuberich zu bleiben.«

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Tula senkte den Kopf. Ihr letzter Widerstandswille zerbrach vor

dem Unerklärlichen.

Sie wußte, daß Lorimer die Wahrheit sprach.

*

Wieder war Roland den Gefährten weit voraus geprescht. Da hörte er
Jagdhörner. Wie helle Jubelstimmen schwangen sie sich über die
Baumwipfel empor.

Nur ein leichtes Berühren der Weichen Samums, und der Hengst

griff noch ein wenig weiter aus. Sie überquerten jetzt ein weites
Stoppelfeld, und der Araber schien darüber hinwegzufliegen. Wieder
einmal empfand Roland das Glück, auf dem Rücken eines so
fabelhaften Renners zu sitzen.

Etwa 150 Klafter zur Rechten erblickte er die Jagdgesellschaft, die

am Waldrand ritt. Bald ließ er diese Gruppe weit hinter sich. Im
spitzen Winkel steuerte er das nächste Waldstück an und folgte nun
dem Hundegebell im tiefer gelegenen Teil des Forstes.

Das wütende Kläffen der Rüden zeigte an, daß sie das Wild gestellt

hatten., Wenig später erschien Roland auf dem Plan.

Wohl ein Dutzend Jagdhunde umringten einen riesigen Keiler. Die

Hunde bellten sich schier die Lunge aus dem Leibe. Aber niemand
wagte sich an das gereizte Wildschwein heran. Mehrere Hunde
bluteten bereits. Der Keiler hatte ihnen, da sie zu keck wurden,
erhebliche Wunden beigebracht. Jetzt hielten sie sich in geziemender
Entfernung.

Der Keiler stand auf sumpfigem Untergrund. Tief sanken seine

Läufe in den Morast. Er kümmerte sich nicht um die feigen Kläffer.
Seine ganze Aufmerksamkeit galt einem Mann, in dem er seinen
wahren Gegner erkannt hatte.

Ein hübscher schlanker Jäger, wenig älter als Roland, schritt

entschlossen und selbstsicher auf den Keiler zu. In der Hand hielt er
einen langen Hirschfänger gezückt.

Die Borsten des Keilers waren aufgerichtet. Seine kleinen Augen

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blickten tückisch. Schneeweiß blitzten die messerscharfen und
ungewöhnlich langen Hauer.

Der Jäger bewies Mut, als er so nahe an das gefährliche Wild

heranging, um es zu erlegen. Gespannt sah Roland ihm zu.

Der Jäger hob den Hirschfänger in Augenhöhe. Ein Streifen Sonne,

der eben durch die golden belaubten Bäume drang, fiel auf die
Schneide und badete sie in vollem Glanz. Im nächsten Augenblick
würde sie vorschnellen und den Keiler töten.

Da geriet der rechte Fuß des Jägers auf dem sumpfigen Untergrund

ins Rutschen. Seine freie Hand griff haltsuchend nach oben und
erhaschte einen tiefhängenden Zweig.

Der Zweig brach ab, und der Jäger verlor das Gleichgewicht. Jetzt

rutschte auch sein anderer Fuß in den Morast.

Wehrlos lag der Jäger vor den wuchtigen Hauern des Untiers. Im

Fallen hatte er sogar das Messer verloren. Nun blickte er unvermutet
dem sicheren Tode ins Auge.

Tausend Gedanken schossen Roland in diesem Moment durchs

Hirn.

Und schon handelte er.
Mit voller Gewalt warf er die Lanze. Sie flog am Kopf des Jägers

vorbei und senkte sich in den Nacken des Keilers, als dessen Hauer
nur noch um Daumenbreite vom Unterleib des gestrauchelten Jägers
entfernt waren.

Der Keiler hielt inne. Sein mächtiger Leib schwankte. Ein Zittern

durchfuhr ihn. Dann fiel er zur Seite um.

Blitzschnell war Roland aus dem Sattel, reichte dem Jäger die

Hand und zog ihn hoch.

»Dank Euch, Ritter«, rief der junge Mann erleichtert. »Ihr kamt

mir zuvor und habt mich möglicherweise vor Schaden bewahrt.
Schade drum! Von Rechts wegen gehörte der Keiler mir - nach so
langer heißer Jagd, wäre ich nicht unglücklich ausgeglitten...«

Wortlos zog Roland die Lanze heraus, ergriff den Hirschfänger

und trieb ihn in den Nacken des noch im Tode furchterregenden
Wildschweins. »Spart Eure Worte!« sagte er dem Jäger. »Seht hin,

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das Wild ist Euer! Meine Lanze kam zu spät.«

Der Jäger musterte Roland mit langem, prüfendem Blick. Dann

nickte er zufrieden und sprach, während er Roland die Hand
hinstreckte: »Und Dank zum zweitenmal, Ritter, für diese Worte!
Lassen wir's bei dieser Version, wenn's später ans Erzählen geht, und
Ihr habt einen Freund gewonnen, auf den ihr immer vertrauen dürft.«

Sie schüttelten einander die Hände.
Näher klangen die Jagdhörner. Der Jäger brach einen Zweig mit

buntem Laub von einer Eiche und steckte ihn dem Keiler ins Maul.
Sinnend betrachtete er den toten Riesen, während er die Hundemeute
wegscheuchte.

»Ein kapitaler Bursche«, sagte Roland.
Zweifelnd blickte der andere auf. »Ich habe ihn erlegt - dabei

bleibt es doch?« fragte er zögernd.

»Für immer und ewig!« bestätigte Roland.
»Dann bin ich für immer und ewig Euer Bundesgenosse«, rief der

Jäger erfreut und schüttelte Roland die Hand. »Ihr seid mir lieber als
ein Bruder.« Er stutzte. »Nun erst erkenne ich Euch! Seid Ihr nicht
der Ritter mit dem Löwenherzen?«

»Wenn Ihr Roland meint - der bin ich.«
»So ist meine Freude umso größer! Ich bin Gero von Geroldstein.

Heute abend, wenn wir den Keiler verzehren, seid Ihr mein Gast.
Und zwar, so lange Ihr mögt!«

Bevor Roland sich für die Einladung bedanken konnte, brach die

übrige Jagdgesellschaft durch die Büsche. An der Spitze ritt ein
Jüngling, der Gero ähnelte. Er schien noch jünger, war aber größer
und breiter. Unter dem glatten schwarzen Haar verfinsterte sich sein
Blick, als er Gero neben dem erlegten Keiler sah.

»So bist du mir doch zuvorgekommen, Bruder«, rief er mißmutig.
»Wie es dem Älteren geziemt, Gildo«, erwiderte Gero stolz.
Die .Männer umdrängten den Keiler und bewunderten seine Größe

und Kraft. Gero stellte ihnen Roland vor, der freudig begrüßt wurde.
Alle beglückwünschten Gero zu seinem großen Jagderfolg.

Nur Gildo blieb mürrisch abseits. Und während das Halali

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geblasen wurde und die Jagdgehilfen den Keiler waidgerecht
abhäuteten, murmelte Gildo, unhörbar für die anderen, in bitterem
Ton vor sich hin: »Immer willst du der erste sein, Gero, nur weil du
als erster dem Mutterleibe entsprangst. Aber warte nur! Bald wirst du
auch der erste sein, dem der Kopf von den Schultern rollt. Dann
gehört mir Geroldstein - und alles andere!«

*

Die kleine Burg Geroldstein lag auf einer Anhöhe mit schöner
Aussicht auf ein Dorf, auf Äcker, Wiesen und Mischwälder. Es gab
weder Graben noch Zugbrücke. Die Gemächer lagen fast alle zu
ebener Erde und waren auffallend klein. Geräumig war nur die Halle,
in der am Abend getafelt wurde.

Das würzige Wildschweinfleisch bildete den Hauptgang.
An diesem Abend verliebte sich Volker vom Hohentwiel in eine

Frau, die sich mit keiner vergleichen ließ, die er je gekannt.

Geraldine war eine Schwester von Gero und Gildo. Sie stand im

Alter zwischen beiden und war eine Blondine mit einer Haut wie
Sahne und großen braunen Augen, in denen sich tausend Träume
spiegelten. Volker ließ während des Mahles kein Auge von ihr. Erst
recht nicht, als er später auf Wunsch aller Anwesenden ein Lied
sang.

Der berühmte Minnesänger sang vom verschollenen Schatz des

Räubers Caliban! Das Lied endete mit den Zeilen:

»Ich schenke euch alle Schätze der Welt, laßt ihr mir mein

liebliches Schätzchen im Zelt!«

Als er diese Worte sang, tauchten seine dunklen Augen so tief in

Geraldines Traumaugen, daß ihm war, als versinke er in ihnen.

Störend war nur, daß sie während der ganzen Zeit einen häßlichen

Zwerg auf dem Schoß sitzen hatte, dem sie die faltigen Wangen
koste und über den zottigen Bart strich. Der Zwerg war sehr
vergnügt, kuschelte sich an die Brüste Geraldines, unterhielt sich laut
mit ihr und tat, als sei er der Herr der ganzen Burg. Im Essen verhielt

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er sich mäßig. Dafür bestand er darauf, im Trinken mit den Rittern
mitzuhalten.

Dem verliebten Sänger war der Zwerg höchst zuwider, und er

freute sich königlich, als das Männlein unter der Wirkung der hastig
eingenommenen Getränke nach einer Stunde einschlief und mit
offenem Munde grollend schnarchte. Das schien ein alltägliches
Vorkommnis zu sein, denn sofort bemächtigte sich ein Diener des
betrunkenen Zwerges, hob ihn von Geraldines Schoß und trug ihn
aus der Halle.

Volker nahm neben dem schönen Mädchen Platz, trank ihr zu und

begann ein intimes Gespräch. Während noch der Beifall ihn
umrauschte, ergriff er ihre Hand und drückte sie zärtlich. Die
Berührung mit den zarten Fingern ließ sein Herz höher klopfen. Sein
Blick fiel in ihren Blusenausschnitt, und der Anblick der
schwellenden Brust erregte ihn. Danach sah er ihr wieder tief in die
Augen und wisperte: »Ihr seid bezaubernd, Geraldine!«

Ihre Augen wurden zu Samt, auf dem Sterne ausgebreitet lagen.

Ihre Lippen öffneten sich, als verlangten sie nach einem Kuß. Leise,
so daß kein anderer sie hören konnte, sagte sie mit einer Stimme
voller Zärtlichkeit: »Woher nehmt Ihr die Unverschämtheit, Ritter
Volker, Euch in so deutlicher Weise mir zu nähern, obwohl ich mit
einem anderen verlobt bin?« Dabei streichelte sie mit den
Fingerspitzen die Innenseite seiner Hand, was seine Erregung noch
steigerte.

Doch ihren Worten lauschte er fassunglos. Sie fuhr fort: »Nehmt

Ihr Euch diese frechen Anmaßungen heraus, weil man meinen
Bräutigam soeben einer Unpäßlichkeit wegen zu seiner abgelegenen
Kammer getragen hat? So laßt Euch sagen, daß ich Euer Verhalten
über die Maßen unpassend und kränkend empfinde.«

Volker saß wie vom Donner gerührt und fand keine Antwort.
Während er in die braunen Augen sah, die ihn verlangend

beobachteten, spürte er, wie sie die freie Hand auf sein Knie legte.
Danach wanderte die Hand mit begehrlichem Druck seinen
Oberschenkel hinauf.

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Volker blieb fast die Luft weg. Geraldine mit dem häßlichen

Zwerg verlobt? Ehe er die Stimme wiederfand, sprach sie weiter:
»Da Ihr so schwere Verfehlungen begangen habt, befehle ich Euch
zur Strafe, mich morgen früh um sechs Uhr auf einem Ausritt zu
begleiten!«

Endlich löste sich der Krampf in seiner Kehle. Ihre Hand hatte

seine erregten Lenden erreicht. »Wird Euer ... Bräutigam nicht
Einwände erheben?«

Ihr Lachen klang schadenfroh. »Wie soll er Einwände erheben,

wenn er gar nichts erfährt? Nach derartigen Unpäßlichkeiten pflegt
er, wie ich aus Erfahrung weiß, nie vor dem späten Nachmittag zu
erwachen. Ihr müßt wissen, Ritter Volker, mein Bräutigam hat eine
zarte Natur. Er ermüdet schnell und nachhaltig.« Die Hand in seinem
Schoß regte sich, als sie schloß: »Eure Natur, Volker, scheint mir
völlig anders gearbeitet!«

*

Des anderen Tages in der sechsten Morgenstunde ritten sie. Noch lag
Nebel über den Auen. Die Wälder dampften. Sie waren ein schönes
Paar. Geraldine schlug den Weg zu den Buchen und Eichen ein.

Eine halbe Stunde später machten sie an einer Lichtung halt, die

von hohen weichen Gräsern einladend bedeckt war. Eine bleiche
Sonne kämpfte sich über den Horizont. Der Nebel hatte sich
aufgelöst. Die Gräser wiegten sich leise wie die Fransen eines
Teppichs aus dem Morgenland.

»Wir sind scharf geritten, Volker«, sagte Geraldine. »Mein Zelter

verlangt nach einer Rast. Helft mir hinunter!«

Schon glitt er zu Boden und hob die Arme, um die schlanke Gestalt

aufzufangen. Als ihre Füße die Erde berührten, schwankte sie. Er
schlang die Arme um sie. Ihre Körper schmiegten sich aneinander.
Als die Lippen sich fanden, wollten sie nicht mehr voneinander
lassen.

Gleichmütig trotteten die Pferde über die Wiese. Sie begannen zu

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fressen.

Geraldine ließ sich in die Gräser gleiten. Volker legte sich

daneben. Die Hände der beiden fanden keine Ruhe. Die Sonne war
kaum eine Daumenbreite hoch geklettert, als ihre Körper nackt
waren und sich, unsichtbar für fremde Späherblicke im hohen Gras,
zu leidenschaftlichen Umarmungen vereinigten.

Geraldines Leidenschaft überstieg Volkers kühnste Erwartungen.

»Oh, wie lange habe ich keinen Mann in den Armen gehabt!«
schwärmte sie und öffnete dabei verlangend die schöngeformten
Beine. »Komm zu mir, Volker! Du bist der Gebieter. Ich will deine
Sklavin sein.«

Und Volker nahm stürmend Besitz von ihrem Leibe. Doch sobald

sie zu eins verschmolzen waren, wurde jeder des anderen Gebieter
und des anderen Sklave. So gut verstanden sich ihre Körper. So
gleichartig waren ihre Wünsche.

Mit langsamen, schmachtenden Bewegungen unter verhaltenen

Seufzern begann der Ritt ins Glück. Er steigerte sich zu verzücktem
Trab, den inbrünstiges Stöhnen begleitete. Und er endete stets nach
einem rasenden Galopp mit wollüstigen Schreien.

Und wenn der große Augenblick des herrlichsten Genusses, dessen

der Mensch fähig ist, vorüber war, dann blieben sie eng zusammen.
Sie streichelten den erhitzten Körper des anderen, flüsterten sich
Liebesworte ins Ohr und fühlten bald den Strom neuer Kraft durch
die Adern rinnen.

Keiner zählte, wie oft sie den Ritt unternahmen. Gleichgültig

flogen Specht und Drossel vorbei und hatten keinen Blick für die
glühende Lust des Paares.

Es ging auf den Mittag zu. Nun lagen sie nebeneinander auf dem

Rücken und schwelgten erinnernd in den Seligkeiten, die sie
genossen hatten.

Dann begann Geraldine, von den seltsamen Geschehnissen auf

Burg Geroldstein zu berichten.

Vor kaum einer Woche war, verschmutzt, verstört und abgerissen,

der Zwerg aufgetaucht. Er wirkte wie ein gehetzter Flüchtling. Sie

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gaben ihm zu essen und zu trinken und fragten ihn aus. Sie erfuhren,
daß er Säckelmann hieß und bis vor kurzem der Kammerdiener des
mächtigen Zwergenkönigs Alberich gewesen war.

Säckelmanns Reden waren verworren - nach Zwergenart. Seinen

Andeutungen konnten sie jedoch entnehmen, daß Alberich über
unermeßlichen Reichtum verfüge, den er eifersüchtig hütete.

Gildo horchte auf.
Der Zwerg schien einen geheimen Groll gegen Alberich zu hegen.

Warum, war nicht klar ersichtlich. Hatte der König ihn schlecht
behandelt? War Säckelmann wirklich geflohen? Oder verjagt
worden?

Da ließ er durchblicken, daß er unter gewissen Umständen bereit

sei, die Brüder zu Alberichs Schatz zu führen.

Nun war auch Gero ganz Ohr.
Doch es vergingen mehrere Tage, bis Säckelmann mit dem

herausrückte, was er unter »gewissen Bedingungen« meinte. Er
verlangte als Gegenleistung nicht mehr und nicht weniger als den
Besitz Geraldines. Der Zwerg war von ihrem Liebreiz wie geblendet
und konnte an nichts anderes mehr denken.

Die Brüder kamen mit Geraldine überein, ihm zum Schein

nachzugeben. Hatte man erst Laurins Schatz erbeutet, so würde man
den unerwünschten Bräutigam mit einem bedeutenden Anteil
abfinden und ihm dann den Laufpaß geben.

Während dieser Gespräche machte Säckelmann mehrmals

Angaben über geheimnisvolle Kräfte, die sein ehemaliger Herr
besitze. Er bezweifelte sehr, daß es Gero und Gildo allein gelingen
würde, Alberich zu überwältigen.

Kaum hatte Volker diese Neuigkeiten aus Geraldines Munde

erfahren, als er ausrief: »Ritter Roland und ich würden uns glücklich
schätzen, deinen Brüdern zu helfen!«

Geraldine zeigte sich erfreut und versprach, ihnen diesen

Vorschlag zu übermitteln.

Danach fing Volker ihre Pferde ein, und das Liebespaar ritt zur

Burg zurück. Noch am selben Nachmittag wurde man sich einig.

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Schon am nächsten Tage wollte man aufbrechen und sich von
Säckelmann zu Alberichs Reich führen lassen, das Felsenmeer
genannt wurde.

»Eigentlich müßte ich an deiner Liebe zweifeln, Volker«, sagte

Geraldine, »da du so schnell bereit bist, mich zu verlassen!«

»Nur, um desto rascher zu dir zurückzukehren!« antwortete er und

verschloß ihre Lippen mit einem langen Kuß.

Roland wollte in seiner freimütigen Art die Brüder sofort darauf

aufmerksam machen, daß inzwischen ein Ritter namens Lorimer im
Felsenmeer herrschte und sie ihm den Schatz wohl abnehmen, ihn
aber nicht behalten dürften. Denn im Auftrag des Königs Artus
sollten alle Schätze den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben
werden. Doch Volker redete ihm das aus. Dazu war immer noch Zeit,
wenn sie den Schatz erobert hatten.

»Ich frage mich nur, ob Säckelmann den Weg wirklich finden

wird«, gab Louis zu bedenken. »Zwerge haben, wie ich weiß, ein
kurzes Gedächtnis.«

»Das stimmt«, gab Volker zu. »Aber es scheint, daß er viele Jahre

bei Alberich verbrachte, und das prägt sich sogar einem Zwergenhirn
ein.«

Diese Ahnung trog den Minnesänger nicht. Säckelmann fand den

Weg ohne Mühe wie eine Magnetnadel. Dagegen hatte der Zwerg
bereits völlig vergessen, daß Alberich im Kampf gegen Lorimer
umgekommen war und seine geheimnisvollen Kräfte, die Tarnkappe
nämlich, in dessen Besitz übergegangen war.

*

Nicht an einer einzigen Stelle des langen Weges bis zum Felsenmeer
gerät Säckelmann in Zweifel. Es ist wirklich so, als leite ihn eine
innere Kompaßnadel. Stolz kauert er vor Gero auf dessen hohem
Roß. Von Zeit zu Zeit streckt er den Arm aus und ruft: »Hier entlang,
Ritter!«

Aber am vierten Tag ändert sich sein Verhalten. Unruhig zappelt er

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hin und her, so daß Gero ihn mit einer Hand halten muß, sonst würde
er vom Pferd fallen.

Und von Stunde zu Stunde wird es schlimmer mit ihm. Der Zwerg

scheint vor Angst zu vergehen. Er zittert am ganzen Leibe. Wie im
Schüttelfrost klappern seine Zähne.

Das kann nur eins bedeuten: sie sind König Alberichs Festung

nahe!

Als sie aus den schützenden Waldbäumen auf eine weite, mit

Sträuchern unregelmäßig bewachsene Ebene hinausreiten, schreit
Säckelmann auf und will sich mit Gewalt losreißen. »Da ... da ... da
drüben!« stammelt er in höchster Erregung.

Sie halten und spähen über die Ebene. Etwa eine Meile vor ihnen

erhebt sich eine Hecke, die sich über den ganzen Horizont erstreckt.

Mit stockender Stimme erklärt der Zwerg: »Seht Ihr die Hecke,

Ritter Gero? Dahinter verbirgt sich das Felsenmeer. Sie ist ein
undurchdringliches Hindernis. Nur an einer Stelle befindet sich gut
getarnt eine Geheimöffnung. Nirgendwo anders könnt Ihr ins
Innere!«

»Dann führe uns zu dieser Öffnung!« ruft Gildo wild.
»Ich weiß nicht, wo sie ist.« Der Zwerg windet sich in Geros Griff.

Angstschweiß rinnt ihm über die Stirn. »Alberich verband mir stets
die Augen, wenn er mit mir durch die Öffnung hinein- oder
hinausging. Niemand sollte je erfahren, wo der Eingang ist. Ihr müßt
ihn selber aufspüren.«

Nach kurzer Beratung trennen sich die Herren. Die Brüder

schlagen einen weiten Bogen nach Norden, Roland und Louis tun das
gleiche nach Süden. Die beiden Gruppen werden die Flanken und die
Rückseite des Heckenwalls untersuchen. Volker und Pierre reiten
dagegen auf die Vorderseite zu.

Angstbebend bleibt Säckelmann am Waldrand zurück. Kaum

haben sich die drei Gruppen entfernt, so klettert der Zwerg behend
auf eine hohe Eiche und verbirgt sich oben im Laub, wo es am
dichtesten ist. Mit wild klopfendem Herzen zwängt er sich in eine
Astgabel und schlägt die Hände vor das Gesicht.

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*

Als erste kehren am Nachmittag die Brüder zurück. Sie haben die
Öffnung im Dornenwall nicht gefunden. Doch glauben sie, daß man
sich notfalls auch mit Werkzeugen einen Pfad durch die Hecke
bahnen könnte. Allerdings wird es mühsam sein.

Sie machen es sich unter einem Baum bequem, essen und trinken

von den mitgebrachten Mundvorräten.

»Wo steckt nur der Zwerg?« wundert sich Gero.
»Wie ich Säckelmann kenne, hat er am Branntweinfäßchen

genippt, liegt jetzt irgendwo im Unterholz und schläft!«

Über ihnen, im Laub der Eiche gut verborgen, horcht Säckelmann

auf, als er seinen Namen hört.

»Eigentlich brauchen wir ihn ja auch nicht mehr.« Das ist wieder

die Stimme Geros, des älteren Bruders.

»Er wird noch schön zetern, wenn er erfährt, daß er Geraldine

niemals bekommt«, sagt Gildo mit rauhem Lachen.

Oben lauscht der Zwerg mit angehaltenem Atem.
»Sein Anteil am Schatz wird ihn schnell trösten.«
»Willst du dem Dreckskerl wirklich einen Anteil gönnen?« fragt

Gildo lauernd. »Mir täte es um jedes Goldstück leid.«

»Aber wie willst du ihn sonst entschädigen?« Kalt kommt Gildos

Antwort: »Ich wüßte schon wie.«

»Er würde keine Ruhe geben, uns die Ohren volltrompeten ...«
»Ein einziger Pfeil«, sagt Gildo, »schafft ihm und uns Ruhe.«
»Willst du ihn abschießen?« fragt Gero erstaunt.
»Warum nicht? Ich plane sogar, mich auch Rolands und Volkers

zu entledigen, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben - also uns
beim Eindringen und Überwältigen Alberichs geholfen haben.«

»Wie willst du das tun?« fragt Gero zweifelnd. »Es sind

bärenstarke Männer, wohl die besten Ritter des Landes. Jeder von
ihnen wiegt 100 Säckelmanns auf!«

»Das weiß ich so gut wie du, Bruderherz. Ich dachte auch nie

daran, mich offen gegen sie zu stellen. Es wäre mein sicherer

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Untergang. Doch es gibt andere Mittel. Ich habe schon einen
bestimmten Plan, mit ihnen fertig zu werden.«

So sehr Säckelmann die Ohren spitzt, jetzt kann er nichts mehr

verstehen. Die Brüder tuscheln so leise, daß kein Ton hinauf in sein
Versteck dringt. Erst nach einiger Zeit werden die Stimmen wieder
verständlich, und der Zwerg kann die Worte verstehen.

»Gut«, hört er Gero sagen. »Das leuchtet mir ein. So wird es

sicherlich klappen. Ich werde den Sänger erledigen.«

»Und warum nicht Roland?«
Keine Antwort.
»Warum du Roland nicht töten willst, hab ich dich gefragt!« sagt

Gero unmutig.

»Ich will es nicht, und damit basta«, sagt der Mann, der keine

Woche zuvor Roland ewige Freundschaft geschworen hat. »Ihn
überlasse ich dir. Was machen wir mit den Knappen?«

Oben im Baum klammert sich Säckelmann an seinen Ast. Das

Grauen über das eben Gehörte schüttelt ihn. In seinem Kopf dreht
sich ein Mühlrad. Es flimmert ihm vor den Augen. Seine Gedanken
verwirren sich.

Er hört es gar nicht mehr, daß Gero sagt: »Nun, so mag es

geschehen, wie du es willst, Bruder.«

In diesem Augenblick kündet Hufschlag die Rückkehr des

nächsten Trupps an. Es sind Roland und Louis. Auch sie haben den
Eingang nicht gefunden.

Nun warten die Männer auf Volker. Um Gildos Lippen spielt von

Zeit zu Zeit ein böses Lächeln. Auch für Gero hält er in Gedanken
schon eine Überraschung bereit.

*

Eigentlich haben Volker und Pierre den kürzesten Weg gehabt. Aber
da sie über ein freies Stück Land hinweg mußten, ließen sie die
Pferde im Wald und sind, jeden Strauch als Deckung benutzend, zu
Fuß vorgegangen. Pierre ist von dieser Anstrengung bald außer Atem

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und bleibt mehr und mehr zurück.

Nach einiger Zeit trifft der voranschleichende Ritter auf eine

Bodenrinne, die sich zu einem schluchtartigen Hohlweg erweitert.
Sie läuft genau auf den Dornenwall zu. Erst kurz vorher steigt der
Weg wieder allmählich an und erreicht das Niveau des Geländes.

Geduckt huscht Volker weiter. Er macht immer nur einige Schritte,

bleibt dann stehen, sichert spähend nach allen Seiten und lauscht
angespannt. Er will nicht in einen Hinterhalt laufen. Erst wenn alles
ruhig bleibt, schleicht er weiter. Als die Schlucht endet, legt er sich
platt auf den Bauch und robbt weiter.

Plötzlich biegt sich der Boden unter ihm, gibt nach und stürzt ein.

Die Erde rieselt weg. Es knackt, es knirscht, es kracht!

Die Erde tut sich auf.
Und Volker sucht vergeblich nach einem Halt. Er stürzt kopfüber

in die Tiefe, zusammen mit Ästen und Erdreich.

Es geht so schnell, daß er nicht einmal Angst verspürt.
Volker stürzt acht Klafter tief. Dann prallt sein Körper auf harten

Fels, und sein Bewußtsein erlischt augenblicklich.

Als der Ritter wieder zu sich kommt, liegt er nicht mehr in der

Grube, in die er gestürzt ist, sondern auf festem Boden. Ringsum
erheben sich bizarr geformte Felsen. Sein Blick aber gleitet von den
fantastischen Kalksteingebilden weiter und fällt auf das harte,
faltenreiche Gesicht eines mageren, sonnengebräunten Mannes, der
sich über ihn beugt.

Volker stöhnt. Von dem schweren Sturz tut ihm jetzt jeder

Knochen im Leibe weh. Sein Schädel schmerzt, als hämmere jemand
mit einem Knüppel darauf herum.

Der Mann verzieht das knochige Gesicht zu einem häßlichen

Grinsen. »Wie fühlst du dich, elender Schurke?«

Volker schweigt trotzig.
Der Mann schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht. »Antworte, wenn

ich dich etwas frage, Spitzbube! Ich bin Lorimer, der mächtigste
Mann des Landes, der Alberich überwand und tötete und Calibans
Schatz erbte. Du Hund hast versucht, dich in meinen Besitz

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einzuschleichen, aber es ist dir schlecht bekommen. Du bist in meine
Fallgrube geraten, die ich für Spitzbuben deiner Art gegraben habe.
Wie heißt du Halunke?«

»Das geht dich nichts an«, entgegnet Volker, in dem Zorn und

Scham brennen.

»Wenn du den harten Mann spielen willst«, ruft Lorimer, »mir soll

es recht sein.« Er greift hinter sich und holt einen Ochsenziemer
hervor. »Nach drei, vier Hieben erzählst du mir bereitwillig alles,
was ich hören will.« Und schon hebt er das furchtbare Werkzeug
zum Schlag.

»Halt!« Volker richtet sich stöhnend auf. »Schon ein Schlag wäre

zuviel. Ich heiße Martin von Golling. Frag mich, was du willst - aber
schlag mich nicht! Ich sag dir die Wahrheit. Was willst du wissen?«

Zufrieden senkt Lorimer den Ziemer. »Wie hast du das Felsenmeer

gefunden?« fragt er neugierig.

»Mir begegnete ein Zwerg. Er nannte sich Säckelmann. Er scheint

der Diener des Zwergenkönigs Alberich gewesen zu sein. Der hatte
ihn in einem Wutanfall fortgejagt, und Säckelmann wollte sich
rächen. Deshalb führte er mich hierher. Als ich die Dornenhecke sah
und er mir den Eingang wies, brachte ich ihn um. Ich wollte den
Schatz nicht mit einem Zwerg teilen.«

»Und nun bist du ganz allein?«
»Ja, leider. Lieber wäre es mir jetzt, ich wäre mit zwanzig

Freunden hergezogen, die deine Festung umzingelt und mich im
Verlauf der nächsten Stunde herausgeholt hätten. Aber dem ist nicht
so. Es hätte auch keinen Zweck, dir so ein Märchen vorzulügen.
Nach dem ersten Schlag würde ich die Wahrheit doch ausspucken.
Deshalb sage ich sie dir lieber gleich.«

»Das ist klug gehandelt«, lobte ihn Lorimer mit schiefem Blick.

»Klüger als vorhin, da du in die Fallgrube torkeltest. Ein Wunder,
daß du dir nicht den Hals gebrochen hast! Weil du so freundlich
warst, gleich mit der Wahrheit herauszurücken, Martin von Golling -
so heißt du doch, nicht wahr? So will ich Gnade vor Recht ergehen
lassen. Statt dich zu Tode zu peitschen, schenke ich dir einen

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schnellen Tod durch das Schwert.«

»Zu gütig«, stößt Volker hervor, aber sein Herz klopft wild, und

Furcht schnürt ihm fast die Kehle zu. Er tastet an seine Hüfte. Die
Waffe hat ihm Lorimer abgenommen, als er bewußtlos war. Sogar
die Scheide ist fort.

Der Mann tritt vor ihn. Er versäumt keine Zeit. In seiner Hand

funkelt das nackte Schwert. Volker sieht in das harte, häßliche
Gesicht und erkennt, daß dieses Mannes Sinn durch nichts zu ändern
ist. Er versucht die Beine anzuziehen. Soll er weglaufen?

Ach, er ist ja noch von dem Sturz halb gelähmt. Vielleicht würde

es ihm nicht einmal gelingen aufzustehen.

Nun hängt die Klinge drohend über ihm in der Luft.
Volkers Augen nehmen Abschied von der Welt.
Da klingt eine helle Mädchenstimme an sein Ohr. »Laßt den Schuft

leben, Lorimer!«

Die köstlichsten Worte, die er je gehört hat!
Die Klinge schwankt unschlüssig. Dann verschwindet sie aus

Volkers Gesichtskreis.

»Misch dich nicht ein!« sagt Lorimer zu dem Mädchen, aber es

klingt nicht böse.

»Ich meine es ernst«, sagt sie beharrlich. »Machen wir diesen

Strolch doch lieber zu unserem Sklaven! Als Toter nutzt er uns nicht.
Meint Ihr, es mache mir Vergnügen, Wasser aus dem Brunnen zu
heben und eine halbe Meile herzuschleppen? Glaubt Ihr, ich sammle
gern Feuerholz und trage es meilenweit auf dem Rücken? Soll sich
die zukünftige Gattin des mächtigsten Mannes im Lande wie eine
Magd mit niedrigen Arbeiten plagen?«

»Du hast wahrlich recht«, stimmt Lorimer ihr zu. Dann schreit er

Volker an: »Lieg hier nicht faul herum! Hast du nicht gehört, was
deine Herrin sagt? Auf mit dir, Mistkerl!«

Ächzend, aber ungemein erleichtert, rappelt Volker sich hoch.
Plötzlich hört er Zweifel aus Lorimers Worten heraus. Der Mann

sagt bedächtig: »Für einen Sklaven erscheint mir dieser Martin
eigentlich zu hübsch. Du könntest dich in ihn vergaffen ...«

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Sie lacht verächtlich. »In diesen Milchbubi? Hübsche Männer sind

Weichlinge, denen ich nie meine Blicke gönnte. Ich liebe rauhe
Männer mit wettergegerbten festen Gesichtern ... wie dich ...«

Mit großer Anstrengung hat es Volker fertiggebracht, sich

hinzuknien. Er hebt den Blick und sieht zum erstenmal seine
Retterin.

Zu seiner grenzenlosen Überraschung erblickt er Tula, die

Burgherrin von Momberg.

*

Die Männer im Waldlager springen auf wie ein Mann!

Denn wie von Dämonen gejagt, kommt bei sinkendem Tageslicht

der brave Knappe Pierre angerannt. Völlig außer Atem erzählt er in
stockenden Sätzen das böse Abenteuer, dem Volker zum Opfer fiel.
Wie er, schon nahe der Hecke, in einer Fallgrube versank. Wie sich
plötzlich eine Öffnung im Dornenwall auftat und ein Mann ins Freie
trat. Wie dieser Mann mit Hilfe einer Sprossenleiter in die Grube
hinabstieg und alsbald mit dem offenbar leblosen Volker auf der
Schulter wieder an die Oberfläche kam, in der Dornenhecke
verschwand und die Öffnung sich wie durch Zauberhand hinter ihm
schloß.

Blaß vor Entsetzen fragt Roland: »Soll das heißen, daß Volker tot

ist?«

»Ich weiß es nicht, Herr. Doch lag er, einem Toten gleich, auf der

Schulter des Mannes. Also befindet sich Volker in Lorimers Gewalt -
tot öder lebendig.«

»Vielleicht war er nur bewußtlos«, wirft Gero ein.
Eine düstere Stimmung legte sich über das Lager. Schon breiten

sich nachtblaue Schatten unter den Bäumen aus. Aus schweren
Gedanken heraus fragt Roland: »Wo ist eigentlich Säckelmann?«

Da raschelt es über ihnen in den Zweigen, und der Kleine mit dem

eisgrauen Bart und der Zipfelmütze kommt den Stamm einer Eiche
heruntergeklettert. Kaum berühren seine Füße den Boden, so eilt er

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mit Trippelschritten zu Roland, klammert sich an dessen Hüften und
fleht mit einer Stimme, die gequetschter klingt als je: »Helft mir,
Ritter Roland! Bei allen Heiligen, ich bitte Euch von ganzem Herzen
um Eure Hilfe!«

Verwundert blickt Roland auf ihn herab. »Was ist mit dir, Zwerg?

Wer bedroht dich denn? Du bist hier unter Freunden. Sicher wie im
Mutterschoß.«

Doch Säckelmanns Erregung steigert sich noch. »Oh, ihr wißt ja

nicht, was sich begab, als Ihr fern wart. Dort oben in der Eiche saß
ich, als ich ein Gespräch belauschte. Und da hörte ich, daß er mich
töten will - mich töten, weil er mir meinen Anteil am Schatz neidet.«

»Von wem sprichst du, Unglückswurm?«
»Und danach«, fährt Säckelmann in fliegender Eile fort, »sollt Ihr

an die Reihe kommen, Roland! Keinen will er verschonen, um den
Schatz allein an sich zu bringen.«

»Nun, hör einmal gut zu, Säckelmann!« unterbricht Roland den

aufgelegten Zwerg. »Von wem sprichst du? Wen willst du belauscht
haben? Wem gelten deine gewichtigen Anklagen? Gib mir jetzt
Antwort!«

Säckelmann beruhigt sich ein wenig. Er hebt den Kopf, sieht

Roland mit tränenumflorten Augen an und öffnet den Mund zur
verlangten Antwort.

»Es ist...«, beginnt er.
Seine Augen werden noch ein wenig größer. Etwas wie ein

schmerzlicher Zug erscheint in seinem Gesicht. Dann senkt sich ein
gläserner Vorhang über die Pupillen. Die kleinen Hände, die Rolands
Hüfte umklammert haben, werden schlaff.

Dann sackt der Zwerg in sich zusammen.
Er fällt aufs Gesicht. Aus seinem Rücken ragt ein Pfeil. Das

Geschoß muß ihn mitten ins Herz getroffen haben.

Gero und die Knappen werden aufmerksam. Sie kommen heran.

Gemeinsam mit Roland umstehen sie den kleinen Körper des toten
Zwergs. Und nun sehen auch sie den tödlichen Pfeil.

Roland schaut sich wild um. Seine Hand zuckt zum Schwertgriff.

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Da fährt Gildos Stimme wie ein Schlag über sie hin. »Keiner rührt

sich, oder er ist des Todes!«

Hinter einem Baumstamm schiebt sich ein Bogen hervor.

Abschußbereit liegt der Pfeil auf der straff gespannten Sehne.
Dahinter blitzt ein Auge ...

Es ist Gildo!
Roland läßt das Schwert sinken. Er spürt den Atem Geros, Louis'

und Pierres, die dicht bei ihm stehen.

»So ist es gut«, sagt Gildo mit unheilvoller Drohung. »Ich habe

euch alle im Visier!«

Schweigend starren die vier Männer den Mörder mit dem Bogen

an. Dann löst sich Roland aus der Erstarrung. »Gildo, Ihr seid des
Teufels! Wir alle sind Partner auf Treu und Glauben, Partner mit
gemeinsamem Auftrag. Wie könnt Ihr Euch so gegen die heiligen
Gesetze der Ritterschaft stellen?«

Hohnlachen antwortet ihm. »Wer wird es wagen, mich an heilige

Gesetze zu mahnen, wenn ich erst einmal die Schätze Calibans und
Alberichs besitze? Ja, Säckelmann sprach die Wahrheit! Nicht nur
ihm habe ich den Tod geschworen, sondern auch Euch, Roland! Ihr
solltet es nur noch nicht erfahren.«

»Gildo!« ruft Gero ihn beschwörend an. »Besinne dich! Nur zum

Schein sagte ich dir Unterstützung zu, falls wir den Schatz
gewännen...«

»Ahnte ich's doch!« schreit Gildo, halb wahnsinnig vor Wut.

»Dann stirbst du mit ihm! Mein ganzes Leben hast du vergiftet, weil
du als Erstgeborener mir bei jeder Gelegenheit vorgezogen wurdest.
Immer warst du tonangebend. Du warst der Erbe. Du warst der
Burgherr. Du erteiltest Befehle! Immer du, du, du! Und ich mußte
kuschen. Damit ist es nun vorbei. Sprich dein letztes Gebet, denn
diese Stunde überlebst du nicht! Ich hasse dich, Bruderherz, vom
Grund meiner Seele!«

Mit einer Haltung, die eiserne Entschlossenheit verrät, schreitet

Gero würdevoll auf den tobenden Bruder zu.

»Vorsicht!« mahnt ihn Roland.

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Aber niemand hält Gero jetzt auf. Sein Schritt ist schnell und fest.

Die gespannte Sehne, der flugbereite Pfeil, die Wut Gildos - sie
gelten ihm nichts. Noch drei Klafter trennen ihn von dem jüngeren
Bruder. Noch zwei.

Noch einer...
Gero hebt die Hand, um Gildo den todbringenden Bogen aus der

Hand zu winden.

Der läßt die straffgespannte Sehne los. Schwirrend schnellt sie

nach vorn, und aus kürzester Entfernung bohrt sich der Pfeil tief in
Geros Herz. Sein Körper bäumt sich auf. Dann schlägt er vornüber
zu Boden. Nicht einmal einen Schrei kann der sterbende Ritter noch
ausstoßen.

Roland braucht keinen Blick, um zu wissen, daß Gero tot ist. Aus

solcher Nähe konnte der Pfeil ihn nicht verfehlen. Aber es war der
Pfeil des Bruders! Roland würgt es im Halse über diese
verabscheuungswürdige Tat.

Und nun springt ihn der Mörder an!
Den nutzlosen Bogen hat er weggeworfen, denn so schnell könnte

er den nächsten Pfeil nicht aus dem Köcher nehmen und auf die
Sehne legen. Gildo kämpft nun ebenfalls mit blanker Waffe. Und mit
Geschick nutzt er die vielen unregelmäßig stehenden Bäume, um den
Leib hinter ihren Stämmen zu decken, wenn sein Schwert vorsticht.

Nie findet Rolands Klinge ein volles Ziel. Oft muß er den Schlag

unterwegs abbremsen, weil die Schwertspitze sich sonst tief in einen
Baumstamm bohrte.

Und doch drängt er Gildo langsam, aber sicher zurück. Von Baum

zu Baum weicht der Mörder, um sich vor Rolands furchterregenden
Angriffen zu bergen.

Plötzlich sieht Roland mitten im Gefecht, daß die beiden Knappen

in Gildos Rücken auftauchen, um ihn anzuspringen.

»Zurück!« ruft er schneidend. »Der Mann gehört mir!«
Widerstrebend gehorchen sie.
Für einen Augenblick ist er abgelenkt. Das nutzt Gildo aus. Er

stürzt aus der Deckung einer mächtigen Linde heraus und legt alle

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Kraft in seinen Schlag, der Roland fällen soll. Doch als er das
Schwert schwingt, entblößt er seinen Körper. Schneller als das Auge
es erfaßt, reagiert Roland. Wie eine züngelnde Schlange fährt die
Klinge in Gildos Brust.

Mit einem gräßlichen Schrei verröchelt der Mörder sein Leben.
Die Nacht ist hereingebrochen, bis die Toten begraben sind. Die

Männer führen die Pferde an eine andere Stelle des Waldrands,
breiten die Decken aus und begeben sich schweigend und bedrückt
zur Ruhe.

Noch lange liegt Roland wach. Er denkt darüber nach, wie die Gier

nach dem Gold aus den Menschen wilde Bestien macht. Am liebsten
würde er Calibans Schatz, der so viel Unglück über Freund und
Feind gebracht, den Rücken kehren und heimreiten.

Aber er muß die Festung angreifen, denn in ihr befindet sich sein

Freund Volker - tot, verwundet - wer weiß es? Gefangen in jedem
Fall.

Wo aber mag Tula sein? Sein Herz wird ihm schwer, wenn er an

die Schöne denkt.

Zwischen den Baumwipfeln strahlt die Venus. Ihm ist, als zittere

ihr Licht. Sie blinkt. Ein - zwei - drei - vier - fünfmal. Das
Notzeichen der Ritter. Das Zeichen, mit dem Tula ihn in der Halle
ihrer Burg warnte.

Ihm fallen die letzten Verse aus Volkers Lied ein:
»Ich schenke euch alle Schätze der Welt, laßt ihr mir mein

liebliches Schätzchen im Zelt!«

Dann schläft er ein.

*

Ein Schrei weckt Roland. Er fährt auf und schaut um sich. Noch ist
es stockdunkel. Wer hat geschrien? Es klang nach der Stimme
Volkers, des Freundes.

Dann erkennt er, daß es nur ein Traum war.
Doch nun hält es Roland nicht mehr im Lager. Er springt auf die

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Füße. Stumm umgibt ihn der Wald. Die Knappen schlafen tief. Noch
regt sich kein Vogel, die Morgendämmerung zu verkünden.

Von Pierre hat Roland sich den Weg genau beschreiben lassen. Er

findet ihn bestimmt auch im Dunkeln. Er läßt alles zurück, was
entbehrlich ist und ihn durch Klirren verraten kann: die Rüstung und
das Wehrgehänge. Nur den Helm setzt er auf, und das nackte
Schwert nimmt er zur Hand.

Volker, ich komme!
Mit vorsichtigem Schritt auf holprigem Boden findet er unschwer

den Hohlweg. Geräuschlos schreitet er dahin. Längst ist die Venus
untergegangen. In eisiger Ferne schimmern die Sterne des Kleinen
Bären über dem Nordhimmel.

Als der Hohlweg ansteigt, wird Rolands Schritt bedächtiger.

Lautlos schleicht er vorwärts. Es ist die Stunde vor der Dämmerung,
die dunkelste der Nacht.

Aber die Augen des Ritters haben sich an die Finsternis gewöhnt.

Wie eine Katze erfühlt er instinktiv den Weg. Und im richtigen
Augenblick hält er an.

Vor ihm gähnt die tiefe Fallgrube. Sie war raffiniert getarnt. Auf

einer Schicht von Knüppeln, Zweigen und Laub lag, von der
Umgebung nicht zu unterscheiden, Erde, kurzes Gras, ein Strauch.
Das alles ist jetzt in die Tiefe gerutscht.

Ein Schauer überläuft Roland. Er umgeht die halboffene Grube.

Dann steht er vor dem Dornenwall.

Hier muß es sein, wo Pierre den mageren Lorimer durch die

Öffnung schlüpfen sah. Mit unendlicher Geduld sucht Roland die
Hecke ab. Überall strecken sich ihm wehrend wie geschliffene
Messer die langen, harten und spitzen Dornen entgegen. Wohl ein
dutzendmal verletzten sie ihn. Blut rinnt ihm über die Hände. Eine
halbe Stunde geht dahin, und er findet nichts.

Doch Roland läßt nicht locker. Er sucht weiter. Im Osten erscheint

ein schmaler waagerechter Lichtstreif. Der Tag ist nahe!

Und dann wird, scheint es, seine Geduld belohnt. Seine Hand

ertastet einen Knauf aus glattgeschliffenem Holz, tief im

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Dornengewirr versteckt. Er drückt. Nichts. Er zieht. Nichts.

Wie ist dem Ding beizukommen? Kein Rütteln, Zerren, Schieben

und Reißen hilft. Da merkt er, daß sich der Knauf drehen läßt. Er
dreht ihn nach rechts.

Auch das hat keine Wirkung.
Er versucht es zur anderen Seite. Nichts. Enttäuscht stützt Roland

die Hand auf einen halb im Boden verborgenen Feldstein.

Und da - wie durch Zauberhand öffnet sich eine Pforte!
Roland wagt kaum zu atmen, als er geschickt hindurchgleitet. Er

läßt die Geheimtür offenstehen. Vielleicht muß er später sehr schnell
von diesem Ort flüchten ...

Das erste Licht berührt die Erde, als Roland mit staunenden Augen

die seltsame Welt des Felsenmeers umfängt.

Überall vor ihm schießen seltsam geformte, zackige und

zerklüftete Steingebilde aus dem Boden hervor. Steinerne Pilze,
Bäume, Kathedralen und Schlösser meint das Auge zu erkennen.
Eine fremdartige, abweisende Welt. Kälte hockt zwischen den
Felsen.

Die einsame Welt des toten Zwergenkönigs.
Und wenn nicht alle Berichte täuschen, muß hier irgendwo der

Schatz des schrecklichen Räubers Caliban verborgen sein!

Und irgendwo haust der Mann Lorimer, den Pierre gestern gesehen

hat.

Und irgendwo wartet Volker ...

*

Roland hält den Atem an. Auf Zehenspitzen bewegt er sich zwischen
den Felstürmen. Er hat das Gefühl, nicht allein zu sein. Wird er
beobachtet?

Seltsame Laute werden hörbar. Es knarrt, es schnurrt, es pfeift, es

heult. Ein unsichtbarer Geisterchor umgibt ihn. Seine Kopfhaut zieht
sich zusammen. Die Nackenhaare sträuben sich.

Es dauert eine ganze Weile, bis der Ritter erkennt, daß der Wind,

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der um die gezackten Felsen streicht, diese Töne hervorbringt.
Aufatmend schreitet Roland weiter und gerät immer tiefer in das
Felsenmeer hinein.

Und dann ...
Aber das ist nicht der Wind! Hinter einem Felsen, der wie ein

Obelisk schlank in die Höhe ragt, tritt mit einem lauten Fluch ein
Mensch hervor. Ein schlanker, fast magerer Mann mit einer von
Sonne ausgedörrten und von Wind und Wetter gegerbten bräunlichen
Lederhaut. Voller Wut funkeln seine Augen.

»Hat mich dieser Dreckskerl doch belogen! Das soll er mir büßen!

Aber zuerst bist du dran!«

Und im nächsten Augenblick ist Roland in einen Kampf auf Tod

und Leben verwickelt. Sein Gegner hält sich an keinerlei Regeln des
klassischen Fechtens. Seine unberechenbaren Bewegungen sind die
einer aufs äußerste gereizten Wildkatze. Lorimer führt das Schwert
wie einen Prügel, wie einen Dreschflegel, wie einen Hammer. Alles,
was er tut, ist überraschend und von höchster Gefährlichkeit.

Roland ist sofort in die Verteidigung gedrängt. Mehrmals weicht er

dem Stahl des anderen nur mit letzter Anstrengung aus.

Erst allmählich kann er zum Angriff übergehen und sich des

wütenden Gegners einigermaßen erwehren.

Ihm fällt die graue Kappe auf, die Lorimer in einer Schlaufe am

Harnisch trägt. Der Mann ist sonst ritterlich gekleidet, wenn er auch
wie ein Strauchritter ficht. Sogar einen Brustharnisch trägt er. Diese
Kappe am Harnisch ist außergewöhnlich. Und Roland glaubt, daß es
mit ihr eine besondere Bewandtnis habe.

Mit drei machtvollen Hieben schafft Roland sich Luft. Der nächste

soll den Gegner entscheidend treffen.

Aber während das Schwert sich dem Ziel nähert, verschwindet

dieses Ziel!

Statt des fremden Ritters sieht sich Roland leerer Luft gegenüber.
Nur die weißgrauen Felsen stehen wie vorher abweisend da, und

der Wind spielt schauerlich heulend mit ihnen.

Hab ich geträumt? denkt Roland.

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Da trifft ihn ein Schlag auf dem Oberarm, der tief in das Fleisch

zuckt. Rasender Schmerz durchfährt ihn. Das Blut schießt aus der
Wunde. Und immer noch ist niemand zu sehen.

Grauen erfaßt Roland, als er ganz nahe ein Hohngelächter hört und

doch niemand sieht. Und er ahnt, daß er sogleich den nächsten
Streich empfangen wird, wenn er nichts dagegen unternimmt. Percys
schreckliches Ende fällt ihm ein.

Wie ein Rasender läßt er das Schwert vor seinem Körper tanzen.

Er legt gleichsam eine bewegliche Sperre zwischen sich und den
Gegner. Das dauernde Klirren zeigt ihm an, daß sich ihre Klingen
tatsächlich immer wieder kreuzen.

Aber wie lange kann er so ein Gefecht mit einem Unsichtbaren

durchhalten? Der linke Arm schmerzt teuflisch. Sein Atem geht
schnell. Es kann nicht allzu lange dauern, und der Blutverlust wird
ihn so schwächen, daß er nicht mehr zur Gegenwehr fähig ist.

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schießen, erscheint

unter erneutem Gelächter sein Gegner wieder in Fleisch und Blut vor
ihm. Lorimer schüttelt sein von Rolands Blut gerötetes Schwert und
ruft mit rauher Stimme, auf der Staub von vielen Landstraßen liegt:
»Noch einmal sollst du sehen, wer dich besiegt. Schau her! Ich bin
Lorimer, der reichste und mächtigste Mann des Landes. Lorimer, der
sich unsichtbar zu machen versteht! Lorimer, der deinen Tod
beschlossen hat.«

Der Mann hat sich in Ekstase geredet. Der Atem bleibt ihm weg.

Und in diese Pause ruft eine andere Stimme, die Stimme einer Frau,
mit höchster Eindringlichkeit: »Die Kappe, Roland! Nimm ihm die
Kappe!«

Der Ritter wartet kein weiters Wort ab. Mit einem gewaltigen

Sprung ist er bei dem anderen, unterläuft einen hastigen
Abwehrschlag und reißt ihm die Kappe vom Harnisch. Dann weicht
er zurück und beobachtet Lorimer.

Der heult auf. Nun klingt seine Stimme so schauerlich wie der

Wind, der um die Felsecken streicht. Von Wut getrieben, greift
Lorimer an. Die Kappe! Er will die Kappe wiederhaben!

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Und er rennt unbedacht in Rolands Schwert.
So endet der Traum Lorimers von Größe und Macht.
Eine Frau kommt auf Roland zu. Sie hat die Arme weit

ausgebreitet. Sie trägt ein zerfetztes Gewand. Sie geht langsam.
Erschöpfung prägt ihre Züge.

Und doch ist sie wunderschön. Es ist Tula!

*

Später betreten sie die Schatzkammer, und Roland erschrickt fast
über diese Pracht. Aus 100 Burgen geraubt, türmen sich hier Gold,
Elfenbein, edle Hölzer, Teppiche, Gemälde, Kleinodien, Geschmeide
und Edelsteine.

»Freut dich der Anblick?« fragt Tula leise.
»Ja, soviel Schönheit muß jedes Menschen Sinne erfreuen«,

antwortet Roland.

Volker ist zu ihnen getreten. »Es ist eine unvorstellbare Pracht«,

sagt er. »König Artus kann mit uns zufrieden sein. Du hast den
Auftrag, den er dir gab, erfüllt.«

»Was mich am meisten freut«, fährt Roland fort, »ist der Gedanke,

daß ich alle diese wunderbaren Schätze endlich ihren rechtmäßigen
Besitzern wiedergeben kann.«

»Und du«, fragt Tula, »möchtest du nichts davon für dich

behalten?«

»Nein«, sagt er ehrlich. »Mein Herz lechzt nicht nach derlei

Schätzen. So wertvoller Besitz würde mich lahmen. Genügend
Dukaten für Speis und Trank im Beutel und ein gutes Pferd, gute
Freunde und eine schöne Frau - das genügt mir!«

Plötzlich ist Roland verschwunden. »Die Tarnkappe!« ruft Volker.

»Er hat sich die Tarnkappe aufgesetzt!«

Als Roland wieder sichtbar wird, steht er am Lagerfeuer vor der

Höhle, wo ein Kessel mit Brühe brodelt. Er hält die Kappe in der
Hand. »Vielleicht«, sagt er, »ist diese unscheinbare Kappe wertvoller
als alles, was die Höhle birgt. Im Besitz des geeigneten Mannes kann

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sie zu großer Macht verhelfen, wie sie Lorimer erträumte. Ich aber
will diesen Traum nicht träumen. Was ich erreiche, will ich meinem
Mut und meiner Kraft verdanken, nicht aber trügerischer Zauberei!«

Und er wirft die Tarnkappe ins Feuer, wo sie zu Asche verbrennt.

ENDE

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Liebe Ritter-Freunde,
nach dem Streit um »Calibans Goldschatz« möchte ich Ihnen in
14 Tagen den Band 6 unserer neuen Serie präsentieren.
Günther Herbst schrieb für Sie:

Die geteilte

Herzogskrone

Herzog Ottokar besaß einst eine kostbare Krone, der man
magische Eigenschaften nachsagte. Als er nach einem erfüllten
Leben starb, wurde sein Reich auf seine Söhne aufgeteilt. Leider
vergaß er zu bestimmen, wer die magische Krone erhalten
sollte. Sie wurde deshalb geteilt. Und bald entbrannte unter
den Erben ein großer Streit. Jeder beanspruchte die ganze
Krone für sich und somit die ganze Macht.

Da griff König Artus in den Streit ein. Ritter Roland sollte
die Kronenfragmente sicherstellen, damit die ewigen Kämpfe in
dem Herzogtum aufhörten.

Ob es ihm gelang, lesen Sie im nächsten Band. DM 1,60


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